Thomas Mann. Der kleine Herr Friedemann
     (1897)
     Pechatnyj istochnik:
     Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Leipzig, 1989
     OCR, Spellcheck: Il'ya Frank
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     Die Amme hatte die Schuld. - Was half es, dass,  als der erste Verdacht
entstand, Frau Konsul Friedemann ihr ernstlich zuredete,  solches  Laster zu
unterdrXcken? Was half es, dass  sie ihr auXer dem nahrhaften Bier ein  Glas
Rotwein tXglich verabreichte? Es stellte sich plXtzlich  heraus, dass dieses
MXdchen  sich herbeilieX, auch noch den  Spiritus  zu trinken, der  fXr  den
Kochapparat  verwendet  werden  sollte,  und ehe Ersatz fXr sie eingetroffen
war,  ehe man sie hatte fortschicken  kXnnen, war das UnglXck geschehen. Als
die Mutter  und ihre  drei  halbwXchsigen  TXchter  eines  Tages  von  einem
Ausgange zurXckkehrten, lag der kleine, etwa einen  Monat alte Johannes, vom
Wickeltische  gestXrzt,  mit  einem  entsetzlich leisen  Wimmern  am  Boden,
wXhrend die Amme stumpfsinnig danebenstand.
     Der  Arzt,  der  mit  einer  behutsamen  Festigkeit  die  Glieder   des
gekrXmmten  und zuckenden  kleinen Wesens  prXfte,  machte  ein  sehr,  sehr
ernstes Gesicht, die drei TXchter standen schluchzend in  einem  Winkel, und
Frau  Friedemann  in ihrer Herzensangst betete laut. Die arme Frau  hatte es
noch vor  der  Geburt  des  Kindes  erleben  mXssen,  dass  ihr  Gatte,  der
niederlXndische Konsul, von einer ebenso plXtzlichen wie  heftigen Krankheit
dahingerafft wurde, und sie war noch zu gebrochen, um Xberhaupt der Hoffnung
fXhig zu sein, der kleine Johannes mXchte ihr erhalten bleiben. Allein  nach
zwei Tagen  erklXrte ihr  der Arzt mit einem  ermutigenden  HXndedruck, eine
unmittelbare  Gefahr sei schlechterdings  nicht mehr vorhanden, die  leichte
Gehirnaffektion,  vor allem,  sei  gXnzlich  behoben,  was  man schon an dem
Blicke sehen  kXnne, der durchaus nicht  mehr den stieren Ausdruck zeige wie
anfangs  ...  Freilich  mXsse man  abwarten, wie im  Xbrigen  sich die Sache
entwickeln werde, und das Beste hoffen, wie gesagt, das Beste hoffen ...
     Das graue  Giebelhaus, in  dem Johannes  Friedemann  aufwuchs,  lag  am
nXrdlichen Tore der alten, kaum mittelgroXen Handelsstadt. Durch die HaustXr
betrat man  eine gerXumige, mit Steinfliesen versehene Diele, von  der  eine
Treppe mit weiXgemaltem HolzgelXnder in die Etagen hinauffXhrte. Die Tapeten
des Wohnzimmers im ersten Stock zeigten verblichene Landschaften, und um den
schweren Mahagonitisch  mit der dunkelroten PlXschdecke standen steiflehnige
MXbel. Hier saX er oft in seiner Kindheit am Fenster,  vor dem stets  schXne
Blumen  prangten,  auf einem kleinen Schemel  zu den FXen seiner Mutter und
lauschte etwa, wXhrend  er ihren  glatten, grauen  Scheitel  und  ihr gutes,
sanftmXtiges  Gesicht betrachtete und den leisen  Duft atmete, der immer von
ihr  ausging, auf eine wundervolle Geschichte. Oder er lieX  sich vielleicht
das  Bild des Vaters zeigen, eines freundlichen Herrn mit grauem Backenbart.
Er befand sich im Himmel, sagte die Mutter, und erwartete dort sie alle.
     Hinter dem Hause war ein kleiner Garten, in dem man wXhrend des Sommers
einen guten Teil des Tages zuzubringen pflegte, trotz des sXlichen Dunstes,
der von einer  nahen Zuckerbrennerei  fast  immer  herXberwehte.  Ein alter,
knorriger  Walnussbaum  stand  dort, und in  seinem  Schatten saX der kleine
Johannes oft auf einem niedrigen Holzsessel und  knackte NXsse, wXhrend Frau
Friedemann und die drei  nun schon erwachsenen Schwestern in einem  Zelt aus
grauem Segeltuch beisammen waren. Dei Blick der Mutter aber hob sich oft von
ihrer   Handarbeit,   um  mit   wehmXtiger   Freundlichkeit   zu  dem  Kinde
hin berzugleiten.
     Er  war nicht schXn,  der kleine  Johannes, und  wie er so  mit  seiner
spitzen  und hohen Brust, seinem weit ausladenden RXcken und seinen viel  zu
langen, mageren Armen auf dem  Schemel  hockte und mit einem  behenden Eifer
seine  NXsse knackte, bot er einen hXchst seltsamen Anblick. Seine Hande und
F Xe aber waren zartgeformt und schmal, und er hatte groXe, rehbraune Augen,
einen weichgeschnittenen Mund  und feines, lichtbraunes Haar. Obgleich  sein
Gesicht so jXmmerlich zwischen den Schultern saX, war es doch  beinahe schXn
zu nennen.
     Als er  sieben Jahre alt war,  ward  er  zur Schule geschickt, und  nun
vergingen die  Jahre einfXrmig und  schnell.  TXglich wanderte  er,  mit der
komisch wichtigen Gangart, die Verwachsenen manchmal eigen ist, zwischen den
Giebelh usern und LXden hindurch  nach dem alten Schulhaus mit den gotischen
GewXlben; und wenn er daheim seine Arbeit getan  hatte, las er vielleicht in
seinen BXchern mit den schXnen, bunten  Titelbildern  oder beschXftigte sich
im  Garten,  wXhrend die Schwestern  der krXnkelnden  Mutter  den  Hausstand
fXhrten. Auch besuchten sie Gesellschaften, denn Friedemanns gehXrten zu den
ersten Kreisen der Stadt; aber geheiratet hatten sie leider noch nicht, denn
ihr VermXgen war nicht eben groX, und sie waren ziemlich hXlich.
     Johannes erhielt wohl ebenfalls  von seinen Altersgenossen hie  und  da
eine Einladung, aber er hatte nicht viel Freude an dem Verkehr mit ihnen. Er
vermochte an ihren Spielen nicht teilzunehmen, und da sie ihm gegenXber eine
befangene ZurXckhaltung immer bewahrten, so konnte es zu einer Kameradschaft
hicht kommen.
     Es  kam die  Zeit,  wo  er  sie  auf  dem  Schulhofe  oft  von gewissen
Erlebnissen sprechen hXrte; aufmerksam und mit groXen Augen lauschte er, wie
sie von ihren  SchwXrmereien fXr dies oder jenes kleine MXdchen redeten, und
schwieg dazu. Diese  Dinge, sagte er sich, von denen die anderen ersichtlich
ganz  erfXllt  waren, gehXrten zu denen,  fXr die er sich nicht eignete, wie
Turnen und Ballwerfen. Das machte  manchmal ein wenig traurig;  am Ende aber
war  er  von jeher daran gewXhnt, fXr sich zu stehen  und die Interessen der
anderen nicht zu teilen.
     Dennoch geschah  es, dass  er X sechzehn Jahre zXhlte  er damals  X  zu
einem gleichalterigen MXdchen eine plXtzliche Neigung  fasste.  Sie  war die
Schwester eines seiner Klassengenossen, ein  blondes, ausgelassen frXhliches
GeschXpf, und  bei  ihrem  Bruder lernte er  sie  kennen.  Er  empfand  eine
seltsame  Beklommenheit  in ihrer  NXhe, und  die  befangene  und  kXnstlich
freundliche Art, mit der  auch sie  ihn behandelte, erfXllte ihn  mit tiefer
Traurigkeit. Als  er eines  Sommernachmittags einsam  vor der Stadt  auf dem
Walle spazieren ging, vernahm er hinter einem Jasminstrauch ein FlXstern und
lauschte vorsichtig zwischen den  Zweigen hindurch.  Auf  der Bank, die dort
stand, saX jenes MXdchen neben einem langen, rotkXpfigen Jungen, den er sehr
wohl kannte; er hatte den Arm um sie gelegt und  drXckte  einen KuX auf ihre
Lippen,  den  sie  kichernd erwiderte. Als Johannes Friedemann dies  gesehen
hatte, machte er kehrt und ging leise von dannen.
     Sein Kopf  saX  tiefer  als  je  zwischen den  Schultern,  seine  HXnde
zitterten, und ein scharfer, drXngender Schmerz stieg ihm aus der Brust deft
Hals hinauf. Aber er wXrgte ihn hinunter und richtete sich entschlossen auf,
so gut er das vermochte. ,Gut', sagte er zu sich, ,das ist zu Ende. Ich will
mich niemals wieder  um dies  alles bekXmmern. Den anderen gewXhrt es  GlXck
und Freude,  mir aber vermag es immer nur Gram und Leid zu bringen.  Ich bin
fertig damit. Es ist fXr mich abgetan. Nie wieder.' -
     Der Entschluss tat ihm wohl. Er verzichtete, verzichtete  auf immer. Er
ging nach Hause und  nahm  ein  Buch zur Hand oder  spielte  Violine, was er
trotz seiner verwachsenen Brust erlernt hatte.
     Mit siebenzehn Jahren verlieX er die Schule, um Kaufmann zu werden, wie
in seinen  Kreisen  alle Welt es war, und trat in das groXe HolzgeschXft des
Herrft Schlievogt, unteft am Fluss, als Lehrling ein. Man behandelte ihn mit
Nachsicht, er seinerseits war freundlich und  entgegenkommend, und friedlich
und geregelt verging die Zeit. In seinem einundzwanzigsten  Lebensjahre aber
starb nach langem Leiden seine Mutter.
     Das war ein groXer Schmerz fXr  Johannes Friedemann, den er sich  lange
bewahrte. Er genoss  ihn, diesen Schmerz, er gab sich ihm hin,  wie man sich
einem   groXen   GlXcke   hingibt,    er    pflegte    ihn    mit    tausend
Kindheitserinnerungen und beutete ihn aus als sein erstes starkes Erlebnis.
     Ist nicht das Leben an sich  etwas Gutes, gleichviel, ob es sich nun so
fXr uns gestaltet, dass man es "glXcklich" nennt? Johannes Friedemann fXhlte
das, und er liebte das Leben. Niemand versteht, mit welcher innigen Sorgfalt
er,  der  auf  das grXte  GlXck,  das  es  uns zu  bieten  vermag, Verzicht
geleistet hatte, die Freuden, die ihm zugXnglich waren, zu genieXen  wusste.
Ein Spaziergang zur FrXhlingszeit drauXen in den Anlagen  vor der Stadt, der
Duft einer  Blume,  der Gesang eines Vogels  X  konnte  man fXr solche Dinge
nicht  dankbar sein? Und dass zur GenussfXhigkelt Bildung gehXrt,  ja,  dass
Bildung immer nur gleich GenussfXhigkeit ist X auch das  verstand er: und er
bildete sich. Er liebte die  Musik und besuchte alle  Konzerte, die etwa  in
der Stadt  veranstaltet  wurden. Er selbst  spielte  allmXhlich, obgleich er
sich ungemein merkwXrdig dabei ausnahm, die Geige nicht Xbel und freute sich
an jedem schXnen und weichen Ton,  der  ihm gelang. Auch hatte er sich durch
viele LektXre mit  der Zeit einen literarischen Geschmack angeeignet, den er
wohl in der Stadt mit niemandem teilte. Er war unterrichtet Xber die neueren
Erscheinungen des In-  und Auslandes, er wusste den rhythmischen  Reiz eines
Gedichtes auszukosten, die  intime Stimmung einer fein geschriebenen Novelle
auf sich wirken  zu lassen ...  oh! man konnte beinahe  sagen, dass  er  ein
Epikureer war.
     Er lernte begreifen, dass  alles  genieXenswert,  und dass  es  beinahe
tXricht  ist,  zwischen  glXcklichen   und   unglXcklichen  Erlebnissen   zu
unterscheiden:  Er nahm alle seine Empfinungen und Stimmungen bereitwilligst
auf  und  pflegte  sie,  die  trXben  so gut  wie  die  heiteren:  auch  die
unerfXllten  WXnsche X die Sehnsucht. Er liebte  sie um  ihrer selbst willen
und sagte sich, dass mit der ErfXllung das Beste vorbei sein wXrde.. Ist das
sXe,  schmerzliche,  vage  Sehnen und  Hoffen stiller FrXhlingsabende nicht
genussreicher als  alle ErfXllungen,  die der Sommer zu bringen vemXchte?  X
Ja, er war ein Epikureer, der kleine Herr Friedemann!
     Das wussten die Leute  wohl nicht, die ihn  auf  der StraXe  mit  jener
mitleidig freundlichen Art begrXten, an die  er von jeher gewXhnt war.  Sie
wussten nicht, dass dieser unglXckliche KrXppel, der da  mit seiner putzigen
Wichtigkeit  in   hellem  Xberzieher   und   blankem  Zylinder   X   er  war
seltsamerweise ein  wenig  eitel X durch die StraXen marschierte,  das Leben
zXrtlich liebte, das ihm sanft  dahinfloss, ohne groXe Affekte, aber erfXllt
von einem stillen und zarten GlXck, das er sich zu schaffen wusste.
     Die  Hauptneigung   aber   des   Herrn  Friedemann,  seine  eigentliche
Leidenschaft, war  das Theater. Er besaX  ein  ungemein starkes dramatisches
Empfinden,  und  bei  einer  wuchtigen  BXhnenwirkung, der Katastrophe eines
Trauerspiels,  konnte  sein ganzer  kleiner  KXrper ins  Zittern geraten. Er
hatte auf dem ersten Range des Stadttheaters seinen bestimmten Platz, den er
mit RegelmXigkeit besuchte, und  hin  und wieder begleiteten ihn seine drei
Schwestern dorthin.  Sie  fXhrten seit dem Tode der  Mutter sich  und  ihrem
Bruder allein die Wirtschaft in  dem alten Hause, in dessen Besitz  sie sich
mit ihm teilten.
     Verheirateit waren sie leider noch immer nicht;  aber  sie waren lXngst
in einem  Alter,  in dem man sich bescheidet, denn Friederike, die  Xlteste,
hatte siebzehn  Jahre  vor Herrn Friedemann voraus.  Sie und  ihre Schwester
Henriette  waren  ein  wenig zu lang und dXnn, wXhrend  Pfiffi, die JXngste,
allzu klein und beleibt erschien. Letztere Xbrigens hatte eine drollige Art,
sich bei jedem Worte zu schXtteln und  Feuchtigkeit dabei in die  Mundwinkel
zu bekommen.
     Der  kleine  Herr  Friedemann  kXmmerte  sich nicht  viel  um  die drei
MXdchen;  sie  aber  hielten  treu zusammen und waren  stets einer  Meinung.
Besonders  wenn  eine  Verlobung  in  ihrer  Bekanntschaft  sich  ereignete,
betonten sie einstimmig, dass dies ja sehr erfreulich sei.
     Ihr Bruder fuhr fort, bei ihnen zu wohnen, auch als er die Holzhandlung
des Herrn Schlievogt verlieX und sich selbstXndig machte, indem er irgendein
kleines GeschXft  Xbernahm, eine Agentur oder  dergleichen,  was nicht allzu
viel  Arbeit in Anspruch nahm. Er  hatte ein paar ParterrerXumlichkeiten des
Hauses  inne, damit er  nur  zu  den  Mahlzeiten die  Treppe hinaufzusteigen
brauchte, denn hin und wieder litt er ein wenig an Asthma. X
     An seinem  dreiXigsten Geburtstage, einem hellen  und  warmen Junitage,
saX  er  nach  dem  Mittagessen in  dem  grauen  Gartenzelt  mit einer neuen
Nackenrolle,  die Henriette  ihm gearbeitet  hatte,  einer guten Zigarre  im
Munde und einem guten Buche in der Hand. Dann und wann hielt er das letztere
beiseite,  horchte auf das yergnXgte Zwitschern von Sperlingen,  die in  dem
alten Nussbaum  saXen, und blickte auf  den sauberen Kiesweg,  der zum Hause
fXhrte, und auf den Rasenplatz mit den bunten Beeten.
     Der kleine Herr  Friedemann trug keinen Bart,  und  sein  Gesicht hatte
sich fast gar nicht verXndert; nur dass die ZXge ein wenig schXrfer geworden
waren. Sein feines, lichtbraunes Haar trug er seitwXrts glatt gescheitelt.
     Als er einmal das Buch ganz auf die Knie herabsinken lieX und hinauf in
den blauen,  sonnigen Himmel  blinzelte, sagte er  zu  sich: ,Das  wXren nun
dreiXig Jahre. Nun kommen vielleicht noch zehn oder auch noch  zwanzig, Gott
weiX  es. Sie werden still und gerXuschlos daherkommen und vorXberziehen wie
die verflossenen, und ich erwarte sie mit Seelenfrieden.' 
     Im  Juli  desselben   Jahres  ereignete  sich  jener  Wechsel   in  der
Bezirkskommandantur,  der  alle  Welt  in Erregung versetzte. Der  beleibte,
joviale Herr, der lange  Jahre hindurch  diesen Posten innegehabt hatte, war
in  den  gesellschaftlichen  Kreisen  sehr beliebt gewesen,  und man sah ihn
ungern scheiden. Gott  weiX,  infolge welches Umstandes nun  ausgemacht Herr
von  Rinnlingen  aus  der  Hauptstadt  hierher gelangte. Der  Tausch  schien
Xbrigens nicht Xbel zu sein, denn der neue Oberstleutnant, der  verheiratet,
aber kinderlos war, mietete in der sXdlichen  Vorstadt eine  sehr  gerXumige
Villa, woraus man schloss, dass  er ein Haus  zu machen gedachte. Jedenfalls
wurde  das  GerXcht, er sei  ganz  auXerordentlich vermXgend,  auch  dadurch
bestXtigt, dass  er  vier  Dienstboten, f nf Reit-  und  Wagenpferde,  einen
Landauer und einen leichten Jagdwagen mit sich brachte.
     Die Herrschaften begannen bald nach  ihrer Ankunft bei den  angesehenen
Familien  Besuche  zu  machen,  upd  ihr  Name  war   in  aller  Munde;  das
Hauptinteresse aber nahm schlechterdings nicht Herr von Rinnlingen selbst in
Atlspruch,  sondern  seine  Gattin.  Die Herren waren verblXfft  und  hatten
vorderhand  noch  kein  Urteil;  die  Damen aber  waren  geradeheraus  nicht
einverstanden mit dem Sein und Wesen Gerdas von Rinnlingen.
     "Dass  man  die  hauptstXdtische  Luft  verspXrt",  XuXerte  sich  Frau
Rechtsanwalt HagenstrXm gesprXchsweise gegen Henriette Friedemann, "nun, das
ist natXrlich. Sie raucht, sie reitet X einverstanden! Aber ihr Benehmen ist
nicht nur frei, es ist  burschikos,  und auch das ist noch nicht das  rechte
Wort  ... Sehen  Sie, sie ist durchaus nicht hXlich,  man kXnnte sie  sogar
hXbsch finden:  und dennoch entbehrt sie jedes weiblichen Reizes,  und ihrem
Blick, ihrem Lachen, ihren Bewegungen  fehlt alles, was  MXnner lieben.  Sie
ist  nicht kokett,  und ich bin, Gott weiX  es,  die letzte,  die  das nicht
lobenswert  fXnde; aber  darf eine so junge Frau X  sie  ist  vierundzwanzig
Jahre alt X die natXrliche anmutige Anziehungskraft ... vollkommen vermissen
lassen? Liebste, ich bin nicht  zungenfertig, aber ich weiX,  was ich meine.
Unsere Herren sind jetzt noch wie vor den Kopf geschlagen: Sie werden sehen,
dass sie sich nach ein paar Wochen gXnzlich degoutiert von ihr abwenden."
     "Nun", sagte FrXulein Friedemann, "sie ist ja vortrefflich versorgt."
     "Ja, ihr Mann!"  rief  Frau  HagenstrXm. "Wie  behandelt  sie ihn?  Sie
sollten es  sehen!  Sie  werden  es sehen! Ich  bin die  erste,  die  darauf
besteht,  dass eine verheiratete  Frau gegen  das  andere Geschlecht  bis zu
einem gewissen Grade abweisend zu sein hat. Wie  aber benimmt sie sich gegen
ihren eigenen Mann? Sie hat  eine  Art, ihn  eiskalt anzusehen und mit einer
mitleidigen Betonung ,Lieber Freund' zu ihm zu sagen, die mich  empXrt! Denn
man muss  ihn  dabei  sehen  X  korrekt; stramm,  ritterlich,  ein  prXchtig
konservierter  Vierziger,  ein  gl nzender  Offizier! Vier  Jahre  sind  sie
verheiratet ... Liebste ..."
     Der  Ort,  an  dem es dem  kleinen  Herrn Friedemann  zum  ersten  Male
vergXnnt war, Frau von Rinnlingen zu erblicken, war die HauptstraXe,  an der
fast  ausschlieXlich GeschXftshXuser lagen,  und  diese Begegnung  ereignete
sich um die Mittagszeit, als er soeben von der BXrse kam, wo er ein WXrtchen
mitgeredet hatte.
     Er  spazierte, winzig  und wichtig,  neben dem  GroXkaufmann  Stephens,
einem  ungewXhnlich groXen  und  vierschrXtigen Herrn  mit rundgeschnittenem
Backenbart  und  furchtbar dicken Augenbrauen.  Beide  trugen  Zylinder  und
hatten  wegen der  groXen WXrme  die Xberzieher  geXffnet. Sie sprachen Xber
Politik, wobei  sie taktmXig ihre  SpazierstXcke auf das Trottoir  stieXen;
als sie aber etwa bis zur Mitte  der StraXe gekommen waren,  sagte plXtzlich
der  GroXkaufmann  Stephens:  "Der Teufel  hole  mich,wenn  dort  nicht  die
Rinnlingen dahergefahren kommt."
     "Nun,  das trifft sich gut", sagte Herr Friedemann mit seiner hohen und
etwas scharfen Stimme und blickte erwartungsvoll  geradeaus. "Ich  habe  sie
nXmlich noch immer  nicht  zu  Gesichte  bekommen.  Da haben wir den  gelben
Wagen."
     In der Tat war es  der gelbe Jagdwagen,  den Frau  von Rinnlingen heute
benutzte, und  sie  lenkte die  beiden schlanken  Pferde in  eigener Person,
wXhrend der  Diener  mit verschrXnkten Armen hinter ihr saX.  Sie trug  eine
weite,  ganz helle Jacke,  und auch der  Rock war  hell. Upter  dem kleinen,
runden Strohhut mit braunem Lederbande quoll  das rotblonde Haar hervor, das
Xber  die Ohren frisiert war und als ein dicker Knoten  tief  in den  Nacken
fiel. Die Hautfarbe ihres ovalen Gesichtes war mattweiX, und  in den Winkeln
ihrer  ungewXhnlich   nahe   beieinanderliegenden   braunen  Augen  lagerten
blXuliche Schatten.  Xber ihrer kurzen,  aber recht fein  geschnittenen Nase
saX ein kleiner Sattel von Sommersprossen, was sie gut kleidete; ob aber ihr
Mund schXn war,  konnte man nicht erkennen,  denn sie schob unaufhXrlich die
Unterlippe vor und wieder zurXck, indem sie sie an der Oberlippe scheuerte.
     GroXkaufmann Stephens grXte auXerordentlich ehrerbietig, als der Wagen
herangekommen war,  und auch  der kleine Herr Friedemann lXftete seinen Hut,
wobei  er Frau  von  Rinnlingen groX und  aufmerksam  ansah. Sie senkte ihre
Peitsche,  nickte leicht mit dem Kopfe und fuhr  langsam  vorXber, indem sie
rechts und links die HXuser und Schaufenster betrachtete.
     Nach ein paar Schritten sagte der GroXkaufmann:
     "Sie hat eine Spazierfahrt gemacht und fXhrt nun nach Hause."
     Der  kleine Herr  Friedemann antwortete nicht, sondem blickte vor  sich
nieder  auf  das Pflaster. Dann sah  er  plXtzlich den  GroXkaufmann  an und
fragte:
     "Wie meinten Sie?"
     Und Herr. Stephens wiederholte seine scharfsinnige Bemerkung.
     Drei Tage  spXter kam  Johannies Friedemann um zwXlf  Uhr  mittags  von
seinem regelmXigen Spaziergange nach Hause. Um halb ein Uhr wurde zu Mittag
gespeist,  und er wollte  gerade noch fXr eine halbe Stunde in sein "Bureau"
gehen,  das gleich rechts neben  der HaustXr lag, als das DienstmXdchen Xber
die Diele kam und zu ihm sagte:
     "Es ist Besuch da, Herr Fnedemann."
     "Bei mir?" fragte er.
     "Nein, oben, bei den Damen."
     " Wer denn?"
     "Herr und Frau Oberstleutnant von Rinnlingen."
     "Oh", sagte Herr friedemann, "da will ich doch ..."
     Und er ging die Treppe hinauf. Oben schritt  er Xber den Vorplatz,  und
er  hatte  schon  den  Griff  der  hohen,  weiXen  TXr in  der Hand, die zum
"Landschaftszimmer"  fXhrte,  als  er  plXtzlich  innehielt,  einen  Schritt
zurXcktrat, kehrtmachte  und langsam wieder davonging,  wie er gekommen war.
Und obgleich er vollkommen allein war, sagte er ganz laut vor sich hin:
     "Nein. Lieber nicht. X"
     Er ging hinunter in sein "Bureau", setzte  sich an den Schreibtisch und
nahm die Zeitung zur Hand. Nach einer Minute aber lieX  er sie wieder sinken
und  blickte seitwXrts  zum  Fenster hinaus.  So  blieb er sitzen,  bis  das
MXdchen kam und meldete, dass angerichtet sei; dann begab er sich hinauf ins
Speisezimmer,  wo die  Schwestern schon seiner warteten, und nahm auf seinem
Stuhle Platz, auf dem drei NotenbXcher lagen.
     Henriette, welche die Suppe auffXllte, sagte:
     "WeiXt du, Johannes, wer hier war?"
     "Nun?" fragte er.
     "Die neuen Oberstleutnants."
     "Ja, so? Das ist liebenswXrdig."
     ,Ja", sagte Pfiffi und bekam FlXssigkeit in die Mundwinkel, "ich finde,
dass beide durchaus angenehme Menschen sind."
     "Jedenfalls", sagte Friederike, "dXrfen  wir  mit  unserem  Gegenbesuch
nicht zXgern. Ich schlage vor, dass wir Xbermorgen gehen, Sonntag."
     "Sonntag", sagten Henriette und Pfiffi.
     "Du wirst doch mit uns gehen, Johannes?" fragte Friederike.
     "Selbstredend!" sagte Pfiffi und schXttelte sich. Herr Friedemann hatte
die Frage ganz XberhXrt und aX mit einer stillen und Xngstlichen Miene seine
Suppe.  Es war, als  ob er irgendwohin horchte;  auf irgendein  unheimliches
GerXusch.
     Am folgenden  Abend  gab man im Stadttheater  den "Lohengrin", und alle
gebildeten Leute waren anwesend. Der kleine  Raum war besetzt  von oben  bis
unten  und  erfXllt  von  summendem  GerXusch, Gasgeruch  und ParfXms.  Alle
AugenglXser aber, im Parkett wie auf den RXngen, richteten sich auf Loge 13,
gleich rechts  neben der  BXhne, denn dort waren heute zum ersten  Male Herr
von Rinnlingen  nebst  Frau erschienen, und man hatte Gelegenheit,  das Paar
einmal  grXndlich zu mustern. Als  der kleine Herr Friedemann  in tadellosem
schwarzen Anzug mit glXnzend weiXem, spitz hervorstehendem Hemdeinsatz seine
Loge X Loge 13 X betrat, zuckte er in der TXr zuruck, wobei er eine Bewegung
mit  der Hand  nach  der  Stirn  machte  und  seine  NasenflXgel  sich einen
Augenblick  krampfhaft  Xffneten. Dann  aber lieX er sich auf seinem  Sessel
nieder, dem Platze links von Frau von Rinnlingen.
     Sie blickte ihn, wXhrender sich setzte, eine Weile aufmerksam an, indem
sie die Unterlippe  vorschob, und wandte sich dann, um mit ihrem Gatten, der
hinter ihr stand,  ein  paar Worte zu wechseln. Es, war ein groXer,  breiter
Herr mit aufgebXrstetem Schnurrbart und einem braunen, gutmXtigen Gesicht.
     Als die OuvertXre begann und Frau von Rinnlingen sich Xber die BrXstung
beugte, lieX  Herr Friedemann einen raschen, hastigen  Seitenblick  Xber sie
hingleiten. Sie  trug eine  helle  Gesellschaftstoilette und  war,  als  die
einzige der anwesenden Damen, sogar ein wenig dekolletiert. Ihre Xrmel waren
sehr  weit  und  bauschig,  und die weiXen  Handschuhe reichten bis  an  die
Ellenbogen. Ihre Gestalt hatte heute etwas Xppiges, was neulich, als sie die
weite Jacke trug, nicht bemerkbar gewesen war; ihr Busen hob und senkte sich
voll und langsam, und der Knoten des rotblonden Haares fiel  tief und schwer
in den Nacken.
     Herr Friedemann war bleich, viel bleicher als gewXhnlich, und unter dem
glattgescheitelten  braunen Haar  standen kleine  Tropfen auf seiner  Stirn.
Frau von Rinnlingen hatte von ihrem linken Arm, der auf dem roten Sammet der
BrXstung  lag; den Handschuh gestreift,  und diesen  runden, mattweiXen Arm,
der wie die schmucklose Hand von ganz blassblauem GeXder durchzogen war, sah
er immer; das war nicht zu Xpdern.
     Die Geigen sangen, die Posaunen schmetterten darein, Telramund fiel, im
Orchester herrschte allgemeiner  Jubel, und der  kleine Herr Friedemann  saX
unbeweglich, blass  und still,  den Kopf  tief zwischen den Schultern, einen
Zeigefinger am Munde und die andere Hand im Aufschlage seines Rockes.
     WXhrend der Vorhang fiel, erhob sich Frau von  Rinnlingen, um mit ihrem
Gatten  die Loge zu verlassen. Herr Friedemann  sah es,  ohne  hinzublicken,
fuhr mit seinem Taschentuch leicht Xber die Stirn, stand plXtzlich auf, ging
bis an die TXr, die auf den Korridor fXhrte, kehrte wieder  um, setzte  sich
an seinen Platz und verharrte dort regungslos in der Stellung, die er vorher
innegehabt hatte.
     Als  das Klingelzeichen erscholl und  seine Nachbarn wieder  eintraten,
fXhlte er, dass Frau von Rinnlingens Augen auf ihm  ruhten,  und ohne  es zu
wollen,  erhob er den Kopf nach ihr. Als  ihre Blicke sich  trafen, sah  sie
durchaus  nicht  beiseite,  sondern  fuhr  fort,  ihn  ohne  eine  Spur  von
Verlegenheit  aufmerksam  zu   betrachten,  bis  er  selbst,  bezwungen  und
gedemXtigt,  die Augen niederschlug. Er ward noch  bleicher  dabei,  und ein
seltsamer, sXlich beizender Zorn stieg in ihm auf ... Die Musik begann.
     Gegen Ende dieses  Aufzuges  geschah es, dass Frau  von Rinnlingen sich
ihren  FXcher  entgleiten lieX und dass derselbe  neben Herrn Friedemann  zu
Boden fiel. Beide bXckten sich gleichzeitig, aber sie ergriff ihn selbst und
sagte mit einem LXcheln, das spXttisch war:
     "Ich danke."
     Ihre  KXpfe waren  ganz dicht beieinander  gewesen, und er  hatte einen
Augenblick  den  warmen  Duft  ihrer  Brust  atmen mXssen.  Sein Gesicht war
verzerrt, sein ganzer  KXrper zog sich  zusammen, und sein  Herz klopfte  so
grXlich  schwer  und wuchtig, dass  ihm der Atem verging. Er saX noch  eine
halbe Minute,  dann  schob er den Sessel zurXck, stand leise  auf  und  ging
leise hinaus.
     Er ging, gefolgt von  den KlXngen der  Musik;  Xber den  Korridor, lieX
sich an der Garderobe seinen Zylinder,  seinen hellen  Xberzieher und seinen
Stock geben und schritt die Treppe hinab auf die StraXe.
     Es war ein warmer, stiller Abend. Im Lichte der Gaslaternen standen die
grauen GiebelhXuser schweigend gegen den Himmel, an dem  die Sterne hell und
milde glXnzten.  Die  Schritte  der wenigen  Menschen,  die Herrn Friedemann
begegneten,  hallten  auf dem  Trottoir. Jemand  grXte ihn,  aber er sah es
nicht;  er  hielt  den  Kopf tief  gesenkt,  und  seine  hohe,  spitze Brust
zitterte, so schwer atmete er. Dann und wann sagte er leise vor sich hin:
     "Mein Gott! Mein Gott!"
     Er sah mit einem entsetzten und angstvollen  Blick  in sich hinein, wie
sein Empfinden, das er so sanft gepflegt, so  milde und klug stets behandelt
hatte, nun emporgerissen war, aufgewirbelt, zerwXhlt ... Und plXtzlich, ganz
XberwXltigt,  in  einem  Zustand  von  Schwindel, Trunkenheit, Sehnsucht und
Qual, lehnte er sich gegen einen Laternenpfahl und flXsterte bebend:
     "Gerda!" -
     Alles blieb still. Weit und breit war  in diesem Augenblick kein Mensch
zu sehen. Der kleine Herr Friedemann raffte sich auf und  schritt weiter. Er
war die StraXe hinaufgegangen, in der das Theater lag und die ziemlich steil
zum  Flusse hinunterlief, und verfolgte  nun die  HauptstraXe  nach  Norden,
seiner Wohnung zu ...
     Wie sie  ihn angesehen hatte! Wie? Sie hatte  ihn  gezwungen, die Augen
niederzuschlagen?  Sie hatte ihn mit ihrem  Blick gedemXtigt?  War sie nicht
eine  Frau  und er ein Mann? Und hatten ihre seltsamen  braunen Augen  nicht
fXrmlich dabei vor Freude gezittert?
     Er  fXhlte  wieder  diesen  ohnmXchtigen,  wollXstigen   Hass  in  sich
aufsteigen, aber dann dachte er an jenen Augenblick, wo ihr Kopf den  seinen
berXhrt,  wo  er den Duft  ihres  KXrpers eingeatmet hatte, und er blieb zum
zweiten Male stehen, beugte den verwachsenen OberkXrper zurXck, zog die Luft
durch die ZXhne ein  und murmelte dann abermals vXllig ratlos, verrzweifelt,
auXer sich:
     "Mein Gott! Mein Gott!"
     Und wieder  schritt er  mechanisch weiter, langsam,  durch  die schwXle
Abendluft, durch  die menschenleeren, hallenden StraXen,  bis er vor  seiner
Wohnung  stand.  Auf der  Diele  verweilte er  einen Augenblick und sog  den
kXhlen, kellerigen  Geruch ein,  der dort herrschte;  dann trat  er in  sein
"Bureau".
     Er  setzte  sich  an  den  Schreibtisch  am offenen Fenster und starrte
geradeaus  auf  eine  groXe, gelbe Rose, die  jemand ihm dort ins Wasserglas
gestellt  hatte. Er  nahm sie und atmete mit geschlossenen Augen ihren Duft;
aber dann schob er sie mit einer mXden und traurigen GebXrde beiseite. Nein,
nein, das  war zu  Ende!  Was war ihm  noch  solcher Duft? Was war ihm  noch
alles, was bis jetzt sein "GlXck" ausgemacht hatte? ...
     Er wandte sich zur Seite und blickte auf die stille StraXe hinaus. Dann
und wann klangen  Schritte  auf und hallten vorXber. Die Sterne  standen und
glitzerten. Wie  todmXde und  schwach er  wurde! Sein Kopf  war so leer: und
seine Verzweiflung begann  in eine groXe, sanfte Wehmut sich aufzulXsen. Ein
paar Gedichtzeilen  flatterten ihm durch den Sinn, die Lohengrinmusik  klang
ihm wieder in den Ohren, er sah noch einmal Frau von Rinnlingens Gestalt vor
sich, ihren weiXen Arm auf  dem roten Sammet,  und  dann verfiel er in einen
schweren, fieberdumpfen Schlaf.
     Oft  war er dicht am Erwachen, aber er fXrchtete sich davor und versank
jedesmal  aufs  neue  in Bewusstlosigkeit. Als es aber vXllig  hell geworden
war, schlug er die Augen auf und sah  mit einem  groXen, schmerzlichen Blick
um sich.  Alles stand ihm klar  vor der Seele;  es war, als sei  sein Leiden
durch den Schlaf gar nicht unterbrochen worden.
     Sein  Kopf  war  dumpf, und die Augen  brannten  ihm; als er  sich aber
gewaschen und die Stirn  mit Eau de Cologne  benetzt hatte, fXhlte  er  sich
wohler  und  setzte  sich  still  wieder, an  seinen Platz  am Fenster,  das
offengeblieben war. Es war  noch ganz frXh  am Tage, etwa um fXnf  Uhr. Dann
und wann ging ein BXckerjunge vorXber, sonst war niemand zu sehen. GegenXber
waren noch  alle Rouleaus geschlossen.  Aber die VXgel zwitscherten, und der
Himmel war leuchtend blau. Es war ein wunderschXner Sonntagmorgen.
     Ein GefXhl  von Behaglichkeit und Vertrauen Xberkam den  kleinen  Herrn
Friedemann. Wovor Xngstigte er sich? War  nicht alles wie  sonst? Zugegeben.
dass es gestern ein schlimmer  Anfall gewesen war; nun, aber damit sollte es
ein Ende haben! Noch  war  es nicht zu  spXt,  noch konnte  er dem Verderben
entrinnen! Jeder Veranlassung  musste er ausweichen, die den Anfall erneuern
kXnnte; er fXhlte die  Kraft dazu. Er fXhlte die Kraft, es zu Xberwinden und
es gXnzlich in sich zu ersticken ...
     Als es halb acht Uhr schlug, trat Friederike ein und stellte den Kaffee
auf den runden Tisch, der vor dem Ledersofa an der RXckwand stand.
     "Guten Morgen, Johannes", sagte sie, "hier ist dein FrXhstXck."
     "Danke", sagte Herr Friedemann. Und dann: "Liebe Friederike, es tut mir
Leid, dass ihr den Besuch werdet allein machen mXssen. Ich fXhle  mich nicht
wohl genug, um euch begleiten zu kXnnen. Ich habe schlecht geschlafen,  habe
Kopfschmerzen, und kurz und gut, ich muss euch bitten ..."
     Friederike antwortete:
     "Das ist schade. Du  darfst  den Besuch  keinesfalls ganz  unterlassen.
Aber es ist wahr,  dass du krank aussiehst. Soll ich dir meinen MigrXnestift
leihen?"'
     "Danke", sagte Herr Friedemann. "Es wird vorXbergehen."
     Und Friederike ging.
     Er trank, am Tische stehend, langsam  seinen Kaffee und aX ein HXrnchen
dazu. Er war zufrieden mit sich und stolz auf seine Entschlossenheit. Als er
fertig  war, nahm er  eine Zigarre und setzte  sich wieder ans  Fenster. Das
FrXhstXck  hatte   ihm  wohlgetan,   und   er  fXhlte  sich  glXcklich   und
hoffnungsvoll. Er nahm ein Buch, las,  rauchte und blickte  blinzelnd hinaus
in die Sonne.
     Es war jetzt  lebendig geworden auf der StraXe; Wagengerassel, GesprXch
und  das Klingeln der Pferdebahn  tXnten zu ihm herein; zwischen  allem aber
war  das Zwitschern der VXgel zu vernehmen; und vom strahlend  blauen Himmel
wehte eine weiche, warme Luft.
     Um zehn Uhr hXrte er die Schwestern  Xber die  Diele kommen,  hXrte die
HaustXr knarren und sah  die  drei Damen dann am  Fenster vor bergehen, ohne
dass  er  besonders  darauf achtete.  Eine  Stunde  verging; er  fXhlte sich
glXcklicher und glXcklicher.
     Eine Art von Xbermut begann ihn zu erfXllen. Was fXr eine Luft das war,
und   wie  die   VXgel  zwitscherten!  Wie  wXre  es,  wenn  er   ein  wenig
spazierenginge?  X Und  da, plXtzlich, ohne  einen Nebengedanken, stieg  mit
einem sXen Schrecken der Gedanke in ihm auf: ,Wenn ich zu ihr ginge?' X Und
indem  er, fXrmlich mit einer Muskelanstrengung, alles in sich unterdrXckte,
was angstvoll  warnte,  fXgte  er mit  einer  glXckseligen  Entschlossenheit
hinzu: ,Ich will zu ihr gehen!'
     Und  er zog seinen schwarzen Sonntagsanzug an,  nahm Zylinder und Stock
und ging  schnell und hastig atmend durch die ganze Stadt  in  die  sXdliche
Vorstadt. Ohne einen Menschen zu sehen, hob und senkte er bei jedem Schritte
in eifriger Weise den Kopf,  ganz in  einem abwesenden, exaltierten  Zustand
befangen, bis er drauXen in der Kastanienallee vor der roten Villa stand, an
deren Eingang der Name "Oberstleutnant von Rinnlingen" zu lesen war.
     Hier  befiel  Ihn  ein Zittern, und das  Herz pochte ihm krampfhaft und
schwer  gegen die Brust. Aber er  ging Xber  den Flur und klingelte drinnen.
Nun  war es entschieden, und  es gab kein ZurXck. Mochte alles  seinen  Gang
gehen, dachte er. In ihm war es plXtzlich totenstill.
     Die TXr sprang auf, der Diener kam ihm Xber den Vorplatz entgegen, nahm
die  Karte in Empfang und eilte damit die Treppe  hinauf, auf der  ein roter
LXufer lag. Auf  diesen starrte Herr Friedemann unbeweglich, bis  der Diener
zurXckkam  und  erklXrte,  die  gnXdige  Frau lasse bitten,  sich hinauf  zu
verfXgen.
     Oben, neben der  SalontXr, wo er seinen  Stock abstellte, warf er einen
Blick in den Spiegel.  Sein Gesicht war bleich, und Xber den gerXteten Augen
klebte  das Haar  an der Stirn;  die  Hand, in  der er  den Zylinder  hielt,
zitterte unaufhaltsam.
     Der  Diener Xffnete,  und er trat  ein. Er sah  sich in einem! ziemlich
groXen,  halbdunkIen  Gemach; die Fenster waren verhXngt.  Rechts stand  ein
FlXgel, und in der Mitte um den runden Tisch gruppierten sich Lehnsessel  in
brauner Seide. Xber  dem Sofa an  der linken Seitenwand hing eine Landschaft
in schwerem Goldrahmen. Auch die Tapete war dunkel. Hinten im  Erker standen
Palmen.
     Eine  Minute  verging, bis  Frau  von  Rinnlingen  rechts  die Portiere
auseinanderschlug  und   ihm  auf   dem   dicken  braunen  Teppich   lautlos
entgegenkam.  Sie  trug ein  ganz  einfach  gearbeitetes,  rot  und  schwarz
gewXrfeltes Kleid. Vom Erker her fiel eine LichtsXule, in welcher der  Staub
tanzte,  gerade auf ihr schweres, rotes Haar,  so  dass es  einen Augenblick
goldig  aufleuchtete. Sie  hielt  ihre  seltsamen  Augen forschend  auf  ihn
gerichtet und schob wie gewXhnlich die Unterlippe vor.
     "Gnadige Frau", begann Herr  Friedemann und blickte zu ihr in die HXhe,
denn er reicnte ihr nur bis  zur Brust, "ich  mXchte Ihnen  auch meinerseits
meine Aufwartung machen. Ich war, als Sie meine Schwestern  beehrten, leider
abwesend und ... bedauerte das aufrichtig ..."
     Er wusste  durchaus nicht  mehr zu sagen, aber  sie stand und  sah  ihn
unerbittlich an, als wollte  sie ihn  zwingen, weiterzusprechen.  Alles Blut
stieg ihm  plXtzlich zu Kopfe. `Sie  will mich quXlen und verhXhnen!' dachte
er,  `und sie durchschaut  mich! Wie ihre Augen  zittern!' ... Endlich sagte
sie mit einer ganz hellen und ganz klaren Stimme:
     "Es  ist  liebenswXrdig,  dass Sie  gekommen  sind.  Ich  habe  neulich
ebenfalls bedauert, Sie zu verfehlen. Haben Sie die GXte, Platz zu nehmen?"
     Sie setzte sich nahe bei ihm,  legte die Arme  auf die Seitenlehnen des
Sessels und lehnte sich zurXck. Er saX vorgebeugt und hielt den Hut zwischen
den Knien. Sie sagte:
     "Wissen Sie, dass noch vor einer Viertelstunde Ihre FrXulein Schwestern
hier waren? Sie sagten mir, Sie seien krank."
     "Das ist wahr", erwiderte Herr Friedemann, "ich fXhlte mich  nicht wohl
heute  Morgen. Ich glaubte nicht ausgehen zu kXnnen. Ich bitte wegen  meiner
VerspXtung um Entschuldigung."
     "Sie sehen auch jetzt noch nicht gesund aus",  sagte sie ganz ruhig und
blickte ihn unverwandt an. "Sie sind bleich, und Ihre Augen  sind entzXndet,
Ihre Gesundheit lXsst Xberhaupt zu wXnschen Xbrig?"
     "Oh  ...",  stammelte  Herr   Friedemann;  "ich   bin   im  allgemeinen
zufrieden."
     "Auch  ich  bin  viel krank", fuhr  sie  fort, ohne die Augen  von  ihm
abzuwenden;  "aber  niemand  merkt   es.  Ich  bin   nervXs  und  kenne  die
merkwXrdigsten Zust nde."
     Sie schwieg, legte das Kinn auf die Brust und sah ihn von  unten herauf
wartend an. Aber  er antwortete nicht. Er saX still  und  hielt  seine Augen
groX und  sinnend auf sie  gerichtet.  Wie seltsam sie sprach, und  wie ihre
helle, haltlose Stimme ihn berXhrte! Sein Herz hatte sich beruhigt; ihm war,
als trXumte er. X Frau von Rinnlingen begann aufs neue:
     "Ich mXsste mich irren, wenn Sie nicht gestern das  Theater vor Schluss
der Vorstellung verlieXen?"
     ,Ja, gnXdige Frau."
     "Ich bedauerte das.  Sie  waren ein  andXchtiger Nachbar, obgleich  die
AuffXhrung  nicht  gut war,  oder  nur relativ  gut.  Sie lieben  die Musik?
Spielen Sie Klavier?"
     "Ich spiele ein wenig Violine", sagte Herr  Friedemann. "Das heiXt X es
ist beinahe nichts ..."
     "Sie spielen Violine?" fragte sie; dann sah  sie an ihm vorbei  in  die
Luft und dachte nach.
     "Aber dann  kXnnten  wir hin und wieder miteinander musizieren",  sagte
sie  plXtzlich.  "Ich  kann  etwas  begleiten. Es  wXrde mich  freuen,  hier
jemanden gefunden zu haben ... Werden Sie kommen?"
     "Ich stehe der gnXdigen Frau  mit VergnXgen  zur VerfXgung",  sagte er,
immer wie im  Traum.  Es entstand eine Pause. Da  Xnderte sich plXtzlich der
Ausdruck ihres Gesichtes.  Er  sah,  wie es  sich  in  einem kaum merklichen
grausamen Spott verzerrte, wie ihre Augen sich wieder mit jenem unheimlichen
Zittern  fest und forschend auf ihn richteten wie schXn zweimal vorher. Sein
Gesicht  ward glXhend rot, und ohne zu  wissen, wohin er sich wenden sollte,
vXllig  ratlos  und  auXer  sich,  lieX er  seinen  Kopf  ganz  zwischen die
Schultern sinken  und  blickte  fassungslos  auf den Teppich nieder. Wie ein
kurzer Schauer  aber  durchrieselte ihn wie der  jene  ohnmXchtige,  sXlich
peinigende Wut X
     Als er mit einem  verzweifelten Entschluss  den Blick wieder erhob, sah
sie ihn nicht mehr an, sondern blickte ruhig Xber seinen Kopf hinweg auf die
TXr. Er brachte mXhsam ein paar Worte hervor:
     "Und  sind  gnXdige  Frau  bis  jetzt   leidlich  zufrieden  mit  Ihrem
Aufenthalt in unserer Stadt?"
     "Oh", sagte Frau von Rinnlingen gleichgXltig, "gewiss. Warum sollte ich
nicht zufrieden sein? Freilich ein wenig beengt und beobachtet komme ich mir
vor, aber  ... Xbrigens", fuhr sie gleich darauf fort, "ehe ich es vergesse:
Wir denken in den nXchsten Tagen einige Leute bei uns zu sehen, eine kleine,
zwanglose  Gesellschaft. Man  kXnnte  ein  wenig  Musik  machen,  ein  wenig
plaudern X Xberdies haben wir hinterm Hause  einen recht hXbschen Garten; er
geht  bis  zum  Flusse hinunter.  Kurz  und gut: Sie und Ihre  Damen  werden
selbstverstXndlich  noch  eine Einladung erhalten, aber ich bitte Sie gleich
hiermit um Ihre Teilnahme; werden Sie uns das VergnXgen machen?"
     Herr Friedemann hatte kaum seinen Dank und seine Zusage hervorgebracht,
als  der  TXrgriff  energisch  niedergedrXckt  wurde  und der Oberstleutnant
eintrat. Beide  erhoben sich, und wXhrend  Frau  von  Rinnlingen  die Herren
einander vorstellte,  verbeugte sich  ihr Gatte mit der gleichen HXflichkeit
vor Herrn  Friedemann wie vor ihr.  Sein braunes Gesicht war ganz  blank vor
WXrme.
     WXhrend er sich die  Handschuhe auszog, sprach er  mit seiner krXftigen
und  scharfen  Stimme irgend  etwas zu Herrn  Friedemann,  der  mit  groXen,
gedankenlosen  Augen  zu  ihm  in  die  HXhe blickte  und  immer  erwartete,
wohlwollend von ihm auf  die Schulter  geklopft zu  werden. Indessen  wandte
sich  der   Oberstleutnant   mit  zusammengezogenen   AbsXtzen  und   leicht
vorgebeugtem OberkXrper an seine  Gattin und  sagte mit  merklich gedXmpfter
Stimme:
     "Hast  du  Herrn  Friedemann um  seine  Gegenwart bei  unserer  kleinen
Zusammenkunft gebeten, meine Lie