Erich Maria Remarque. Der schwarze Obelisk
Roman
(Auszug:
Kapitel 1, 12, 13
OCR: Korrektor)
Der Roman einer Generation zwischen den Kriegen: Das Inflationsjahr
1923. Es ist die Zeit der Spekulanten und Schieber, der kleinen Beamten und
großen Kaufleute, der verarmten Rentner und Kriegsversehrten, einer
Gesellschaft in moralischer Auflusung, Eine ganze Generation hat auf bittere
Weise gelernt zu uberleben - aber nicht, sich im Leben zurechtzufinden. Wie
Ludwig, der im Krieg wie so viele andere seine Jugend verlor und nicht
weiß, wo er hingehurt Auf der Suche nach Liebe und einem Platz im
leben begegnet er der schunen, aber schizophrenen Isabelle..,
"Mit seinem Schwarzen Obelisken hat Erich Maria Remarque einer kurzen,
aber wesentlichen Epoche der jungeren deutschen Geschichte ein literarisches
Denkmal gesetzt." Frankfurter Allgemeine Zeitung
Scheltet nicht, wenn ich einmal von alten Zeiten rede. Die Welt liegt
wieder im fahlen Licht der Apokalypse, der Geruch des Blutes und der Staub
der letzten Zersturung sind noch nicht verflogen, und schon arbeiten
Laboratorien und Fabriken aufs neue mit Hochdruck daran, den Frieden zu
erhalten durch die Erfindung von Waffen, mit denen man den ganzen Erdball
sprengen kann.
Den Frieden der Welt! Nie ist mehr daruber geredet und nie weniger
dafur getan worden als in unserer Zeit; nie hat es mehr falsche Propheten
gegeben, nie mehr Lugen, nie mehr Tod, nie mehr Zersturung und nie mehr
Trunen als in unserem Jahrhundert, dem zwanzigsten, dem des Fortschritts,
der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordens. -
Darum schelte nicht, wenn ich einmal zuruckgehe zu den sagenhaften
Jahren, als die Hoffnung noch wie eine Flagge uber uns wehte und wir an so
verduchtige Dinge glaubten wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz - und
auch daran, daß ein Weltkrieg genug Belehrung sein musse fur eine
Generation. -
1 Die Sonne scheint in das Buro der Grabdenkmalsfirma Heinrich Kroll
& Suhne. Es ist April 1923, und das Geschuft geht gut. Das Fruhjahr hat
uns nicht im Stich gelassen, wir verkaufen glunzend und werden arm dadurch,
aber was kunnen wir machen - der Tod ist unerbittlich und nicht abzuweisen,
und menschliche Trauer verlangt nun einmal nach Monumenten in Sandstein,
Marmor und, wenn das Schuldgefuhl oder die Erbschaft betruchtlich sind,
sogar nach dem kostbaren schwarzen schwedischen Granit, allseitig poliert.
Herbst und Fruhjahr sind die besten Jahreszeiten fur die Hundler mit den
Utensilien der Trauer- dann sterben mehr Menschen als im Sommer und im
Winter -; im Herbst, weil die Sufte schwinden, und im Fruhjahr, weil sie
erwachen und den geschwuchten Kurper verzehren wie ein zu dicker Docht eine
zu dunne Kerze. Das wenigstens behauptet unser ruhrigster Agent, der
Totengruber Liebermann vom Stadtfriedhof, und der muß es wissen; er
ist achtzig Jahre alt, hat uber zehntausend Leichen eingegraben, sich von
seiner Provision an Grabdenkmulern ein Haus am Fluß mit einem Garten
und einer Forellenzucht gekauft und ist durch seinen Beruf ein abgeklurter
Schnapstrinker geworden. Das einzige, was er haßt, ist das Krematorium
der Stadt. Es ist unlautere Konkurrenz. Wir mugen es auch nicht. An Urnen
ist nichts zu verdienen.
Ich sehe auf die Uhr. Es ist kurz vor Mittag, und da heute Sonnabend
ist, mache ich Schluß. Ich stulpe den Blechdeckel auf die
Schreibmaschine, trage den Vervielfultigungsapparat "Presto" hinter den
Vorhang, ruume die Steinproben beiseite und nehme die photographischen
Abzuge von Kriegerdenkmulern und kunstlerischem Grabschmuck aus dem
Fixierbad. Ich bin nicht nur Reklamechef, Zeichner und Buchhalter der Firma;
ich bin seit einem Jahr auch ihr einziger Buroangestellter und als solcher
nicht einmal vom Fach.
Genießerisch hole ich eine Zigarre aus der Schublade. Es ist eine
schwarze Brasil. Der Reisende fur die Wurttembergische Metallwarenfabrik hat
sie mir am Morgen gegeben, um hinterher zu versuchen, mir einen Posten
Bronzekrunze anzudrehen; die Zigarre ist also gut. Ich suche nach
Streichhulzern, aber, wie fast immer, sind sie verlegt. Zum Gluck brennt ein
kleines Feuer im Ofen. Ich rolle einen Zehnmarkschein zusammen, halte ihn in
die Glut und zunde mit damit die Zigarre an. Das Feuer im Ofen ist Ende
April eigentlich nicht mehr nutig; es ist nur ein Verkaufseinfall meines
Arbeitgebers Georg Kroll. Er glaubt, daß Leute in Trauer, die Geld
ausgeben mussen, das lieber in einem warmen Zimmer tun, als wenn sie
frieren. Trauer sei bereits ein Frieren der Seele, und wenn dazu noch kalte
Fuße kumen, sei es schwer, einen guten Preis herauszuholen. Wurme taue
auf; auch den Geldbeutel. Deshalb ist unser Buro uberheizt, und unsere
Vertreter haben als obersten Grundsatz eingepaukt bekommen, nie bei kaltem
Wetter oder Regen zu versuchen, auf dem Friedhof einen Abschluß zu
machen - immer nur in der warmen Bude und, wenn muglich, nach dem Essen.
Trauer, Kulte und Hunger sind schlechte Geschuftspartner.
Ich werfe den Rest des Zehnmarkscheins in den Ofen und richte mich auf.
Im selben Moment hure ich, wie im Hause gegenuber ein Fenster
aufgestoßen wird. Ich brauche nicht hinzusehen, um zu wissen, was los
ist. Vorsichtig beuge ich mich uber den Tisch, als hutte ich noch etwas an
der Schreibmaschine zu tun. Dabei schiele ich verstohlen in einen kleinen
Handspiegel, den ich so gestellt habe, daß ich das Fenster beobachten
kann. Es ist, wie immer, Lisa, die Frau des Pferdeschluchters Watzek, die
nackt dort steht und guhnt und sich reckt. Sie ist erst jetzt aufgestanden.
Die Straße ist alt und schmal, Lisa kann uns sehen und wir sie, und
sie weiß es; deshalb steht sie da. Plutzlich verzieht sie ihren
großen Mund, lacht mit allen Zuhnen und zeigt auf den Spiegel. Sie hat
ihn mit ihren Raubvogelaugen entdeckt. Ich urgere mich, erwischt zu sein,
benehme mich aber, als merke ich nichts und gehe in einer Rauchwolke in den
Hintergrund des Zimmers. Nach einer Weile komme ich zuruck. Lisa grinst. Ich
blicke hinaus, aber ich sehe sie nicht an, sondern tue, als winke ich jemand
auf der Straße zu. Zum uberfluß werfe ich noch eine
Kußhand ins Leere. Lisa fullt darauf herein. Sie ist neugierig und
beugt sich vor, um nachzuschauen, wer da sei. Niemand ist da. Jetzt grinse
ich. Sie deutet urgerlich mit dem Finger auf die Stirn und verschwindet.
Ich weiß eigentlich nicht, warum ich diese Komudie auffuhre. Lisa
ist das, was man ein Prachtweib nennt, und ich kenne einen Haufen Leute, die
gern ein paar Millionen zahlen wurden, um jeden Morgen einen solchen Anblick
zu genießen. Ich genieße ihn auch, aber trotzdem reizt er mich,
weil diese faule Krute, die erst mittags aus dem Bett klettert, ihrer
Wirkung so unverschumt sicher ist. Sie kommt gar nicht auf den Gedanken,
daß nicht jeder sofort mit ihr schlafen muchte. Dabei ist ihr das im
Grunde ziemlich gleichgultig. Sie steht am Fenster mit ihrer schwarzen
Ponyfrisur und ihrer frechen Nase und schwenkt ein Paar Bruste aus
erstklassigem Carrara-Marmor herum wie eine Tante vor einem Suugling eine
Spielzeugklapper. Wenn sie ein Paar Luftballons hutte, wurde sie fruhlich
die hinaushalten. Da sie nackt ist, sind es eben ihre Bruste, das ist ihr
vullig egal. Sei freut sich ganz einfach daruber, daß sie lebt und
daß alle Munner verruckt nach ihr sein mussen, und dann vergißt
sie es und fullt mit ihrem gefrußigen Mund uber ihr Fruhstuck her. Der
Pferdeschluchter Watzek tutet inzwischen mde, alte Droschkenguule.
Lisa erscheint aufs neue. Sie trugt jetzt einen ansteckbaren
Schnurrbart und ist außer sich uber diesen geistvollen Einfall. Sie
grußte militurisch, und ich nehme schon an, daß sie so
unverschumt ist, damit den alten Feldwebel a.D. Knopf von nebenan zu meinen;
dann aber erinnere ich mich, daß Knopfs Schlafzimmer nur ein Fenster
nach dem Hof hat. Und Lisa ist raffiniert genug, zu wissen, daß man
sie von den paar Nebenhuusern nicht beobachten kann.
Plutzlich, als bruchen irgendwo Schalldumme, beginnen die Glocken der
Marienkirche zu luuten. Die Kirche steht am Ende der Gasse, und die Schluge
druhnen, als fielen sie vom Himmel direkt ins Zimmer. Gleichzeitig sehe ich
vor dem zweiten Burofenster, das nach dem Hof geht, wie eine geisterhafte
Melone den kahlen Schudel meines Arbeitgebers vorubergleiten. Lisa macht
eine rupelhafte Geburde und schließt ihr Fenster. Die tugliche
Versuchung des heiligen Antonius ist wieder einmal uberstanden.
Georg Kroll ist knapp vierzig Jahre; aber sein Kopf glunzt bereits wie
die Kegelbahn im Gartenrestaurant Boll. Er glunzt, seit ich ihn kenne, und
das ist jetzt uber funf Jahre her. Er glunzt so, daß im
Schutzengraben, wo wir im selben Regiment waren, ein Extrabefehl bestand,
daß Georg auch bei ruhigster Front seinen Stahlhelm aufbehalten musse
- so sehr hutte seine Glatze selbst den sanftmutigsten Gegner verlockt,
durch einen Schuß festzustellen, ob sie ein riesiger Billardball sei
oder nicht.
Ich reiße die Knochen zusammen und melde: "Hauptquartier der
Firma Kroll und Suhne! Stab bei Feindbeobachtung. Verduchtige
Truppenbewegungen im Bezirk des Pferdeschluchters Watzek."
"Aha!" sagt Georg. "Lisa bei der Morgengymnastik. Ruhren Sie Gefreiter
Bodmer! Warum tragen Sie vormittags keine Scheuklappen wie das Paukenpferd
einer Kavalleriekapelle und schutzen so Ihre Tugend? Kennen Sie die drei
kostbarsten Dinge des Lebens nicht?"
"Wie soll ich sie kennen, Herr Oberstaatsanwalt, wenn ich das Leben
selbst noch suche?"
"Tugend, Einfalt und Jugend", dekretiert Georg. "Einmal verloren, nie
wieder zu gewinnen! Und was ist hoffnungsloser als Erfahrung. Alter und
kahle Intelligenz?"
"Armut, Krankheit und Einsamkeit", erwidere ich und ruhre.
"Das sind nur andere Namen fur Erfahrung, Alter und mißleite
Intelligenz."
Georg nimmt mir die Zigarre aus dem Mund, betrachtet sie kurz und
bestimmt sie wie ein Sammler einen Schmetterling. "Beute von der
Metallwarenfabrik."
Er zieht eine schune angerauchte, goldbraune Meerschaumspitze aus der
Tasche, paßt die Brasil hinein und raucht sie weiter.
"Ich habe nichts gegen die Beschlagnahme der Zigarre", sage ich. "Es
ist rohe Gewalt, und mehr kennst du ehemaliger Unteroffizier ja nicht vom
Leben. Aber wozu die Zigarrenspitze? Ich bin kein Syphilitiker."
"Und ich kein Homosexueller."
"Georg", sage ich. "Im Kriege hast du mit meinem Luffel Erbsensuppe
gegessen, wenn ich sie in der Kuche gestohlen hatte. Und der Luffel wurde in
meinen schmutzigen Stiefeln aufbewahrt und nie gewaschen."
Georg betrachtet die Asche der Brasil. Sie ist schneeweiß.
"Der Krieg ist viereinhalb Jahre vorbei", doziert er. "Damals sind wir
durch maßloses Ungluck zu Menschen geworden. Heute hat uns die
schamlose Jagd nach Besitz aufs neue zu Ruubern gemacht. Um das zu
tarnen, brauchen wir wieder den Firnis gewisser Manieren. Ergo! Aber
hast du nicht noch eine zweite Brasil? Die Metallwarenfabrik versucht
Angestellte nie mit einer einzigen zu bestechen."
Ich hole die zweite Zigarre aus der Schublade und gebe sie ihm.
"Intelligenz, Erfahrung und Alter scheinen doch fur etwas gut zu sein", sage
ich.
Er grinst und hundigt mir dafur eine Schachtel Zigaretten aus, in der
sechs fehlen. "War sonst was los?" fragt er.
"Nichts. Keine Kunden. Aber ich muß dringend um eine
Gehaltserhuhung ersuchen."
"Schon wieder? Du hast doch erst gestern eine gehabt!"
"Nicht gestern. Heute morgen um neun. Lumpige achttausend Mark.
Immerhin, heute morgen um neun war das wenigstens noch etwas. Inzwischen ist
der neue Dollarkurs herausgekommen, und ich kann nun statt einer neuen
Krawatte nur noch eine Flasche billigen Wein dafur kaufen. Ich brauche aber
eine Krawatte."
"Wie steht der Dollar jetzt?"
"Heute mittag sechsunddreißigtausend Mark. Heute morgen waren es
noch dreißigtausend."
Georg Kroll besieht seine Zigarre. "Sechsunddreißigtausend! Das
geht ja wie das Katzenrammeln! Wo soll das enden?"
"In einer allgemeinen Pleite, Herr Feldmarschall", erwidere ich.
"Inzwischen aber mussen wir leben. Hast du Geld mitgebracht?"
"Nur einen kleinen Handkoffer voll fur heute und morgen. Tausender,
Zehntausender, sogar noch ein paar Pakete mit lieben, alten Hundertern. Etwa
funf Pfund Papiergeld. Die Inflation geht ja jetzt so schnell, daß die
Reichsbank mit dem Drucken nicht mehr nachkommt. Die neuen
Hunderttausendernoten sind erst seit vierzehn Tagen raus -und jetzt mussen
bald schon Millionenscheine gedruckt werden. Wann sind wir in den
Milliarden?"
"Wenn es so weitergeht, in ein paar Monaten."
"Mein Gott!" seufzt Georg. "Wo sind die schunen ruhigen Zeiten von
1922. Da stieg der Dollar in einem Jahr nur von zweihundertfunfzig auf
zehntausend. Ganz zu schweigen von 1921 - da waren es nur lumpige
dreihundert Prozent."
Ich sehe aus dem Fenster, das zur Straße hinausgeht. Lisa trugt
jetzt einen seidenen Schlafrock, mit Papageien bedruckt. Sie hat einen
Spiegel an die Fensterklinke gehungt und burstet ihre Muhne.
"Sieh das da an", sage ich bitter. "Es sut nicht, es erntet nicht, und
der himmlische Vater ernuhrt es doch. Den Schlafrock hatte sie gestern noch
nicht. Seide, meterweise! Und ich kann nicht den Zaster fur eine Krawatte
zusammenkriegen."
Georg schmunzelt: "Du bist eben ein schlichtes Opfer der Zeit. Lisa
dagegen schwimmt mit vollen Segeln auf den Wogen der deutschen Inflation.
Sie ist die Schune Helena der Schieber. Mit Grabsteinen kann man nun mal
nicht reich werden, mein Sohn. Warum gehst du nicht in die Heringsbranche
oder in den Aktienhandel, wie dein Freund Willy?"
"Weil ich ein sentimentaler Philosoph bin und den Grabsteinen treu
bleibe. Also wie ist es mit der Gehaltserhuhung? Auch Philosophen brauchen
einen bescheidenen Aufwand an Garderobe."
"Kannst du den Schlips nicht morgen kaufen?"
"Morgen ist Sonntag. Und morgen brauche ich ihn."
Georg holt vom Vorplatz den Koffer mit Geld herein. Er greift hinein
und wirft nur zwei Pakete zu. "Reicht das?"
Ich sehe, daß es meistens Hunderter sind. "Gib ein halbes Kilo
mehr von dem Tapetenpapier", sage ich. "Das hier sind huchstens funftausend.
Katholische Schieber legen das sonntags als Meßpfennig auf den Teller
und schumen sich, weil sie so geizig sind."
Georg kratzt sich den kahlen Schudel - eine atavistische Geste, ohne
Sinn bei ihm. Dann reicht er mir einen dritten Packen. "Gott sei Dank,
daß morgen Sonntag ist", sagt er. "Da gibt es keine Dollarkurse. Einen
Tag in der Woche steht die Inflation still. Gott hat das sicher nicht so.
gemeint, als er den Sonntag schuf."
"Wie ist es eigentlich mit uns ?" frage ich. "Sind wir pleite, oder
geht es uns glunzend?"
Georg tut einen langen Zug aus seiner Meerschaumspitze.
"Ich glaube, das weiß heute keiner mehr von sich in Deutschland.
Nicht einmal der guttliche Stinnes. Die Sparer sind naturlich alle pleite.
Die Arbeiter und Gehaltsempfunger auch. Von den kleinen Geschuftsleuten die
meisten, ohne es zu wissen. Wirklich glunzend geht es nur
den Leuten mit Devisen, Aktien oder großen Sachwerten. Also nicht
uns. Genugt das zu deiner Erleuchtung?"
"Sachwerte!" Ich sehe hinaus in den Garten, in dem unser Lager steht.
"Wir haben wahrhaftig nicht mehr allzu viele. Hauptsuchlich Sandstein und
gegossenes Zeug. Aber wenig Marmor und Granit. Und das bißchen, was
wir haben, verkauft uns dein Bruder mit Verlust. Am besten wure es, wir
verkauften gar nichts, was?"
Georg braucht nicht zu antworten. Eine Fahrradglocke erklingt
draußen. Schritte kommen uber die alten Stufen. Jemand hustet
rechthaberisch. Es ist das Sorgenkind des Hauses, Heinrich Kroll junior, der
zweite Inhaber der Firma.
Er ist ein kleiner, korpulenter Mann mit einem strohigen Schnurrbart
und staubigen, gestreiften Hosen, die durch Radfahrklammern unten
zusammengehalten werden. Mit leichter Mibilligung streifen seine Augen
Georg und mich. Wir sind fur ihn die Burohengste, die den ganzen Tag
herumbummeln, wuhrend er der Mann der Tat ist, der den Außendienst
betreut. Er ist unverwustlich. Mit dem Morgengrauen zieht er jeden Tag zum
Bahnhof und dann mit dem Fahrrad auf die entlegensten Durfer, wenn unsere
Agenten, die Totengruber oder Lehrer, eine Leiche gemeldet haben. Er ist
nicht ungeschickt. Seine Korpulenz ist vertrauenswurdig; deshalb hult er sie
durch fleißige Fruh- und Dummerschoppen auf der Huhe. Bauern haben
kleine Dicke lieber als verhungert aussehende Dunne. Dazu kommt sein Anzug.
Er trugt nicht, wie die Konkurrenz bei Steinmeyer, einen schwarzen Gehrock;
auch nicht, wie die Reisenden von Hollmann und Klotz, blaue
Straßenanzuge - das eine ist zu deutlich, das andere zu unbeteiligt.
Heinrich Kroll trugt den kleinen Besuchsanzug, gestreifte Hose mit
Marengo-Jackett, dazu einen altmodischen, harten Stehkragen mit Ecken und
eine gedumpfte Krawatte mit viel Schwarz darin. Er hat vor zwei Jahren einen
Augenblick geschwankt, als er dieses Kostum bestellte; er uberlegte, ob ein
Cutaway nicht passender fur ihn wure, entschied sich dann aber dagegen, weil
er zu klein ist. Es war ein glucklicher Verzicht; auch Napoleon hutte
lucherlich in einem Schwalbenschwanz ausgesehen. So, in der heutigen
Aufmachung, wirkt Heinrich Kroll wie ein kleiner Empfangschef des lieben
Gottes - und das ist genau, wie es sein soll. Die
Radfahrklammern geben dem Ganzen noch einen heimeligen, aber
raffinierten Zug - von Leuten, die sie tragen, glaubt man, im Zeitalter des
Autos billiger kaufen zu kunnen.
Heinrich legt seinen Hut ab und wischt sich mit dem Taschentuch uber
die Stirn. Es ist draußen ziemlich kuhl, und er schwitzt nicht; er tut
es nur, um uns zu zeigen, was fur ein Schwerarbeiter er gegen uns
Schreibtischwanzen ist.
"Ich habe das Kreuzdenkmal verkauft", sagte er mit gespielter
Bescheidenheit, hinter der ein gewaltiger Triumph schweigend brullt.
"Welches? Das kleine aus Marmor?" frage ich hoffnungsvoll.
"Das große", erwidert er noch schlichter und starrt mich an.
"Was? Das aus schwedischem Granit mit dem Doppelsockel und den
Bronzeketten?"
"Das! Oder haben wir noch ein anderes?"
Heinrich genießt deutlich seine blude Frage als einen Huhepunkt
sarkastischen Humors.
"Nein", sage ich. "Wir haben kein anderes mehr. Das ist ja das Elend!
Es war das letzte. Der Felsen von Gibraltar."
"Wie hoch hast du verkauft?" fragt jetzt Georg Kroll.
Heinrich reckt sich. "Fur dreiviertel Millionen, ohne Inschrift, ohne
Fracht und ohne Einfassung. Die kommen noch dazu."
"Großer Gott!" sagen Georg und ich gleichzeitig.
Heinrich spendet uns einen Blick voll Arroganz; tote Schellfische haben
manchmal so einen Ausdruck. "Es war ein schwerer Kampf", erklurt er und
setzt aus irgendeinem Grunde seinen Hut wieder auf.
"Ich wollte, Sie hutten ihn verloren", erwidere ich.
"Was?"
"Verloren! Den Kampf!"
"Was?" wiederholt Heinrich gereizt. Ich irritiere ihn leicht.
"Er wollte, du huttest nicht verkauft", sagt Georg Kroll.
"Was? Was soll denn das nun wieder heißen? Verdammt noch mal, man
plagt sich von morgens bis abends und verkauft glunzend, und dann wird man
als Lohn in dieser Bude mit Vorwurfen empfangen! Geht mal selber auf die
Durfer und versucht -"
"Heinrich", unterbricht Georg ihn milde. "Wir wissen, daß du dich
schindest. Aber wir leben heute in einer Zeit, wo Verkaufen arm macht.
Wir haben seit Jahren eine Inflation. Seit dem Kriege, Heinrich. Dieses Jahr
aber ist die Inflation in galoppierende Schwindsucht verfallen. Deshalb
bedeuten Zahlen nichts mehr."
"Das weiß ich selbst. Ich bin kein Idiot."
Niemand antwortet darauf etwas. Nur Idioten machen solche
Feststellungen. Und denen zu widersprechen ist zwecklos. Ich weiß das
von meinen Sonntagen in der Irrenanstalt. Heinrich zieht ein Notizbuch
hervor. "Das Kreuzdenkmal hat uns im Einkauf funfzigtausend gekostet. Da
sollte man meinen, daß dreiviertel Millionen ein ganz netter Profit
wuren."
Er plutschert wieder in Sarkasmus. Er glaubt, er musse ihn bei mir
anwenden, weil ich einmal Schulmeister gewesen bin. Ich war das kurz nach
dem Kriege, in einem verlassenen Heidedorf, fur neun Monate, bis ich
entfloh, die Wintereinsamkeit wie einen heulenden Hund auf den Fersen.
"Es wure ein noch grußerer Profit, wenn Sie statt des herrlichen
Kreuzdenkmals den verdammten Obelisken draußen vor dem Fenster
verkauft hutten", sage ich. "Den hat Ihr verstorbener Herr Vater vor sechzig
Jahren bei der Grundung des Geschuftes noch billiger eingekauft - fur so
etwas wie funfzig Mark, der uberlieferung zufolge."
"Den Obelisken? Was hat der Obelisk mit diesem Geschuft zu tun? Der
Obelisk ist unverkuuflich, das weiß jedes Kind."
"Eben deshalb", sage ich. "Um den wure es nicht schade gewesen. Um das
Kreuz ist es schade. Das mussen wir fur teures Geld wiederkaufen."
Heinrich Kroll schnauft kurz. Er hat Polypen in seiner dicken Nase und
schwillt leicht an. "Wollen Sie mir vielleicht erzuhlen, daß ein
Kreuzdenkmal heute dreiviertel Millionen im Einkauf kostet?"
"Das werden wir bald erfahren", sagt Georg Kroll. "Riesenfeld kommt
morgen hier an. Wir mussen bei den Odenwulder Granitwerken neu bestellen; es
ist nicht mehr viel auf Lager."
"Wir haben noch den Obelisken", erklure ich tuckisch.
"Warum verkaufen Sie den nicht selber?" schnappt Heinrich.
"So, Riesenfeld kommt morgen; da werde ich hierbleiben und auch mal mit
ihm reden! Dann werden wir sehen, was Preise sind!"
Georg und ich wechseln einen Blick. Wir wissen, daß wir Heinrich
von Riesenfeld fernhalten werden, selbst wenn wir ihn besoffen machen oder
ihm Rizinusul in seinen Sonntagsfruhschoppen mischen mussen. Der treue,
altmodische Geschuftsmann wurde Riesenfeld zu Tode langweilen mit
Kriegserinnerungen und Geschichten aus der guten alten Zeit, als eine Mark
noch eine Mark und die Treue das Mark der Ehre war, wie unser geliebter
Feldmarschall so treffend geuußert hat. Heinrich hult große
Stucke auf solche Plattituden; Riesenfeld nicht. Riesenfeld hult Treue fur
das, was man von anderen verlangt, wenn es nachteilig fur sie ist - und von
sich selbst, wenn man Vorteile davon hat.
"Preise wechseln jeden Tag", sagt Georg. "Da ist nichts zu besprechen."
"So? Glaubst du vielleicht auch, daß ich zu billig verkauft
habe?"
"Das kommt darauf an. Hast du Geld mitgebracht?"
Heinrich starrt Georg an. "Mitgebracht? Was ist denn das nun wieder?
Wie kann ich Geld mitbringen, wenn wir noch nicht geliefert haben? Das ist
doch unmuglich!"
"Das ist nicht unmuglich", erwidere ich. "Es ist im Gegenteil heute
recht gebruuchlich. Man nennt das Vorauszahlung."
" Vorauszahlung!" Heinrichs dicker Zinken zuckt veruchtlich. "Was
verstehen Sie Schulmeister davon ? Wie kann man in unserem Geschuft
Vorauszahlungen verlangen? Von den trauernden Hinterbliebenen, wenn die
Krunze auf dem Grab noch nicht verwelkt sind? Wollen Sie da Geld verlangen
fur etwas, was noch nicht geliefert ist?"
"Naturlich! Wann sonst? Dann sind sie schwach und rucken es leichter
heraus."
"Dann sind sie schwach? Haben Sie eine Ahnung! Dann sind sie hurter als
Stahl! Nach all den Unkosten fur den Arzt, den Sarg, den Pastor, das Grab,
die Blumen, den Totenschmaus - da kriegen Sie keine zehntausend
Vorauszahlung, junger Mann! Die Leute mussen sich erst erholen! Und sie
mussen das, was sie bestellen, erst auf dem Friedhof stehen sehen, ehe sie
zahlen, und nicht nur auf dem Papier im Katalog, selbst wenn er von Ihnen
gezeichnet ist, mit chinesischer Tusche und echtem Blattgold fur die
Inschriften und ein paar trauernden Hinterbliebenen als Zugabe."
Wieder eine der persunlichen Entgleisungen Heinrichs! Ich beachte sie
nicht. Es ist wahr, ich habe die Grabdenkmuler fur unsern Katalog nicht nur
gezeichnet und auf dem Presto-Apparat vervielfultigt, sondern sie auch, um
die Wirkung zu erhuhen, bemalt und mit Atmosphure versehen, mit
Trauerweiden, Stiefmutterchenbeeten, Zypressen und Witwen in
Trauerschleiern, die die Blumen begießen. Die Konkurrenz starb fast
vor Neid, als wir mit dieser Neuigkeit herauskamen; sie hatte weiter nichts
als einfache Lagerphotographien, und auch Heinrich fand die Idee damals
großartig, besonders die Anwendung des Blattgoldes. Um den Effekt
vullig naturlich zu machen, hatte ich numlich die gezeichneten und gemalten
Grabsteine mit Inschriften aus in Firnis aufgelusten Blattgold geschmuckt.
Ich verlebte eine kustliche Zeit dabei; jeden Menschen, den ich nicht leiden
konnte, ließ ich sterben und malte ihm seinen Grabstein - meinem
Unteroffizier aus der Rekrutenzeit, der heute noch fruhlich lebt, zum
Beispiel: Hier ruht nach langem, unendlich qualvollem Leiden, nachdem ihm
alle seine Lieben in den Tod vorausgegangen sind, der Schutzmann Karl
Flumer. Das war nicht ohne Berechtigung - der Mann hatte mich stark
geschunden und mich im Felde zweimal auf Patrouillen geschickt, von denen
ich nur durch Zufall lebendig zuruckgekommen war. Da konnte man ihm schon
allerhand wunschen!
"Herr Kroll", sage ich, "erlauben Sie, daß wir Ihnen noch einmal
kurz die Zeit erkluren. Die Grundsutze, mit denen Sie aufgewachsen sind,
sind edel, aber sie fuhren heute zum Bankrott. Geld verdienen kann jetzt
jeder; es wertbestundig halten fast keiner. Das Wichtige ist nicht, zu
verkaufen, sondern einzukaufen und so rasch wie muglich bezahlt zu werden.
Wir leben im Zeitalter der Sachwerte. Geld ist eine Illusion; jeder
weiß es, aber viele glauben es trotzdem noch nicht. Solange das so
ist, geht die Inflation weiter, bis das absolute Nichts erreicht ist. Der
Mensch lebt zu 75 Prozent von seiner Phantasie und nur zu 25 Prozent von
Tatsachen - das ist seine Sturke und seine Schwuche, und deshalb findet
dieser Hexentanz der Zahlen immer noch Gewinner und Verlierer. Wir wissen,
daß wir keine absoluten Gewinner sein kunnen; wir muchten aber auch
nicht ganz zu den Verlierern zuhlen. Die dreiviertel Million, fur die Sie
heute verkauft haben, ist, wenn sie erst in zwei Monaten bezahlt wird, nicht
mehr wert als heute funfzigtausend Mark. Deshalb -"
Heinrich ist dunkelrot angeschwollen. Jetzt unterbricht er mich. "Ich
bin kein Idiot", erklurt er zum zweiten Male. "Und Sie brauchen mir keine
solchen albernen Vortruge zu halten. Ich weiß mehr vom praktischen
Leben als Sie. Und ich will lieber in Ehren untergehen als zu fragwurdigen
Schiebermethoden greifen, um zu existieren. Solange ich Verkaufsleiter der
Firma bin, wird das Geschuft im alten, anstundigen Sinne weitergefuhrt, und
damit basta! Ich weiß, was ich weiß, und damit ist es bis jetzt
gegangen, und so wird es weitergehen! Ekelhaft, einem die Freude an einem
gelungenen Geschuft so verderben zu wollen! Warum sind Sie nicht Arschpauker
geblieben?"
Er greift nach seinem Hut und wirft die Tur schmetternd hinter sich zu.
Wir sehen ihn auf seinen stummigen X-Beinen uber den Hof stampfen,
halbmiliturisch mit seinen Radfahrklammern. Er ist im Abmarsch zu seinem
Stammtisch in der Gastwirtschaft Blume.
"Freude am Geschuft will er haben, dieser burgerliche Sadist", sage ich
urgerlich. "Auch das noch! Wie kann man unser Geschuft anders als mit
frommem Zynismus betreiben, wenn man seine Seele bewahren will? Dieser
Heuchler aber will Freude am Schacher mit Toten haben und hult das noch fur
sein angestammtes Recht!"
Georg lacht. "Nimm dein Geld, und laß uns auch aufbrechen!
Wolltest du dir nicht noch eine Krawatte kaufen? Vorwurts damit! Heute gibt
es keine Gehaltserhuhungen mehr!"
Er nimmt den Koffer mit dem Geld und stellt ihn achtlos in das Zimmer
neben dem Buro, wo er schluft. Ich verstaue meine Packen in einer Tute mit
der Aufschrift: Konditorei Keller - feinste Backwaren, Lieferung auch ins
Haus.
"Kommt Riesenfeld tatsuchlich?" frage ich.
"Ja, er hat telegraphiert."
"Was will er? Geld? Oder verkaufen?"
"Das werden wir sehen", sagt Georg und schließt das Buro ab.
2 Wir treten aus der Tur. Die heftige Sonne des sputen Aprils sturzt
auf uns herunter, als wurde ein riesiges goldenes Becken mit Licht und Wind
ausgeschuttet. Wir bleiben stehen. Der Garten steht in grunen Flammen, das
Fruhjahr rauscht im jungen Laub der Pappel wie eine Harfe, und der erste
Flieder bluht.
"Inflation!" sage ich. "Da hast du auch eine - die wildeste von allen.
Es scheint, daß selbst die Natur weiß, daß nur noch in
Zehntausenden und Millionen gerechnet wird. Sieh dir an, was die Tulpen da
machen! Und das Weiß druben und das Rot und uberall das Gelb! Und wie
das riecht!"
Georg nickt, schnuppert und nimmt einen Zug aus der Brasil; Natur ist
fur ihn doppelt schun, wenn er dabei eine Zigarre rauchen kann.
Wir fuhlen die Sonne auf unseren Gesichtern und blicken auf die Pracht.
Der Garten hinter dem Hause ist gleichzeitig der Ausstellungsplatz fur
unsere Denkmuler. Da stehen sie, angefuhrt wie eine Kompanie von einem
dunnen Leutnant, von dem Obelisken Otto, der gleich neben der Tur seinen
Posten hat. Er ist das Stuck, das ich Heinrich geraten habe zu verkaufen,
das ulteste Denkmal der Firma, ihr Wahrzeichen und eine Monstrositut an
Geschmacklosigkeit. Hinter ihm kommen zuerst die billigen kleinen
Hugelsteine aus Sandstein und gegossenem Zement, die Grabsteine fur die
Armen, die brav und anstundig gelebt und geschuftet haben und dadurch
naturlich zu nichts gekommen sind. Dann folgen die grußeren, schon mit
Sockeln, aber immer noch billig, fur die, die schon etwas Besseres sein
muchten, wenigstens im Tode, da es im Leben nicht muglich war. Wir verkaufen
mehr davon als von den ganz einfachen, und man weiß nicht, ob man
diesen versputeten Ehrgeiz der Hinterbliebenen ruhrend oder absurd finden
soll. Das nuchste sind die Hugelsteine aus Sandstein mit eingelassenen
Platten aus Marmor, grauem Syenit oder schwarzem schwedischem Granit. Sie
sind bereits zu teuer fur den Mann, der von seiner Hunde Arbeit gelebt hat.
Kleine Kaufleute, Werkmeister, Handwerker, die einen eigenen Betrieb gehabt
haben, sind die Kunden dafur - und naturlich der ewige Unglucksrabe, der
kleine Beamte, der immer mehr vorstellen muß, als er ist, dieser brave
Stehkragenproletarier, von dem keiner weiß, wie er es fertigbringt,
heutzutage noch zu existieren, da seine Gehaltserhuhungen stets viel zu sput
kommen.
braucht, kann man ihm nicht folgen und ihm nicht beistehen, das habe
ich oft genug gesehen, wenn ich im Kriege in die toten Gesichter meiner
Kameraden geblickt habe. Jeder hat seinen eigenen Tod und muß ihn
allein sterben, und niemand kann ihm dabei helfen.
"Du lußt mich nicht allein?" flustert sie.
"Ich lasse dich nicht allein."
"Schwure es", sagt sie und bleibt stehen.
"Ich schwure es", erwidere ich unbedenklich.
"Gut, Rudolf." Sie seufzt, als wure jetzt vieles leichter.
"Aber vergiß es nicht. Du vergißt so oft."
"Ich werde es nicht vergessen."
"Kusse mich."
Ich ziehe sie an mich. Ich fuhle ein sehr leichtes Grauen und
weiß nicht, was ich tun soll, und kusse sie mit trockenen,
geschlossenen Lippen.
Sie hebt ihre Hunde um meinen Kopf und hult ihn. Plutzlich spure ich
einen scharfen Biß und stoße sie zuruck. Meine Unterlippe
blutet. Sie hat hineingebissen. Ich starre sie an. Sie luchelt. Ihr Gesicht
ist verundert. Es ist buse und schlau. "Blut!" sagt sie leise und
triumphierend. "Du wolltest mich wieder betrugen, ich kenne dich! Aber jetzt
kannst du es nicht mehr. Es ist besiegelt. Du kannst nicht mehr weg!"
"Ich kann nicht mehr weg", sage ich ernuchtert. "Meinetwegen! Darum
brauchst du mich aber doch nicht wie eine Katze anzufallen. Wie das blutet!
Was soll ich der Oberin sagen, wenn sie mich so sieht?"
Isabelle lacht. "Nichts", erwidert sie. "Warum mußt du immer
etwas sagen? Sei doch nicht so feige!"
Ich spure das Blut lau in meinem Munde. Mein Taschentuch hat keinen
Zweck - die Wunde muß sich von selbst schließen. Genevive steht
vor mir. Sie ist plutzlich Jenny. Ihr Mund ist klein und hußlich, und
sie luchelt schlau und boshaft. Dann beginnen die Glocken fur die
Maiandacht. Eine Pflegerin kommt den Weg entlang. Ihr weißer Mantel
schimmert ungewiß im Zwielicht.
Meine Wunde ist wuhrend der Andacht getrocknet, ich habe meine tausend
Mark empfangen und sitze jetzt mit dem Vikar Bodendiek am Tisch. Bodendiek
hat seine seidenen Gewunder in der kleinen Sakristei abgelegt. Vor funfzehn
Minuten war er noch eine mystische Figur -weihrauchumdampft stand er in
Brokat und Kerzenlicht da und hob die goldene Monstranz mit dem Leib Christi
in der Hostie uber die Kupfe der frommen Schwestern und die Schudel der
Irren, die Erlaubnis haben, bei der Andacht dabeizusein - jetzt aber, im
schwarzen abgeschabten Rock und dem leicht verschwitzten weißen
Kragen, der hinten statt vorne geschlossen ist, ist er nur noch ein
einfacher Agent Gottes, gemutlich, kruftig, mit den roten Backen, der roten
Nase und den geplatzten Aderchen darin, die den Liebhaber des Weines
kennzeichnen. Er weiß es nicht - aber er war mein Beichtvater fur
manche Jahre vor dem Kriege, als wir, auf Anordnung der Schule, jeden Monat
beichten und kommunizieren mußten. Wer nicht ganz dumm war, ging zu
Bodendiek. Er war schwerhurig, und da man bei der Beichte flustert, konnte
er nicht verstehen, was fur Sunden man bekannte. Er gab deshalb die
leichtesten Bußen auf. Ein paar Vaterunser, und man war aller Sunden
ledig und konnte Fußball spielen gehen oder in der Studtischen
Leihbucherei versuchen, verbotene Bucher zu bekommen. Das war etwas anderes
als beim Dompastor, zu dem ich einmal geriet, weil ich es eilig hatte und
weil vor Bodendieks Beichtstuhl eine lange Schlange Wartender stand. Der
Dompastor gab mir eine heimtuckische Buße auf: Ich mußte in
einer Woche wieder zur Beichte kommen, und als ich es tat, fragte er mich,
warum ich da sei. Da man in der Beichte nicht lugen darf, sagte ich es ihm,
und er gab mir als Buße ein paar Dutzend Rosenkrunze zu beten und den
Befehl, die folgende Woche ebenfalls wiederzukommen. Das ging so weiter, und
ich verzweifelte fast - ich sah mich bereits mein ganzes Leben an der Kette
des Dompastors zu wuchentlichen Konfessionen verurteilt. Zum Gluck bekam der
heilige Mann in der vierten Woche die Masern und mußte im Bett
bleiben. Als mein Beichttag herankam, ging ich zu Bodendiek und erklurte ihm
mit lauter Stimme die Lage - der Dompastor habe mich verpflichtet, heute
wieder zu beichten, aber er sei krank. Was ich tun solle? Zu ihm hingehen
kunne ich nicht, da Masern ansteckend seien. Bodendiek entschied, daß
ich bei ihm ebensogut beichten kunne; Beichte sei Beichte und Preister
Priester. Ich tat es und war frei. Den Dompastor aber mied ich seither wie
die Pest.
Wir sitzen in einem kleinen Zimmer in der Nuhe des großen Saales
fur die freien Kranken. Es ist kein eigentliches Eßzimmer;
Bucherregale stehen darin, ein Topf mit weißen Geranien, ein paar
Stuhle und Sessel und ein runder Tisch. Die Oberin hat uns eine Flasche Wein
geschickt, und wir warten auf das Essen. Ich hutte vor zehn Jahren nie
geglaubt, einmal mit meinem Beichtvater eine Flasche Wein zu trinken - aber
ich hutte damals auch nie geglaubt, daß ich einmal Menschen tuten und
dafur nicht aufgehungt, sondern dekoriert werden wurde, und trotzdem ist es
so gekommen.
Bodendiek probiert den Wein. "Ein Schloß Reinhardshausener von
der Domune des Prinzen Heinrich von Preußen", erklurt er anduchtig.
"Die Oberin hat uns da etwas sehr Gutes geschickt. Verstehen Sie was von
Wein?"
"Wenig", sage ich.
"Sie sollten es lernen. Speise und Trank sind Gaben Gottes. Man soll
sie genießen und verstehen."
"Der Tod ist sicher auch eine Gabe Gottes", erwidere ich und blicke
durch das Fenster in den dunklen Garten. Es ist windig geworden, und die
schwarzen Kronen der Buume schwanken. "Soll man den auch genießen und
verstehen?"
Bodendiek sieht mich uber den Rand seines Weinglases belustigt an. "Fur
einen Christen ist der Tod kein Problem. Er braucht ihn nicht gerade zu
genießen; aber verstehen kann er ihn ohne weiteres. Der Tod ist der
Eingang zum ewigen Leben. Da ist nichts zu furchten. Und fur viele ist er
eine Erlusung."
"Warum?"
"Eine Erlusung von Krankheit, Schmerz, Einsamkeit und Elend."
Bodendiek nimmt einen genießerischen Schluck und lußt ihn
hinter seinen roten Backen im Munde umhergehen.
"Ich weiß", sage ich. "Die Erlusung vom irdischen Jammertal.
Warum hat Gott es eigentlich geschaffen?" Bodendiek sieht im Augenblick
nicht so aus, als kunne er das Jammertal nicht ertragen. Er ist rund und
voll und hat die Schuße seines Priesterrocks uber die Lehne des Stuhls
gebreitet, damit sie nicht zerknittern unter dem Druck seines kruftigen
Hinterns. So
"Ich hutte es nicht sagen kunnen! Das nicht! Selbst wenn es mein
sofortiger Tod gewesen wre. Es liegt nicht in meinem Charakter."
"Das stimmt", sage ich. "Der Geizknochen wure lieber verreckt."
"Das meine ich", erklurt Eduard, aufatmend, Hilfe gefunden zu haben. Er
wischt sich die Stirn. Seine Locken sind naß, so hat ihn die letzte
Drohung Valentins erschreckt. Er sah schon einen Prozeß um das
"Walhalla" vor sich. "Also meinetwegen, fur dieses Mal", sagt er rasch, um
nicht weiter bedrungt zu werden. "Kellner, eine halbe Flasche Mosel."
"Johannisberger Langenberg, eine ganze Flasche", korrigiert Valentin
und wendet sich an mich. "Darf ich dich zu einem Glas einladen?"
"Und ob!" erwidere ich.
"Halt!" sagt Eduard. "Das war bestimmt nicht in der Abmachung! Sie war
nur fur Valentin allein! Ludwig kostet mich ohnehin schon jeden Tag schweres
Geld, der Blutsauger mit den entwerteten Eßmarken!"
"Sei ruhig, du Giftmischer", erwidere ich. "Dies ist geradezu eine
Karma-Verknupfung. Du schießt auf mich mit Sonetten, ich bade meine
Wunden dafur in deinem Rheinwein. Willst du, daß ich einer gewissen
Dame einen Zwulfzeiler in der Art des Aretino uber diese Situation
zuschicke, du Wucherer an deinem Lebensretter?"
Eduard verschluckt sich. "Ich brauche frische Luft", murmelt er wutend.
"Erpresser! Zuhulter! Schumt ihr euch eigentlich nie?"
"Wir schumen uns uber schwierigere Dinge, du harmloser
Millionenzuhler." Valentin und ich stoßen an. Der Wein ist
hervorragend.
"Wie ist es mit dem Besuch im Haus der Sunde?" fragt Otto Bambuss,
scheu vorubergleitend.
"Wir gehen bestimmt, Otto. Wir sind es der Kunst schuldig."
"Warum trinkt man eigentlich am liebsten bei Regen?" fragt Valentin und
schenkt neu ein. "Es mußte doch umgekehrt sein."
"Muchtest du fur alles immer eine Erklurung haben?"
"Naturlich nicht. Wo bliebe sonst die Unterhaltung? Mir ist das nur
aufgefallen."
"Vielleicht ist es der Herdentrieb, Valentin. Flussigkeit zu
Flussigkeit."
"Mag sein. Aber ich pisse auch ufter an Tagen, wenn es regnet. Das ist
doch zumindest sonderbar."
Du pißt mehr, weil du mehr trinkst. Was ist daran sonderbar?"
Stimmt." Valentin nickt erleichtert. "Daran habe ich nicht gedacht. Fuhrt
man auch mehr Kriege, weil mehr Menschen geboren werden?"
12 Bodendiek streicht wie eine große schwarze Kruhe durch den
Nebel. "Nun", fragt er jovial. "Verbessern Sie noch immer die Welt?"
"Ich betrachte sie", erwidere ich.
"Aha! Der Philosoph! Und was finden Sie?"
Ich schaue in sein munteres Gesicht, das rot und naß vom Regen
unter dem Schlapphut leuchtet. "Ich finde, daß das Christentum die
Welt in zweitausend Jahren nicht wesentlich weitergebracht hat", erwidere
ich.
Einen Augenblick verundert sich die wohlwollend uberlegene Miene; dann
ist sie wieder wie vorher. "Meinen Sie nicht, daß Sie ein
bißchen jung fur solche Urteile sind?"
"Ja - aber finden Sie nicht, daß es ein trostloses Argument ist,
jemand seine Jugend vorzuwerfen? Haben Sie nichts anderes?"
"Ich habe eine ganze Menge anderes. Aber nicht gegen solche
Albernheiten. Wissen Sie nicht, daß jede Verallgemeinerung ein Zeichen
von Oberfluchlichkeit ist?"
"Ja", sage ich mude. "Ich habe das auch nur gesagt, weil es regnet. Im
ubrigen ist etwas daran. Ich studiere seit einigen Wochen Geschichte, wenn
ich nicht schlafen kann."
"Warum? Auch weil es ab und zu regnet?"
Ich ignoriere den harmlosen Schuß. "Weil ich mich vor vorzeitigen
Zynismus und lokaler Verzweiflung bewahren muchte. Es ist nicht Jedermanns
Sache, mit einfachem Glauben an die heilige Dreifaltigkeit daruber
hinwegzusehen, daß wir mitten drin sind, einen neuen Krieg
vorzubereiten - nachdem wir gerade einen verloren haben, den Sie und
Ihre Herren Kollegen von den verschiedenen protestantischen
Bekenntnissen im Namen Gottes und der Liebe zum Nuchsten gesegnet und
geweiht haben - ich will zugeben, Sie etwas gedumpfter und verlegener - Ihre
Kollegen dafur um so munterer, in Uniform, mit den Kreuzen rasselnd und
siegschnaubend."
Bodendiek schuttelt den Regen von seinem schwarzen Hut. "Wir haben den
Sterbenden im Felde den letzten Trost gespendet - das scheinen Sie vullig
vergessen zu haben."
"Sie hutten es nicht dazu kommen lassen sollen! Warum haben Sie nicht
gestreikt? Warum haben Sie Ihren Gluubigen den Krieg nicht verboten? Das
wure Ihre Aufgabe gewesen. Aber die Zeiten der Murtyrer sind vorbei. Dafur
habe ich oft genug, wenn ich zum Feldgottes dienst mußte, die Gebete
um die Siege unserer Waffen gehurt Glauben Sie, daß Christus fur den
Sieg der Galiluer gegen die Philister gebetet hutte?"
"Der Regen", erwidert Bodendiek gemessen, "scheint Sie ungewuhnlich
emotionell und demagogisch zu machen. Sie wissen anscheinend schon recht
gut, daß man auf geschickte Weise, mit Auslassungen, Umdrehungen und
einseitiger Darstellung, alles in der Welt angreifen und angreifbar machen
kann."
"Das weiß ich. Deshalb studiere ich ja Geschichte. Man hat uns in
der Schule und im Religionsunterricht immer von den dunklen, primitiven,
grausamen vorchristlichen Zeiten erzuhlt. Ich lese das nach und finde,
daß wir nicht viel besser sind - abgesehen von den Erfolgen in Technik
und Wissenschaft. Die aber benutzen wir zum grußten Teil nur, um mehr
Menschen tuten zu kunnen."
"Wenn man etwas beweisen will, kann man alles beweisen, lieber Freund.
Das Gegenteil auch. Fur jede vorgefaßte Meinung lassen sich Beweise
erbringen."
"Das weiß ich auch", sage ich. "Die Kirche hat das auf das
brillanteste vorgemacht, als sie die Gnostiker erledigte."
"Die Gnostiker! Was wissen denn Sie von denen?" fragt Bodendiek mit
beleidigendem Erstaunen.
"Genug, um den Verdacht zu haben, daß sie der tolerantere Teil
des Christentums waren. Und alles, was ich bis jetzt in meinem Leben gelernt
habe, ist, Toleranz zu schutzen."
"Toleranz -", sagt Bodendiek.
"Toleranz!" wiederhole ich. "Rucksicht auf den anderen. Verstundnis fur
den anderen. Jeden auf seine Weise leben lassen. Toleranz, die in unserm
geliebten Vaterlande ein Fremdwort ist."
Mir einen Wort, Anarchie", erwidert Bodendiek leise und plutzlich sehr
scharf.
Wir stehen vor der Kapelle. Die Lichter sind angezundet, und die bunten
Fenster schimmern trustlich in den wehenden Regen. Aus der offenen Tur kommt
der schwache Geruch von Weihrauch. "Toleranz, Herr Vikar", sage ich. "Nicht
Anarchie, und Sie wissen den Unterschied. Aber Sie durfen ihn nicht zugeben,
weil Ihre Kirche ihn nicht hat. Sie sind alleinseligmachend! Niemand besitzt
den Himmel, nur Sie! Keiner kann lossprechen, nur Sie! Sie haben das
Monopol. Es gibt keine Religion außer der Ihren! Sie sind eine
Diktatur! Wie kunnen Sie da tolerant sein?"
"Wir brauchen es nicht zu sein. Wir haben die Wahrheit."
"Naturlich", sage ich und zeige auf die erleuchteten Fenster. "Das
dort! Trost fur Lebensangst. Denke nicht mehr; ich weiß alles fur
dich! Die Versprechung des Himmels und die Drohung mit der Hulle - spielen
auf den einfachsten Emotionen - was hat das mit der Wahrheit zu tun, dieser
Fata Morgana unseres Gehirns?"
"Schune Worte", erklurt Bodendiek, lungst wieder friedlich, uberlegen
und leicht sputtisch.
"Ja, das ist alles, was wir haben - schune Worte", sage ich, urgerlich
uber mich selbst. "Und Sie haben auch nichts anderes - schune Worte."
Bodendiek tritt in die Kapelle. "Wir haben die heiligen Sakramente -"
"Ja -"
"Und den Glauben, der nur Schwachkupfen, denen ihr bißchen
Schudel Verdauungsbeschwerden macht, als Dummheit und Weltflucht erscheint,
Sie harmloser Regenwurm im Acker der Trivialitut."
"Bravo." sage ich. "Endlich werden auch Sie poetisch. Allerdings stark
sputbarock."
Bodendiek lacht plutzlich. "Mein lieber Bodmer", erklurt er. "In den
last zweitausend Jahren des Bestehens der Kirche ist schon aus manchem
Saulus ein Paulus geworden. Und wir haben in dieser Zeit grußere
Zwerge gesehen und uberstanden als Sie. Krabbeln Sie nur munter weiter. Am
Ende jedes Weges steht Gott und wartet auf Sie." Er verschwindet mit seinem
Regenschirm in der Sakristei, ein wohlgenuhrter Mann im schwarzen Gehrock.
In einer halben Stunde wird er, phantastischer gekleidet als ein
Husarengeneral, wieder heraustreten und ein Vertreter Gottes sein. Es sind
die Uniformen, sagte Valentin Busch nach der zweiten Flasche Johannisberger,
wuhrend Eduard Knobloch in Melancholie und Mordgedanken versank, nur die
Uniformen Nimm ihnen die Kostume weg, und es gibt keinen Menschen mehr, der
Soldat sein will.
Ich gehe nach der Andacht mit Isabelle in der Allee spazieren. Es
regnet hier unregelmußiger - als hockten Schatten in den Buumen, die
sich mit Wasser besprengen. Isabelle trugt einen hochgeschlossenen dunklen
Regenmantel und eine kleine Kappe, die das Haar verdeckt. Nichts ist von ihr
zu sehen als das Gesicht, das durch das Dunkel schimmert wie ein schmaler
Mond. Das Wetter ist kalt und windig, und niemand außer uns ist mehr
im Garten. Ich habe Bodendiek und den schwarzen urger, der manchmal grundlos
wie eine schmutzige Fontune aus mir hervorschießt, lungst vergessen.
Isabelle geht dicht neben mir, ich hure ihre Schritte durch den Regen und
spure ihre Bewegungen und ihre Wurme, und es scheint die einzige Wurme zu
sein, die in der Welt ubriggeblieben ist.
Sie bleibt plutzlich stehen. Ihr Gesicht ist blaß und
entschlossen, und ihre Augen scheinen fast schwarz zu sein.
"Du liebst mich nicht genug", stußt sie hervor.
Ich sehe sie uberrascht an. "Es ist, soviel ich kann", sage ich.
Sie steht eine Weile schweigend. "Nicht genug", murmelt sie dann. "Nie
genug! Es ist nie genug!"
"Ja", sage ich. "Wahrscheinlich ist es nie genug. Nie im Leben, nie,
mit niemandem. Wahrscheinlich ist es immer zu wenig, und das ist das Elend
der Welt."
"Es ist nicht genug", wiederholt Isabelle, als hutte sie mich nicht
gehurt. "Sonst wuren wir nicht noch zwei."
"Du meinst, sonst wuren wir eins?"
Sie nickt.
Ich denke an das Gespruch mit Georg, wuhrend wir den Gluhwein tranken.
"Wir werden immer zwei bleiben mussen, Isabelle", sage ich vorsichtig. "Aber
wir kunnen uns lieben und glauben, wir wuren nicht mehr zwei."
"Glaubst du, wir sind schon einmal eins gewesen?"
"Das weiß ich nicht. Niemand kunnte so etwas wissen. Man wurde
keine Erinnerung haben."
Sie sieht mich starr aus dem Dunkel an. "Das ist es, Rudolf", flustert
sie. "Man hat keine. An nichts. Warum nicht? Man sucht und sucht. Warum ist
alles fort? Es ist doch so viel dagewesen! Nur das weiß man noch! Aber
nichts anderes mehr. Warum weiß man es nicht mehr? Du und ich, war das
nicht einmal schon ? Sag es! Sag es doch! Wo ist es jetzt,
Rudolf?"
Der Wind wirft einen Schwall Wasser klatschend uber uns weg. Vieles ist
so, als wure es schon einmal gewesen, denke ich. Es kommt oft ganz nahe
wieder heran und steht vor einem, und man weiß, es war schon einmal
da, genauso, man weiß sogar einen Augenblick fast noch, wie es
weitergehen muß, aber dann entschwindet es, wenn man es fassen will,
wie Rauch oder eine tote Erinnerung.
"Wir kunnten uns nie erinnern, Isabelle", sage ich. "Es wure so wie mit
dem Regen. Er ist auch etwas, das eins geworden ist, aus zwei Gasen,
Sauerstoff und Wasserstoff, die nun nicht mehr wissen, daß sie einmal
Gase waren. Sie sind jetzt nur noch Regen und haben keine Erinnerung an das
Vorher."
"Oder wie Trunen", sagt Isabelle. "Aber Trunen sind voll von
Erinnerungen."
Wir gehen eine Zeitlang schweigend weiter. Ich denke an die sonderbaren
Momente, wenn einen unvermutet das Doppelgungergesicht einer scheinbaren
Erinnerung uber viele Leben hinweg juh anzusehen scheint. Der Kies knirscht
unter unseren Schuhen. Hinter der Mauer des Gartens hupt langgezogen ein
Auto, als warte es auf jemand, der entfliehen will. "Dann ist sie wie Tod",
sagt Isabelle schließlich.
"Was?"
"Liebe. Vollkommene Liebe."
"Wer weiß das, Isabelle? Ich glaube, niemand kann das jemals
wissen. Wir erkennen immer nur etwas, solange wir jeder noch ein Ich sind.
Wenn unsere Ichs miteinander verschmulzen, so wure es wie beim Regen. Wir
wuren ein neues Ich und kunnten uns an die einzelnen fruheren Ichs nicht
mehr erinnern. Wir wuren etwas anderes - so verschieden wie Regen von Luft -
nicht mehr ein gesteigertes Ich durch ein Du."
"Und wenn Liebe vollkommen wure, so daß wir verschmulzen, dann
wure es wie Tod ?"
"Vielleicht", sage ich zugernd. "Aber nicht so wie Vernichtung. Was Tod
ist, weiß niemand, Isabelle. Man kann ihn deshalb mit nichts
vergleichen. Aber wir wurden uns sicher nicht mehr als Selbst fuhlen. Wir
wurden nur wieder ein anderes einsames Ich werden."
"Dann muß Liebe immer unvollkommen sein?"
"Sie ist vollkommen genug", sage ich und verfluche mich, weil ich mit
meiner pedantischen Schulmeisterei wieder so weit in ein Gespruch
hineingeraten bin.
Isabelle schuttelt den Kopf. "Weiche nicht aus, Rudolf! Sie muß
unvollkommen sein, ich sehe das jetzt. Wenn sie vollkommen wure, gube es
einen Blitz, und nichts wure mehr da."
"Es wure noch etwas da - aber jenseits von unserer Erkenntnis."
"So wie der Tod?"
Ich sehe sie an. "Wer weiß das?" sage ich vorsichtig, um sie
nicht weiter zu erregen. "Vielleicht hat der Tod einen ganz falschen Namen.
Wir sehen ihn immer nur von einer Seite. Vielleicht ist er die vollkommene
Liebe zwischen Gott und uns."
Der Wind wirft einen Schwall Regen durch die Blutter der Buume, die ihn
mit Geisterhunden weiterwerfen. Isabelle schweigt eine Weile. "Ist Liebe
deshalb so traurig?" fragt sie dann.
"Sie ist nicht traurig. Sie macht nur traurig, weil sie unerfullbar und
nicht zu halten ist."
Isabelle bleibt stehen. "Warum, Rudolf?" sagt sie plutzlich sehr heftig
und stampft mit den Fußen. "Warum muß das so sein?"
Ich sehe in das blasse, gespannte Gesicht. "Es ist das Gluck", sage
ich.
Sie starrt mich an. "Das ist das Gluck?"
Ich nicke.
"Das kann nicht sein! Es ist doch nichts als Ungluck!"
Sie wirft sich gegen mich, und ich halte sie fest. Ich fuhle, wie das
Schluchzen gegen ihre Schultern stußt. "Weine nicht", sage ich. "Was
wurde sein, wenn man um so etwas schon weinen wollte?"
"Um was denn sonst?"
T um was sonst, denke ich. Um alles andere, um das Elend auf die
verfluchten Planeten, aber nicht um das. "Es ist kein Ungluck, Isabelle",
sage ich. "Es ist das Gluck. Wir haben nur so turichte Namen wie
'vollkommen' und 'unvollkommen' dafur."
"Nein, nein!" Sie schuttelt heftig den Kopf und lußt sich nicht
trusten. Sie weint und klammert sich an mich, und ich halte sie in den Armen
und fuhle, daß nicht ich recht habe, sondern sie, daß sie es
ist, die keine Kompromisse kennt, daß in ihr noch das erste, einzige
Warum brennt, das vor aller Verschuttung durch den Murtel des Daseins da
war, die erste Frage des erwachten Selbst.
"Es ist kein Ungluck", sage ich trotzdem. "Ungluck ist etwas ganz
anderes, Isabelle."
"Was?"
"Ungluck ist nicht, daß man nie ganz eins werden kann. Ungluck
ist, daß man sich immerfort verlassen muß, jeden Tag und jede
Stunde. Man weiß es und kann es nicht aufhalten, es rinnt einem durch
die Hunde und ist das Kostbarste, was es gibt, und man kann es doch nicht
halten. Immer stirbt einer zuerst. Immer bleibt einer zuruck."
Sie sieht auf. "Wie kann man verlassen, was man nicht hat?"
"Man kann es", erwidere ich bitter. "Und wie man es kann! Es gibt viele
Stufen des Verlassens und des Verlassenwerdens, und jede ist schmerzlich,
und viele sind wie der Tod."
Isabeiles Trunen haben aufgehurt. "Woher weißt du das?" sagt sie.
"Du bist doch noch nicht alt."
Ich bin alt genug, denke ich. Ein Stuck von mir ist alt geworden, als
ich aus dem Kriege zuruckkam. "Ich weiß es", sage ich. "Ich habe es
erfahren."
Ich habe es erfahren, denke ich. Wie oft habe ich den Tag verlassen
mussen, und die Stunde, und das Dasein, und den Baum im Morgenlicht, und
meine Hunde, und meine Gedanken, und es war jedesmal fur immer, und wenn ich
zuruckkam, war ich ein anderer. Man kann viel verlassen und muß stets
alles hinter sich lassen, wenn man dem Tode entgegentreten muß, man
ist immer nackt vor ihm, und wenn man zuruckfindet, muß man alles neu
erwerben, was man zuruckgelassen hat.
Isabeiles Gesicht schimmert vor mir in der Regennacht, und eine
plutzliche Zurtlichkeit uberstrumt mich. Ich spure wieder in welcher
Einsamkeit sie lebt, unerschrocken, allein mit ihren Geschichten bedroht von
ihnen und ihnen hingegeben, ohne Dach, unter das sie fluchten kunnte, ohne
Entspannung und ohne Ablenkung, ausgesetzt allen Winden des Herzens, ohne
Hilfe von irgend jemand, ohne Klage und ohne Mitleid mit sich selbst. Du
sußes, furchtloses Herz, denke ich, unberuhrt und pfeilgerade zum
Wesentlichen allein hinzielend auch wenn du es nicht erreichst und dich
verirrst - aber wer verirrte sich nicht? Und haben nicht fast alle lungst
aufgegeben? Wo beginnt der Irrtum, das Narrentum, die Feigheit, und wo die
Weisheit und wo der letzte Mut?
Eine Glocke luutet. Isabelle erschrickt. "Es ist Zeit", sage ich. "Du
mußt hineingehen. Sie warten auf dich."
"Kommst du mit?"
"Ja."
Wir gehen dem Hause zu. Als wir aus der Allee treten, empfungt uns ein
Spruhregen, den der Wind in kurzen Stußen wie einen nassen Schleier
umherfegt. Isabelle druckt sich an mich. Ich blicke den Hugel hinunter zur
Stadt. Nichts ist zu sehen. Nebel und Regen haben uns isoliert. Nirgendwo
sieht man mehr ein Licht, wir sind ganz allein. Isabelle geht neben mir, als
gehurte sie fur immer zu mir und als hutte sie kein Gewicht, und es scheint
mir wieder, als habe sie wirklich keines und sei wie die Figuren in Legenden
und Truumen, bei denen auch andere Gesetze gelten als im tuglichen Dasein.
Wir stehen unter der Tur. "Komm!" sagt sie.
Ich schuttle den Kopf. "Ich kann nicht. Heute nicht."
Sie schweigt und sieht mich an, gerade und klar, ohne Vorwurf und ohne
Enttuuschung; aber etwas in ihr scheint auf einmal erloschen zu sein. Ich
senke die Augen. Mir ist, als hutte ich ein Kind geschlagen oder eine
Schwalbe getutet. "Heute nicht", sage ich. "Sputer. Morgen."
Sie dreht sich wortlos um und geht in die Halle. Ich sehe die Schwester
mit ihr die Treppe hinaufsteigen und habe plutzlich das Gefuhl etwas, das
man nur einmal im Leben findet, unwiederbringlich verloren zu haben.
Verwirrt stehe ich herum. Was hutte ich schon tun kunnen? Und wie bin
ich in all dieses wieder hineingeraten? Ich wollte es doch nicht! Dieser
verfluchte Regen!
Langsam gehe ich dem Haupthause zu. Wernicke kommt im weißen
Mantel mit einem Regenschirm heraus. "Haben Sie Fruulein Terhoven
abgeliefert?"
"Ja."
"Gut. Kummern Sie sich doch weiter etwas um sie. Besuchen Sie sie auch
einmal tagsuber, wenn Sie Zeit haben."
"Warum?"
"Daraufkriegen Sie keine Antwort", erwidert Wernicke. "Aber sie ist
ruhig, wenn sie mit Ihnen zusammen war. Es ist gut fur sie. Genugt das?"
"Sie hult mich fur jemand anders."
"Das macht nichts. Mir kommt es nicht auf Sie an - nur auf meine
Kranken." Wernicke blinzelt durch die Spruhnusse. "Bodendiek hat Sie heute
abend gelobt."
"Was? - Dazu hatte er wahrhaftig keinen Grund!"
"Er behauptet, Sie seien auf dem Weg zuruck. Zum Beichtstuhl und zur
Kommunion."
"So etwas!" erklure ich, ehrlich entrustet.
"Verkennen Sie die Weisheit der Kirche nicht! Sie ist die einzige
Diktatur, die seit zweitausend Jahren nicht gesturzt worden ist."
Ich gehe zur Stadt hinunter. Nebel weht seine grauen Fahnen durch den
Regen. Isabelle geistert durch meine Gedanken. Ich habe sie im Stich
gelassen; das ist es, was sie jetzt glaubt, ich weiß es. Ich sollte
uberhaupt nicht mehr hinaufgehen, denke ich. Es verwirrt mich nur, und ich
bin ohnehin verwirrt genug. Aber was wure, wenn sie nicht mehr da wure?
Wurde es nicht so sein, als fehle mir das Wichtigste, das, was nie alt und
verbraucht und alltuglich werden kann, weil man es nie besitzt?
Ich komme zum Hause des Schuhmachermeisters Karl Brill. Aus der
Schuhbesohlanstalt dringen die Klunge eines Grammophons. Ich bin heute abend
hier zu einem Herrenabend eingeladen. Es ist einer der beruhmten Abende, an
denen Frau Beckmann ihre akrobatische Kunst zum besten gibt. Ich zugere
einen Augenblick - ich fuhle mich wahrhaftig nicht danach -, aber dann trete
ich ein. Gerade deshalb.
Ein Schwall von Tabaksrauch und Biergeruch empfungt mich. Karl Brill
steht auf und umarmt mich, leicht schwankend. Er hat einen ebenso kahlen
Kopf wie Georg Kroll, aber er trugt dafur alle seine Haare unter der Nase in
einem muchtigen Walroßschnurrbart. "Sie kommen zur rechten Zeit",
erklurt er. "Die Wetten sind gelegt. Wir brauchen nur bessere Musik als
dieses dumme Grammophon! Wie wure es mit dem Donauwellenwalzer?"
"Gemacht!"
Das Klavier ist bereits in die Schnellbesohlanstalt geschafft worden.
Es steht vor den Maschinen. Im vorderen Teil des Raumes sind die Schuhe und
das Leder beiseite geschoben worden, und uberall, wo es geht, sind Stuhle
und ein paar Sessel verteilt. Ein Faß Bier ist aufgelegt, und ein paar
Flaschen Schnaps sind schon leer. Eine zweite Batterie steht auf dem
Ladentisch. Auf dem Tisch liegt auch ein großer, mit Watte umwickelter
Nagel neben einem kruftigen Schusterhammer.
Ich schmettere den Donauwellenwalzer herunter. Im Qualm schwanken die
Bundesbruder von Karl Brill umher. Sie sind bereits gut geladen. Karl stellt
ein Glas Bier und einen doppelten Steinhuger Schnaps auf das Klavier.
"Klara bereitet sich vor", sagt er. "Wir haben uber drei Millionen in
Wetten zusammen. Hoffentlich ist sie in Huchstform; sonst bin ich halb
bankrott."
Er blinzelt mir zu. "Spielen Sie etwas sehr Schmissiges, wenn es soweit
ist. Das facht sie immer muchtig an. Sie ist ja verruckt mit Musik."
"Ich werde den 'Einzug der Gladiatoren' spielen. Aber wie wure es mit
einer kleinen Seitenwette fur mich?"
Karl blickt auf. "Lieber Herr Bodmer", sagt er verletzt. "Sie wollen
doch nicht gegen Klara wetten! Wie kunnen Sie dann uberzeugend spielen?"
"Nicht gegen sie. Mit ihr. Eine Seitenwette."
"Wieviel?" fragt Karl rasch.
"Lumpige achtzigtausend", erwidere ich. "Es ist mein ganzes Vermugen."
Karl uberlegt einen Augenblick. Dann dreht er sich um.
"Ist noch jemand da, der achtzigtausend wetten will? Gegen unseren
Klavierspieler?"
"Ich!" Ein dicker Mann tritt vor, holt Geld aus einem kleinen
Kufferchen und knallt es auf den Ladentisch.
Ich lege mein Geld daneben. "Der Gott der Diebe beschutze mich", sage
ich. "Sonst bin ich morgen aufs Mittagessen allein angewiesen."
"Also los!" sagt Karl Brill.
Der Nagel wird herumgezeigt. Dann tritt Karl an die Wand, setzt ihn in
der Huhe eines menschlichen Gesußes an und schlugt ihn zu einem
Drittel ein. Er schlugt weniger stark, als seine Geburden es vermuten
lassen. "Sitzt gut und fest", sagt er und tut, als ruttele er kruftig an dem
Nagel.
"Das werden wir erst einmal prufen."
Der Dicke, der gegen mich gewettet hat, tritt vor. Er bewegt den Nagel
und grinst. "Karl", sagt er hohnlachend. "Den blase ich ja aus der Wand. Gib
mal den Hammer her."
"Blase ihn erst aus der Wand."
Der Dicke blust nicht. Er zerrt kruftig, und der Nagel ist
draußen. "Mit meiner Hand", sagt Karl Brill, "kann ich einen Nagel
durch eine Tischplatte schlagen. Mit meinem Hintern nicht. Wenn ihr solche
Bedingungen stellt, lassen wir das Ganze lieber sein."
Der Dicke antwortet nicht. Er nimmt den Hammer und schlugt den Nagel an
einer anderen Stelle der Wand ein.
"Hier, wie ist das?"
Karl Brill pruft. Etwa sechs oder sieben Zentimeter des Nagels ragen
noch aus der Wand. "Zu fest. Den kann man nicht einmal mit der Hand mehr
herausreißen."
"Entweder - oder", erklurt der Dicke.
Karl pruft noch einmal. Der Dicke legt den Hammer auf den Ladenisch und
merkt nicht, daß Karl jedesmal, wenn er probiert, wie fest der Nagel
sei, ihn dadurch lockert.
"Ich kann keine Wette eins zu eins darauf annehmen", sagt Karl
schließlich. "Nur zwei zu eins, und auch da muß ich verlieren."
Sie einigen sich auf sechs zu vier. Ein Haufen Geld turmt sich auf dem
Ladentisch. Karl hat noch zweimal entrustet an dem Nagel gezerrt um zu
zeigen, wie unmuglich die Wette sei. Jetzt spiele ich den "Einzug der
Gladiatoren", und bald darauf rauscht Frau Beckmann in die Werkstatt in
einen losen, lachsroten chinesischen Kimono gekleidet, mit eingestickten
Puonien und einem Phunix auf dem Rucken.
Sie ist eine imposante Figur mit dem Kopf eines Bullenbeißers,
aber eines eher hubschen Bullenbeißers. Sie hat reiches, krauses
schwarzes Haar und glunzende Kirschenaugen - der Rest ist
bullenbeißerisch besonders das Kinn. Der Kurper ist muchtig und vullig
aus Eisen. Ein Paar steinharter Bruste ragt wie ein Bollwerk hervor, dann
kommt eine im Verhultnis zierliche Taille und dann das beruhmte Gesuß,
um das es hier geht. Es ist gewaltig und ebenfalls steinhart. Selbst einem
Schmied soll es angeblich unmuglich sein, hineinzukneifen, wenn Frau
Beckmann es anspannt; er bricht sich eher die Finger. Karl Brill hat auch
damit schon Wetten gewonnen, allerdings nur im intimsten Freundeskreise.
Heute, wo der Dicke dabei ist, wird nur das andere Experiment gemacht - den
Nagel mit dem Gesuß aus der Wand zu reißen.
Alles geht sehr sportlich und kavaliersmußig zu; Frau Beckmann
grußt zwar, ist aber sonst reserviert und beinahe abweisend. Sie
betrachtet die Angelegenheit nur von der sportlich-geschuftlichen Seite.
Ruhig stellt sie sich mit dem Rucken zur Wand, hinter einen niedrigen
Para-vent, macht ein paar fachmunnische Bewegungen und steht dann still, das
Kinn gereckt, bereit, und ernst, wie es sich bei einer großen
sportlichen Leistung geziemt.
Ich breche den Marsch ab und beginne zwei tiefe Triller, die klingen
sollen wie die Trommeln beim Todessprung im Zirkus Busch. Frau Beckmann
strafft sich und entspannt sich. Sie strafft sich noch zweimal Karl Brill
wird nervus. Frau Beckmann erstarrt wieder, die Augen zur Decke gerichtet,
die Zuhne zusammengebissen. Dann klappert es, und sie tritt von der Wand
weg. Der Nagel liegt auf dem Boden.
Ich spiele "Das Gebet einer Jungfrau", eine ihrer Lieblingsnummern. Sie
dankt mit einem graziusen Neigen ihres starken Hauptes, wunscht eine
wohlklingende "Gute Nacht allerseits", rafft den Kimono enger um sich herum
und entschwindet.
Karl Brill kassiert. Er reicht mir mein Geld heruber. Der Dicke
inspiziert den Nagel und die Wand. "Fabelhaft", sagt er.
Ich spiele das "Alpengluhen" und das "Weserlied", zwei weitere
Favoriten Frau Beckmanns. Sie kann sie im oberen Stock huren. Karl blinzelt
mir stolz zu; er ist ja schließlich der Besitzer dieser imposanten
Kneifzange. Steinhuger, Bier und Korn fließen. Ich trinke ein paar mit
und spiele weiter. Es paßt mir, jetzt nicht allein zu sein. Ich muchte
nachdenken, und trotzdem auf keinen Fall nachdenken. Meine Hunde sind voll
einer unbekannten Zurtlichkeit, etwas weht und scheint sich an mich zu
drungen, die Werkstatt verschwindet, der Regen ist wieder da, der Nebel und
Isabelle und das Dunkel. Sie ist nicht krank, denke ich und weiß doch,
daß sie es ist - aber wenn sie krank ist, dann sind wir alle noch
krunker -
Ein lauter Streit weckt mich. Der Dicke hat Frau Beckmanns Formen nicht
vergessen kunnen. Angefeuert durch eine Anzahl Schnupse hat er Karl Brill
ein dreifaches Angebot gemacht: funf Millionen fur einen Nachmittag mit Frau
Beckmann zum Tee - eine Million fur ein kurzes Gespruch jetzt, bei dem er
sie wahrscheinlich zu einem ehrenhaften Abendessen ohne Karl Brill einladen
muchte - und zwei Millionen fur ein paar gute Griffe an das Prachtstuck der
Beckmannschen Anatomie, hier in der Werkstatt, unter Brudern in fruhlicher
Gesellschaft, also durchaus ehrenhaft.
Jetzt aber zeigt sich der Charakter Karls. Wenn der Dicke nur sportlich
interessiert wure, kunnte er die Griffe vielleicht haben, schon gegen eine
Wette von solch einer Lumperei wie hunderttausend Mark - aber in bockhafter
Lust wird sogar der Gedanke an einen solchen Griff von Karl als schwere
Beleidigung empfunden. "So eine Schweinerei!" brullt er. "Ich dachte, ich
hutte nur Kavaliere hier!"
"Ich bin Kavalier", lallt der Dicke. "Deshalb ja mein Angebot."
"Sie sind ein Schwein."
"Das auch. Sonst wure ich ja kein Kavalier. Sie sollten stolz sein, bei
einer solchen Dame - haben Sie denn kein Herz in der Brust? Was kann ich
machen, wenn meine Natur sich in mir aufbuumt? Wozu sind Sie
beleidigt? Sie sind doch nicht mit ihr verheiratet!" Ich sehe, wie Karl
Brill zuckt, als hutte man ihn angeschossen. Er lebt in wilder Ehe mit Frau
Beckmann, die eigentlich seine Haushulterin ist.
Warum er sie nicht heiratet, weiß niemand - huchstens aus
derselben Hartnuckigkeit seines Charakters heraus, mit der er auch im Winter
ein Loch ins Eis haut, um schwimmen zu kunnen. Trotzdem ist dies seine
schwache Stelle.
"Ich", stottert der Dicke, "wurde ein solches Juwel auf Hunden tragen
und sie in Samt und Seide hullen - Seide, rote Seide -", er schluchzt fast
und malt uppige Formen in die Luft. Die Flasche neben ihm ist leer. Es ist
ein tragischer Fall von Liebe auf den ersten Blick. Ich spiele weiter. Die
Vorstellung, daß der Dicke Frau Beckmann auf Hunden tragen kunnte, ist
zuviel fur mich.
"Raus!" erklurt Karl Brill. "Es ist genug. Ich hasse es, Guste
rauszuschmeißen, aber -"
Ein furchtbarer Schrei ertunt aus dem Hintergrund. Wir springen auf.
Ein kleiner Mann tanzt dort herum. Karl sturzt auf ihn zu, greift nach einer
Schere und stellt eine Maschine ab. Der kleine Mann wird ohnmuchtig.
"Verdammt! Wer kann auch wissen, daß er im Suff an der
Schnellbesohlmaschine herumspielt!" flucht Karl.
Wir besichtigen die Hand. Ein paar Fuden hungen heraus. Es hat ihn
zwischen Zeigefinger und Daumen im weichen Fleisch erwischt - ein Gluck.
Karl gießt Schnaps auf die Wunde, und der kleine Mann kommt zu sich.
"Amputiert?" fragt er voll Grauen, als er seine Hand in Karls Pfoten
sieht.
"Unsinn, der Arm ist noch dran."
Der Mann seufzt erleichtert, als Karl ihm den Arm vor seinen Augen
schuttelt. "Blutvergiftung, was?" fragt er.
"Nein. Aber die Maschine wird rostig von deinem Blut. Wir werden deine
Flosse mit Alkohol waschen, Jod draufschmieren und sie verbinden."
"Jod? Tut das nicht weh?"
"Es beißt eine Sekunde. So, als ob deine Hand einen sehr scharfen
Schnaps trinkt."
Der kleine Mann reißt seine Hand weg. "Den Schnaps trinke ich
lieber selbst."
Er holt ein nicht zu sauberes Taschentuch hervor, wickelt es um die
Pfote und greift nach der Flasche. Karl grinst. Dann sieht er umher und
wird unruhig. "Wo ist der Dicke?"
Keiner weiß es. "Vielleicht hat er sich dunne gemacht", sagt
jemand und bekommt einen Schluckauf vor Lachen uber seinen Witz.
Die Tur uffnet sich. Der Dicke erscheint; waagerecht vornubergebeugt
stolpert er herein, hinter ihm, im lachsfarbenen Kimono, Frau Beckmann. Sie
hat ihm die Arme nach hinten hochgedreht und stußt ihn in die
Werkstatt. Mit einem kruftigen Schubs lußt sie los. Der Dicke fullt
vornuber in die Abteilung fur Damenschuhe. Frau Beckmann macht eine
Bewegung, als stuube sie sich die Hunde ab, und geht hinaus. Karl Brill tut
einen riesigen Satz. Er zerrt den Dicken hoch. "Meine Arme!" wimmert der
verschmuhte Liebhaber. "Sie hat sie mir ausgedreht! Und mein Bauch! Oh, mein
Bauch! Was fur ein Schlag!"
Erbraucht uns nichts zu erkluren. Frau Beckmann ist ein ebenburtiger
Gegner fur Karl Brill, den Winterschwimmer und erstklassigen Turner, und hat
ihm bereits zweimal einen Arm gebrochen, ganz zu schweigen von dem, was sie
mit einer Vase oder einem Schureisen anrichten kann. Es ist noch kein halbes
Jahr her, daß zwei Einbrecher von ihr nachts in der Werkstatt
uberrascht wurden. Beide lagen hinterher wochenlang im Krankenhaus, und
einer hat sich nie von einem Hieb mit einem eisernen Fußmodell uber
den Schudel erholt, bei dem er gleichzeitig ein Ohr verlor. Er redet wirr
seitdem.
Karl schleppt den Dicken ans Licht. Er ist weiß vor Wut, aber er
kann nichts mehr tun - der Dicke ist fertig. Es ist, als wolle er einen
schwer Typhuskranken verprugeln. Der Dicke muß einen furchterlichen
Schlag in die Organe erhalten haben, mit denen er sundigen wollte. Er
unfuhig zu gehen. Karl kann ihn nicht einmal rauswerfen. Wir legen ihn in
den Hintergrund auf das Abfalleder.
"Das Schune bei Karl ist, daß es immer so gemutlich ist", sagt
jemand, der versucht, das Klavier mit Bier zu trunken.
ich habe durch die Große Straße nach Hause. Mein Kopf
schwimmt;
uber zuviel getrunken, aber das wollte ich auch. Der Nebel treibt
uber die vereinzelten Lichter, die noch in den Schaufenstern brennen,
und webt goldene Schleier um die Laternen. Im Fenster ein Schlachterladens
bluht ein Alpenrosenstock neben einem geschlachteten Ferkel, dem eine
Zitrone in die blasse Schnauze geklemmt worden ist. Wurste liegen traulich
im Kreise herum. Es ist ein Stimmungsbild, das Schunheit und Zweck
harmonisch vereint. Ich stehe eine Zeitlang davor und wandere dann weiter.
Auf dem dunklen Hof pralle ich im Nebel gegen einen Schatten. Es ist
der alte Knopf, der wieder einmal vor dem schwarzen Obelisken steht. Ich bin
mit voller Wucht gegen ihn gerannt, und er taumelt und schlingt beide Arme
um den Obelisken, als wolle er ihn erklettern. "Es tut mir leid, daß
ich Sie gestoßen habe", sage ich. "Aber weshalb stehen Sie auch hier?
Kunnen Sie Ihre Geschufte denn wirklich nicht in Ihrer Wohnung erledigen?
Oder, wenn Sie schon ein Freiluftakrobat sind, warum nicht an einer
Straßenecke?"
Knopf lußt den Obelisken los. "Verdammt, jetzt ist es in die Hose
gegangen", murmelt er.
"Das schadet Ihnen nichts. Nun erledigen Sie den Rest meinetwegen schon
hier."
"Zu sput."
Knopf stolpert zu seiner Tur hinuber. Ich gehe die Treppen hinauf und
beschließe, Isabelle von dem Geld, das ich bei Karl Brill gewonnen
habe, morgen einen Strauß Blumen zu schicken. Zwar bringt mir so etwas
gewuhnlich nur Ungluck, aber ich weiß nun einmal nichts anderes. Eine
Zeitlang stehe ich noch am Fenster und sehe hinaus in die Nacht und beginne
dann etwas beschumt und sehr leise, Worte und Sutze zu flustern, die ich
gerne einmal jemandem sagen muchte, aber fur die ich niemanden habe,
außer vielleicht Isabelle - doch die weiß ja nicht einmal, wer
ich uberhaupt bin. Doch wer weiß das schon von irgend jemand.
13 Der Reisende Oskar Fuchs, genannt Trunen-Oskar, sitzt im Buro. "Was
gibt es, Herr Fuchs ?" frage ich. "Wie steht es mit der Grippe in den
Durfern?"
"Ziemlich harmlos. Die Bauern sind gut im Futter. In der Stadt ist es
anders. Ich habe zwei Fulle, wo Hollmann und Klotz vor dem Abschluß
stehen. Ein roter Granit, einseitig poliert, Hugelstein, zwei bossierte
Sockel, ein Meter funfzig hoch, zwei Millionen zweihunderttausend Mark - ein
kleiner, eins zehn hoch, eine Million dreihunderttausend Eier. Gute Preise.
Wenn Sie hunderttausend weniger verlangen, haben Sie sie. Meine Provision
ist zwanzig Prozent."
"Funfzehn", erwidere ich automatisch.
"Zwanzig", erklurt Trunen-Oskar. "Funfzehn kriege ich bei Hollmann und
Klotz auch. Wozu da der Verrat?"
Er lugt. Hollmann und Klotz, deren Reisender er ist, zahlen ihm zehn
Prozent und Spesen. Die Spesen bekommt er ohnehin; er macht also bei uns ein
Geschuft von zehn Prozent extra.
"Barzahlung?"
"Das mussen Sie selbst sehen. Die Leute sind gut situiert."
"Herr Fuchs", sage ich. "Warum kommen Sie nicht ganz zu uns? Wir zahlen
besser als Hollmann und Klotz und kunnen einen erstklassigen Reisenden
brauchen."
Fuchs zwinkert. "Es macht mir so mehr Spaß. Ich bin ein
gefuhlsmußiger Mensch. Wenn ich mich uber den alten Hollmann urgere,
schiebe ich Ihnen einen Abschluß zu, als Rache. Wenn ich ganz fur Sie
arbeitete, wurde ich mich uber Sie urgern."
"Da ist was dran", sage ich.
"Das meine ich. Ich wurde dann Sie an Hollmann und Klotz verraten.
Reisen in Grabsteinen ist langweilig; man muß es etwas beleben."
"Langweilig? Fur Sie? Wo Sie doch jedesmal eine artistische Vorstellung
geben?"
Fuchs luchelt wie Gaston Munch im Stadttheater, nachdem er den
Karl-Heinz in "Alt-Heidelberg" gespielt hat.
"Man tut, was man kann", erklurt er mit tobender Bescheidenheit. "Sie
sollen sich großartig entwickelt haben. Ohne Hilfsmittel. Rein
intuitiv. Stimmt das?"
Oskar, der fruher mit rohen Zwiebelscheiben gearbeitet hat, bevor er
die Trauerhuuser betrat, behauptet jetzt, die Trunen frei wie ein
großer Schauspieler erzeugen zu kunnen. Das ist naturlich ein riesiger
Fortschritt. Er braucht so nicht weinend das Haus zu betreten, wie bei der
Zweibeltechnik, wo dann, wenn das Geschuft lunger dauert, die Trunen
versiegen, weil er ja die Zwiebel nicht anwenden kann, solange die ernden
dabeisitzen - im Gegenteil, er kann jetzt trockenen Auges eingehen und
wuhrend des Gespruches uber den Abgeschiedenen naturliche Trunen ausbrechen,
was selbstverstundlich von ganz anderer Wirkung ist. Es ist ein Unterschied
wie zwischen echten und kunstliehen Perlen. Oskar behauptet, so uberzeugend
zu sein, daß er sogar oft von den Hinterbliebenen getrustet und gelabt
wird.
Georg Kroll kommt aus seiner Bude. Eine Fehlfarben-Havanna dampft unter
seiner Nase, und er ist die Zufriedenheit selbst. Geradewegs geht er aufs
Ziel los.
"Herr Fuchs", sagt er. "Ist es wahr, daß Sie auf Befehl weinen
kunnen oder ist das eine niedertruchtige Schreckpropaganda unserer
Konkurrenz?"
Statt einer Antwort starrt Oskar ihn an. "Nun?" fragt Georg. "Was ist?
Fuhlen Sie sich nicht gut?"
"Einen Augenblick! Ich muß erst in Stimmung kommen." Oskar
schließt die Augen. Als er die Lider wieder uffnet, wirken sie schon
etwas wußrig. Er starrt Georg weiter an, und nach einer Weile stehen
ihm tatsuchlich dicke Trunen in den blauen Augen. Noch eine Minute, und sie
rollen ihm uber die Wangen. Oskar zieht ein Taschentuch heraus und tupft sie
auf. "Wie war das?" fragt er und zieht die Uhr. "Knappe zwei Minuten.
Manchmal schaffe ich es in einer, wenn eine Leiche im Hause ist."
"Großartig."
Georg schenkt von dem Kundenkognak ein. "Sie sollten Schauspieler
werden, Herr Fuchs."
"Daran habe ich auch schon gedacht; aber es gibt zu wenige Rollen, in
denen munnliche Trnen verlangt werden. Othello naturlich, sonst -"
"Wie machen Sie es? Irgendein Trick?"
"Imagination", erwidert Fuchs schlicht. "Starke, bildhafte
Vorstellungskraft."
"Was haben Sie sich denn jetzt vorgestellt?"
Oskar trinkt sein Glas aus. "Offen gestanden, Sie, Herr Kroll. Mit
zersplitterten Beinen und Armen und einem Schwarm Ratten, der Ihnen langsam
das Gesicht abfrißt, wuhrend Sie noch leben, wegen der gebrochenen
Arme die Nager aber nicht abwehren kunnen. Entschuldigen Sie, aber fur eine
so rasche Vorstellung brauchte ich ein sehr starkes Bild."
Georg fuhrt sich mit der Hand uber das Gesicht. Es ist noch da.
"Stellen Sie sich auch uhnliche Sachen von Hollmann und Klotz vor, wenn Sie
fur die arbeiten?" frage ich.
Fuchs schuttelt den Kopf. "Bei denen stelle ich mir vor, daß sie
hundert Jahre alt werden und reich und gesund bleiben, bis sie an einem
Herzschlag im Schlaf schmerzlos abfahren - dann strumen mir die Trunen nur
so vor Wut."
Georg zahlt ihm die Provisionen fur die letzten beiden Verrutereien
aus. "Ich habe neuerdings auch einen kunstlichen Schluckauf entwickelt",
sagt Oskar. "Sehr wirksam. Beschleunigt den Abschluß. Die Leute fuhlen
sich schuldig, weil sie glauben, es sei eine Folge der Teilnahme."
"Herr Fuchs, kommen Sie zu uns!" sage ich impulsiv. "Sie gehuren in ein
kunstlerisch geleitetes Unternehmen, nicht zu kahlen Geldschindern."
Trunen-Oskar luchelt gutig, schuttelt das Haupt und verabschiedet sich.
"Ich kann nun mal nicht. Ohne etwas Verrat wurde ich ja nichts sein als ein
flennender Waschlappen. Der Verrat balanciert mich. Verstehen Sie?"
Wir verstehen", sagt Georg. "Von Bedauern zerrissen, aber wir
respektieren Persunlichkeit uber alles."
Ich notiere die Adressen fur die Hugelsteine auf ein Blatt und uber
gebe sie Heinrich Kroll, der im Hof seine Fahrradreifen aufpumpt. Er sieht
die Zettel veruchtlich an. Fur ihn als alten Nibelungen ist Oskar ein
gemeiner Lump, obschon er von ihm, ebenfalls als alter Nibelunge, nicht
ungern profitiert. "Fruher hatten wir so etwas nicht nutig", erklurt
er. "Gut, daß main Vater das nicht mehr erlebt hat."
"Ihr Vater wure nach allem, was ich uber diesen Pionier des
Grabsteinwesens gehurt habe, außer sich vor Freude gewesen, seinen
Konkurrenten einen solchen Streich zu spielen", erwidere ich. "Er war eine
Kumpfernatur - nicht wie Sie auf dem Felde der Ehre, sondern in den
Schutzengruben rucksichtslosen Geschuftslebens. Kriegen wir ubrigens bald
die Restzahlung fur das allseitig polierte Kreuzdenkmal, das Sie im April
verkauft haben? Die zweihunderttausend, die noch fehlen? Wissen Sie, was die
jetzt wert sind? Nicht einmal einen Sokkel."
Heinrich brummt etwas und steckt den Zettel ein. Ich gehe zuruck,
zufrieden, ihn etwas gedumpft zu haben. Vor dem Hause steht das Stuck
Dachruhre, das beim letzten Regen abgebrochen ist. Die Handwerker sind
gerade fertig; sie haben das abgebrochene Stuck erneuert. "Wie ist es mit
der alten Ruhre?" fragt der Meister. "Die kunnen Sie doch nicht mehr
brauchen. Sollen wir sie mitnehmen?"
"Klar", sagt Georg.
Die Ruhre steht an den Obelisken gelehnt, Knopfs Freiluft-Pissoir. Sie
ist einige Meter lang und am Ende rechtwinklig gebogen. Ich habt plutzlich
einen Einfall. "Lassen Sie sie hier stehen", sage ich. "Wir brauchen sie
noch."
"Wofur?" fragt Georg.
"Fur heute abend. Du wirst es sehen. Es wird eine interessante
Vorstellung werden."
Heinrich Kroll radelt davon. Georg und ich stehen vor der Tur und
trinken ein Glas Bier, das Frau Kroll uns durch das Kuchenfenster
herausreicht. Es ist sehr heiß. Der Tischler Wilke schleicht vorbei.
Er trugt ein paar Flaschen und wird in einem mit Hobelspunen ausgepolsterten
Sarg seinen Mittagsschlaf halten. Schmetterlinge spielen um die
Kreuzdenkmuler. Die bunte Katze der Familie Knopf ist truchtig. "Wie steht
der Dollar?" frage ich. "Hast du telefoniert?"
"Funfzehntausend Mark huher als heute morgen. Wenn es so weitergeht,
kunnen wir Riesenfelds Wechsel mit dem Wert eines kleinen Hugelsteins
bezahlen."
"Wunderbar. Schade, daß wir nichts davon behalten haben. Nimmt
einem etwas vom nutigen Enthusiasmus, was?"
Georg lacht. "Auch vom Ernst des Geschuftes. Abgesehen von Heinrich
naturlich. Was machst du heute abend?"
"Ich gehe nach oben; zu Wernicke. Da weiß man wenigstens nichts
vom Ernst und von der Lucherlichkeit des Geschuftslebens. Dort oben geht es
nur ums Dasein. Immer um das ganze Sein, um die volle Existenz, um das Leben
und nichts als das Leben. Darunter gibt es nichts. Wenn man lungere Zeit da
lebte, wurde einem unser luppisches Geschacher um Kleinigkeiten verruckt
vorkommen."
"Bravo", erwidert Georg. "Fur diesen Unsinn verdienst du ein zweites
Glas eiskaltes Bier." Er nimmt unsere Gluser und reicht sie ins
Kuchenfenster hinein. "Gnudige Frau, bitte noch einmal dasselbe." Frau Kroll
streckt ihren grauen Kopf heraus. "Wollt ihr einen frischen Rollmops und
eine Gurke dazu?"
"Unbedingt! Mit einem Stuck Brot. Das kleine Dejeuner fur jede Art von
Weltschmerz", erwidert Georg und reicht mir mein Glas. "Hast du
welchen?"
"Ein anstundiger Mensch in meinem Alter hat immer Weltschmerz",
erwidere ich fest. "Es ist das Recht der Jugend."
"Ich dachte, man hutte dir die Jugend beim Militur gestohlen?"
"Stimmt. Ich bin immer noch auf der Suche nach ihr, finde sie aber
nicht. Deshalb habe ich einen doppelten Weltschmerz. So wie ein amputierter
Fuß doppelt schmerzt."
Das Bier ist wunderbar kalt. Die Sonne brennt uns auf die Schudel, und
auf einmal ist, trotz allen Weltschmerzes, wieder einer der Augenblicke da,
wo man dem Dasein sehr dicht in die grungoldenen Augen starrt. Ich trinke
mein Bier anduchtig aus. Alle meine Adern scheinen plutzlich ein Sonnenbad
genommen zu haben. "Wir vergessen immer wieder, daß wir nur kurze Zeit
diesen Planeten bewohnen", sage ich. "Deshalb haben wir einen vullig irrigen
Weltkomplex. Den von Menschen, die ewig leben. Hast du das schon gemerkt?"
"Und wie! Es ist der Kardinalfehler der Menschheit. An sich ganz
vernunftige Leute lassen grauenhaften Verwandten auf diese Weise Millionen
von Dollars zukommen, anstatt sie selbst zu verbrauchen."
"Gut! Was wurdest du tun, wenn du wußtest, daß du morgen
sterben mußtest?"
"Keine Ahnung."
"Nein? Gut, ein tag ist vielleicht eine zu kurze Zeit. Was wurdest du
tun, wenn du wußtest, daß du in einer Woche dahin wurest?"
"Immer noch keine Ahnung."
"Irgendwas mußtest du doch tun! Wie wure es, wenn du einen Monat
Zeit huttest?"
"Ich wurde wahrscheinlich so weiterleben wie jetzt", sagt Georg, "Ich
hutte sonst den ganzen Monat durch das elende Gefuhl, mein Leben bisher
falsch gelebt zu haben."
"Du huttest einen Monat Zeit, es zu korrigieren."
Georg schuttelt den Kopf. "Ich hutte einen Monat Zeit, es zu bereuen."
"Du kunntest unser Lager verkaufen an Hollmann und Klotz, nach Berlin
fahren und einen Monat mit Schauspielern, Kunstlern und eleganten Huren ein
atemberaubendes Leben fuhren."
"Der Zaster wurde nicht fur acht Tage reichen. Und die Damen wurden nur
Barmudchen sein. Außerdem lese ich lieber daruber. Phantasie
enttuuscht nie. Aber wie ist es mit dir? Was wurdest du machen, wenn du
wußtest, daß du in vier Wochen sterben wurdest?"
"Ich?" sage ich betroffen.
"Ja, du."
Ich blicke in die Runde. Da ist der Garten, grun und heiß, in
allen Farben des Hochsommers, da segeln die Schwalben, da ist das endlose
Blau des Himmels, und oben aus seinem Fenster glotzt der alte Knopf, der
gerade aus seinem Rausch erwacht ist, in Hosentrugern und einem karierten
Hemd auf uns herab. "Ich muß daruber nachdenken", sage ich. "Sofort
kann ich es nicht sagen. Es ist zuviel. Ich habe jetzt nur das Gefuhl,
daß ich explodieren wurde, wenn ich es so wußte, daß es
mir als genug erschiene."
"Denke nicht zu stark nach; sonst mussen wir dich zu Wernicke bringen.
Aber nicht zum Orgelspielen."
"Das ist es", sage ich. "Wahrhaftig, das ist es! Wenn wir es ganz
erkennen kunnten, wurden wir verruckt."
"Noch ein Glas Bier?" fragt Frau Kroll durch das Kuchenfenster. "Es ist
auch Himbeerkompott da. Frisches."
"Gerettet!" sage ich. "Sie haben mich soeben gerettet, gnudige Frau.
Ich war wie ein Pfeil auf dem Wege zur Sonne und zu Wernicke. Gott sei Dank,
alles ist noch da! Nichts ist verbrannt! Das suße Leben spielt noch
mit Schmetterlingen und Fliegen um uns herum, es ist nicht in
Asche zerstuubt, es ist da, es hat noch alle seine Gesetze, auch die,
die wir ihm angelegt haben wie einem Vollblut ein Geschirr! Trotzdem, kein
Himbeerkompott zu Bier, bitte! Dafur aber ein Stuck fließend en Harker
Kuse. Guten Morgen, Herr Knopf! Ein schuner Tag! Was halten Sie vom Leben?"
Knopf starrt mich an. Sein Gesicht ist grau, und unter seinen Augen
Krisen Sucke. Nach einer Weile winkt er verurgert ab und schließt sein
Fenster. "Wolltest du nicht noch was von ihm?" fragt Georg. "Ja, aber erst
heute abend."
Wir treten bei Eduard Knobloch ein. "Sieh da", sage ich und bleibe
stehen, als wure ich gegen einen Baum gerannt. "So spielt das Leben
scheinbar auch! Ich hutte es ahnen sollen!"
In der Weinabteilung sitzt Gerda an einem Tisch, auf dem ein Bukett
Tigerlilien steht. Sie ist allein und hackt gerade auf ein Stuck Rehrucken
ein, das fast so groß ist wie der Tisch. "Was sagst du dazu?" frage
ich Georg. "Riecht das nicht nach Verrat?"
"War etwas zu verraten?" fragt Georg zuruck.
"Nein. Aber wie wure es mit Vertrauensbruch?"
"War ein Vertrauen zu brechen?"
"Laß das, Sokrates!" erwidere ich. "Siehst du nicht, daß
Eduards dicke Pfoten hier im Spiele sind?"
"Das sehe ich. Aber wer hat dich verraten? Eduard oder Gerda?"
"Gerda! Wer sonst? Der Mann hat nie etwas damit zu tun."
"Die Frau auch nicht."
"Wer denn?"
"Du. Wer sonst?"
"Gut", sage ich. "Du hast leicht reden. Du wirst nicht betrogen. Du
betrugst selbst.".
Georg nickt selbstgefullig. "Liebe ist eine Sache des Gefuhls", doziert
er "Keine der Moral Gefuhl aber kennt keinen Verrat. Es nimmt zu, schwindet
oder wechselt - wo ist da Verrat? Es ist kein Kontrakt. Hast du Gerdas Ohren
nicht mit deinem Schmerz um Erna vollgeheult?"
"Nur im Anfang. Sie war ja dabei, als der Krach in der Roten Muhle
"Dann jammere jetzt nicht. Verzichte oder handle."
Ein Tisch neben uns wird frei. Wir setzen uns. Der Kellner Freidank
ruumt ab. "Wo ist Herr Knobloch?" frage ich.
Freidank sieht sich um. "Ich weiß nicht- er war die ganze Zeit an
dem Tisch mit der Dame druben."
"Einfach, was?" sage ich zu Georg. "Soweit wuren wir. Ich bin ein
naturliches Opfer der Inflation. Schon wieder. Erst Erna, jetzt Gerda. Bin
ich ein geborener Hahnrei? Dir passiert so was nicht."
"Kumpfe!" erwidert Georg. "Noch ist nichts verloren. Geh zu Gerda
hinuber!"
"Womit soll ich kumpfen? Mit Grabsteinen? Eduard gibt ihr Rehrukken und
widmet ihr Gedichte. Bei den Gedichten kennt sie den Unterschied in der
Qualitut nicht - beim Eisen leider. Und ich Esel habe mir das selbst
zuzuschreiben! Ich habe sie hierhergebracht und ihren Appetit geweckt.
Buchstublich!"
"Dann verzichte", sagt Georg. "Wozu kumpfen? Um Gefuhle kann man
sowieso nicht kumpfen."
"Nein ? Weshalb rutst du mir dann vor einer Minute, ich solle es tun?"
"Weil heute Dienstag ist. Da kommt Eduard - in seinem Sonntagsgehrock
und mit einer Rosenknospe im Knopfloch. Du bist erledigt."
Eduard stutzt, als er uns sieht. Er schielt zu Gerda hinuber und
begrußt uns dann mit der Herablassung des Siegers.
"Herr Knobloch", sagt Georg. "Ist Treue das Mark der Ehre, wie unser
geliebter Feldmarschall es verkundet hat, oder nicht?"
"Es kommt darauf an", erwidert Eduard vorsichtig. "Heute gibt es
Kunigsberger Klops mit Tunke und Kartoffeln. Ein gutes Essen."
"Darf der Soldat dem Kameraden in den Rucken fallen ?" fragt Georg
weiter. "Der Bruder dem Bruder? Der Poet dem Poeten?"
"Poeten greifen sich dauernd an. Sie leben davon."
" Sie leben vom offenen Kampf; nicht vom Dolchstoß in den Magen"
erklure ich.
Eduard schmunzelt breit. "Der Sieg dem Sieger, mein lieber Ludwig,
catch as catch can. Jammere ich, wenn ihr mit Eßmarken kommt, die
keine Nuß mehr wert sind?"
"Ja", sage ich, "und wie!"
Eduard wird in diesem Augenblick beiseite geschoben. "Kinder, da seid
ihr ja", sagt Gerda herzlich "Laßt uns zusammen essen! Ich habe
gehofft, ihr wurdet kommen!"
"Du sitzest in der Weinabteilung", erwidere ich giftig. "Wir trinken
Bier."
"Ich trinke auch lieber Bier. Ich setze mich zu euch."
"Erlaubst du, Eduard?" frage ich. "Catch as catch can?"
"Was hat Eduard da zu erlauben?" fragt Gerda. "Er freut sich doch, wenn
ich mit seinen Freunden esse. Nicht wahr, Eduard?"
Die Schlange nennt ihn bereits beim Vornamen. Eduard stottert.
"Naturlich, nichts dagegen, selbstverstundlich, eine Freude -"
Erbietet ein schunes Bild, rot, wutend und verbissen luchelnd. "Eine
hubsche Rosenknospe trugst du da", sage ich. "Bist du auf
Freiersfußen? Oder ist das einfache Freude an der Natur?"
"Eduard hat ein sehr feines Gefuhl fur Schunheit", erwidert Gerda.
"Das hat er", bestutige ich. "Hattest du das gewuhnliche Mittagessen?
Lieblose Kunigsberger Klopse in irgendeiner geschmacklosen deutschen Tunke?"
Gerda lacht. "Eduard, zeig, daß du ein Kavalier bist! Laß
mich deine beiden Freunde zum Essen einladen! Sie behaupten dauernd, du
wurest entsetzlich geizig. Laß uns ihnen das Gegenteil beweisen.
Wir haben -"
"Kunigsberger Klops", unterbricht Eduard sie. "Gut, laden wir sie zum
Klops ein. Ich werde fur einen extra guten sorgen."
"Rehrucken", sagt Gerda.
Eduard uhnelt einer defekten Dampfmaschine. "Das da sind keine
Freunde", erklurt er. "Was?"
"Wir sind Blutsfreunde, wie Valentin", sage ich. "Erinnerst du dich
noch an unser letztes Gespruch im Dichterklub? Soll ich es laut wieder-
holen? In welcher Versform dichtest du jetzt?"
"uber was habt ihr gesprochen?" fragt Gerda. "uber nichts", erwidert
Eduard rasch. "Die beiden hier sagen nie ein wahres Wort! Witzbolde,
trostlose Witzbolde sind sie! Wissen nichts vom Ernst des Lebens."
"Ich muchte wissen, wer außer Totengrubern und Sargtischlern mehr
vom Ernst des Lebens weiß als wir", sage ich.
"Ach ihr! Ihr wißt nur was von der Lucherlichkeit des Todes",
erklurt Gerda plutzlich aus heiterem Himmel. "Und deshalb versteht ihr
nichts mehr vom Ernst des Lebens."
Wir starren sie maßlos verblufft an. Das ist bereits unverkennbar
Eduards Stil! Ich fuhle, daß ich auf verlorenem Boden kumpfe, gebe
noch nicht auf.
"Von wem hast du das ?" frage ich. "Du Sybille uber den dunklen Teichen
der Schwermut!"
Gerda lacht. "Fur euch ist das Leben immer gleich beim Grabstein. So
schnell geht das nicht fur andere Menschen. Eduard zum Beispiel ist eine
Nachtigall!"
Eduard bluht uber seine fetten Backen. "Wie ist es also mit dem
Rehrucken?" fragt Gerda ihn.
"Nun, schließlich, warum nicht?"
Eduard entschwindet. Ich sehe Gerda an. "Bravo!" sage ich.
"Erstklassige Arbeit. Was sollen wir davon halten?"
"Mach nicht ein Gesicht wie ein Ehemann", erwidert sie. "Freue dich
einfach deines Lebens, fertig."
"Was ist das Leben?"
"Das, was gerade passiert."
"Bravo," sagt Georg. "Und herzlichen Dank fur die Einladung. Wir lieben
Eduard wirklich sehr; er versteht uns nur nicht."
"Liebst du ihn auch?" frage ich Gerda.
Sie lacht. "Wie kindisch er ist", sagt sie zu Georg. "Kunnen Sie ihm
nicht ein bißchen die Augen daruber uffnen, daß nicht alles
immer sein Eigentum ist? Besonders, wenn er selbst nichts dazu tut."
"Ich versuche fortwuhrend, ihn aufzukluren", erwidert Georg, "Er hat
nur einen Haufen Hindernisse in sich, die er Ideale nennt. Wenn er erst
einmal merkt, daß das euphemistischer Egoismus ist, wird er sich schon
bessern."
"Was ist euphemistischer Egoismus?"
"Jugendliche Wichtigtuerei."
Gerda lacht derartig, daß der Tisch zittert. "Ich habe das nicht
ungern", erklurt sie "Aber ohne Abwechslung ermudet es. Tatsachen sind
nun einmal Tatsachen."
Ich hute mich zu fragen, ob Tatsachen wirklich Tatsachen seien. Gerda
sitzt da, ehrlich und fest, und wartet mit aufgestemmtem Messer auf die
zweite Portion Rehrucken. Ihr Gesicht ist runder als fruher; sie hat schon
zugenommen bei Eduards Kost und strahlt mich an und ist
nicht im mindesten verlegen. Weshalb sollte sie auch? Was fur Rechte
habe ich tatsuchlich schon an ihr? Und wer betrugt im Augenblick wen?
"Es ist wahr", sage ich. "Ich bin mit egoistischen Atavismen behangen
wie ein Fels mit Moos. Mea culpa!"
"Recht, Schatz", erwidert Gerda. "Genieße dein Leben und denke
nur, wenn es nutig ist."
"Wann ist es nutig?"
"Wenn du Geld verdienen mußt oder vorwurtskommen willst."
"Bravo", sagt Georg wieder. In diesem Augenblick erscheint der
Rehrucken, und das Gespruch stockt. Eduard uberwacht uns wie eine Bruthenne
ihre Kuken. Es ist das erstemal, daß er uns unser Essen gunnt. Er hat
ein neues Lucheln, aus dem ich nicht klug werde. Es ist voll von feister
uberlegenheit, und er steckt es Gerda ab und zu heimlich zu wie ein
Verbrecher jemandem einen Kassiber im Gefungnis. Aber Gerda hat immer noch
ihr altes, vullig offenes Lucheln, das sie unschuldig wie ein Kommunionkind
mir zustrahlt, wenn Eduard wegsieht. Sie ist junger als ich, aber ich habe
das Gefuhl, daß sie mindestens vierzig Jahre mehr Erfahrung hat.
"Iß, Baby", sagt sie.
Ich esse mit schlechtem Gewissen und starkem Mißtrauen, und der
Rehbraten, eine Delikatesse ersten Ranges, schmeckt mir plutzlich nicht.
"Noch ein Stuckchen?" fragt Eduard mich. "Oder noch etwas
Preiselbeersoße?"
Ich starre ihn an. Ich habe das Gefuhl, als habe mein fruherer
Rekrutenunteroffizier mir vorgeschlagen, ihn zu kussen. Auch Georg ist
alarmiert. Ich weiß, daß er nachher behaupten wird, der Grund
fur Eduards unglaubliche Freigebigkeit sei die Tatsache, daß Gerda mit
ihm bereits geschlafen habe - aber das weiß ich dieses Mal besser.
Rehrucken kriegt sie nur so lange, wie sie das noch nicht getan hat. Wenn er
sie erst hat, gibt es nur noch Kunigsberger Klopse mit deutscher Tunke. Und
ich habe keine Sorge, daß Gerda das nicht auch weiß.
Trotzdem beschließe ich, mit ihr nach dem Essen zusammen
wegzugehen. Vertrauen ist zwar Vertrauen, aber Eduard hat zuviel
verschiedene Likure in der Bar.
Still und mit allen Sternen hungt die Nacht uber der Stadt. Ich hocke
am Fenster meines Zimmers und warte auf Knopf, fur den ich die Regenruhre
vorbereitet habe. Sie reicht gerade ins Fenster hinein und luuft von da uber
den Toreingang bis an das Knopfsche Haus. Dort macht das kurze Stuck eine
rechtwinklige Biegung zum Hof hin. Man kann aber die Ruhre vom Hof aus nicht
sehen.
Ich warte und lese die Zeitung. Der Dollar ist um weitere zehntausend
Mark hinaufgeklettert. Gestern gab es nur einen Selbstmord, dafur aber zwei
Streiks. Die Beamten haben nach langem Verhandeln endlich eine Lohnerhuhung
erhalten, die inzwischen bereits so entwertet ist, daß sie jetzt kaum
noch einen Liter Milch in der Woche dafur kaufen kunnen. Nuchste Woche
wahrscheinlich nur noch eine Schachtel Streichhulzer. Die Arbeitslosenziffer
ist um weitere hundertfunfzigtausend gestiegen. Unruhen mehren sich im
ganzen Reich. Neue Rezepte fur die Verwertung von Abfullen in der Kuche
werden angepriesen. Die Grippewelle steigt weiter. Die Erhuhung der Renten
fur die Alters- und Invalidenversicherung ist einem Komitee zum Studium
uberwiesen worden. Man erwartet in einigen Monaten einen Bericht daruber.
Die Rentner und Invaliden versuchen sich in der Zwischenzeit durch Betteln
oder durch Unterstutzungen von Bekannten und Verwandten vor dem Verhungern
zu schutzen.
Draußen kommen leise Schritte heran. Ich luge vorsichtig aus dem
Fenster. Es ist nicht Knopf; es ist ein Liebespaar, das auf Zehenspitzen
durch den Hof in den Garten schleicht. Die Saison ist jetzt in vollem Gange,
und die Not der Liebenden ist grußer als je. Wilke hat recht: Wohin
sollen sie gehen, um ungesturt zu sein? Wenn sie versuchen, in ihre
mublierten Zimmer zu schleichen, liegt die Wirtin auf der Lauer um sie im
Namen der Moral und des Neides wie ein Engel mit dem Schwert auszutreiben -
in uffentlichen Anlagen und Gurten werden sie von Polizisten angebrullt und
festgenommen - fur Hotelzimmer haben sie kein Geld - wohin sollen sie also
gehen? In unserem Hof sind sie ungesturt. Die grußeren Denkmuler
bieten Schutz vor anderen Paaren; man wird nicht gesehen, und man kann sich
an sie anlehnen und in ihrem Schatten flustern und sich umarmen, und die
großen Kreuzdenkmuler sind nach wie vor fur die sturmisch Liebenden an
feuchten Tagen da, wenn sie sich nicht am Boden lagern kunnen; dann halten
die Mudchen sich an ihnen fest und werden von ihren Bewerbern bedrungt, der
Regen schlugt in ihre heißen Gesichter, der Nebel weht, ihr Atem
fliegt stoßweise, und die Kupfe, deren Haar ihr Geliebter mit seinen
Fuusten gepackt hat, sind hochgerissen wie die wiehernder Pferde. Die
Schilder, die ich neulich angebracht habe, haben nichts genutzt. Wer denkt
schon an seine Zehen, wenn sein ganzes Dasein in Flammen steht?
Plutzlich hure ich Knopfs Schritte in der Gasse. Ich sehe auf die Uhr.
Es ist halb drei; der Schleifer vieler Generationen unglucklicher Rekruten
muß also schwer geladen haben. Ich drehe das Licht ab.
Zielbewußt steuert Knopf sofort auf den schwarzen Obelisken zu. Ich
nehme das Ende der Regenruhre, das in mein Fenster ragt, presse meinen Mund
dicht an die uffnung und sage: "Knopf!"
Es klingt hohl am anderen Ende, im Rucken des Feldwebels, aus der
Ruhre, als kume es aus einem Grabe. Knopf blickt um sich; er weiß
nicht, woher die Stimme kommt. "Knopf!" wiederhole ich. "Schwein! Schumst du
dich nicht? Habe ich dich deshalb erschaffen, damit du suufst und Grabsteine
anpißt, du Sau?"
Knopf fuhrt wieder herum. "Was?" lallt er. "Wer ist da?"
"Dreckfink!" sage ich, und es klingt geisterhaft und unheimlich.
"Fragen stellst du auch noch? Hast du einen Vorgesetzten zu fragen? Steh
stramm, wenn ich mit dir rede!"
Knopf starrt sein Haus an, von dem die Stimme kommt. Alle Fenster darin
sind dunkel und geschlossen. Auch die Tur ist zu. Das Rohr auf der Mauer
sieht er nicht." Steh stramm, du pflichtvergessener Lump von einem
Feldwebel!" sage ich. "Habe ich dir dafur Litzen am Kragen und einen langen
Subel verliehen, damit du Steine beschmutzest, die fur den Gottesacker
bestimmt sind?" Und schurfer, zischend, im Kommandoton: "Konchen zusammen,
wurdeloser Grabsteinnusser!"
Das Kommando wirkt. Knopf steht stramm, die Hunde an der Hosennaht. Der
Mond spiegelt sich in seinen weit aufgerissenen. Augen. "Knopf", sage ich
mit Gespensterstimme. "Du wirst zum Soldaten zweiter Klasse degradiert, wenn
ich dich noch einmal erwische! Du Schandfleck auf der Ehre des deutschen
Soldaten und des Vereins aktiver Feldwebel a. D."
Knopf horcht, den Kopf etwas seitlich hochgereckt, wie ein
mondsuchtiger Hund. "Der Kaiser?" flustert er.
"Knupfe deine Hose zu und verschwinde!" flustere ich hohl zuruck. "Und
merke dir: Riskiere deine Sauerei noch einmal, und du wirst degradiert und
kastriert! Kastriert auch! Und nun fort, du liederlicher Zivilist,
marsch-marsch!"
Knopf stolpert benommen auf seine Haustur los. Gleich darauf bricht das
Liebespaar wie zwei aufgescheuchte Rehe aus dem Garten und saust auf die
Straße hinaus. Das hatte ich naturlich nicht gewollt.
14 Der Dichterklub ist bei Eduard versammelt. Der Ausflug zum Bordell
ist beschlossen. Otto Bambuss erhofft davon eine Durchblutung seiner Lyrik;
Hans Hungermann will sich Anregungen holen fur seinen "Casanova" und einen
Zyklus in freien Rhythmen: "Dumon Weib", und selbst Matthias Grund, der
Dichter des Buches vom Tode, glaubt fur das letzte Delirium eines
Paranoikers ein paar flotte Details erhaschen zu kunnen. "Warum kommst du
nicht mit, Eduard?" frage ich.
"Kein Bedurfnis", erklurt er uberlegen. "Habe alles, was ich brauche."
"So? Hast du?" Ich weiß, was er vorspiegeln will, und ich
weiß auch daß er lugt.
"Er schluft mit allen Zimmermudchen seines Hotels", erklurt Hans
Hungermann. "Wenn sie sich weigern, entlußt er sie. Er ist ein
wahrhafter Volksfreund."
"Zimmermudchen! Das wurdest du tun! Freie Rhythmen, freie Liebe! Ich
nicht! Nie etwas im eigenen Hause! Alter Wahlspruch."
"Mit Gusten auch nicht?"
"Guste." Eduard richtet die Augen zum Himmel. "Da kann man
sich naturlich oft nicht helfen. Die Herzogin von Bell-Armin zum
Beispiel - "
"Was zum Beispiel?" frage ich, als er schweigt.
Eduard ziert sich. "Ein Kavalier ist diskret."
Hungermann bekommt einen Hustenanfall. "Schune Diskretion! Wie alt war
sie? Achtzig?"
Eduard luchelt veruchtlich - aber im nuchsten Moment fullt das Lucheln
von ihm ab wie eine Maske, deren Knoten gerissen ist; Valentin Busch ist
eingetreten. Er ist zwar kein literarischer Mann, aber er hat trotzdem
beschlossen, mitzumachen. Er will dabeisein, wenn Otto Bambuss seine
Jungfernschaft verliert. "Wie geht es, Eduard?" fragt er. "Schun, daß
du noch am Leben bist, was ? Das mit der Herzogin huttest du sonst nicht
genießen kunnen."
"Woher weißt du, daß es wahr ist?" frage ich vullig
uberrascht.
"Habe es nur draußen im Gang gehurt. Ihr redet ziemlich laut.
Habt wohl schon allerlei getrunken. Immerhin, ich gunne Eduard die Herzogin
von Herzen. Freue mich, daß ich es war, der ihn dafur retten konnte."
"Es war lange vor dem Kriege", erklurt Eduard eilig. Er wittert einen
neuen Anschlag auf seinen Weinkeller.
"Gut, gut", erwidert Valentin nachgiebig. "Nach dem Kriege wirst du
auch schon deinen Mann gestanden und Schunes erlebt haben."
"In diesen Zeiten?"
"Gerade in diesen Zeiten! Wenn der Mensch verzweifelt ist, ist er
leichter dem Abenteuer zugunglich. Und gerade Herzoginnen, Prinzessinnen und
Grufinnen sind in diesen Jahren sehr verzweifelt. Inflation, Republik, keine
kaiserliche Armee mehr, das kann ein Aristokratenherz schon brechen! Wie ist
es mit einer guten Flasche, Eduard?"
"Ich habe jetzt keine Zeit", erwidert Eduard geistesgegenwurtig. "Tut
mir leid, Valentin, aber heute geht es nicht. Wir machen mit dem Klub einen
Ausflug."
"Gehst du denn mit?" frage ich.
"Naturlich! Als Schatzmeister! Muß ich doch! Dachte vorhin nicht
daran! Pflicht ist Pflicht."
Last-modified: Tue, 08 Feb 2005 14:39:26 GMT