Gustav Meyrink. Der Golem
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Gustav Majrink. Golem. Na nemeckom yazyke).
Data sozdanie proizvedeniya: 1915 g.
Pechatnyj istochnik: Gustav Meyrink. Der Golem, Leipzig, 1916
OCR, Spellcheck: Serge Winitzki
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Leipzig
Kurt Wolff Verlag
1916
Vierter Abdruck. Dezember 1915
Copyright 1915 by Kurt Wolff Verlag Leipzig
Kapitelverzeichnis
Schlaf
Tag
I
Prag
Punsch
Nacht
Wach
Schnee
Spuk
Licht
Not
Angst
Trieb
Weib
List
Qual
Mai
Mond
Frei
SchluYA
Schlaf
Das Mondlicht fdllt auf das FuYAende meines Bettes und liegt dort wie
ein groYAer, heller, flacher Stein.
Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine
rechte Seite fdngt an zu verfallen, - wie ein Gesicht, das dem Alter
entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten zeigt und abmagert, - dann
bemdchtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine tr'be, qualvolle
Unruhe.
Ich schlafe nicht und wache nicht, und im Halbtraum vermischt sich in
meiner Seele Erlebtes mit Gelesenem und Gehcrtem, wie Strcme von
verschiedener Farbe und Klarheit zusammenflieYAen.
Ich hatte 'ber das Leben des Buddha Gotama gelesen, ehe ich mich
niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz immer wieder von vorne
beginnend durch meinen Sinn:
"Eine Krdhe flog zu einem Stein hin, der wie ein St'ck Fett aussah, und
dachte: vielleicht ist hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die Krdhe dort
nichts Wohlschmeckendes fand, flog sie fort. Wie die Krdhe, die sich dem
Stein gendhert, so verlassen wir - wir, die Versucher, - den Asketen Gotama,
da wir den Gefallen an ihm verloren haben."
Und das Bild von dem Stein, der aussah wie ein St'ck Fett, wdchst ins
Ungeheuerliche in meinem Hirn:
Ich schreite durch ein ausgetrocknetes FluYAbett und hebe glatte Kiesel
auf.
Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, 'ber die ich nachgr'ble
und nachgr'ble und doch mit ihnen nichts anzufangen weiYA, - dann schwarze
mit schwefelgelben Flecken wie die steingewordenen Versuche eines Kindes,
plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.
Und ich will sie weit von mir werfen, diese Kiesel, doch immer fallen
sie mir aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich meiner Augen nicht
bannen.
Alle jene Steine, die je in meinem Leben eine Rolle gespielt, tauchen
auf rings um mich her.
Manche qudlen sich schwerfdllig ab, sich aus dem Sande ans Licht
emporzuarbeiten - wie groYAe schieferfarbene Taschenkrebse, wenn die Flut
zur'ckkommt, - und als wollten sie alles daransetzen, meine Blicke auf sich
zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu sagen.
Andere - erschcpft - fallen kraftlos zur'ck in ihre Lccher und geben es
auf, je zu Worte zu kommen.
Zuweilen fahre ich empor aus dem Ddmmer dieser halben Trdume und sehe
f'r einen Augenblick wiederum den Mondschein auf dem gebauschten FuYAende
meiner Decke liegen wie einen groYAen, hellen, flachen Stein, um blind von
neuem hinter meinem schwindenden BewuYAtsein herzutappen, ruhelos nach jenem
Stein suchend, der mich qudlt - der irgendwo verborgen im Schutte meiner
Erinnerung liegen muYA und aussieht wie ein St'ck Fett.
Eine Regenrchre muYA einst neben ihm auf der Erde gem'ndet haben, male
ich mir aus - stumpfwinklig abgebogen, die Rdnder von Rost zerfressen, - und
trotzig will ich mir im Geiste ein solches Bild erzwingen, um meine
aufgescheuchten Gedanken zu bel'gen und in Schlaf zu lullen.
Es gelingt mir nicht.
Immer wieder und immer wieder mit alberner Beharrlichkeit behauptet
eine eigensinnige Stimme in meinem Innern - unerm'dlich wie ein
Fensterladen, den der Wind in regelmdYAigen Zwischenrdumen an die Mauer
schlagen ldYAt: es sei das ganz anders, das sei gar nicht der Stein, der wie
Fett aussehe.
Und es ist von der Stimme nicht loszukommen.
Wenn ich hundertmal einwende, alles das sei doch ganz nebensdchlich, so
schweigt sie wohl eine kleine Weile, wacht aber dann unvermerkt wieder auf
und beginnt hartndckig von neuem: gut, gut, schon recht, es ist aber doch
nicht der Stein, der wie ein St'ck Fett aussieht. -
Langsam beginnt sich meiner ein unertrdgliches Gef'hl von Hilflosigkeit
zu bemdchtigen.
Wie es weiter gekommen ist, weiYA ich nicht. Habe ich freiwillig jeden
Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich 'berwdltigt und geknebelt, meine
Gedanken?
Ich weiYA nur, mein Kcrper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind
losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden. -
Wer ist jetzt "ich", will ich plctzlich fragen; da besinne ich mich,
daYA ich doch kein Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen kcnnte;
dann f'rchte ich, die dumme Stimme werde wieder aufwachen und von neuem das
endlose Verhcr 'ber den Stein und das Fett beginnen.
Und so wende ich mich ab.
Da stand ich plctzlich in einem d'steren Hofe und sah durch einen
rctlichen Torbogen gegen'ber - jenseits der engen, schmutzigen StraYAe -
einen j'dischen Trcdler an einem Gewclbe lehnen, das an den Mauerrdndern mit
altem Eisenger'mpel, zerbrochenen Werkzeugen, verrosteten Steigb'geln und
Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war.
Und dieses Bild trug das qudlend Eintcnige an sich, das alle jene
Eindr'cke kennzeichnet, die tagtdglich so und so oft wie Hausierer die
Schwelle unserer Wahrnehmung 'berschreiten, und rief in mir weder Neugierde
noch Xberraschung hervor.
Ich wurde mir bewuYAt, daYA ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung
zu Hause war.
Auch diese Empfindung hinterlieYA mir trotz ihres Gegensatzes zu dem,
was ich doch vor kurzem noch wahrgenommen und wie ich hierher gelangt,
keinerlei tieferen Eindruck. - -
Ich muYA einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und
einem St'ck Fett gehcrt oder gelesen haben, drdngte sich mir plctzlich der
Einfall auf, als ich die ausgetretenen Stufen zu meiner Kammer emporstieg
und mir 'ber das speckige Aussehen der Steinschwellen fl'chtige Gedanken
machte.
Da hcrte ich Schritte die oberen Treppen 'ber mir vorauslaufen, und als
ich zu meiner T'r kam, sah ich, daYA es die vierzehnjdhrige, rothaarige
Rosina des Trcdlers Aaron Wassertrum gewesen war.
Ich muYAte dicht an ihr vorbei, und sie stand mit dem R'cken gegen das
Stiegengeldnder und bog sich l'stern zur'ck.
Ihre schmutzigen Hdnde hatte sie um die Eisenstange gelegt, - zum Halt
- und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem tr'ben Halbdunkel
hervorleuchteten.
Ich wich ihren Blicken aus.
Mich ekelte vor ihrem zudringlichen Ldcheln und diesem wdchsernen
Schaukelpferdgesicht.
Sie muYA schwammiges, weiYAes Fleisch haben wie der Axolotl, den ich
vorhin im Salamanderkdfig bei dem Vogelhdndler gesehen habe, f'hlte ich.
Die Wimpern Rothaariger sind mir widerwdrtig wie die eines Kaninchens.
Und ich sperrte auf und schlug rasch die T'r hinter mir zu. - -
Von meinem Fenster aus konnte ich den Trcdler Aaron Wassertrum vor
seinem Gewclbe stehen sehen.
Er lehnte am Eingang der dunklen Wclbung und zwickte mit einer
BeiYAzange an seinen Fingerndgeln herum.
War die rothaarige Rosina seine Tochter oder seine Nichte? Er hatte
keine Dhnlichkeit mit ihr.
Unter den Judengesichtern, die ich Tag f'r Tag in der HahnpaYAgasse
auftauchen sehe, kann ich deutlich verschiedene Stdmme unterscheiden, die
sich so wenig durch die nahe Verwandtschaft der einzelnen Individuen
verwischen lassen, wie sich cl und Wasser vermengen wird. Da darf man nicht
sagen: die dort sind Br'der oder Vater und Sohn.
Der gehcrt zu jenem Stamm und dieser zu einem andern, das ist alles,
was sich aus den Gesichtsz'gen lesen ldYAt.
Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem Trcdler dhnlich sdhe!
Diese Stdmme hegen einen heimlichen Ekel und Abscheu voreinander, der
sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft durchbricht, - aber sie
verstehen ihn geheimzuhalten vor der AuYAenwelt, wie man ein gefdhrliches
Geheimnis h'tet.
Kein einziges ldYAt ihn durchblicken, und in dieser Xbereinstimmung
gleichen sie haYAerf'llten Blinden, die sich an ein schmutzgetrdnktes Seil
klammern: der eine mit beiden Fdusten, ein anderer nur widerwillig mit einem
Finger, alle aber von abergldubischer Furcht besessen, daYA sie dem Untergang
verfallen m'ssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben und sich von den
'brigen trennen.
Rosina ist von jenem Stamme, dessen rothaariger Typus noch abstoYAender
ist, als der der andern. Dessen Mdnner engbr'stig sind und lange H'hnerhdlse
haben mit vorstehendem Adamsapfel.
Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr ganzes Leben leiden sie
unter br'nstigen Qualen, diese Mdnner, - und kdmpfen heimlich gegen ihre
Gel'ste einen ununterbrochenen, erfolglosen Kampf, von immerwdhrender
widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert.
Ich war mir nicht klar, wieso ich Rosina 'berhaupt in
verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Trcdler Wassertrum bringen konnte.
Nie habe ich sie doch in der Ndhe des Alten gesehen oder bemerkt, daYA
sie jemals einander etwas zugerufen hdtten.
Auch war sie fast immer in unserem Hofe oder dr'ckte sich in den
dunklen Winkeln und Gdngen unseres Hauses umher.
Sicherlich halten sie alle meine Mitbewohner f'r eine nahe Verwandte
oder zumindest Schutzbefohlene des Trcdlers, und doch bin ich 'berzeugt, daYA
kein einziger einen Grund f'r solche Vermutungen anzugeben vermcchte.
Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreiYAen und sah von dem offenen
Fenster meiner Stube hinab auf die HahnpaYAgasse.
Als habe Aaron Wassertrum meinen Blick gef'hlt, wandte er plctzlich
sein Gesicht zu mir empor.
Sein starres, grdYAliches Gesicht mit den runden Fischaugen und der
klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist.
Wie eine menschliche Spinne kam er mir vor, die die feinste Ber'hrung
ihres Netzes sp'rt, so teilnahmslos sie sich auch stellt.
Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben?
Ich wuYAte es nicht.
An den Mauerrdndern seines Gewclbes hdngen unverdndert Tag f'r Tag,
jahraus jahrein dieselben toten wertlosen Dinge.
Mit geschlossenen Augen hdtte ich sie hinzeichnen kcnnen: hier die
verbogene Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier gemalt,
mit den so sonderbar zusammengestellten Soldaten. Dann eine Girlande
verrosteter Sporen an einem schimmligen Lederriemen und anderes halb
vermodertes Ger'mpel.
Und vorne auf dem Boden, dicht nebeneinander geschichtet, so daYA
niemand die Schwelle des Gewclbes 'berschreiten kann, eine Reihe runder
eiserner Herdplatten. -
Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier
und da einmal ein Vor'bergehender stehen und fragte nach dem Preis des einen
oder andern, geriet der Trcdler in heftige Erregung.
In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippen mit der Hasenscharte
empor und sprudelte gereizt irgend etwas Unverstdndliches in einem
gurgelnden, stolpernden BaYA hervor, daYA dem Kdufer die Lust weiter zu fragen
verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte.
Der Blick des Aaron Wassertrum war blitzschnell von meinen Augen
abgeglitten und ruhte jetzt mit gespanntem Interesse an den kahlen Mauern,
die vom Nebenhause an mein Fenster stoYAen.
Was konnte er dort nur sehen?
Das Haus steht doch mit dem R'cken gegen die HahnpaYAgasse, und seine
Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die StraYAe gekehrt.
Zufdllig schienen die Rdume, die nebenan in derselben Stockhche wie die
meinigen liegen - ich glaube, sie gehcren zu einem winkligen Atelier - in
diesem Moment betreten worden zu sein, denn durch die Mauern hcrte ich
plctzlich eine mdnnliche und eine weibliche Stimme miteinander reden.
Unmcglich konnte das aber der Trcdler von unten aus wahrgenommen haben!
- -
Vor meiner T'r bewegte sich jemand, und ich erriet: es ist immer noch
Rosina, die drauYAen im Dunkeln steht in begehrlichem Warten, daYA ich sie
doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle.
Und unten, ein halbes Stockwerk tiefer, lauert der blatternarbige,
halbw'chsige Loisa auf den Stiegen mit angehaltenem Atem, ob ich die T'r
cffnen werde, und ich sp're fcrmlich den Hauch seines Hasses und seine
schdumende Eifersucht bis herauf zu mir.
Er f'rchtet sich ndher zu kommen und von Rosina bemerkt zu werden. Er
weiYA sich von ihr abhdngig wie ein hungriger Wolf von seinem Wdrter und
mcchte doch am liebsten aufspringen und besinnungslos seiner Wut die Z'gel
schieYAen lassen! - - -
Ich setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten und
Stichel hervor.
Aber ich konnte nichts fertigbringen und meine Hand war nicht ruhig
genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern.
Das tr'be, d'stere Leben, das an diesem Hause hdngt, ldYAt mein Gem't
nicht stillwerden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf.
Loisa und sein Zwillingsbruder Jaromir sind wohl kaum ein Jahr dlter
als Rosina.
An ihren Vater, der Hostienbdcker gewesen, konnte ich mich kaum mehr
erinnern, und jetzt sorgt f'r sie, glaube ich, ein altes Weib.
Ich wuYAte nur nicht, welche es war unter den vielen, die versteckt im
Hause wohnen wie Krcten in ihrem Schlupfwinkel.
Sie sorgt f'r die beiden Jungen, das heiYAt: sie gewdhrt ihnen
Unterkunft; daf'r m'ssen sie ihr abliefern, was sie gelegentlich stehlen
oder erbetteln. -
Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich konnte es mir nicht denken,
denn erst spdt abends kommt die Alte heim.
Leichenwdscherin soll sie sein.
Loisa, Jaromir und Rosina sah ich, als sie noch Kinder waren, oft
harmlos im Hof zu dritt spielen.
Die Zeit aber ist lang vorbei.
Den ganzen Tag ist Loisa jetzt hinter dem rothaarigen Judenmddel her.
Zuweilen sucht er sie lange umsonst, und wenn er sie nirgends finden
kann, dann schleicht er sich vor meine T'r und wartet mit verzerrtem
Gesicht, daYA sie heimlich hierher komme.
Da sehe ich ihn, wenn ich bei meiner Arbeit sitze, im Geiste drauYAen in
dem winkligen Gange lauern, den Kopf mit dem ausgemergelten Genick horchend
vorgebeugt.
Manchmal bricht dann durch die Stille plctzlich ein wilder Ldrm.
Jaromir, der taubstumm ist, und dessen ganzes Denken eine
ununterbrochene wahnsinnige Gier nach Rosina erf'llt, irrt wie ein wildes
Tier im Hause umher, und sein unartikuliertes heulendes Gebell, das er, vor
Eifersucht und Argwohn halb von Sinnen, ausstcYAt, klingt so schauerlich, daYA
einem das Blut in den Adern stockt.
Er sucht die beiden, die er stets beieinander vermutet - irgendwo in
einem der tausend schmutzigen Schlupfwinkel versteckt - in blinder Raserei,
immer von dem Gedanken gepeitscht, seinem Bruder auf den Fersen sein zu
m'ssen, daYA nichts mit Rosina vorgehe, von dem er nicht wisse.
Und gerade diese unaufhcrliche Qual des Kr'ppels ist, ahnte ich, das
Reizmittel, das Rosina antreibt, sich stets von neuem mit dem andern
einzulassen.
Wird ihre Neigung oder Bereitwilligkeit schwdcher, so ersinnt Loisa
immer wieder besondere ScheuYAlichkeiten, um Rosinas Gier von neuem zu
entfachen.
Da lassen sie sich scheinbar oder wirklich von dem Taubstummen ertappen
und locken den Rasenden heimt'ckisch hinter sich her in dunkle Gdnge, wo sie
aus rostigen FaYAreifen, die in die Hche schnellen, wenn man auf sie tritt,
und eisernen Rechen - mit den Spitzen nach oben gekehrt - bcsartige Fallen
errichtet haben, in die er st'rzen muYA und sich blutig fdllt.
Von Zeit zu Zeit denkt sich Rosina, um die Folter aufs duYAerste
anzuspannen, auf eigene Faust etwas Hcllisches aus.
Dann dndert sie mit einem Schlage ihr Benehmen zu Jaromir und tut, als
fdnde sie plctzlich Gefallen an ihm.
Mit ihrer ewig ldchelnden Miene teilt sie dem Kr'ppel hastig Dinge mit,
die ihn in eine fast irrsinnige Erregung versetzen, und sie hat sich dazu
eine geheimnisvoll scheinende, nur halbverstdndliche Zeichensprache
ersonnen, die den Taubstummen rettungslos in ein unentwirrbares Netz von
UngewiYAheit und verzehrenden Hoffnungen verstricken muYA. -
Einmal sah ich ihn im Hofe vor ihr stehen, und sie sprach mit so
heftigen Lippenbewegungen und Gestikulationen auf ihn ein, daYA ich glaubte,
jeden Augenblick w'rde er in wilder Aufregung zusammenbrechen.
Der SchweiYA lief ihm 'bers Gesicht vor 'bermenschlicher Anstrengung,
den Sinn der absichtlich so unklaren, hastigen Mitteilungen zu erfassen.
Und den ganzen folgenden Tag lauerte er dann fiebernd in Erwartung auf
den finsteren Stiegen eines halb versunkenen Hauses, das in der Fortsetzung
der engen, schmutzigen HahnpaYAgasse liegt, - bis er die Zeit versdumt hatte,
sich an den Ecken ein paar Kreuzer zu erbetteln.
Und als er spdt abends halbtot vor Hunger und Aufregung heim wollte,
hatte ihn die Pflegemutter ldngst ausgesperrt. - - -
Ein frchliches Frauenlachen drang aus dem anstoYAenden Atelier durch die
Mauern her'ber zu mir.
Ein Lachen! - In diesen Hdusern ein frchliches Lachen? Im ganzen Getto
wohnt niemand, der frchlich lachen kcnnte.
Da fiel mir ein, daYA mir vor einigen Tagen der alte Marionettenspieler
Zwakh anvertraute, ein junger, vornehmer Herr hdtte ihm das Atelier teuer
abgemietet - offenbar, um mit der Erwdhlten seines Herzens unbelauscht
zusammenkommen zu kcnnen.
Nach und nach, jede Nacht, m'YAten nun, damit niemand im Hause etwas
merke, die kostbaren Mcbel des neuen Mieters heimlich St'ck f'r St'ck
hinaufgeschafft werden.
Der gutm'tige Alte hatte sich vor Vergn'gen die Hdnde gerieben, als er
es mir erzdhlte, und sich kindlich gefreut, wie er alles so geschickt
angefangen habe: keiner der Mitbewohner kcnne auch nur eine Ahnung von dem
romantischen Liebespaar haben.
Und von drei Hdusern aus sei es mcglich, unauffdllig in das Atelier zu
gelangen. - Sogar durch eine Fallt're gdbe es einen Zugang!
Ja, wenn man die eiserne T'r des Bodenraumes aufklinke, - und das sei
von dr'ben aus sehr leicht, - kcnne man an meiner Kammer, vorbei zu den
Stiegen unseres Hauses gelangen und diese als Ausgang ben'tzen ...
Wieder klingt das frchliche Lachen her'ber und ldYAt in mir die
undeutliche Erinnerung an eine luxuricse Wohnung und an eine adlige Familie
auftauchen, zu der ich oft gerufen wurde, um an kostbaren Altert'mern kleine
Ausbesserungen vorzunehmen. -
Plctzlich hcre ich nebenan einen gellenden Schrei. Ich horche
erschreckt.
Die eiserne Bodent'r klirrt heftig, und im ndchsten Augenblick st'rzt
eine Dame in mein Zimmer.
Mit aufgelcstem Haar, weiYA wie die Wand, einen goldenen Brokatstoff
'ber die bloYAen Schultern geworfen.
"Meister Pernath, verbergen Sie mich, - um Gottes Christi willen! -
fragen Sie nicht, verbergen Sie mich hier!"
Ehe ich noch antworten konnte, wurde meine T'r abermals aufgerissen und
sofort wieder zugeschlagen. -
Eine Sekunde lang hatte das Gesicht des Trcdlers Aaron Wassertrum wie
eine scheuYAliche Maske hereingegrinst. -
Ein runder, leuchtender Fleck taucht vor mir auf, und im Schein des
Mondlichtes erkenne ich wiederum das FuYAende meines Bettes. Noch liegt der
Schlaf auf mir wie ein schwerer, wolliger Mantel und der Name Pernath steht
in goldenen Buchstaben vor meiner Erinnerung.
Wo nur habe ich diesen Namen gelesen? - Athanasius Pernath?
Ich glaube, ich glaube vor langer, langer Zeit habe ich einmal irgendwo
meinen Hut verwechselt, und ich wunderte mich damals, daYA er mir so genau
passe, wo ich doch eine hcchst eigent'mliche Kopfform habe.
Und ich sah in den fremden Hut hinein - damals und - - ja, ja, dort
hatte es gestanden in goldenen Papierbuchstaben auf dem weiYAen Futter:
ATHANASIUS PERNATH.
Ich hatte mich vor dem Hut gescheut und gef'rchtet, ich wuYAte nicht
warum.
Da fdhrt plctzlich die Stimme, die ich vergessen hatte, und die immer
von mir wissen wollte, wo der Stein ist, der wie Fett ausgesehen habe, auf
mich los, gleich einem Pfeil.
Schnell male ich mir das scharfe, s'YAlich grinsende Profil der roten
Rosina aus, und es gelingt mir auf diese Weise, dem Pfeil auszuweichen, der
sich sogleich in der Finsternis verliert.
Ja, das Gesicht der Rosina! Das ist doch noch stdrker als die
stumpfsinnige plappernde Stimme; und gar, wo ich jetzt gleich wieder in
meinem Zimmer in der HahnpaYAgasse geborgen sein werde, kann ich ganz ruhig
sein.
Wenn ich mich nicht getduscht habe in der Empfindung, daYA jemand in
einem gewissen, gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt,
in der Absicht, mich zu besuchen, so muYA er jetzt ungefdhr auf dem letzten
Stiegenabsatz stehen.
Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine
Wohnung hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur des
oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muYA
er, m'hsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem T'rschild lesen.
Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum
Eingang.
Da cffnete sich die T're, und er trat ein.
Nur wenige Schritte machte er auf mich zu und nahm weder den Hut ab,
noch sagte er ein Wort der Begr'YAung.
So benimmt er sich, wenn er zu Hause ist, f'hlte ich, und ich fand es
ganz selbstverstdndlich, daYA er so und nicht anders handelte.
Er griff in die Tasche und nahm ein Buch heraus.
Dann bldtterte er lange drin herum.
Der Umschlag des Buches war aus Metall, und die Vertiefungen in Form
von Rosetten und Siegeln waren mit Farbe und kleinen Steinen ausgef'llt.
Endlich hatte er die Stelle gefunden, die er suchte, und deutete
darauf.
Das Kapitel hieYA "Ibbur", "die Seelenschwdngerung", entzifferte ich.
Das groYAe, in Gold und Rot ausgef'hrte Initial "I" nahm fast die Hdlfte
der ganzen Seite ein, die ich unwillk'rlich 'berflog, und war am Rande
verletzt.
Ich sollte es ausbessern.
Das Initial war nicht auf das Pergament geklebt, wie ich es bisher in
alten B'chern gesehen, schien vielmehr aus zwei Platten d'nnen Goldes zu
bestehen, die im Mittelpunkte zusammengelctet waren und mit den Enden um die
Rdnder des Pergaments griffen.
Also muYAte, wo der Buchstabe stand, ein Loch in das Blatt geschnitten
sein?
Wenn das der Fall war, muYAte auf der ndchsten Seite das "I" verkehrt
stehen?
Ich bldtterte um und fand meine Annahme bestdtigt.
Unwillk'rlich las ich auch diese Seite durch und die gegen'berliegende.
Und ich las weiter und weiter.
Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, klarer nur und viel
deutlicher. Und es r'hrte mein Herz an wie eine Frage.
Worte strcmten aus einem unsichtbaren Munde, wurden lebendig und kamen
auf mich zu. Sie drehten sich und wandten sich vor mir wie buntgekleidete
Sklavinnen, sanken dann in den Boden oder verschwanden wie schillernder
Dunst in der Luft und gaben der ndchsten Raum. Jede hoffte eine kleine
Weile, daYA ich sie erwdhlen w'rde und auf den Anblick der Kommenden
verzichten.
Manche waren unter ihnen, die gingen prunkend einher wie Pfauen, in
schimmernden Gewdndern, und ihre Schritte waren langsam und gemessen.
Manche wie Kcniginnen, doch gealtert und verlebt, die Augenlider
gefdrbt, - mit dirnenhaftem Zug um den Mund und die Runzeln mit hdYAlicher
Schminke verdeckt.
Ich sah an ihnen vorbei und nach den kommenden, und mein Blick glitt
'ber lange Z'ge grauer Gestalten mit Gesichtern, so gewchnlich und
ausdrucksarm, daYA es unmcglich schien, sie dem Geddchtnis einzuprdgen.
Dann brachten sie ein Weib geschleppt, das war splitternackt und
riesenhaft wie ein ErzkoloYA.
Eine Sekunde blieb das Weib vor mir stehen und beugte sich nieder zu
mir.
Ihre Wimpern waren so lang wie mein ganzer Kcrper, und sie deutete
stumm auf den Puls ihrer linken Hand.
Der schlug wie ein Erdbeben, und ich f'hlte, es war das Leben einer
ganzen Welt in ihr.
Aus der Ferne raste ein Korybantenzug heran.
Ein Mann und ein Weib umschlangen sich. Ich sah sie von weitem kommen,
und immer ndher brauste der Zug.
Jetzt hcrte ich den hallenden Gesang der Verz'ckten dicht vor mir, und
meine Augen suchten das verschlungene Paar.
Das aber hatte sich verwandelt in eine einzige Gestalt und saYA, halb
mdnnlich, halb weiblich, - ein Hermaphrodit - auf einem Throne von
Perlmutter.
Und die Krone des Hermaphroditen endete in einem Brett aus rotem Holz;
darein hatte der Wurm der Zerstcrung geheimnisvolle Runen genagt.
In einer Staubwolke kam eilig hinterdreingetrappelt eine Herde kleiner,
blinder Schafe: die Futtertiere, die der gigantische Zwitter in seinem
Gefolge f'hrte, seine Korybantenschar am Leben zu erhalten.
Zuweilen waren unter den Gestalten, die aus dem unsichtbaren Munde
strcmten, etliche, die kamen aus Grdbern, - T'cher vor dem Gesicht.
Und blieben sie vor mir stehen, lieYAen sie plctzlich ihre H'llen fallen
und starrten mit Raubtieraugen hungrig auf mein Herz, daYA ein eisiger
Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zur'ckstaute wie ein Strom, in
den Felsblccke vom Himmel herniedergefallen sind - plctzlich und mitten in
sein Bette. -
Eine Frau schwebte an mir vorbei. Ich sah ihr Antlitz nicht, sie wandte
es ab, und sie trug einen Mantel aus flieYAenden Trdnen. -
Maskenz'ge tanzten vor'ber, lachten und k'mmerten sich nicht um mich.
Nur ein Pierrot sieht sich nachdenklich um nach mir und kehrt zur'ck.
Pflanzt sich vor mich hin und blickt in mein Gesicht hinein, als sei es ein
Spiegel.
Er schneidet so seltsame Grimassen, hebt und bewegt seine Arme, bald
zcgernd, bald blitzschnell, daYA sich meiner ein gespenstiger Trieb
bemdchtigt ihn nachzuahmen, mit den Augen zu zwinkern, mit den Achseln zu
zucken und die Mundwinkel zu verziehen.
Da stoYAen ihn ungeduldig nachdrdngende Gestalten zur Seite, die alle
vor meine Blicke wollen.
Doch keines der Wesen hat Bestand.
Gleitende Perlen sind sie, auf eine Seidenschnur gereiht, die einzelnen
Tcne nur einer Melodie, die dem unsichtbaren Mund entstrcmen.
Das war kein Buch mehr, das zu mir sprach. Das war eine Stimme. Eine
Stimme, die etwas von mir wollte, was ich nicht begriff; wie sehr ich mich
auch abm'hte. Die mich qudlte mit brennenden, unverstdndlichen Fragen.
Die Stimme aber, die diese sichtbaren Worte redete, war abgestorben und
ohne Widerhall.
Jeder Laut, der in der Welt der Gegenwart erklingt, hat viele Echos,
wie jegliches Ding einen groYAen Schatten hat und viele kleine Schatten, doch
diese Stimme hatte keine Echos mehr, - lange, lange schon sind sie wohl
verweht und verklungen. - - -
Und bis zu Ende hatte ich das Buch gelesen und hielt es noch in den
Hdnden, da war mir, als hdtte ich suchend in meinem Gehirn gebldttert und
nicht in einem Buche! - -
Alles, was mir die Stimme gesagt, hatte ich, seit ich lebte, in mir
getragen, nur verdeckt war es gewesen und vergessen und hatte sich vor
meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag. -
Ich blickte auf.
Wo war der Mann, der mir das Buch gebracht hatte?
Fortgegangen!?
Wird er es holen, wenn es fertig ist?
Oder sollte ich es ihm bringen? -
Aber ich konnte mich nicht erinnern, daYA er gesagt hdtte, wo er wohne.
Ich wollte mir seine Erscheinung ins Geddchtnis zur'ckrufen, doch es
miYAlang.
Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? - Und welche
Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?
Nichts, gar nichts mehr konnte ich mir vorstellen. - Alle Bilder, die
ich mir von ihm schuf, zerrannen haltlos, noch ehe ich sie im Geiste
zusammenzusetzen vermochte.
Ich schloYA die Augen und preYAte die Hand auf die Lider, um einen
winzigen Teil nur seines Bildnisses zu erhaschen.
Nichts, nichts.
Ich stellte mich hin, mitten ins Zimmer, und blickte auf die T'r, wie
ich es getan - vorhin, als er gekommen war, und malte mir aus: jetzt biegt
er um die Ecke, jetzt schreitet er 'ber den Ziegelsteinboden, liest jetzt
drauYAen mein T'rschild "Athanasius Pernath" und jetzt tritt er herein.
Vergebens.
Nicht die leiseste Spur einer Erinnerung, wie seine Gestalt ausgesehen,
wollte in mir erwachen.
Ich sah das Buch auf dem Tische liegen und w'nschte mir im Geiste die
Hand dazu, die es aus der Tasche gezogen und mir gereicht hatte.
Nicht einmal, ob sie einen Handschuh getragen, ob sie entblcYAt gewesen,
ob jung oder runzlig, mit Ringen geschm'ckt oder nicht, konnte ich mich
entsinnen.
Da kam mir ein seltsamer Einfall.
Wie eine Eingebung war es, der man nicht widerstehen darf.
Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den
Gang und die Treppen hinab. Dann kam ich langsam wieder zur'ck in mein
Zimmer.
Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. Und als ich die
T'r cffnete, da sah ich, daYA meine Kammer voll Ddmmerung lag. War es denn
nicht heller Tag noch gewesen, als ich soeben hinausging?
Wie lange muYAte ich da gegr'belt haben, daYA ich nicht bemerkte, wie
spdt es ist!
Und ich versuchte den Unbekannten nachzuahmen in Gang und Mienen und
konnte mich an sie doch gar nicht erinnern. -
Wie sollte es mir auch gl'cken, ihn nachzuahmen, wenn ich keinen
Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte.
Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte.
Meine Haut, meine Muskeln, mein Kcrper erinnerten sich plctzlich, ohne
es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht w'nschte
und nicht beabsichtigte.
Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehcrten!
Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, als ich
ein paar Schritte im Zimmer machte.
Das ist der Gang eines Menschen, der bestdndig im Begriffe ist,
vorn'ber zu fallen, sagte ich mir.
Ja, ja, ja, so war sein Gang!
Ganz deutlich wuYAte ich: so ist er.
Ich trug ein fremdes, bartloses Gesicht mit hervorstehenden
Backenknochen und schaute aus schrdgstehenden Augen.
Ich f'hlte es und konnte mich doch nicht sehen.
Das ist nicht mein Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien, wollte es
betasten, doch meine Hand folgte meinem Willen nicht und senkte sich in die
Tasche und holte ein Buch hervor.
Ganz so, wie er es vorhin getan hatte. -
Da plctzlich sitze ich wieder ohne Hut, ohne Mantel, am Tische und bin
ich. Ich, ich.
Athanasius Pernath.
Grausen und Entsetzen sch'ttelten mich, mein Herz raste zum
Zerspringen, und ich f'hlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem
Gehirn herumgetastet, haben von mir abgelassen.
Noch sp'rte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer Ber'hrung. -
Nun wuYAte ich, wie der Fremde war, und ich hdtte ihn wieder in mir
f'hlen kcnnen, - jeden Augenblick - wenn ich nur gewollt hdtte; aber sein
Bild mir vorzustellen, daYA ich es vor mir sehen w'rde Auge in Auge - das
vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie kcnnen.
Es ist wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren
Linien ich nicht erfassen kann - in die ich selber hineinschl'pfen muYA, wenn
ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich bewuYAt werden will
- -
In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; - in diese
wollte ich das Buch sperren und erst, wenn der Zustand der geistigen
Krankheit von mir gewichen sein w'rde, wollte ich es wieder hervorholen und
an die Ausbesserung des zerbrochenen Initialen "I" gehen.
Und ich nahm das Buch vom Tisch.
Da war mir, als hdtte ich es gar nicht angefaYAt; ich griff die Kassette
an: dasselbe Gef'hl. Als m'YAte das Tastempfinden eine lange, lange Strecke
voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem BewuYAtsein m'ndete, als
seien die Dinge durch eine jahresgroYAe Zeitschicht von mir entfernt und
gehcrten einer Vergangenheit an, die ldngst an mir vor'bergezogen!
Die Stimme, die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit
dem fettigen Stein zu qudlen, ist an mir vorbeigekommen und hat mich nicht
gesehen. Und ich weiYA, daYA sie aus dem Reiche des Schlafes stammt. Aber was
ich erlebt, das war wirkliches Leben, - darum konnte sie mich nicht sehen
und sucht vergeblich nach mir, f'hle ich.
Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines d'nnen,
fadenscheinigen Xberziehers aufgeschlagen, und ich hcrte, wie ihm vor Kdlte
die Zdhne aufeinanderschlugen.
Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, sagte
ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hin'ber in meine Wohnung zu kommen.
Er aber lehnte ab.
"Ich danke Ihnen, Meister Pernath," murmelte er frcstelnd, "leider habe
ich nicht mehr so viel Zeit 'brig; - ich muYA eilends in die Stadt. - Auch
w'rden wir bis auf die Haut naYA, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten
- schon nach wenigen Schritten! - - Der Platzregen will nicht schwdcher
werden!"
Die Wasserschauer fegten 'ber die Ddcher hin und liefen an den
Gesichtern der Hduser herunter wie ein Trdnenstrom.
Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da dr'ben im vierten
Stock mein Fenster sehen, das, vom Regen 'berrieselt, aussah, als seien
seine Scheiben aufgeweicht, - undurchsichtig und hcckerig geworden wie
Hausenblase.
Ein gelber Schmutzbach floYA die Gasse herab, und der Torbogen f'llte
sich mit Vor'bergehenden, die alle das Nachlassen des Unwetters abwarten
wollten.
"Dort schwimmt ein Brautbukett", sagte plctzlich Charousek und deutete
auf einen StrauYA aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser vorbeigetrieben
kam.
Dar'ber lachte jemand hinter uns laut auf.
Als ich mich umdrehte, sah ich, daYA es ein alter, vornehm gekleideter
Herr mit weiYAem Haar und einem aufgedunsenen, krctenartigen Gesicht gewesen
war.
Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zur'ck und brummte etwas
vor sich hin.
Unangenehmes ging von dem Alten aus; - ich wandte meine Aufmerksamkeit
von ihm ab und musterte die miYAfarbigen Hduser, die da vor meinen Augen wie
verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten.
Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!
Ohne Xberlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem
Boden dringt.
An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden
Xberrest eines fr'heren, langgestreckten Gebdudes, hat man sie angelehnt -
vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne R'cksicht auf die
'brigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit
zur'ckspringender Stirn; - ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.
Unter dem tr'ben Himmel sahen sie aus, als ldgen sie im Schlaf, und man
sp'lte nichts von dem t'ckischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen
ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr
leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.
In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in
mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des
Nachts und im fr'hesten Morgengrauen f'r sie gdbe, wo sie erregt eine
lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fdhrt da ein
schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erkldren ldYAt, Gerdusche
laufen 'ber ihre Ddcher und fallen in den Regenrinnen nieder, - und wir
nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu
forschen.
Oft trdumte mir, ich hdtte diese Hduser belauscht in ihrem spukhaften
Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daYA sie die heimlichen,
eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und F'hlens entduYAern
und es wieder an sich ziehen kcnnen, - es tags'ber den Bewohnern, die hier
hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder
zur'ckzufordern.
Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen,
wie Wesen - nicht von M'ttern geboren, - die in ihrem Denken und Tun wie aus
St'cken wahllos zusammengef'gt scheinen, im Geiste an mir vor'berziehen, so
bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daYA solche Trdume in sich dunkle
Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie Eindr'cke von farbigen
Mdrchen in der Seele fortglimmen.
Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem
k'nstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein
kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem
gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches
Zahlenwort hinter die Zdhne schob.
Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte,
in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so
m'YAten auch, d'nkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick
zusammenfallen, lcschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein
nebensdchliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen,
bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gdnzlich Unbestimmtes,
Haltloses - in ihrem Hirn aus.
Was ist dabei f'r ein immerwdhrendes, schreckhaftes Lauern in diesen
Geschcpfen!
Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie
fr'h beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem
- wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.
Und hat es wirklich einmal den Anschein, als trdte jemand in ihren
Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern kcnnten, dann fdllt
plctzlich eine ldhmende Angst 'ber sie her, scheucht sie in ihre Winkel
zur'ck und ldYAt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.
Niemand scheint schwach genug, daYA ihnen noch so viel Mut bliebe, sich
seiner zu bemdchtigen.
"Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe
genommen ist", sagte Charousek zcgernd und sah mich an. -
Wie konnte er wissen, woran ich dachte? -
So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, daYA sie imstande sind,
auf das Gehirn des Nebenstehenden 'berzuspringen wie spr'hende Funken,
f'hlte ich.
"- - - wovon sie nur leben mcgen?" sagte ich nach einer Weile.
"Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein Milliondr!"
Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen!
Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.
F'r einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Torbogen
gestockt, und man hcrte bloYA das Zischen des Regens.
Was er nur damit sagen will: "Mancher unter ihnen ist ein Milliondr!?"
Wieder war es, als hdtte Charousek meine Gedanken erraten. Er wies nach
dem Trcdlerladen neben uns, an dem das Wasser den Rost des Eisenger'mpels in
flieYAenden, braunroten Pf'tzen vorbeisp'lte.
"Aaron Wassertrum! Er zum Beispiel ist Milliondr, - fast ein Drittel
der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen Sie es denn nicht, Herr Pernath?!"
Mir blieb fcrmlich der Atem im Mund stecken. "Aaron Wassertrum! Der
Trcdler Aaron Wassertrum Milliondr?!"
"Oh, ich kenne ihn genau", fuhr Charousek verbissen fort, und als hdtte
er nur darauf gewartet, daYA ich ihn frage. "Ich kannte auch seinen Sohn, den
Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm gehcrt? Von Dr. Wassory, dem - ber'hmten
- Augenarzt? - Vor einem Jahr noch hat die ganze Stadt begeistert von ihm
gesprochen, - von dem groYAen - - Gelehrten. Niemand wuYAte damals, daYA er
seinen Namen abgelegt und fr'her Wassertrum geheiYAen. - Er spielte sich
gerne auf den weitabgewandten Mann der Wissenschaft hinaus, und wenn einmal
auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tiefbewegt so mit halben
Worten hin, daYA sein Vater noch aus dem Getto stamme, - sich aus den
niedrigsten Anfdngen heraus unter Kummer aller Art und unsdglichen Sorgen
empor ans Licht habe arbeiten m'ssen.
Ja! Unter Kummer und Sorgen!
Unter wessen Kummer und unsdglichen Sorgen aber und mit welchen
Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt!
Ich aber weiYA, was es mit dem Getto f'r eine Bewandtnis hat!" Charousek
faYAte meinen Arm und sch'ttelte ihn heftig.
"Meister Pernath, ich bin so arm, daYA ich es selbst kaum mehr begreife;
ich muYA halbnackt gehen wie ein Vagabund, sehen Sie her, und ich bin doch
Student der Medizin, - bin doch ein gebildeter Mensch!"
Er riYA seinen Xberzieher auf und ich sah zu meinem Entsetzen, daYA er
weder Hemd noch Rock anhatte und den Mantel 'ber der nackten Haut trug.
"Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allmdchtigen,
angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte, - und noch heute ahnt keiner, daYA
ich, ich der eigentliche Urheber war.
Man meint in der Stadt, ein gewisser Dr. Savioli sei es gewesen, der
seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbstmord getrieben
hat. - Dr. Savioli war nichts als mein Werkzeug, sage ich Ihnen. Ich allein
habe den Plan erdacht und das Material zusammengetragen, habe die Beweise
geliefert und leise und unmerklich Stein um Stein in dem Gebdude Dr.
Wassorys gelockert, bis der Zustand erreicht war, wo kein Geld der Erde,
keine List des Gettos mehr vermocht hdtten, den Zusammenbruch, zu dem es nur
noch eines unmerklichen AnstoYAes bedurfte, abzuwenden.
Wissen Sie, so - so wie man Schach spielt.
Gerade so wie man Schach spielt.
Und niemand weiYA, daYA ich es war!
Den Trcdler Aaron Wassertrum, den ldYAt wohl manchmal eine furchtbare
Ahnung nicht schlafen, daYA einer, den er nicht kennt, der immer in seiner
Ndhe ist und den er doch nicht fassen kann, - ein anderer als Dr. Savioli -
die Hand im Spiele gehabt haben m'sse.
Wiewohl Wassertrum einer von jenen ist, deren Augen durch Mauern zu
schauen vermcgen, so faYAt er es doch nicht, daYA es Gehirne gibt, die
auszurechnen imstande sind, wie man mit langen, unsichtbaren, vergifteten
Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an Gold und Edelsteinen
vorbei, um die verborgene Lebensader zu treffen."
Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wild.
"Aaron Wassertrum wird es bald erfahren; genau an dem Tage, an dem er
Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage!
Auch diese Schachpartie habe ich ausgerechnet bis zum letzten Zug. -
Diesmal wird es ein Kcnigsldufergambit sein. Da gibt es keinen einzigen Zug
bis zum bittern Ende, gegen den ich nicht eine verderbliche Entgegnung
w'YAte.
Wer sich mit mir in ein solches Kcnigsldufergambit einldYAt, der hdngt
in der Luft, sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an feinen Fdden, -
an Fdden, die ich zupfe, - hcren Sie wohl, die ich zupfe, und mit dessen
freiem Willen ist's dahin."
Der Student redete wie im Fieber, und ich sah ihm entsetzt ins Gesicht.
"Was haben Ihnen Wassertrum und sein Sohn denn getan, daYA Sie so voll
HaYA sind?"
Charousek wehrte heftig ab:
"Lassen wir das - fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals gebrochen
hat! - Oder w'nschen Sie, daYA wir ein andres Mal dar'ber sprechen? - Der
Regen hat nachgelassen. Vielleicht wollen Sie nach Hause gehen?"
Er senkte seine Stimme, wie jemand, der plctzlich ganz ruhig wird. Ich
sch'ttelte den Kopf.
"Haben Sie jemals gehcrt, wie man heutzutage den gr'nen Star heilt? -
Nicht? - So muYA ich Ihnen das deutlich machen, damit Sie alles genau
verstehen, Meister Pernath!
Hcren Sie zu: Der ›gr'ne Star‹ also ist eine bcsartige Erkrankung des
Augeninnern, die mit Erblinden endet, und es gibt nur ein Mittel, dem
Fortschreiten des Xbels Einhalt zu tun, ndmlich die sogenannte Iridektomie,
die darin besteht, daYA man aus der Regenbogenhaut des Auges ein keilfcrmiges
St'ckchen herauszwickt.
Die unvermeidlichen Folgen davon sind wohl greuliche
Blendungserscheinungen, die f'rs ganze Leben bleiben; der ProzeYA des
Erblindens jedoch ist meistens aufgehalten.
Mit der Diagnose des gr'nen Stars hat es aber eine eigene Bewandtnis.
Es gibt ndmlich Zeiten, besonders bei Beginn der Krankheit, wo die
deutlichsten Symptome scheinbar ganz zur'cktreten, und in solchen Fdllen
darf ein Arzt, obwohl er keine Spur einer Krankheit finden kann, dennoch
niemals mit Bestimmtheit sagen, daYA sein Vorgdnger, der andrer Meinung
gewesen, sich notwendigerweise geirrt haben m'sse.
Hat aber einmal die erwdhnte Iridektomie, die sich nat'rlich genauso an
einem gesunden Auge wie an einem kranken ausf'hren ldYAt, stattgefunden, so
kann man unmcglich mehr feststellen, ob fr'her wirklich gr'ner Star
vorgelegen hat oder nicht.
Und auf diese und noch andere Umstdnde hatte Dr. Wassory einen
scheuYAlichen Plan aufgebaut.
Unzdhlige Male - besonders an Frauen - konstatierte er gr'nen Star, wo
harmlose Sehstcrungen vorlagen, nur um zu einer Operation zu kommen, die ihm
keine M'he machte und viel Geld eintrug.
Da endlich hatte er vollkommen Wehrlose in der Hand; da gehcrte zum
Auspl'ndern auch keine Spur von Mut mehr!
Sehen Sie, Meister Pernath, da war das degenerierte Raubtier in jene
Lebensbedingungen versetzt, wo es auch ohne Waffe und Kraft seine Opfer
zerfleischen konnte.
Ohne etwas aufs Spiel zu setzen! - Begreifen Sie?! Ohne das geringste
wagen zu m'ssen!
Durch eine Menge fauler Vercffentlichungen in Fachbldttern hatte sich
Dr. Wassory in den Ruf eines hervorragenden Spezialisten zu setzen
verstanden und sogar seinen Kollegen, die viel zu arglos und anstdndig
waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu streuen gewuYAt.
Ein Strom von Patienten, die alle bei ihm Hilfe suchten, war die
nat'rliche Folge.
Kam nun jemand mit geringf'gigen Sehstcrungen zu ihm und lieYA sich
untersuchen, so ging Dr. Wassory sofort mit t'ckischer PlanmdYAigkeit zu
Werke.
Zuerst stellte er das 'bliche Krankenverhcr an, notierte aber geschickt
immer nur, um f'r alle Fdlle gedeckt zu sein, jene Antworten, die eine
Deutung auf gr'nen Star zulieYAen.
Und vorsichtig sondierte er, ob nicht schon eine fr'here Diagnose
vorldge.
Gesprdchsweise lieYA er einflieYAen, daYA ein dringender Ruf aus dem
Auslande behufs wichtiger wissenschaftlicher MaYAnahmen an ihn ergangen sei
und er daher schon morgen verreisen m'sse. -
Bei der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die er sodann
vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich so viel Schmerzen wie mcglich.
Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht!
Wenn das Verhcr vor'ber und die 'bliche bange Frage des Patienten, ob
Grund zur Bef'rchtung vorhanden sei, erfolgt war, da tat Wassory seinen
ersten Schachzug.
Er setzte sich dem Kranken gegen'ber, lieYA eine Minute verstreichen und
sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz:
"Erblindung beider Augen ist bereits in der allerndchsten Zeit wohl
unvermeidlich!"
Die Szene, die naturgemdYA folgte, war entsetzlich.
Oft fielen die Leute in Ohnmacht, weinten und schrien und warfen sich
in wilder Verzweiflung zu Boden.
Das Augenlicht verlieren, heiYAt alles verlieren.
Und wenn der wiederum 'bliche Moment eintrat, wo das arme Opfer die
Knie Dr. Wassorys umklammerte und flehte, ob es denn auf Gottes Erde gar
keine Hilfe mehr gdbe, da tat die Bestie den zweiten Schachzug und
verwandelte sich selbst in jenen - Gott, der helfen konnte!
Alles, alles in der Welt ist wie ein Schachzug, Meister Pernath! -
Schleunigste Operation, sagte Dr. Wassory dann nachdenklich, sei das
einzige, was vielleicht Rettung bringen kcnne, und mit einer wilden,
gierigen Eitelkeit, die plctzlich 'ber ihn kam, erging er sich mit einem
Redeschwall in weitschweifigem Ausmalen dieses und jenes Falles, die alle
mit dem vorliegenden eine ungemein groYAe Dhnlichkeit gehabt hdtten, - wie
unzdhlige Kranke ihm allein die Erhaltung des Augenlichts verdankten und
dergleichen mehr.
Er schwelgte fcrmlich in dem Gef'hl, f'r eine Art hcheren Wesens
gehalten zu werden, in dessen Hdnde das Wohl und Wehe seines Mitmenschen
gelegt ist.
Das hilflose Opfer aber saYA, das Herz voll brennender Fragen, gebrochen
vor ihm, AngstschweiYA auf der Stirne, und wagte ihm nicht einmal in die Rede
zu fallen, aus Furcht: ihn - den einzigen, der noch Hilfe bringen konnte -
zu erz'rnen.
Und mit den Worten, daYA er zur Operation leider erst in einigen Monaten
schreiten kcnne, wenn er von seiner Reise wieder zur'ck sei, schloYA Dr.
Wassory seine Rede.
Hoffentlich - man solle in solchen Fdllen immer das Beste hoffen - sei
es dann nicht zu spdt, sagte er.
Nat'rlich sprangen dann die Kranken entsetzt auf, erkldrten, daYA sie
unter gar keinen Umstdnden auch nur einen Tag ldnger warten wollten, und
baten flehentlich um Rat, wer von den andern Augendrzten in der Stadt sonst
wohl als Operateur in Betracht kommen kcnnte.
Da war der Augenblick gekommen, wo Dr. Wassory den entscheidenden
Schlag f'hrte.
Er ging in tiefem Nachdenken auf und ab, legte seine Stirn in Falten
des Grams und lispelte schlieYAlich bek'mmert, ein Eingriff seitens eines
andern Arztes bedinge leider eine abermalige Bespiegelung des Auges mit
elektrischem Licht, und das m'sse - der Patient wisse ja selbst, wie
schmerzhaft es sei - wegen der blendenden Strahlen geradezu verhdngnisvoll
wirken.
Ein andrer Arzt also, ganz abgesehen davon, daYA so manchem von ihnen
gerade in der Iridektomie die nctige Xbung fehle - d'rfe, eben weil er
wiederum von neuem untersuchen m'sse, gar nicht vor Ablauf ldngerer Zeit,
bis sich die Sehnerven wieder erholt hdtten, zu einem chirurgischen Eingriff
schreiten."
Charousek ballte die Fduste.
"Das nennen wir in der Schachsprache ›Zugzwang‹, lieber Meister
Pernath! - - Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, - ein erzwungener Zug
nach dem andern.
Halb wahnsinnig vor Verzweiflung beschwor nun der Patient den Dr.
Wassory, er mcge doch Erbarmen haben, einen Tag nur seine Abreise
verschieben und die Operation selber vornehmen. - Es handle sich doch um
mehr als um schnellen Tod, die grauenhafte, folternde Angst, jeden
Augenblick erblinden zu m'ssen, sei ja das Schrecklichste, was es geben
kcnne.
Und je mehr das Scheusal sich strdubte und jammerte: ein Aufschub
seiner Reise kcnne ihm unabsehbaren Schaden bringen, desto hchere Summen
boten freiwillig die Kranken.
Schien schlieYAlich die Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er nach und
f'gte bereits am selben Tage, ehe noch ein Zufall seinen Plan aufdecken
konnte, den Bedauernswerten an beiden gesunden Augen jenen unheilbaren
Schaden zu, jenes immerwdhrende Gef'hl des Geblendetseins, das das Leben zu
stetiger Qual gestalten muYAte, die Spuren des Schurkenstreiches aber ein f'r
allemal verwischte.
Durch solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr. Wassory nicht
nur seinen Ruhm und seinen Ruf als unvergleichlicher Arzt, dem es noch
jedesmal gelungen sei, die drohende Erblindung aufzuhalten, - es befriedigte
gleichzeitig seine maYAlose Geldgier und frcnte seiner Eitelkeit, wenn die
ahnungslosen, an Kcrper und Vermcgen geschddigten Opfer zu ihm wie zu einem
Helfer aufsahen und ihn als Retter priesen.
Nur ein Mensch, der mit allen Fasern im Getto und seinen zahllosen,
unscheinbaren, jedoch un'berwindlichen Hilfsquellen wurzelte und von
Kindheit an gelernt hat, auf der Lauer zu liegen wie eine Spinne, der jeden
Menschen in der Stadt kannte und bis ins kleinste seine Beziehungen und
Vermcgensverhdltnisse erriet und durchschaute, - nur ein solcher -
"Halbhellseher" mcchte man es beinahe nennen, - konnte jahrelang derartige
ScheuYAlichkeiten ver'ben.
Und wdre ich nicht gewesen, bis heute triebe er sein Handwerk noch,
w'rde es bis ins hohe Alter weiterbetrieben haben, um schlieYAlich als
ehrw'rdiger Patriarch im Kreise seiner Lieben, angetan mit hohen Ehren,
k'nftigen Geschlechtern ein leuchtendes Vorbild, seinen Lebensabend zu
genieYAen, bis - bis endlich auch 'ber ihn das groYAe Verrecken hinweggezogen
wdre.
Ich aber wuchs ebenfalls im Getto auf, und auch mein Blut ist mit jener
Atmosphdre hcllischer List gesdttigt, und so vermochte ich ihn zu Fall zu
bringen, - so wie die Unsichtbaren einen Menschen zu Fall bringen, - wie aus
heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft.
Dr. Savioli, ein junger deutscher Arzt, hat das Verdienst der
Entlarvung, - ihn schob ich vor und hdufte Beweis auf Beweis, bis der Tag
anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory ausstreckte.
Da beging die Bestie Selbstmord! - Gesegnet sei die Stunde!
Als hdtte mein Doppelgdnger neben ihm gestanden und ihm die Hand
gef'hrt, nahm er sich das Leben mit jener Phiole Amylnitrit, die ich
absichtlich in seinem Ordinationszimmer bei der Gelegenheit hatte
stehenlassen, als ich selbst ihn einmal verleitet, auch an mir die falsche
Diagnose des gr'nen Stars zu stellen, - absichtlich und mit dem gl'henden
Wunsche, daYA es dieses Amylnitrit sein mcchte, das ihm den letzten StoYA
geben sollte.
Der Gehirnschlag hdtte ihn getroffen, hieYA es in der Stadt.
Amylnitrit tctet, eingeatmet, wie Gehirnschlag. Aber lange konnte das
Ger'cht nicht aufrechterhalten werden."
Charousek starrte plctzlich geistesabwesend, als habe er sich in ein
tiefes Problem verloren, vor sich hin, dann zuckte er mit der Achsel nach
der Richtung, wo Aaron Wassertrums Trcdlerladen lag.
"Jetzt ist er allein," murmelte er, "ganz allein mit seiner Gier und -
und - und mit der Wachspuppe!"
Mir schlug das Herz bis zum Hals.
Ich sah Charousek voll Entsetzen an.
War er wahnsinnig? Es muYAten Fieberphantasien sein, die ihn diese Dinge
erfinden lieYAen.
GewiYA, gewiYA! Er hat alles erfunden, getrdumt!
Es kann nicht wahr sein, was er da 'ber den Augenarzt Grauenhaftes
erzdhlt hat. Er ist schwinds'chtig, und die Fieber des Todes kreisen in
seinem Hirn.
Und ich wollte ihn mit ein paar scherzenden Worten beruhigen, seine
Gedanken in eine freundliche Richtung lenken.
Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine Erinnerung
das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe, wie es damals in mein
Zimmer mit runden Fischaugen durch die aufgerissene T'r hereingeschaut
hatte.
Dr. Savioli! Dr. Savioli! - ja, ja, so war auch der Name des jungen
Mannes gewesen, den mir der Marionettenspieler Zwakh fl'sternd anvertraut
als den des vornehmen Zimmerherrn, der von ihm das Atelier gemietet hatte.
Dr. Savioli! - Wie ein Schrei tauchte es in meinem Innern auf. Eine
Reihe nebelhafter Bilder zuckte durch meinen Geist, jagte sich mit
schreckhaften Vermutungen, die auf mich einst'rmten.
Ich wollte Charousek fragen, ihm voll Angst rasch alles erzdhlen, was
ich damals erlebt, da sah ich, daYA ein heftiger Hustenanfall sich seiner
bemdchtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch unterscheiden, wie
er sich m'hsam mit den Hdnden an der Mauer st'tzend in den Regen
hinaustappte und mir einen fl'chtigen GruYA zunickte.
Ja, ja, er hat recht, er sprach nicht im Fieber, - f'hlte ich, - das
unfaYAbare Gespenst des Verbrechens ist es, das durch diese Gassen schleicht
Tag und Nacht und sich zu verkcrpern sucht.
Es liegt in der Luft, und wir sehen es nicht. Plctzlich schldgt es sich
nieder in einer Menschenseele, - wir ahnen es nicht, - da, dort, und ehe wir
es fassen kcnnen, ist es gestaltlos geworden und alles ldngst vor'ber.
Und nur noch dunkle Worte 'ber irgendein entsetzliches Geschehnis
kommen an uns heran.
Mit einem Schlage begriff ich diese rdtselhaften Geschcpfe, die rings
um mich wohnten, in ihrem innersten Wesen: sie treiben willenlos durchs
Dasein von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt - - so, wie vorhin
das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vor'berschwamm.
Mir war, als starrten die Hduser alle mit t'ckischen Gesichtern voll
namenloser Bosheit auf mich her'ber, - die Tore: aufgerissene schwarze
Mduler, aus denen die Zungen ausgefault waren, - Rachen, die jeden
Augenblick einen gellenden Schrei ausstoYAen konnten, so gellend und
haYAerf'llt, daYA es uns bis ins Innerste erschrecken m'YAte.
Was hatte zum SchluYA noch der Student 'ber den Trcdler gesagt? - Ich
fl'sterte mir seine Worte vor: - Aaron Wassertrum sei jetzt allein mit
seiner Gier und - - seiner Wachspuppe.
Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben?
Es muYA ein Gleichnis gewesen sein, beschwichtigte ich mich, - eines
jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen zu 'berfallen pflegt, die
man nicht versteht, und die einen, wenn sie spdter unerwartet sichtbar
werden, so tieferschrecken kcnnen wie die Dinge von ungewohnter Form, auf
die plctzlich ein greller Lichtstreif fdllt.
Ich holte tief Atem, um mich zu beruhigen und den furchtbaren Eindruck,
den mir Charouseks Erzdhlung verursacht hatte, abzusch'tteln.
Ich sah die Leute genauer an, die mit mir in dem Hausflur warteten:
Neben mir stand jetzt der dicke Alte. Derselbe, der vorhin so widerlich
gelacht hatte.
Er hatte einen schwarzen Gehrock an und Handschuhe und starrte mit
vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses gegen'ber.
Sein glattrasiertes Gesicht mit den breiten, gemeinen Z'gen zuckte vor
Erregung.
Unwillk'rlich folgte ich seinen Blicken und bemerkte, daYA sie wie
gebannt an der rothaarigen Rosina hingen, die dr'ben jenseits der Gasse
stand, ihr immerwdhrendes Ldcheln um die Lippen.
Der Alte war bem'ht, ihr Zeichen zu geben, und ich sah, daYA sie es wohl
wuYAte, aber sich benahm, als verst'nde sie nicht.
Endlich hielt es der Alte nicht ldnger aus, watete auf den FuYAspitzen
hin'ber und h'pfte mit ldcherlicher Elastizitdt wie ein groYAer schwarzer
Gummiball 'ber die Pf'tzen.
Man schien ihn zu kennen, denn ich hcrte allerhand Glossen fallen, die
darauf hinzielten. Ein Strolch hinter mir, ein rotes, gestricktes Tuch um
den Hals, mit blauer Militdrm'tze, die Virginia hinter dem Ohr, machte mit
grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht verstand.
Ich begriff nur, daYA sie den Alten in der Judenstadt den "Freimaurer"
nannten und in ihrer Sprache mit diesem Spitznamen jemand bezeichnen
wollten, der sich an halbw'chsigen Mddchen zu vergehen pflegt, aber durch
intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe sicher ist. - - -
Dann waren das Gesicht Rosinas und der Alte dr'ben im Dunkel des
Hausflures verschwunden.
Wir hatten das Fenster gecffnet, um den Tabakrauch aus meinem kleinen
Zimmer strcmen zu lassen.
Der kalte Nachtwind blies herein und wehte an die zottigen Mdntel, die
an der T're hingen, daYA sie leise hin und her schwankten.
"Prokops w'rdige Haupteszierde mcchte am liebsten davonfliegen", sagte
Zwakh und deutete auf des Musikers groYAen Schlapphut, der die breite Krempe
bewegte wie schwarze Fl'gel.
Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern.
"Er will," sagte er, "er will wahrscheinlich - - -"
"Er will zum ›Loisitschek‹ zur Tanzmusik", nahm ihm Vrieslander das
Wort vorweg.
Prokop lachte und schlug mit der Hand den Takt zu den Kldngen, die die
d'nne Winterluft her 'ber die Ddcher trug.
Dann nahm er meine alte, zerbrochene Gitarre von der Wand, tat, als
zupfe er die zerbrochenen Saiten und sang mit kreischendem Falsett und
gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied:
"An Bein-del von Ei-sen
recht alt
"An Stran-zen net gar
a so kalt
"Messinung, a' Rducherl
und Rohn
"und immerrr nurr putz-en - - -
"Wie groYAartig er mit einem Mal die Gaunersprache beherrscht!" und
Vrieslander lachte laut auf und brummte mit:
"Und stok-en sich Aufzug
und Pfiff
"Und schmallern an eisernes
G's'ff.
"Juch, -
"Und Handschuhkren, Harom net san - -
"Dieses kuriose Lied schnarrt jeden Abend beim ›Loisitschek‹ der
meschuggene Nephtali Schaffranek mit dem gr'nen Augenschirm, und ein
geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und grclt den Text dazu", erkldrte
mir Zwakh. "Sie sollten auch einmal mit uns in diese Schenke gehen, Meister
Pernath. Spdter vielleicht, wenn wir mit dem Punsch zu Ende sind, - was
meinen Sie? Zur Feier Ihres heutigen Geburtstages?"
"Ja, ja, kommen Sie nachher mit uns", sagte Prokop und klinkte das
Fenster zu, - "man muYA so etwas gesehen haben."
Dann tranken wir den heiYAen Punsch und hingen unsern Gedanken nach.
Vrieslander schnitzte an einer Marionette.
"Sie haben uns fcrmlich von der AuYAenwelt abgeschnitten, Josua,"
unterbrach Zwakh die Stille, "seit Sie das Fenster geschlossen haben, hat
niemand mehr ein Wort gesprochen."
"Ich dachte nur dar'ber nach, als vorhin die Mdntel so flogen, wie
seltsam es ist, wenn der Wind leblose Dinge bewegt," antwortete Prokop
schnell, wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen: "Es sieht gar
so wunderlich aus, wenn Gegenstdnde plctzlich zu flattern anheben, die sonst
immer tot daliegen. Nicht? - Ich sah einmal auf einem menschenleeren Platz
zu, wie groYAe Papierfetzen, - ohne daYA ich vom Winde etwas sp'rte, denn ich
stand durch ein Haus gedeckt, - in toller Wut im Kreise herumjagten und
einander verfolgten, als hdtten sie sich den Tod geschworen. Einen
Augenblick spdter schienen sie sich beruhigt zu haben, aber plctzlich kam
wieder eine wahnwitzige Erbitterung 'ber sie, und in sinnlosem Grimm rasten
sie umher, drdngten sich in einen Winkel zusammen, um von neuem besessen
auseinander zu stieben und schlieYAlich hinter einer Ecke zu verschwinden.
Nur eine dicke Zeitung konnte nicht mitkommen; sie blieb auf dem
Pflaster liegen und klappte haYAerf'llt auf und zu, als sei ihr der Atem
ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.
Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was, wenn am Ende wir
Lebewesen auch so etwas Dhnliches wdren wie solche Papierfetzen? - Ob nicht
vielleicht ein unsichtbarer, unbegreiflicher "Wind" auch uns hin und her
treibt und unsre Handlungen bestimmt, wdhrend wir in unserer Einfalt glauben
unter eigenem, freiem Willen zu stehen?
Wie, wenn das Leben in uns nichts anderes wdre als ein rdtselhafter
Wirbelwind? Jener Wind, von dem die Bibel sagt: WeiYAt du, von wannen er
kommt und wohin er geht? - - - Trdumen wir nicht auch zuweilen, wir griffen
in tiefes Wasser und fingen silberne Fische, und nichts anderes ist
geschehen, als daYA ein kalter Luftzug unsere Hdnde traf?"
"Prokop, Sie sprechen in Worten wie Pernath, was ist's mit Ihnen?"
sagte Zwakh und sah den Musiker miYAtrauisch an.
"Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erzdhlt wurde, - schade, daYA
Sie so spdt kamen und sie nicht mit anhcrten, - hat ihn so nachdenklich
gestimmt", meinte Vrieslander.
"Eine Geschichte von einem Buche?"
"Eigentlich von einem Menschen, der ein Buch brachte und seltsam
aussah. - Pernath weiYA nicht, wie er heiYAt, wo er wohnt, was er wollte, und
obwohl sein Aussehen sehr auffallend gewesen sein soll, lasse es sich doch
nicht recht schildern."
Zwakh horchte auf.
*"Das ist sehr merkw'rdig," sagte er nach einer Pause, "war der Fremde
vielleicht bartlos, und hatte er schrdgstehende Augen?"
"Ich glaube," antwortete ich, "das heiYAt, ich - ich - weiYA es ganz
bestimmt. Kennen Sie ihn denn?"
Der Marionettenspieler sch'ttelte den Kopf. "Er erinnerte mich nur an
den ›Golem‹."
Der Maler Vrieslander lieYA sein Schnitzmesser sinken:
"Golem? - Ich habe schon so viel davon reden hcren. Wissen Sie etwas
'ber den Golem, Zwakh?"
"Wer kann sagen, daYA er 'ber den Golem etwas wisse?", antwortete Zwakh
und zuckte die Achseln. "Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines
Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plctzlich wieder
aufleben ldYAt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und die
Ger'chte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so 'bertrieben und aufgebauscht,
daYA sie schlieYAlich an der eigenen Unglaubw'rdigkeit zugrunde gehen. Der
Ursprung der Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zur'ck, sagt
man. Nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner da
einen k'nstlichen Menschen - den sogenannten Golem - verfertigt haben, damit
er ihm als Diener helfe die Glocken in der Synagoge lduten, und allerhand
grobe Arbeit tue.
Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur ein
dumpfes, halbbewuYAtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heiYAt, auch das nur
tags'ber und kraft des Einflusses eines magischen Zettels, der ihm hinter
den Zdhnen stak und die freien siderischen Krdfte des Weltalls herabzog.
Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem
Munde des Golem zu nehmen versdumt, da wdre dieser in Tobsucht verfallen, in
der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hdtte zerschlagen, was ihm in den
Weg gekommen.
Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
Und da sei das Geschcpf leblos niedergest'rzt. Nichts blieb von ihm
'brig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch dr'ben in der
Altneusynagoge gezeigt wird."
"Derselbe Rabbiner soll einmal auch zum Kaiser auf die Burg berufen
worden sein und die Schemen der Toten beschworen und sichtbar gemacht
haben," warf Prokop ein, "moderne Forscher behaupten, er habe sich dazu
einer Laterna magica bedient."
"Jawohl, keine Erkldrung ist abgeschmackt genug, daYA sie bei den
Heutigen nicht Beifall fdnde," fuhr Zwakh unbeirrt fort. - "Eine Laterna
magica!! Als ob Kaiser Rudolf, der sein ganzes Leben solchen Dingen
nachging, einen so plumpen Schwindel nicht auf den ersten Blick hdtte
durchschauen m'ssen!
Ich kann freilich nicht wissen, worauf sich die Golemsage zur'ckf'hren
ldYAt, daYA aber irgend etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel
sein Wesen treibt und damit zusammenhdngt, dessen bin ich sicher. Von
Geschlecht zu Geschlecht haben meine Vorfahren hier gewohnt, und niemand
kann wohl auf mehr erlebte und ererbte Erinnerungen an das periodische
Auftauchen des Golem zur'ckblicken als gerade ich!"
Zwakh hatte plctzlich aufgehcrt zu reden, und man f'hlte mit ihm, wie
seine Gedanken in vergangene Zeiten zur'ckwanderten.
Wie er, den Kopf aufgest'tzt, dort am Tische saYA und beim Scheine der
Lampe seine roten, jugendlichen Bdckchen fremdartig von dem weiYAen Haar
abstachen, verglich ich unwillk'rlich im Geiste seine Z'ge mit den
maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er mir so oft gezeigt.
Seltsam, wie dhnlich ihnen der alte Mann doch sah!
Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!
Manche Dinge der Erde kcnnen nicht loskommen voneinander, f'hlte ich,
und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vor'berziehen lieYA, da schien
es mir mit einemmal gespenstisch und ungeheuerlich, daYA ein Mensch wie er,
obschon er eine bessere Erziehung als seine Vorfahren genossen hatte und
Schauspieler hdtte werden sollen, plctzlich wieder zu dem schdbigen
Marionettenkasten zur'ckkehren konnte, um nun abermals auf die Jahrmdrkte zu
ziehen und dieselben Puppen, die schon seiner Vorvdter k'mmerliches
Erwerbsmittel gewesen, von neuem ihre ungelenken Verbeugungen machen und
schldfrigen Erlebnisse vorf'hren zu lassen.
Er vermag es nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich; sie leben
mit von seinem Leben, und als er fern von ihnen war, da haben sie sich in
Gedanken verwandelt, haben in seinem Hirn gewohnt und ihn rast- und ruhelos
gemacht, bis er wieder heimkehrte. Darum hdlt er sie jetzt so liebevoll und
kleidet sie stolz in Flitter.
"Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererzdhlen?" forderte Prokop den Alten
auf und sah fragend nach Vrieslander und mir hin, ob auch wir gleichen
Wunsches seien.
"Ich weiYA nicht, wo ich anfangen soll," meinte der Alte zcgernd, "die
Geschichte mit dem Golem ldYAt sich schwer fassen. So wie Pernath vorhin
sagte: er wisse genau, wie jener Unbekannte ausgesehen habe, und doch kcnne
er ihn nicht schildern. Ungefdhr alle dreiunddreiYAig Jahre wiederholt sich
ein Ereignis in unsern Gassen, das gar nichts besonders Aufregendes an sich
trdgt und dennoch ein Entsetzen verbreitet, f'r das weder eine Erkldrung
noch eine Rechtfertigung ausreicht:
Immer wieder begibt es sich ndmlich, daYA ein vollkommen fremder Mensch,
bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus, aus der Richtung
der Altschulgasse her, in altmodische, verschossene Kleider geh'llt,
gleichmdYAigen und eigent'mlich stolpernden Ganges, so, als wolle er jeden
Augenblick vorn'ber fallen, durch die Judenstadt schreitet und plctzlich -
unsichtbar wird.
Gewchnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.
Ein andermal heiYAt es, er habe auf seinem Wege einen Kreis beschrieben
und sei zu dem Punkte zur'ckgekehrt, von dem er ausgegangen: einem uralten
Hause in der Ndhe der Synagoge.
Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie hdtten ihn um eine Ecke auf
sich zukommen sehen. Wiewohl er ihnen aber ganz deutlich
entgegengeschritten, sei er dennoch, genau wie jemand, dessen Gestalt sich
in weiter Ferne verliert, immer kleiner und kleiner geworden und -
schlieYAlich ganz verschwunden.
Vor Sechsundsechzig Jahren nun muYA der Eindruck, den er hervorgebracht,
besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich - ich war noch ein ganz
kleiner Junge -, daYA man das Gebdude in der Altschulgasse damals von oben
bis unten durchsuchte.
Es wurde auch festgestellt, daYA wirklich in diesem Hause ein Zimmer mit
Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.
Aus allen Fenstern hatte man Wdsche gehdngt, um von der Gasse aus einen
Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der Tatsache auf die Spur
gekommen.
Da es anders nicht zu erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an einem
Strick vom Dache herabgelassen, um hineinzusehen. Kaum aber war er in die
Ndhe des Fensters gelangt, da riYA das Seil, und der Ungl'ckliche
zerschmetterte sich auf dem Pflaster den Schddel. Und als spdter der Versuch
nochmals wiederholt werden sollte, gingen die Ansichten 'ber die Lage des
Fensters derart auseinander, daYA man davon abstand.
Ich selber begegnete dem ›Golem‹ das erste Mal in meinem Leben vor
ungefdhr dreiunddreiYAig Jahren.
Er kam in einem sogenannten Durchhause auf mich zu, und wir rannten
fast aneinander.
Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorgegangen sein
muYA. Man trdgt doch um Gottes willen nicht immerwdhrend, tagaus tagein die
Erwartung mit sich herum, man werde dem Golem begegnen.
In jenem Augenblick aber, bestimmt - ganz bestimmt, noch ehe ich seiner
ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: der Golem! Und im
selben Moment stolperte jemand aus dem Dunkel des Torflures hervor, und
jener Unbekannte ging an mir vor'ber. Eine Sekunde spdter drang eine Flut
bleicher, aufgeregter Gesichter mir entgegen, die mich mit Fragen
best'rmten, ob ich ihn gesehen hdtte.
Und als ich antwortete, da f'hlte ich, daYA sich meine Zunge wie aus
einem Krampfe lcste, von dem ich vorher nichts gesp'rt hatte.
Ich war fcrmlich 'berrascht, daYA ich mich bewegen konnte, und deutlich
kam mir zum BewuYAtsein, daYA ich mich, wenn auch nur den Bruchteil eines
Herzschlags lang - in einer Art Starrkrampf befunden haben muYAte.
Xber all das habe ich oft und lange nachgedacht, und mich d'nkt, ich
komme der Wahrheit am ndchsten, wenn ich sage: Immer einmal in der Zeit
eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie durch die
Judenstadt, befdllt die Seelen der Lebenden zu irgendeinem Zweck, der uns
verh'llt bleibt, und ldYAt wie eine Luftspiegelung die Umrisse eines
charakteristischen Wesens erstehen, das vielleicht vorjahrhunderten hier
gelebt hat und nach Form und Gestaltung d'rstet.
Vielleicht ist es mitten unter uns, Stunde f'r Stunde, und wir nehmen
es nicht wahr. Hcren wir doch auch den Ton einer schwirrenden Stimmgabel
nicht, bevor sie das Holz ber'hrt und es mitschwingen macht.
Vielleicht ist es nur so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne
innewohnendes BewuYAtsein, - ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein Kristall
nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen herauswdchst.
Wer weiYA das?
Wie in schw'len Tagen die elektrische Spannung sich bis zur
Unertrdglichkeit steigert und endlich den Blitz gebiert, kcnnte es da nicht
sein, daYA auch auf die stetige Anhdufung jener niemals wechselnden Gedanken,
die hier im Getto die Luft vergiften, eine plctzliche, ruckweise Entladung
folgen muYA? - eine seelische Explosion, die unser TraumbewuYAtsein ans
Tageslicht peitscht, um - dort den Blitz der Natur - hier ein Gespenst zu
schaffen, das in Mienen, Gang und Gehaben, in allem und jedem das Symbol der
Massenseele unfehlbar offenbaren m'YAte, wenn man die geheime Sprache der
Formen nur richtig zu deuten verst'nde?
Und wie mancherlei Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes ank'nden,
so verraten auch hier gewisse grauenhafte Vorzeichen das drohende
Hereinbrechen jenes Phantoms ins Reich der Tat. Der abbldtternde Bewurf
einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die einem schreitenden Menschen
gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich Z'ge starrer Gesichter. Der
Sand vom Dache scheint anders zu fallen als sonst und drdngt dem
argwchnischen Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die
sich lichtscheu verborgen hdlt, werfe ihn herab und 'be sich in heimlichen
Versuchen, allerlei seltsame Umrisse hervorzubringen. - Ruht das Auge auf
eintcnigem Geflecht oder den Unebenheiten der Haut, bemdchtigt sich unser
die unerfreuliche Gabe, 'berall mahnende, bedeutsame Formen zu sehen, die in
unsern Trdumen ins RiesengroYAe auswachsen. Und immer zieht sich durch solche
schemenhaften Versuche der angesammelten Gedankenherden, die Wdlle der
Alltdglichkeit zu durchnagen, f'r uns wie ein roter Faden die qualvolle
GewiYAheit, daYA unser eigenstes Inneres mit Vorbedacht und gegen unsern
Willen ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms plastisch werden
kcnne.
Wie ich nun vorhin Pernath bestdtigen hcrte, daYA ihm ein Mensch
begegnet sei, bartlos, mit schiefgestellten Augen, da stand der "Golem" vor
mir, wie ich ihn damals gesehen.
Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir.
Und eine gewisse dumpfe Furcht, es stehe wieder etwas Unerkldrliches
nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang; dieselbe Angst, die ich schon
einmal in meinen Kinderjahren versp'rt, als die ersten spukhaften DuYAerungen
des Golem ihre Schatten vorauswarfen.
Sechsundsechzig Jahre ist das wohl jetzt her und kn'pft sich an einen
Abend, an dem der Brdutigam meiner Schwester zu Besuch gekommen war, und in
der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt werden sollte.
Es wurde damals Blei gegossen - zum Scherz - und ich stand mit offenem
Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten habe, - in meiner wirren,
kindlichen Vorstellung brachte ich es in Zusammenhang mit dem Golem, von dem
ich meinen GroYAvater oft hatte erzdhlen hcren, und bildete mir ein, jeden
Augenblick m'sse die T'r aufgehen und der Unbekannte eintreten.
Meine Schwester leerte dann den Lcffel mit dem fl'ssigen Metall in das
Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah, lustig an.
Mit welken, zitternden Hdnden holte mein GroYAvater den blitzenden
Bleiklumpen heraus und hielt ihn ans Licht. Gleich darauf entstand eine
allgemeine Erregung. Man redete laut durcheinander; ich wollte mich
hinzudrdngen, aber man wehrte mich ab.
Spdter, als ich dlter geworden, erzdhlte mir mein Vater, es wdre damals
das geschmolzene Metall zu einem kleinen, ganz deutlichen Kopf erstarrt
gewesen, - glatt und rund, wie nach einer Form gegossen, und von
unheimlicher Dhnlichkeit mit den Z'gen des "Golem", daYA sich alle entsetzt
hdtten.
Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah Hillel, der die Requisiten
der Altneusynagoge in Verwahrung hat und auch die gewisse Lehmfigur aus
Kaiser Rudolfs Zeiten, dar'ber. Er hat sich mit Kabbala befaYAt und meint,
jener Erdklumpen mit den menschlichen GliedmaYAen sei vielleicht nichts
anderes als ein ehemaliges Vorzeichen, ganz so wie in meinem Fall der
bleierne Kopf. Und der Unbekannte, der da umgehe, m'sse das Phantasie- oder
Gedankenbild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner zuerst lebendig
gedacht habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte, und das nun in
regelmdYAigen Zeitabschnitten, bei den gleichen astrologischen
Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden - wiederkehre, vom Triebe
nach stofflichem Leben gequdlt.
Auch Hillels verstorbene Frau hatte den "Golem" von Angesicht zu
Angesicht erblickt und ebenso wie ich gef'hlt, daYA man sich im Starrkrampf
befindet, solange das rdtselhafte Wesen in der Ndhe weilt.
Sie sagte, sie sei felsenfest 'berzeugt gewesen, daYA es damals nur ihre
eigene Seele habe sein kcnnen, die - aus dem Kcrper getreten - ihr einen
Augenblick gegen'bergestanden und mit den Z'gen eines fremden Geschcpfes ins
Gesicht gestarrt hdtte.
Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bemdchtigt, habe
sie doch keine Sekunde die GewiYAheit verlassen, daYA jener andere nur ein
St'ck ihres eignen Innern sein konnte." -
"Es ist unglaublich", murmelte Prokop in Gedanken verloren.
Auch der Maler Vrieslander schien ganz in Gr'beln versunken.
Da klopfte es an die T're und das alte Weib, das mir des Abends Wasser
bringt und was ich sonst noch nctig habe, trat ein, stellte den tcnernen
Krug auf den Boden und ging stillschweigend wieder hinaus.
Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer umher, aber
noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.
Als sei ein neuer EinfluYA mit der Alten zur T'r hereingeschl'pft, an
den man sich erst gewchnen muYAte.
"Ja! Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man nicht
loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder auftauchen sieht",
sagte plctzlich Zwakh ganz unvermittelt. "Dieses erstarrte, grinsende
Ldcheln kenne ich nun schon ein ganzes Menschenleben. Erst die GroYAmutter,
dann die Mutter! - Und stets das gleiche Gesicht, kein Zug anders! Derselbe
Name Rosina; - es ist immer eine die Auferstehung der andern."
"Ist Rosina nicht die Tochter des Trcdlers Aaron Wassertrum?" fragte
ich.
"Man spricht so", meinte Zwakh, - - "Aaron Wassertrum aber hat manchen
Sohn und manche Tochter, von denen man nicht weiYA. Auch bei Rosinas Mutter
wuYAte man nicht, wer ihr Vater gewesen, - auch nicht, was aus ihr geworden
ist. - Mit f'nfzehn Jahren hatte sie ein Kind geboren und war seitdem nicht
mehr aufgetaucht. Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen, soweit ich
mich entsinnen kann, der ihretwegen in diesem Hause begangen wurde.
Wie jetzt ihre Tochter, spukte damals sie den halbw'chsigen Jungen im
Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, - ich sehe ihn cfter, - doch sein Name ist
mir entfallen. Die andern sind bald gestorben, und ich meine, sie hat sie
alle fr'hzeitig under die Erde gebracht. Ich erinnere mich aus jener Zeit
'berhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie verblichene Bilder durch mein
Geddchtnis treiben. So hat es damals einen halbblcdsinnigen Menschen
gegeben, der nachts von Schenke zu Schenke zog und den Gdsten gegen ein paar
Kreuzer Silhouetten aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken
machte, geriet er in eine unsdgliche Traurigkeit, und unter Trdnen und
Schluchzen schnitzelte er, ohne aufzuhcren, immer das gleiche scharfe
Mddchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war.
Aus Zusammenhdngen zu schlieYAen, die ich ldngst vergessen, hatte er -
fast ein Kind noch - eine gewisse Rosina, wohl die GroYAmutter der heutigen,
so heftig geliebt, daYA er den Verstand dar'ber verlor.
Wenn ich die Jahre zur'ckzdhle, kann es keine andere als die GroYAmutter
der jetzigen Rosina gewesen sein." - - -
Zwakh schwieg und lehnte sich zur'ck.
Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt immer
wieder zum selben Punkt zur'ck, fuhr es mir durch den Sinn, und ein
hdYAliches Bild, das ich einmal mit angesehen - eine Katze mit verletzter
Gehirnhdlfte im Kreise herumtaumelnd - trat vor mein Auge.
"Jetzt kommt der Kopf", hcrte ich plctzlich den Maler Vrieslander mit
heller Stimme sagen.
Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann an ihm zu
schnitzen.
Eine schwere M'digkeit legte sich mir 'ber die Augen, und ich r'ckte
meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
Das Wasser f'r den Punsch brodelte im Kessel, und Josua Prokop f'llte
wiederum die Gldser. Leise, ganz leise klangen die Kldnge der Tanzmusik
durch das geschlossene Fenster; - manchmal verstummten sie vollends, dann
wiederum wachten sie ein wenig auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder
zu uns von der Gasse emportrug.
Ob ich denn nicht anstoYAen wolle, fragte mich nach einer Weile der
Musiker.
Ich aber gab keine Antwort, - so vollkommen war mir der Wille, mich zu
bewegen, abhanden gekommen, daYA ich gar nicht auf den Gedanken, den Mund zu
cffnen, verfiel.
Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die sich
meiner bemdchtigt hatte. Und ich muYAte hin'ber auf Vrieslanders funkelndes
Messer blinzeln, das ruhelos aus dem Holz kleine Spdne biYA, - um die
GewiYAheit zu erlangen, daYA ich wach sei.
In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzdhlte wieder allerlei
wunderliche Geschichten 'ber Marionetten und krause Mdrchen, die er f'r
seine Puppenspiele erdacht.
Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen Dame, der
Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli zu
Besuch komme.
Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums hchnische,
triumphierende Miene. -
Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, was sich damals ereignet hatte,
'berlegte ich, - dann hielt ich es nicht der M'he f'r wert und f'r
belanglos. Auch wuYAte ich, daYA mein Wille versagen w'rde, wollte ich jetzt
den Versuch machen zu sprechen.
Plctzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir her'ber, und Prokop
sagte ganz laut: "Er ist eingeschlafen", - so laut, daYA es fast klang, als
ob es eine Frage sein sollte.
Sie redeten mit geddmpfter Stimme weiter, und ich erkannte, daYA sie von
mir sprachen.
Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht auf,
das von der Lampe niederfloYA, und der spiegelnde Schein brannte mir in den
Augen.
Es fiel ein Wort wie: "irr sein", und ich horchte auf die Rede, die in
der Runde ging.
"Gebiete, wie das vom ›Golem‹ sollte man vor Pernath nie ber'hren,"
sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, "als er vorhin von dem Buche Ibbur
erzdhlte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich mcchte wetten,
er hat alles nur getrdumt."
Zwakh nickte: "Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem
Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche T'cher Decke
und Wdnde bespannen und der d'rre Zunder der Vergangenheit fuYAhoch den Boden
bedeckt; ein fl'chtiges Ber'hren nur und schon schldgt das Feuer aus allen
Ecken."
"War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst
vierzig sein", sagte Vrieslander.
"Ich weiYA es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen
mag und was fr'her sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein
altfranzcsischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem Spitzbart.
Vor vielen vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter Arzt gebeten, ich
mcchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in
diesen Gassen, wo sich niemand um ihn k'mmern und mit Fragen nach fr'heren
Zeiten beunruhigen w'rde, aussuchen." - Wieder sah Zwakh bewegt zu mir
her'ber. - "Seit jener Zeit lebt er hier, bessert Antiquitdten aus und
schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand gegr'ndet. Es
ist ein Gl'ck f'r ihn, daYA er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenhdngt,
vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen,
die die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen kcnnten, - wie oft hat
mir das der alte Arzt ans Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer,
wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler M'he
eingemauert, mcchte ich's nennen, - so wie man eine Ungl'cksstdtte
einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung kn'pft." - - -
Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein
Schldchter auf ein wehrloses Tier und preYAte mir mit rohen, grausamen Hdnden
das Herz zusammen.
Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, - ein Ahnen, als wdre
mir etwas genommen worden und als hdtte ich in meinem Leben eine lange
Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und
nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergr'nden.
Jetzt lag des Rdtsels Lcsung offen vor mir und brannte mich
unertrdglich wie eine bloYAgelegte Wunde.
Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse
nachzuhdngen, - dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende
Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir unzugdnglicher Gemdcher
gesperrt, - das bedngstigende Versagen meines Geddchtnisses in Dingen, die
meine Jugendzeit betrafen, - alles das fand mit einem Male seine furchtbare
Erkldrung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte
das - "Zimmer" verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gemdchern meines
Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden
Lebens gemacht.
Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern,
vergessenen Dasein verborgen, begriff ich, - nie w'rde ich sie erkennen
kcnnen: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer fremden
Wurzel sproYAt. Geldnge es mir auch, den Eingang in jenes verschlossene
"Zimmer" zu erzwingen, m'YAte ich nicht abermals den Gespenstern, die man
darein gebannt, in die Hdnde fallen?!
Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde erzdhlte, zog
mir durch den Sinn, und plctzlich erkannte ich einen riesengroYAen,
geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in
dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
Ja! auch in meinem Falle "w'rde der Strick reiYAen", wollte ich
versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas
unbeschreiblich Erschreckendes f'r mich an.
Ich f'hlte: es sind da Dinge - unfaYAbare - zusammengeschmiedet und
laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg f'hrt,
nebeneinander her.
Auch im Getto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden
kann, - ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die
Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen! - - -
Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz knirschte
unter der Klinge des Messers.
Es tat mir fast weh, wie ich es hcrte, und ich sah hin, ob es denn
nicht bald zu Ende sei.
Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war es, als
habe er BewuYAtsein und spdhe von Winkel zu Winkel. Dann ruhten seine Augen
lange auf mir, befriedigt, daYA sie mich endlich gefunden.
Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte
unverwandt auf das hclzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zcgernd etwas zu suchen, dann
ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plctzlich gewannen die Z'ge des
Holzklotzes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch
gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine
Sekunde gedauert, und ich sp'rte, daYA mein Herz zu schlagen aufhcrte und
dngstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir - wie damals - des Gesichtes bewuYAt.
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders SchoYA und spdhte
umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte
meinen Schddel.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hcrte seine
Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt
das Schnitzwerk entreiYAen, doch der wehrte sich und rief lachend:
"Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar miYAlungen." Und er wand sich
los, cffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
Da schwand mein BewuYAtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis,
die von schimmernden Goldfdden durchzogen war, und als ich, wie es mir
schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hcrte ich das Holz
klappernd auf das Pflaster fallen. - - -
"Sie haben so fest geschlafen, daYA Sie nicht merkten, wie wir Sie
sch'ttelten," - sagte Josua Prokop zu mir, "der Punsch ist aus, und Sie
haben alles versdumt."
Der heiYAe Schmerz 'ber das, was ich vorhin mitangehcrt, 'bermannte mich
wieder, und ich wollte aufschreien, daYA ich nicht getrdumt habe, als ich
ihnen von dem Buche Ibbur erzdhlte - und es aus der Kassette nehmen und
ihnen zeigen kcnne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung
allgemeinen Aufbruches, die meine Gdste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
Zwakh hdngte mir mit Gewalt den Mantel und und rief:
"Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre
Lebensgeister erfrischen."
Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterf'hren lassen.
Ich sp'rte den Geruch des Nebels, der von der StraYAe ins Haus drang,
deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige
Schritte vorausgegangen, und man hcrte, wie sie drauYAen vor dem Torweg
mitsammen sprachen.
"Er muYA rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum
Teufelholen."
Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich b'ckte
und die Marionette suchte.
"Freut mich, daYA du den dummen Kopf nicht finden kannst", brummte
Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht leuchtete
grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen - wie er das Feuer eines
Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte
sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
"Still doch! Hcrt ihr denn nichts?"
Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte
horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten
in den Schacht hinab.
Nichts.
"Was war's denn?" fl'sterte endlich der alte Marionettenspieler; doch
sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
Einen Augenblick - kaum einen Herzschlag lang - hatte es mir
geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte - fast
unhcrbar. Wie ich eine Sekunde spdter dar'ber nachdachte, war alles vorbei;
nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und lcste sich
langsam in ein unbestimmtes Gef'hl des Grauens auf.
Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
"Gehen wir; was stehen wir da herum!" mahnte Vrieslander.
Wir schritten die Hduserreihe entlang.
Prokop folgte nur widerwillig.
"Meinen Hals mccht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in
Todesangst."
Niemand von uns antwortete ihm, aber ich f'hlte, daYA etwas wie leise
ddmmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
Bald darauf standen wir vor einem rotverhdngten Schenkenfenster.
"Heinte groYAes Konzehr"
stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen
Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, cffnete sich die
Eingangst'r nach innen, und ein vierschrctiger Kerl mit gewichstem schwarzem
Haar, ohne Kragen - eine gr'nseidene Krawatte um den bloYAen Hals geschlungen
und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinszdhnen geschm'ckt - empfing
uns mit B'cklingen.
"Jd, jd, das sin mir Gdstdh. - - - Pane Schaffranek, rasch einen
Tusch!" setzte er, 'ber die Schulter in das von Menschen 'berf'llte Lokal
gewendet, hastig seinem WillkommensgruYA hinzu.
Ein klimperndes Gerdusch, wie wenn eine Ratte 'ber Klaviersaiten liefe,
war die Antwort.
"Jd, jd, das sin mir Gdstdh, das sin mir Gdstdh. Da schaut man",
murmelte der Vierschrctige immerwdhrend eifrig vor sich hin, wdhrend er uns
aus den Mdnteln half.
"Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir
versammelt", beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als
im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch Geldnder und eine
zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar
vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
Schwaden beiYAenden Tabakrauches lagerten 'ber den Tischen, hinter denen
die langen Holzbdnke an den Wdnden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten
waren: Dirnen von den Schanzen, ungekdmmt, schmutzig, barfuYA, die festen
Br'ste kaum verh'llt von miYAfarbigen Umhdnget'chern, Zuhdlter daneben mit
blauen Militdrm'tzen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehhdndler mit haarigen
Fdusten und schwerfdlligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme
Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und
blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
"Ich stell' ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schcn
ungestcrt sein", krdchzte die feiste Stimme des Vierschrctigen, und eine
Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor
den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
Schnarrende Kldnge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer
verlcschen.
Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
Totenstille, als hielte alles den Atem an.
Mit erschreckender Deutlichkeit hcrte man plctzlich wie die eisernen
Gasstdbe fauchend die flachen herzfcrmigen Flammen aus ihren M'ndern in die
Luft bliesen - - dann fiel die Musik 'ber das Gerdusch her und verschlang
es.
Als wdren sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
Mit langem, wallendem, weiYAen Prophetenbart, ein schwarzseidenes
Kdppchen - wie es die alten j'dischen Familienvdter tragen - auf dem
Kahlkopf, die blinden Augen milchbldulich und gldsern - starr zur Decke
gerichtet - saYA dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit
d'rren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in
speckgldnzendem, schwarzen Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals
und Armen - ein Sinnbild erheuchelter B'rgermoral - ein schwammiges
Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem SchoYA.
Ein wildes Gestolper von Kldngen drdngte sich aus den Instrumenten,
dann sank die Melodie ermattet zur bloYAen Begleitung herab.
Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riYA den Mund weit
auf, daYA man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust
herauf rang sich ihm, von seltsamen hebrdischen Rcchellauten begleitet, ein
wilder BaYA:
"Roo - n - te, blau - we Stern - -"
"Rititit" (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die
keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)
"Roonte blaue Steern
Hcrndlach ess i' ach geern";
"Rititit"
"Rotboart, Grienboart
allerlaj Stern" - -
"Rititit, rititit."
Die Paare traten zum Tanze an.
"Es ist das Lied vom ›chomezigen Borchu‹", erkldrte uns ldchelnd der
Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlcffel, der sonderbarerweise
mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. "Vor wohl hundert Jahren
oder mehr noch hatten zwei Bdckergesellen, Rotbart und Gr'nbart, am Abend
des ›Schabbes Hagodel‹ das Brot - Sterne und Hcrnchen - vergiftet, um ein
ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber der ›Meschores‹ -
der Gemeindediener - war infolge gcttlicher Erleuchtung noch rechtzeitig
draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei 'berliefern.
Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals
die ›Landonim‹ und ›Bocherlech‹ jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als
Bordellquadrille hcren."
"Rititit - Rititit"
"Roote blaue Steern - - - -" immer hohler und fanatischer erscholl das
Gebell des Greises.
Plctzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmdhlich in den
Rhythmus des bchmischen "Schlapak" - eines schleifenden Schiebetanzes -
'ber, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preYAten.
"So recht. Bravo. Dh da! fang, hep, hep!" rief von der Estrade ein
schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten
zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberst'ck in der Richtung. Es
erreichte sein Ziel nicht: ich sah noch, wie es 'ber das Tanzgew'hl
hinblitzte; da war es plctzlich verschwunden. Ein Strolch - sein Gesicht kam
mir so bekannt vor; ich glaube, es muYA derselbe gewesen sein, der neulich
bei dem RegenguYA neben Charousek gestanden - hatte seine Hand hinter dem
Busentuch seiner Tdnzerin, wo er sie bisher hartndckig ruhen gehabt,
hervorgezogen - ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne
auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die M'nze war geschnappt.
Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in
der Ndhe grinsten leise.
"Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹, nach der Geschicklichkeit zu
schlieYAen", sagte Zwakh lachend.
"Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehcrt",
fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem
Marionettenspieler zu, daYA ich es nicht sehen sollte. - Ich verstand gar
wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich f'r krank.
Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzdhlen. Irgend etwas.
Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiYA vom Herzen
in die Augen. Wenn er w'YAte, wie weh mir sein Mitleid tat!
Ich 'berhcrte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine
Worte einleitete, - ich weiYA nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir
wurde immer kdlter und starrer, wie vorhin, als ich als hclzernes Gesicht
auf Vrieslanders SchoYA gelegen hatte. Dann war ich plctzlich mitten drin in
der Erzdhlung, die mich fremdartig umfing, - einh'llte, wie ein lebloses
St'ck aus einem Lesebuch.
Zwakh begann:
"Die Erzdhlung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.
- - - No, was soll ich Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen
und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als J'ngling kannte er nichts als
Studium. Trockenes, entnervendes Studium. Von dem, was er sich durch
Stundengeben m'hsam erwarb, muYAte er noch seine kranke Mutter erhalten. Wie
gr'ne Wiesen aussehen und Hecken und H'gel voll Blumen und Wdlder, erfuhr
er, glaube ich, nur aus B'chern. Und wie wenig von Sonnenschein in Prags
schwarze Gassen fdllt, wissen Sie ja selbst.
Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht; das war eigentlich
selbstverstdndlich.
Nun, und mit der Zeit wurde er ein ber'hmter Rechtsgelehrter. So
ber'hmt, daYA alle Leute - Richter und alte Advokaten - zu ihm fragen kamen,
wenn sie irgend etwas nicht wuYAten. Dabei lebte er drmlich wie ein Bettler
in einer Dachkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.
So vergingen Jahre um Jahre und Dr. Hulberts Ruf als Leuchte seiner
Wissenschaft wurde allmdhlich Sprichwort im ganzen Lande. DaYA ein Mann wie
er weichen Herzensempfindungen zugdnglich sein konnte, zumal sein Haar schon
anfing weiYA zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem
als von Jurisprudenz sprechen gehort zu haben, hatte wohl keiner geglaubt.
Doch gerade in solchen verschlossenen Herzen gl'ht die Sehnsucht am
heiYAesten.
An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als
Hcchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: - als ndmlich Seine
Majestdt der Kaiser von Wien aus ihn zum Rector magnificus an unserer
Universitdt ernannte, da ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem
jungen, bildschcnen Frdulein aus zwar armer, aber adliger Familie verlobt.
Und wirklich schien von da an das Gluck bei Dr. Hulbert eingezogen zu
sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er doch seine junge
Gattin auf Hdnden, und jeden Wunsch zu erf'llen, den er ihr nur irgend von
den Augen abzulesen vermochte, war seine hcchste Freude.
In seinem Gluck vergaYA er jedoch keineswegs, wie es wohl so mancher
andere getan hatte, seine leidenden Mitmenschen. "Mir hat Gott meine
Sehnsucht gestillt," soll er einmal gesagt haben, - "er hat mir ein
Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein Glanz vor mir
hergegangen ist seit Kindheit an: er hat mir das lieblichste Wesen zu eigen
gegeben, das die Erde tragt. Und so will ich, daYA ein Schimmer von diesem
Gluck, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fallt." - - -
Und so kam es, daYA er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm
wie seines eigenen Sohnes. Vermutlich in der Erwdgung, wie wohl ihm selbst
ein solch gutes Werk getan hatte, wdre es ihm am eigenen Leib und Leben in
den Tagen seiner kummervollen Jugendzeit passiert. Wie aber nun auf Erden
manche Tat, die dem Menschen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht
gleich der einer fluchw'rdigen, weil wir wohl doch nicht richtig
unterscheiden kcnnen zwischen dem, was giftigen Samen in sich tragt und was
heilsamen, so begab es sich auch hier, daYA aus Dr. Hulberts mitleidsvollem
Werk das bitterste Leid f'r ihn selbst sproYA.
Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem
Studenten, und ein erbarmungsloses Schicksal wollte, daYA sie der Rektor
gerade in dem Augenblicke, als er unerwartet nach Hause kam, um sie zum
Zeichen seiner Liebe mit einem StrauYA Rosen als Geburtstagsprdsent zu
'berraschen, in den Armen dessen antraf, auf den er Wohltat 'ber Wohltat
gehduft hatte.
Man sagt, daYA die blaue Muttergottesblume f'r immer ihre Farbe
verlieren kann, wenn der fahle, schweflige Schein eines Blitzes, der ein
Hagelwetter verk'ndet, plctzlich auf sie fdllt; gewiYA ist, daYA die Seele des
alten Mannes f'r immer erblindete an dem Tage, wo sein Gluck in Scherben
ging. Am selben Abend noch saYA er, er, der bis dahin nicht gewuYAt, was
UnmdYAigkeit ist, hier beim "Loisitschek" - fast bewuYAtlos vom Fusel - bis
zum Morgengrauen. Und der "Loisitschek" wurde seine Heimstdtte f'r den Rest
seines zerstcrten Lebens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines
Neubaus, im Winter hier auf den hclzernen Bdnken.
Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte belieYA man ihm
stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst ber'hmten
Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daYA man Drgernis ndhme an seinem Wandel.
Allmdhlich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel in der
Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur Gr'ndung jener seltsamen
Gemeinschaft, die man noch heutigentags "das Bataillon" nennt.
Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk f'r alle
die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War irgendein
entlassener Strdfling daran zu verhungern, schickte ihn Dr. Hulbert
splitternackt hinaus auf den Altstadter Ring - und das Amt auf der
sogenannten "Fischbanka" sah sich genctigt, einen Anzug beizustellen. Sollte
eine unterstandslose Dirne aus der Stadt gewiesen werden, so heiratete sie
schnell einen Strolch, der bezirkszustdndig war, und wurde dadurch ansdssig.
Hundert solcher Auswege wuYAte Dr. Hulbert, und seinem Rate gegen'ber
stand die Polizei machtlos da. - Was diese AusgestoYAenen der menschlichen
Gesellschaft "verdienten", 'bergaben sie getreulich auf Heller und Kreuzer
der gemeinsamen Kassa, aus der der nctige Lebensunterhalt bestritten wurde.
Niemals lieYA sich auch nur einer die geringste Unehrlichkeit zuschulden
kommen. Mag sein, daYA angesichts dieser eisernen Disziplin der Name "das
Bataillon" entstand.
P'nktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Ungl'cks jdhrte, das
den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim "Loisitschek" eine
seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedrdngt standen sie hier: Bettler,
Vagabunden, Zuhdlter und Dirnen, Trunkenbolde und Lumpensammler, und eine
lautlose Stille herrschte wie beim Gottesdienst. - Und dann erzdhlte ihnen
Dr. Hulbert dort von der Ecke aus, wo jetzt die beiden Musikanten sitzen,
gerade unter dem Krcnungsbilde Seiner Majestdt des Kaisers, seine
Lebensgeschichte: - wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben und
spdter Rektor magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er mit
dem Busch Rosen in der Hand ins Zimmer seiner jungen Frau trat, - zur Feier
ihres Geburtstages und zugleich zum Geddchtnis jener Stunde, da er dereinst
um sie anhalten gekommen und sie seine liebe Braut geworden war, - da
versagte ihm jedesmal die Stimme, und weinend sank er am Tisch zusammen.
Dann geschah es wohl zuweilen, daYA irgendein liederliches Frauenzimmer ihm
verschdmt und heimlich, damit es keiner sehen sollte, eine halbwelke Blume
in die Hand legte.
Von den Zuhcrern r'hrte sich dann noch lange Zeit keiner. Zum Weinen
sind diese Menschen zu hart, aber an ihren Kleidern blickten sie herunter
und drehten unsicher die Finger.
Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten an der
Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein.
Sein Leichenbegdngnis sehe ich noch heute vor mir. Das "Bataillon"
hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie mcglich zu gestalten.
Voran ging der Pedell der Universitdt in vollem Ornat: in den Hdnden
das purpurne Kissenpolster mit der g'ldenen Kette darauf und hinter dem
Leichenwagen in unabsehbarer Reihe - - das "Bataillon" barfuYA,
schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. Einer von ihnen hatte sein Letztes
verkauft und ging daher: Leib, Beine und Arme mit Lagen aus altem
Zeitungspapier umwickelt und umbunden.
So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
Auf seinem Grabe, drauYAen im Friedhof, steht ein weiYAer Stein, darein
sind drei Figuren gemeiYAelt: Der Heiland gekreuzigt zwischen zwei Rdubern.
Von unbekannter Hand gestiftet. Man munkelt, Dr. Hulberts Frau habe das
Denkmal errichtet. - - -
Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vorgesehen,
danach bekommt jeder vom "Bataillon" mittags "beim Loisitschek" umsonst eine
Suppe; zu diesem Zwecke hdngen hier am Tisch die Lcffel an den Ketten, und
die ausgehchlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller. Um 12 Uhr kommt
die Kellnerin und spritzt mit einer groYAen, blechernen Spritze die Br'he
hinein und, wenn sich einer nicht ausweisen kann als "vom Bataillon", so
zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zur'ck.
Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz die Runde durch
die ganze Welt."
Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner Lethargie.
Die letzten Sdtze, die Zwakh gesprochen, wehten 'ber mein BewuYAtsein hinweg.
Ich sah noch, wie er seine Hdnde bewegte, um das Vor- und Zur'ckschieben
eines Spritzenkolbens klarzumachen, dann jagten die Bilder, die sich rings
um uns abrollten, so rasch und automatenhaft und dennoch mit so
gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vor'ber, daYA ich in Momenten ganz
mich selbst vergaYA und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen Uhrwerk.
Das Zimmer war ein einziges Menschengew'hl geworden. Oben auf der
Estrade: dutzende Herren in schwarzen Frdcken. WeiYAe Manschetten, blitzende
Ringe. Eine Dragoneruniform mit Rittmeisterschn'ren. Im Hintergrund ein
Damenhut mit lachsfarbigen StrauYAenfedern.
Durch die Stdbe des Geldnders stierte das verzerrte Gesicht Loisas
hinauf. Ich sah: er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war da
und schaute unverwandt hinauf, mit dem R'cken dicht, ganz dicht, an der
Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
Die Gestalten hielten plctzlich im Tanzen inne: der Wirt muYAte ihnen
etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch,
aber leise; sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte; man f'hlte es
deutlich. Und doch lag der Ausdruck hdmischer wilder Freude in dem Gesicht
des Wirtes.
- - - - In der Eingangst'r steht mit einem Mal der Polizeikommissdr in
Uniform. Er hatte die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. Hinter
ihm ein Kriminalschutzmann.
"Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes? Ich sperre die Spelunke.
Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!"
Es klingt wie Kommandos.
Der Vierschrctige gibt keine Antwort, aber das hdmische Grinsen bleibt
in seinen Z'gen.
BloYA starrer ist es geworden.
Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch.
Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
Die Gesichter sind plctzlich alle im Profil zu sehen: sie glotzen
erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.
Und da kommt eine vornehme schwarze Gestalt gelassen die paar Stufen
herab und geht langsam auf den Kommissdr zu.
Die Augen des Kriminalschutzmannes hdngen gebannt an den
heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.
Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben
und ldYAt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den F'YAen und wieder
zur'ck schweifen.
Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich 'ber das
Geldnder gebeugt und verbeiYAen das Lachen hinter ihren grauseidenen
Taschent'chern.
Der Dragonerrittmeister klemmt ein Goldst'ck ins Auge und spuckt einem
Mddchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.
Der Polizeikommissdr hat sich verfdrbt und starrt in der Verlegenheit
immerwdhrend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.
Er kann den gleichg'ltigen, glanzlosen Blick dieses glattrasierten,
unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.
Er bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
Die Totenstille im Lokal wird immer qudlender.
"So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten Hdnden auf den
Steinsdrgen liegen in den gotischen Kirchen", fl'stert der Maler Vrieslander
mit einem Blick auf den Kavalier.
Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: "Dh - Hm." - - - er
kopiert die Stimme des Wirtes: "Jd, jd, das sin mir Gdstdh - da schaut man."
Ein schallendes Gejohle explodiert im Lokal, daYA die Gldser klirren; die
Strolche halten sich den Bauch vor Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand
und zerschellt. Der vierschrctige Wirt meckert uns erlduternd und
ehrfurchtsvoll zu: "Seine Durchlaucht Exzellenz F'rst Ferri Athenstddt."
Der F'rst hat dem Beamten eine Visitkarte hingehalten. Der Drmste nimmt
sie, salutiert wiederholt und schldgt die Hacken zusammen.
Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter
geschehen wird.
Der Kavalier spricht wieder:
"Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, - dh - sind meine
lieben Gdste." Seine Durchlaucht deutet mit einer nachldssigen Armbewegung
auf das Gesindel, "w'nschen Sie, Herr Kommissdr, - dh - vielleicht
vorgestellt zu werden?"
Der Kommissdr verneint mit erzwungenem Ldcheln, stottert verlegen etwas
von "leidiger Pflichterf'llung" und rafft sich schlieYAlich zu den Worten
auf: "Ich sehe ja, daYA es hier anstdndig zugeht."
Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hintergrund
auf den Damenhut mit der StrauYAenfeder zu und zerrt im ndchsten Augenblick
unter dem Jubel der jungen Adligen - Rosina am Arm herunter in den Saal.
Sie schwankt vor Trunkenheit und hdlt die Augen geschlossen. Der groYAe,
kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa Str'mpfe
und - einen Herrenfrack auf dem bloYAen Kcrper.
Ein Zeichen: Die Musik fallt ein wie rasend - - - "Rititit - Rititit" -
- - und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als
er Rosina gesehen, an der Wand dr'ben ausgestoYAen hat. - -
Wir wollen gehen.
Zwakh ruft nach der Kellnerin.
Der allgemeine Ldrm verschlingt seine Worte.
Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
Der Rittmeister hdlt die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich
langsam mit ihr im Takt.
Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
Dann murmelt es von den Bdnken: "Der Loisitschek, der Loisitschek", die
Hdlse werden lang und zu dem tanzenden Paar gesellt sich ein zweites noch
seltsameres. Ein weibisch aussehender Bursche in rosa Trikots, mit langem
blondem Haar bis zu den Schultern, Lippen und Wangen geschminkt wie eine
Dirne und die Augen niedergeschlagen in koketter Verwirrung, - hdngt
schmachtend an der Brust des F'rsten Athenstddt.
Ein s'YAlicher Walzer quillt aus der Harfe.
Wilder Ekel vor dem Leben schn'rt mir die Kehle zusammen.
Mein Blick sucht voll Angst die Ture: der Kommissdr steht dort
abgewendet, um nichts zu sehen, und fl'stert hastig mit dem
Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.
Die beiden spdhen hin'ber auf den blatternarbigen Loisa, der einen
Augenblick sich zu verstecken sucht und dann geldhmt - das Gesicht kalkweiYA
und verzerrt vor Entsetzen - stehen bleibt.
Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: Das
Bild, wie "Prokop lauscht, wie ich es vor einer Stunde gesehen, - 'ber das
Kanalgitter gebeugt - und ein Todesschrei gellt aus der Erde empor."
Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und
biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderzdhne, daYA es wie ein
Klumpen meinen Gaumen erf'llt und ich kein Wort hervorbringen kann.
Ich kann die Finger nicht sehen, weiYA, daYA sie unsichtbar sind, und
doch empfinde ich sie wie etwas Kcrperliches.
Und klar steht es in meinem BewuYAtsein: sie gehcren zu der
gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der HahnpaYAgasse das Buch
"Ibbur" gegeben hat.
"Wasser, Wasser!" schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den Kopf und
leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.
"In seine Wohnung schaffen, Arzt holen - der Archivar Hillel kennt sich
aus in solchen Dingen - - zu ihm bringen!" beraten sie murmelnd.
Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre und Prokop und
Vrieslander tragen mich hinaus.
Zwakh war vor uns die Treppen hinaufgelaufen, und ich hcrte, wie
Mirjam, die Tochter des Archivars Hillel, ihn dngstlich ausfragte und er sie
zu beruhigen trachtete.
Ich gab mir keine M'he hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen, und
erriet mehr, als ich es in Worten verstand, daYA Zwakh erzdhlte, mir sei ein
Unfall zugestoYAen und sie kdmen bitten, mir die erste Hilfe zu leisten und
mich wieder zu BewuYAtsein zu bringen.
Noch immer konnte ich kein Glied r'hren, und die unsichtbaren Finger
hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher und das Gef'hl des
Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wuYAte genau, wo ich war und was mit
mir geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, daYA man mich wie
einen Toten hinauftrug, samt der Bahre im Zimmer Schemajah Hillels
niedersetzte und - allein lieYA.
Eine ruhige, nat'rliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach
einer langen Wanderung genieYAt, erf'llte mich.
Es war finster in der Stube, und mit verschwimmenden Umrissen hoben
sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem mattleuchtenden Dunst ab,
der von der Gasse heraufschimmerte.
Alles kam mir selbstverstdndlich vor und ich wunderte mich weder
dar'ber, daYA Hillel mit einem j'dischen siebenflammigen Sabbatleuchter
eintrat, noch, daYA er mir gelassen "guten Abend" w'nschte wie jemandem,
dessen Kommen er erwartet hatte.
Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas
Besonderes bemerkt hatte, - trotzdem wir einander oft drei- bis viermal in
der Woche auf den Stiegen begegnet waren, - fiel mir plctzlich stark an ihm
auf, wie er so hin und her ging, einige Gegenstdnde auf der Kommode
zurechtr'ckte und schlieYAlich mit dem Leuchter einen zweiten, gleichfalls
siebenflammigen anz'ndete.
Ndmlich: sein EbenmaYA an Leib und Gliedern und der schmale, feine
Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.
Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen sah, nicht dlter sein
als ich: hcchstens 45 Jahre zdhlen.
"Du bist um einige Minuten fr'her gekommen", - begann er nach einer
Weile - "als anzunehmen war, sonst hdtte ich die Lichter schon vorher
angez'ndet." - Er deutete auf die beiden Leuchter, trat an die Bahre und
richtete seine dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf jemand, der
mir zu Hdupten stand oder kniete, den ich aber nicht zu sehen vermochte.
Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.
Sofort lieYAen die unsichtbaren Finger meine Zunge los und der
Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte hinter mich:
Niemand auYAer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.
Sein "Du" und die Bemerkung, daYA er mich erwartet habe, hatten also mir
gegolten!?
Viel befremdender als diese beiden Umstdnde an sich wirkte es auf mich,
daYA ich nicht imstande war, auch nur die geringste Verwunderung dar'ber zu
empfinden.
Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er ldchelte freundlich,
wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen Sessel
wies, und sagte:
"Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die
gespenstischen Dinge - die Kischuph - auf den Menschen; das Leben kratzt und
brennt wie ein hdrener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt
sind mild und erwdrmend."
Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hdtte erwidern sollen.
Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir gegen'ber
und fuhr gelassen fort: "Auch ein silberner Spiegel, hdtte er Empfindung,
litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und gldnzend geworden, gibt
er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung."
"Wohl dem Menschen", setzte er leise hinzu, "der von sich sagen kann:
Ich bin geschliffen." - Einen Augenblick versank er in Nachdenken, und ich
hcrte ihn einen hebrdischen Satz murmeln: "Lischuosicho Kiwisi Adoschem."
Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:
"Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich wach
gemacht. Im Psalm David heiYAt es:
"Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist
es, welche diese Verdnderung gemacht hat."
Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerstdtten, so wdhnen sie, sie
hdtten den Schlaf abgesch'ttelt, und wissen nicht, daYA sie ihren Sinnen zum
Opfer fallen und die Beute eines neuen viel tieferen Schlafes werden, als
der war, dem sie soeben entronnen sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und
das ist das, dem Du dich jetzt ndherst. Sprich den Menschen davon und sie
werden sagen, Du seist krank, denn sie kcnnen dich nicht verstehen. Darum
ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.
Sie fahren dahin wie ein Strom -
Und sind wie ein Schlaf,
Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird -
Das des Abends abgehauen wird und verdorret."
"Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht hat und mir
das Buch "Ibbur" gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?", wollte
ich fragen, doch Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte
fassen konnte:
"Nimm an, der Mann, der zu Dir kam und den Du den Golem nennst, bedeute
die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben. Jedes Ding auf
Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!
Wie denkst Du mit dem Auge? Jede Form, die Du siehst, denkst Du mit dem
Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst."
Ich f'hlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert gewesen,
sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in ein
uferloses Meer.
Ruhevoll fuhr Hillel fort:
"Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben; Schlaf und Tod
sind dasselbe."
"- - kann nicht mehr sterben?" - Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.
"Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und der Weg
des Todes. Du hast das Buch "Ibbur" genommen und darin gelesen. Deine Seele
ist schwanger geworden vom Geist des Lebens", hcrte ich ihn reden.
"Hillel, Hillel, laYA mich den Weg gehen, den alle Menschen gehen: den
des Sterbens!", schrie alles wild in mir auf.
Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.
"Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch den des
Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: "Ehe Gott die
Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie die
geistigen Leiden des Daseins und die Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen
die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich, und diese
strich Gott aus dem Buche der Lebenden." Du aber gehst einen Weg und hast
ihn aus freiem Willen beschritten, - wenn Du es jetzt auch selbst nicht mehr
weiYAt: Du bist berufen von dir selbst. Grdm' dich nicht: allmdhlich, wenn
das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind
dasselbe."
Der freundliche, fast liebensw'rdige Ton, in den Hillels Rede
ausgeklungen war, gab mir meine Ruhe wieder, und ich f'hlte mich geborgen
wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiYA.
Ich blickte auf und sah, daYA mit einemmal viele Gestalten im Zimmer
waren und uns im Kreis umstanden: einige in weiYAen Sterbegewdndern, wie sie
die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an
den Schuhen - aber Hillel fuhr mir mit der Hand 'ber die Augen, und die
Stube war wieder leer.
Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine brennende
Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten kcnne in mein Zimmer.
Ich legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer kam
nicht, und ich geriet stattdessen in einen sonderbaren Zustand, der weder
Trdumen war, noch Wachen, noch Schlafen.
Das Licht hatte ich ausgelcscht, aber trotzdem war alles in der Stube
so deutlich, daYA ich jede einzelne Form genau unterscheiden konnte. Dabei
f'hlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der gewissen qualvollen
Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in dhnlicher Verfassung befindet.
Nie vorher in meinem Leben wdre ich imstande gewesen, so scharf und
prdzis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchstrcmte
meine Nerven und ordnete meine Gedanken in Reih' und Glied wie eine Armee,
die nur auf meine Befehle wartete.
Ich brauchte bloYA zu rufen, und sie traten vor mich und erf'llten, was
ich w'nschte.
Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein zu
schneiden versucht hatte, - ohne damit zurechtzukommen, da sich die vielen
zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den Gesichtsz'gen decken
wollten, die ich mir vorgestellt, - fiel mir ein, und im Nu sah ich die
Lcsung vor mir und wuYAte genau, wie ich den Stichel zu f'hren hatte, um der
Struktur der Masse gerecht zu werden.
Ehedem Sklave einer Horde phantastischer Eindr'cke und Traumgesichter,
von denen ich oft nicht gewuYAt: waren es Ideen oder Gef'hle, sah ich mich
jetzt plctzlich als Herr und Kcnig im eigenen Reich.
Rechenexempel, die ich fr'her nur mit Dchzen und auf dem Papier hdtte
bewdltigen kcnnen, f'gten sich mir mit einem Mal im Kopf spielend zum
Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten Fdhigkeit, das zu
sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: Ziffern, Formen,
Gegenstdnde oder Farben. Und wenn es sich um Fragen handelte, die durch
derlei Werkzeuge nicht zu lcsen waren: - philosophische Probleme und
dhnliches -, so trat an Stelle des inneren Sehens das Gehcr, wobei die
Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers 'bernahm.
Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloYAes Wort an meinem Ohr hatte
vor'bergehen lassen, stand wertgetrdnkt bis in die tiefste Faser vor mir;
was ich "auswendig" gelernt, "erfaYAte" ich mit einem Schlag als mein
"Eigen"tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor
mir.
Die "hohen" Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzienrdtlich
biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden bekleckst, mich von oben herab
behandelt hatten, - dem'tig nahmen sie jetzt die Maske von der Fratze und
entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin Kr'cken
f'r - einen noch frecheren Schwindel.
Trdumte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel
gesprochen?
Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte; und
selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich 'berzeugt hat,
daYA der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, w'hlte
ich mich wieder in die Kissen.
Und wie ein Sp'rhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen
Rdtsel, die mich rings umgaben.
Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zur'ckzugelangen, bis
zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus - glaubte ich - kcnnte es
mir mcglich sein, jenen Teil meines Daseins zu 'berblicken, der f'r mich,
durch eine seltsame F'gung des Schicksals in Finsternis geh'llt lag.
Aber wie sehr ich mich auch bem'hte, ich kam nicht weiter, als daYA ich
mich wie einst in dem d'steren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den
Torbogen den Trcdlerladen des Aaron Wassertrum unterschied - als ob ich ein
Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt hdtte, immer
gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiter zu sch'rfen in
den Schdchten der Vergangenheit, da begriff ich plctzlich mit leuchtender
Klarheit, daYA in meiner Erinnerung wohl die breite HeerstraYAe der
Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig
schmaler FuYAsteige, die wohl bisher den Hauptpfad stdndig begleitet hatten,
von mir jedoch nicht beachtet worden waren. "Woher", schrie es mir fast in
die Ohren, "hast du denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben
fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt - und Gravieren und all das
andere? Lesen, schreiben, sprechen - und essen - und gehen, atmen, denken
und f'hlen?"
Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein
Leben zur'ck.
Ich zwang mich in verkehrter aber ununterbrochener Reihenfolge zu
'berlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag
vor diesem und so weiter?
Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt - - jetzt! Jetzt!
Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem Vergessen
trennte, muYAte 'berflogen sein - da trat ein Bild vor mich, das ich auf der
R'ckwanderung meiner Gedanken 'bersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit
der Hand 'ber die Augen - genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.
Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die Reihe
der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch
zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind's, die in die
verlorene Heimat zur'ckf'hren: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift
in unserem Kcrper eingraviert ist, und nicht die scheuYAliche Narbe, die die
Raspel des duYAeren Lebens hinterlaYAt, - birgt die Lcsung der letzten
Geheimnisse.
So, wie ich zur'ckfinden kcnnte in die Tage meiner jugend, wenn ich in
der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vorndhme von Z bis A, um dort
anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen, - so, begriff ich,
muYAte ich auch wandern kcnnen in die andere ferne Heimat, die jenseits allen
Denkens liegt.
Eine Weltkugel an Arbeit wdlzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules
trug eine Zeitlang das Gewclbe des Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein,
und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus der Sage entgegen. Und wie
Herkules wieder loskam durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: "LaYA
mich nur einen Bausch von Stricken um den Kopf binden, damit mir die
entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt", so gdbe es vielleicht einen
dunklen Weg - ddmmerte mir - von dieser Klippe weg.
Ein tiefer Argwohn, der F'hrerschaft meiner Gedanken weiter blind zu
vertrauen, beschlich mich plctzlich. Ich legte mich gerade und verschloYA mit
den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu werden durch die Sinne.
Um jeden Gedanken zu tcten.
Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur
einen Gedanken durch einen anderen vertreiben, und starb der eine, schon
mdstete sich der ndchste an seinem Fleische. Ich fl'chtete in den brausenden
Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem FuYA; ich verbarg
mich im Hdmmerwerk meines Herzens: nur eine kleine Weile, und sie hatten
mich entdeckt.
Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte:
"Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der Schl'ssel zur Kunst des
Vergessens gehcrt unseren Br'dern, die den Pfad des Todes wandeln; du aber
bist geschwdngert vom Geiste des - Lebens."
Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin
auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, mdchtig,
gleich einem Erdbeben, - der andere in unendlicher Ferne: der Hermaphrodit
auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.
Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand 'ber meine
Augen, und ich schlummerte ein.
"Mein lieber und verehrter Meister Pernath!
Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und hcchster Angst.
Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben, - oder
besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. - Ich hdtte keine Ruhe
sonst.
Sagen Sie keiner Menschenseele, daYA ich Ihnen geschrieben habe. Auch
nicht, wohin Sie heute gehen werden!
Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir - "neulich" - (Sie werden durch
diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie waren, erraten,
wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich f'rchte mich, meinen Namen
darunter zu setzen) - so viel Vertrauen eingeflcYAt, und weiter, daYA Ihr
lieber, seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat, - alles das gibt mir
den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen Menschen, der noch helfen
kann, zu wenden.
Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die Domkirche
auf dem Hradschin."
Eine Ihnen bekannte Dame.
Wohl eine Viertelstunde lang saYA ich da und hielt den Brief in der
Hand. Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern nacht her
umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen, - weggeweht von dem
frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages. Ein junges Schicksal kam
ldchelnd und verheiYAungsvoll - ein Fr'hlingskind - auf mich zu. Ein
Menschenherz suchte Hilfe bei mir. - Bei mir! Wie sah meine Stube plctzlich
so anders aus! Der wurmstichige, geschnitzte Schrank blickte so zufrieden
drein, und die vier Sessel kamen mir vor wie alte Leute, die um den Tisch
herumsitzen und behaglich kichernd Tarock spielen.
Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum
und Glanz.
So sollte der morsche Baum noch Fr'chte tragen?
Ich f'hlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher
schlafen gelegen in mir - verborgen gewesen in den Tiefen meiner Seele,
versch'ttet von dem Gercll, das der Alltag hduft, wie eine Quelle losbricht
aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.
Und ich wuYAte so gewiYA, wie ich den Brief in der Hand hielt, daYA ich
w'rde helfen kcnnen, um was es auch ginge. Der Jubel in meinem Herzen gab
mir die Sicherheit.
Wieder und wieder las ich die Stelle: "und weiter, daYA Ihr lieber
seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat - - -"; - mir stand der Atem
still. Klang das nicht wie VerheiYAung: "Heute noch wirst du mit mir im
Paradiese sein?" Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe suchend, hielt
mir das Geschenk entgegen: die R'ckerinnerung, nach der ich d'rstete, -
w'rde mir das Geheimnis offenbaren, den Vorhang heben helfen, der sich
hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!
"Ihr lieber seliger Vater" - -, wie fremdartig die Worte klangen, als
ich sie mir vorsagte! - Vater! - Einen Augenblick sah ich das m'de Gesicht
eines alten Mannes mit weiYAem Haar in dem Lehnstuhl neben meiner Truhe
auftauchen - fremd, ganz fremd und doch so schauerlich bekannt; - - dann
kamen meine Augen wieder zu sich, und die Hammerlaute meines Herzens
schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.
Erschreckt fuhr ich auf: hatte ich die Zeit vertrdumt? Ich blickte auf
die Uhr: Gott sei Lob, erst halb f'nf.
Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel und
schritt die Treppen hinab. Was k'mmerte mich heute das Geraune der dunklen
Winkel, die bcsartigen, engherzigen, verdrossenen Bedenken, die immer von
ihnen aufstiegen: "Wir lassen dich nicht, - du bist unser, - wir wollen
nicht, daYA du dich freust - das wdre noch schcner, Freude hier im Haus!"
Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen Gdngen und
Ecken her um mich gelegt mit w'rgenden Hdnden: heute wich er vor dem
lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an Hillels
T'r.
Sollte ich eintreten?
Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz anders
heute, - so, als d'rfe ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb mich die
Hand des Lebens vorwdrts, die Stiegen hinab. - -
Die Gasse lag weiYA im Schnee.
Ich glaube, daYA viele Leute mich gegr'YAt haben; ich erinnere mich
nicht, ob ich ihnen gedankt. Immer wieder f'hlte ich an die Brust, ob ich
den Brief auch bei mir tr'ge:
Es ging eine Wdrme von der Stelle aus. - -
Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten Laubengdnge auf dem
Altstddter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes Gitter voll
Eiszapfen hing, hin'ber 'ber die steinerne Br'cke mit ihren Heiligenstatuen
und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.
Unten schdumte der FluYA voll HaYA gegen die Fundamente.
Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehchlten Sandstein der heiligen
Luitgard mit "den Qualen der Verdammten" darin: dicht lag der Schnee auf den
Lidern der B'YAenden und den Ketten an ihren betend erhobenen Hdnden.
Torbogen nahmen mich auf und entlieYAen mich, Paldste zogen langsam an
mir vor'ber, mit geschnitzten, hochm'tigen Portalen, darinnen Lcwenkcpfe in
bronzene Ringe bissen.
Auch hier 'berall Schnee, Schnee. Weich, weiYA wie das Fell eines
riesigen Eisbdren.
Hohe, stolze Fenster, die Simse beglitzert und vereist, schauten
teilnahmslos zu den Wolken empor.
Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vcgel war.
Als ich die unzdhligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin, jede so
breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank Schritt um Schritt
die Stadt mit ihren Ddchern und Giebeln vor meinem Sinn. - - -
Schon schlich die Ddmmerung die Hduserreihen entlang, da trat ich auf
den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der Engel.
FuYAstapfen - die Rdnder mit Krusten aus Eis - f'hrten hin zum Nebentor.
Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene Tcne
eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. Wie Trdnentropfen der Schwermut
fielen sie in die Verlassenheit.
Ich hcrte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, wie die
Kirchent're mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel, und der goldene Altar
blinkte in starrer Ruhe her'ber zu mir durch den gr'nen und blauen Schimmer
sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster auf die Betst'hle
niedersank. Funken spr'hten aus roten, gldsernen Ampeln.
Welker Duft von Wachs und Weihrauch.
Ich lehnte mich in eine Bank. Mein Blut ward seltsam still in diesem
Reich der Regungslosigkeit.
Ein Leben ohne Herzschlag erf'llte den Raum - ein heimliches,
geduldiges Warten.
Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.
Da! - Aus weiter, weiter Ferne drang das Gerdusch von Pferdehufen
geddmpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte ndher kommen und verstummte.
Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zufdllt. - - -
Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen, und eine
zarte, schmale Damenhand hatte leicht meinen Arm ber'hrt.
"Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler; es widerstrebt
mir, hier in den Betst'hlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen sagen
muYA."
Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu n'chterner Klarheit. Der
Tag hatte mich plctzlich angefaYAt.
"Ich weiYA gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath, daYA
Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht
haben."
Ich stotterte ein paar banale Worte.
"- - Aber ich wuYAte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor
Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns gewiYA
niemand nachgegangen."
Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.
Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang
ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die damals voll
Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der HahnpaYAgasse fl'chtete. Ich
war auch nicht erstaunt dar'ber, denn ich hatte niemand anderen erwartet.
Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der Ddmmerung der
Mauernische wohl noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein mochte.
Ihre Schcnheit benahm mir fast den Atem, und ich stand wie gebannt. Am
liebsten wdre ich vor ihr niedergefallen und hdtte ihre F'YAe gek'YAt, daYA sie
es war, der ich helfen sollte, daYA sie mich dazu erwdhlt hatte.
"Vergessen Sie, ich bitte Sie von Herzen darum, - wenigstens solange
wir hier sind - die Situation, in der Sie mich damals gesehen haben", sprach
sie gepreYAt weiter, "ich weiYA auch gar nicht, wie Sie 'ber solche Dinge
denken - -"
"Ich bin ein alter Mann geworden, aber kein einziges Mal in meinem
Leben war ich so vermessen, daYA ich mich Richter ged'nkt hdtte 'ber meine
Mitmenschen", war das einzige, was ich hervorbrachte.
"Ich danke Ihnen, Meister Pernath", sagte sie warm und schlicht. "Und
jetzt hcren Sie mich geduldig an, ob Sie mir in meiner Verzweiflung nicht
helfen oder wenigstens einen Rat geben kcnnen." - Ich f'hlte, wie eine wilde
Angst sie packte, und hcrte ihre Stimme zittern. - "Damals - - im Atelier -
- - damals brach die schreckliche GewiYAheit 'ber mich herein, daYA jener
grauenhafte Oger mir mit Vorbedacht nachgesp'rt hat. - Schon durch Monate
war mir aufgefallen, daYA, wohin ich auch immer ging, - ob allein, oder mit
meinem Gatten, oder mit - - - mit - mit Dr. Savioli, - stets das
entsetzliche Verbrechergesicht dieses Trcdlers irgendwo in der Ndhe
auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielenden Augen.
Noch macht sich ja kein Zeichen bemerkbar, was er vorhat, aber um so
qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir die Schlinge um
den Hals!
Anfangs wollte mich Dr. Savioli damit beruhigen, was denn so ein
armseliger Trcdler wie dieser Aaron Wassertrum 'berhaupt vermcchte -
schlimmsten Falles kcnnte es sich nur um eine geringf'gige Erpressung oder
dergleichen handeln, aber jedesmal wurden seine Lippen weiYA, wenn der Name
Wassertrum fiel. Ich ahne: Dr. Savioli hdlt mir etwas geheim, um mich zu
beruhigen, - irgend etwas Furchtbares, was ihn oder mich das Leben kosten
kann.
Und dann erfuhr ich, was er mir sorgsam verheimlichen wollte: daYA ihn
der Trcdler mehrere Male des Nachts in seiner Wohnung besucht hat! - Ich
weiYA es, ich sp're es in jeder Faser meines Kcrpers: es geht etwas vor, das
sich langsam um uns zusammenzieht wie die Ringe einer Schlange. - Was hat
dieser Mcrder dort zu suchen? Warum kann Dr. Savioli ihn nicht absch'tteln?
Nein, nein, ich sehe das nicht ldnger mit an; ich muYA etwas tun. Irgend
etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt."
Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie lieYA mich
nicht zu Ende sprechen.
"Und in den letzten Tagen nahm der Alp, der mich zu erw'rgen droht,
immer greifbarere Formen an. Dr. Savioli ist plctzlich erkrankt, - ich kann
mich nicht mehr mit ihm verstdndigen - darf ihn nicht besuchen, wenn ich
nicht st'ndlich gewdrtigen soll, daYA meine Liebe zu ihm entdeckt wird -; er
liegt in Delirien, und das einzige, was ich erkunden konnte, ist, daYA er
sich im Fieber von einem Scheusal verfolgt wdhnt, dessen Lippen von einer
Hasenscharte gespalten sind: - Aaron Wassertrum!
Ich weiYA, wie mutig Dr. Savioli ist; um so entsetzlicher - kcnnen Sie
sich das vorstellen? - wirkt es auf mich, ihn jetzt geldhmt vor einer
Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle Ndhe eines grauenhaften W'rgengels
empfinde, zusammengebrochen zu sehen.
Sie werden sagen, ich sei feige, und warum ich mich denn nicht offen zu
Dr. Savioli bekenne, alles von mir w'rfe, wenn ich ihn doch so liebe -:
alles, Reichtum, Ehre, Ruf und so weiter, aber -" sie schrie es fcrmlich
heraus, daYA es widerhallte von den Chorgalerien, - "ich kann nicht! - Ich
hab' doch mein Kind, mein liebes, blondes, kleines Mddel! Ich kann doch mein
Kind nicht hergeben! - Glauben Sie denn, mein Mann lieYAe es mir?! Da, da,
nehmen Sie das, Meister Pernath" - sie riYA im Wahnwitz ein Tdschchen auf,
das vollgestopft war mit Perlenschn'ren und Edelsteinen - "und bringen Sie
es dem Verbrecher; - ich weiYA, er ist habs'chtig - er soll sich alles holen,
was ich besitze, aber mein Kind soll er mir lassen. - Nicht wahr, er wird
schweigen? - So reden Sie doch um Jesu Christi willen, sagen Sie nur ein
Wort, daYA Sie mir helfen wollen!"
Es gelang mir mit grcYAter M'he, die Rasende wenigstens so weit zu
beruhigen, daYA sie sich auf eine Bank niederlieYA.
Ich sprach zu ihr, wie es mir der Augenblick eingab. Wirre,
zusammenhanglose Sdtze.
Gedanken jagten dabei in meinem Hirn, so daYA ich selbst kaum verstand,
was mein Mund redete, - Ideen phantastischer Art, die zusammenbrachen, kaum
daYA sie geboren waren.
Geistesabwesend haftete mein Blick auf einer bemalten Mcnchsstatue in
der Wandnische. Ich redete und redete. Allmdhlich verwandelten sich die Z'ge
der Statue, die Kutte wurde ein fadenscheiniger Xberzieher mit
hochgeklapptem Kragen, und ein jugendliches Gesicht mit abgezehrten Wangen
und hektischen Flecken wuchs daraus empor.
Ehe ich die Vision verstehen konnte, war der Mcnch wieder da. Meine
Pulse schlugen zu laut.
Die ungl'ckliche Frau hatte sich 'ber meine Hand gebeugt und weinte
still.
Ich gab ihr von der Kraft, die in mich eingezogen war in der Stunde,
als ich den Brief gelesen hatte, und mich jetzt abermals 'bermdchtig
erf'llte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.
"Ich will Ihnen sagen, warum ich mich gerade an Sie gewendet habe,
Meister Pernath", fing sie nach langem Schweigen leise wieder an. "Es waren
ein paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben - und die ich nie vergessen
konnte die vielen Jahre hindurch - -"
Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut.
"- - Sie nahmen Abschied von mir - ich weiYA nicht mehr, weshalb und
wieso, ich war ja noch ein Kind, - und Sie sagten so freundlich und doch so
traurig:
›Es wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, wenn Sie
je im Leben nicht aus noch ein wissen. Vielleicht gibt mir Gott der Herr,
daYA ich es dann sein darf, der Ihnen hilft.‹ - Ich habe mich damals
abgewendet und rasch meinen Ball in den Springbrunnen fallen lassen, damit
Sie meine Trdnen nicht sehen sollten. Und dann wollte ich Ihnen das rote
Korallenherz schenken, das ich an einem Seidenband um den Hals trug, aber
ich schdmte mich, weil das gar so ldcherlich gewesen wdre." - - -
Erinnerung!
- Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein Schimmer
wie aus einem vergessenen, fernen Land der Sehnsucht trat vor mich -
unvermittelt und schreckhaft: Ein kleines Mddchen in weiYAem Kleid und
ringsum die dunkle Wiese eines SchloYAparks, von alten Ulmen umsdumt.
Deutlich sah ich es wieder vor mir. - -
Ich muYAte mich verfdrbt haben; ich merkte es an der Hast, mit der sie
fortfuhr: "Ich weiYA ja, daYA Ihre Worte damals nur der Stimmung des Abschieds
entsprangen, aber sie waren mir oft ein Trost und - und ich danke Ihnen
daf'r."
Mit aller Kraft biYA ich die Zdhne zusammen und jagte den heulenden
Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zur'ck.
Ich verstand: Eine gnddige Hand war es gewesen, die die Riegel vor
meiner Erinnerung zugeschoben hatte. Klar stand jetzt in meinem BewuYAtsein
geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen her'bergetragen: Eine
Liebe, die f'r mein Herz zu stark gewesen, hatte f'r Jahre mein Denken
zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der Balsam f'r meinen wunden
Geist geworden.
Allmdhlich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins 'ber mich und k'hlte
die Trdnen hinter meinen Augenlidern. Der Hall von Glocken zog ernst und
stolz durch den Dom, und ich konnte freudig ldchelnd der in die Augen sehen,
die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.
Wieder hcrte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das Trappen der
Hufe. - - -
Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.
Die Laternen staunten mich an mit zwinkernden Augen, und aus
geschichteten Bergen von Tannenbdumen raunte es von Flitter und silbernen
N'ssen und vom kommenden Christfest.
Auf dem Rathausplatz an der Mariensdule murmelten bei Kerzenglanz die
alten Bettelweiber mit den grauen Kopft'chern der Muttergottes ihren
Rosenkranz.
Vor dem dunklen Eingang zur Judenstadt hockten die Buden des
Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete grell,
von schwelenden Fackeln beschienen, die offene B'hne eines
Marionettentheaters.
Zwakhs Policcinell in Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand und
daran an der Schnur einen Totenschddel, ritt klappernd auf hclzernem
Schimmel 'ber die Bretter.
In Reihen fest aneinander gedrdngt starrten die Kleinen - die
Pelzm'tzen tief 'ber die Ohren gezogen - mit offenem Munde hinauf und
lauschten gebannt den Versen des Prager Dichters Oskar Wiener, die mein
Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach:
"Ganz vorne schritt ein Hampelmann,
Der Kerl war mager wie ein Dichter
Und hatte bunte Lappen an
Und torkelte und schnitt Gesichter." - - -
Ich bog in die Gasse ein, die schwarz und winklig auf den Platz
m'ndete. Dicht, Kopf an Kopf, stand lautlos eine Menschenmenge da in der
Finsternis vor einem Anschlagzettel.
Ein Mann hatte ein Streichholz angez'ndet, und ich konnte einige Zeilen
bruchst'ckweise lesen. Mit dumpfen Sinnen nahm mein BewuYAtsein ein paar
Worte auf:
VermiYAt!
1000 fl Belohnung
Dlterer Herr... schwarz gekleidet...
......... Signalement:
... fleischiges, glattrasiertes Gesicht......
...... Haarfarbe: weiYA.........
.. Polizeidirektion... Zimmer Nr....
Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam hinein
in die lichtlosen Hduserreihen.
Eine Handvoll winziger Sterne glitzerte auf dem schmalen, dunklen
Himmelsweg 'ber den Giebeln.
Friedvoll schweiften meine Gedanken zur'ck in den Dom, und die Ruhe
meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom Platz her'ber,
schneidend klar - als st'nde sie dicht an meinem Ohr - die Stimme des
Marionettenspielers durch die Winterluft:
"Wo ist das Herz aus rotem Stein?
Es hing an einem Seidenbande
Und funkelte im Fr'hrotschein." - - -
Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir
das Gehirn zermartert, wie ich "ihr" Hilfe bringen kcnnte.
Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu gehen,
ihm zu erzdhlen, was mir anvertraut worden, und ihn um Rat zu bitten. Aber
jedesmal verwarf ich den EntschluYA.
Er stand im Geist so riesengroYA vor mir, daYA es eine Entweihung schien,
ihn mit Dingen, die das duYAere Leben betrafen, zu behelligen, dann wieder
kamen Momente, wo mich brennende Zweifel befielen, ob ich in Wirklichkeit
alles das erlebt hdtte, was nur eine kurze Spanne Zeit zur'cklag und doch so
seltsam verblaYAt schien, verglichen mit den lebenstrotzenden Erlebnissen des
verflossenen Tages.
Hatte ich nicht doch getrdumt? Durfte ich - ein Mensch, dem das
Unerhcrte geschehen war, daYA er seine Vergangenheit vergessen hatte, - auch
nur eine Sekunde lang als GewiYAheit annehmen, wof'r als einziger Zeuge bloYA
meine Erinnerung die Hand aufhob?
Mein Blick fiel auf die Kerze Hillels, die immer noch auf dem Sessel
lag. Gott sei Dank, wenigstens das eine stand fest: ich war mit ihm in
perscnlicher Ber'hrung gewesen!
Sollte ich nicht ohne Besinnen hinunterlaufen zu ihm, seine Knie
umfassen und wie Mensch zu Mensch ihm klagen, daYA ein unsdgliches Weh an
meinem Herzen fraYA?
Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da lieYA ich wieder los; ich sah
voraus, was kommen w'rde: Hillel w'rde mir mild 'ber die Augen fahren und -
- - nein, nein, nur das nicht! Ich hatte kein Recht, Linderung zu begehren.
"Sie" vertraute auf mich und meine Hilfe, und wenn die Gefahr, in der sie
sich f'hlte, mir in Momenten auch klein und nichtig erscheinen mochte, - sie
empfand sie sicherlich als riesengroYA!
Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit - ich zwang mich, kalt und
n'chtern zu denken; - ihn jetzt - mitten in der Nacht zu stcren? - es ging
nicht an. So w'rde nur ein Verr'ckter handeln.
Ich wollte die Lampe anz'nden; dann lieYA ich es wieder sein: der
Abglanz des Mondlichts fiel von den Ddchern gegen'ber herein in mein Zimmer
und gab mehr Helle, als ich brauchte. Und ich f'rchtete, die Nacht kcnnte
noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte.
Es lag so viel Hoffnungslosigkeit in dem Gedanken, die Lampe
anzuz'nden, nur um den Tag zu erwarten, - eine leise Angst sagte mir, der
Morgen r'cke dadurch in unerlebbare Ferne.
Ich trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft schwebender
Friedhof lagen die Reihen verschncrkelter Giebel dort oben - Leichensteine
mit verwitterten Jahreszahlen, get'rmt 'ber die dunklen Modergr'fte, diese
"Wohnstdtten", darein sich das Gewimmel der Lebenden Hchlen und Gdnge
genagt.
Lange stand ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise
zu wundern begann, warum ich denn nicht aufschrdke, wo doch ein Gerdusch von
verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein Ohr drang.
Ich horchte hin: Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch. Das kurze
Dchzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zcgernd schlich.
Mit einem Schlage war ich ganz bei mir. Ich wurde fcrmlich kleiner, so
preYAte sich alles in mir zusammen unter dem Druck des Willens, zu hcren.
Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart.
Noch ein rasches Knistern, das vor sich selbst erschrak und hastig
abbrach. Dann Totenstille. Jene lauernde, grauenhafte Stille, die ihr
eigener Verrdter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht.
Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedr'ckt, das drohende Gef'hl
in der Kehle, daYA dr'ben einer stand, genauso wie ich und dasselbe tat.
Ich lauschte und lauschte:
Nichts.
Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben.
Lautlos - auf den Zehenspitzen - stahl ich mich an den Sessel bei
meinem Bett, nahm Hillels Kerze und z'ndete sie an.
Dann 'berlegte ich: Die eiserne Speichert're drauYAen auf dem Gang, die
zum Atelier Saviolis f'hrte, ging nur von dr'ben aufzuklinken.
Aufs Geratewohl ergriff ich ein hakenfcrmiges St'ck Draht, das unter
meinen Graviersticheln auf dem Tische lag: derlei Schlcsser springen leicht
auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder!
Und was w'rde dann geschehen?
Nur Aaron Wassertrum konnte es sein, der da nebenan spionierte, -
vielleicht in Kdsten w'hlte, um neue Waffen und Beweise in die Hand zu
bekommen, legte ich mir zurecht.
Ob es viel n'tzen w'rde, wenn ich dazwischen trat?
Ich besann mich nicht lang: handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare
Warten auf den Morgen zerfetzen!
Und schon stand ich vor der eisernen Bodent're, dr'ckte dagegen, schob
vorsichtig den Haken ins SchloYA und horchte. Richtig: Ein schleifendes
Gerduch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht.
Im ndchsten Augenblick schnellte der Riegel zur'ck.
Ich konnte das Zimmer 'berblicken und sah, obwohl es fast finster war
und meine Kerze mich nur blendete, wie ein Mann in langem schwarzem Mantel
entsetzt vor einem Schreibtisch aufsprang, - eine Sekunde lang unschl'ssig,
wohin sich wenden, - eine Bewegung machte, als wolle er auf mich losst'rzen,
sich dann den Hut vom Kopf riYA und hastig damit sein Gesicht bedeckte.
"Was suchen Sie hier!" wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor:
"Pernath! Sie sind's? Gotteswillen! Das Licht weg!" Die Stimme kam mir
bekannt vor, war aber keinesfalls die des Trcdlers Wassertrum.
Automatisch blies ich die Kerze aus.
Das Zimmer lag halbdunkel da - nur von dem schimmrigen Dunst, der aus
der Fensternische hereindrang, matt erhellt - genau wie meines, und ich
muYAte meine Augen aufs duYAerste anstrengen, ehe ich in dem abgezehrten,
hektischen Gesicht, das plctzlich 'ber dem Mantel auftauchte, die Z'ge des
Studenten Charousek erkennen konnte.
"Der Mcnch!" drdngte es sich mir auf die Zunge und ich verstand mit
einem Mal die Vision, die ich gestern im Dom gehabt! Charousek! Das war der
Mann, an den ich mich wenden sollte! - Und ich hcrte seine Worte wieder, die
er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt hatte: "Aaron Wassertrum wird
es schon erfahren, daYA man mit vergifteten, unsichtbaren Nadeln durch Mauern
stechen kann. Genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will."
Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen? WuYAte er ebenfalls, was
sich zugetragen? Sein Hiersein zu so ungewchnlicher Stunde lieYA fast darauf
schlieYAen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu richten.
Er war ans Fenster geeilt und spdhte hinter dem Vorhang hinunter auf
die Gasse.
Ich erriet: er f'rchtete, Wassertrum kcnne den Lichtschein meiner Kerze
wahrgenommen haben.
"Sie denken gewiYA, ich sei ein Dieb, daYA ich nachts hier in einer
fremden Wohnung herumsuche, Meister Pernath," fing er nach langem Schweigen
mit unsicherer Stimme an, "aber ich schwcre Ihnen - -"
Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn.
Und um ihm zu zeigen, daYA ich keinerlei MiYAtrauen gegen ihn hegte, in
ihm vielmehr einen Bundesgenossen sah, erzdhlte ich ihm mit kleinen
Einschrdnkungen, die ich f'r nctig hielt, welche Bewandtnis es mit dem
Atelier habe, und daYA ich f'rchte, eine Frau, die mir nahestehe, sei in
Gefahr, den erpresserischen Gel'sten des Trcdlers in irgendwelcher Art zum
Opfer zu fallen.
Aus der hcflichen Weise, mit der er mir zuhcrte, ohne mich mit Fragen
zu unterbrechen, entnahm ich, daYA er das meiste bereits wuYAte, wenn auch
vielleicht nicht in Einzelheiten.
"Es stimmt schon", sagte er gr'belnd, als ich zu Ende gekommen war.
"Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl will Savioli an die Gurgel
fahren, das ist klar, aber offenbar hat er noch nicht genug Material
beisammen. Weshalb w'rde er sich sonst noch hier immerwdhrend herumdr'cken!
Ich ging ndmlich gestern, sagen wir mal: ›zufdllig‹ durch die HahnpaYAgasse,"
erklarte er, als er meine fragende Miene bemerkte, "da fiel mir auf, daYA
Wassertrum erst lange - scheinbar unbefangen - vor dem Tor unten auf und ab
schlenderte, dann aber, als er sich unbeobachtet glaubte, rasch ins Haus
bog. Ich ging ihm sofort nach und tat so, als wollte ich Sie besuchen, das
heiYAt, ich klopfte bei Ihnen an, und dabei 'berraschte ich ihn, wie er
drauYAen an der eisernen Bodent'r mit einem Schl'ssel herumhantierte.
Nat'rlich gab er es augenblicklich auf, als ich kam, und klopfte ebenfalls
als Vorwand bei Ihnen an. Sie schienen 'brigens nicht zu Hause gewesen zu
sein, denn es cffnete niemand.
Als ich mich dann vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich,
daYA jemand, der nach den Schilderungen nur Dr. Savioli sein konnte, hier
heimlich ein Absteigequartier besdYAe. Da Dr. Savioli schwerkrank liegt,
reimte ich mir das 'brige zurecht.
Sehen Sie: und das da habe ich aus den Schubladen zusammengesucht, um
Wassertrum f'r alle Fdlle zuvorzukommen", schloYA Charousek und deutete auf
ein Paket Briefe auf dem Schreibtisch; "es ist alles, was ich an
Schriftst'cken finden konnte. Hoffentlich ist sonst nichts mehr vorhanden.
Wenigstens habe ich in sdmtlichen Truhen und Schrdnken gestcbert, so gut das
in der Finsternis ging."
Meine Augen durchforschten bei seiner Rede das Zimmer und blieben
unwillk'rlich auf einer Fallt're am Boden haften. Ich entsann mich dabei
dunkel, daYA Zwakh mir irgendwann erzdhlt hatte, ein geheimer Zugang f'hre
von unten herauf ins Atelier.
Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff.
"Wo sollen wir die Briefe aufheben?", fing Charousek wieder an. "Sie,
Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Getto, die Wassertrum
harmlos vorkommen, - warum gerade ich, das - hat - seine - besonderen -
Gr'nde", - (ich sah, daYA sich seine Z'ge in wildem HaYA verzerrten, wie er so
den letzten Satz fcrmlich zerbiYA -) "und Sie halt er f'r - -" Charousek
erstickte das Wort "verr'ckt" mit einem raschen, erk'nstelten Husten, aber
ich erriet, was er hatte sagen wollen. Es tat mir nicht weh; das Gef'hl,
"ihr" helfen zu kcnnen, machte mich so gl'ckselig, daYA jede Empfindlichkeit
ausgelcscht war.
Wir kamen schlieYAlich 'berein, das Paket bei mir zu verstecken, und
gingen hin'ber in meine Kammer.
Charousek war ldngst fort, aber immer noch konnte ich mich nicht
entschlieYAen, zu Bette zu gehen. Eine gewisse innere Unzufriedenheit nagte
an mir und hielt mich davon ab. Irgend etwas sollte ich noch tun, f'hlte
ich, aber was? was?
Einen Plan f'r den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen hdtte?
Das allein konnte es nicht sein. Charousek lieYA den Trcdler sowieso
nicht aus den Augen, dar'ber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn ich
an den HaYA dachte, der aus seinen Worten geweht hatte.
Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte?
Die seltsame innere Unruhe in mir wuchs und brachte mich fast zur
Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und ich verstand
nicht.
Ich kam mir vor wie ein Gaul, der dressiert wird, das ReiYAen am Z'gel
sp'rt und nicht weiYA, welches Kunstst'ck er machen soll, den Willen seines
Herrn nicht erfaYAt.
Hinuntergehen zu Schemajah Hillel?
Jede Faser in mir verneinte.
Die Vision des Mcnchs in der Domkirche, auf dessen Schultern gestern
der Kopf Charouseks aufgetaucht war als Antwort auf eine stumme Bitte um
Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe Gef'hle nicht ohne weiteres
zu verachten. Geheime Krdfte keimten in mir auf seit geraumer Zeit, das war
gewiYA: ich empfand es zu 'bermdchtig, als daYA ich auch nur den Versuch
gemacht hdtte, es wegzuleugnen.
Buchstaben zu empfinden, sie nicht nur mit den Augen in B'chern zu
lesen, - einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir 'bersetzt, was
die Instinkte ohne Worte raunen, darin muYA der Schl'ssel liegen, sich mit
dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verstdndigen, begriff ich.
"Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hcren nicht",
fiel mir eine Bibelstelle wie eine Erkldrung dazu ein.
"Schl'ssel, Schl'ssel, Schl'ssel", wiederholten mechanisch meine
Lippen, derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte
ich plctzlich.
"Schl'ssel, Schl'ssel - -?" Mein Blick fiel auf den krummen Draht in
meiner Hand, der mir vorhin zum Cffnen der Speichert're gedient hatte, und
eine heiYAe Neugier, wohin wohl die viereckige Fallt'r aus dem Atelier f'hren
kcnnte, peitschte mich auf.
Und ohne zu 'berlegen, ging ich nochmals hin'ber in Saviolis Atelier
und zog an dem Griffring der Fallt're, bis es mir schlieYAlich gelang, die
Platte zu heben.
Zuerst nichts als Dunkelheit.
Dann sah ich: Schmale, steile Stufen liefen hinab in tiefste
Finsternis.
Ich stieg hinunter.
Eine Zeitlang tastete ich mich mit den Hdnden die Mauern entlang, aber
es wollte kein Ende nehmen: Nischen, feucht von Schimmel und Moder, -
Windungen, Ecken und Winkel, - Gdnge geradeaus, nach links und nach rechts,
Reste einer alten Holzt're, Wegteilungen und dann wieder Stufen, Stufen,
Stufen hinauf und hinab.
Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde 'berall.
Und noch immer kein Lichtstrahl. -
Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen hdtte!
Endlich flacher, ebener Weg.
Aus dem Knirschen unter meinen F'YAen schloYA ich, daYA ich auf trockenem
Sand dahinschritt.
Es konnte nur einer jener zahllosen Gdnge sein, die scheinbar ohne
Zweck und Ziel unter dem Getto hinf'hren bis zum FluYA.
Ich wunderte mich nicht: die halbe Stadt stand doch seit
unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen Lduften, und die Bewohner
Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen.
Das Fehlen jeglichen Gerduschs zu meinen Hdupten sagte mir, daYA ich
mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben
ist, befinden muYAte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebtere
StraYAen oder Pldtze 'ber mir hdtten sich durch fernes Wagenrasseln verraten.
Eine Sekunde lang w'rgte mich die Furcht: was, wenn ich im Kreise
herumging!? In ein Loch st'rzte, mich verletzte, ein Bein brach und nicht
mehr weiter gehen konnte?!
Was geschah dann mit ihren Briefen in meiner Kammer? Sie muYAten
unfehlbar Wassertrum in die Hdnde fallen.
Der Gedanke an Schemajah Hillel, mit dem ich vag den Begriff eines
Helfers und F'hrers verkn'pfte, beruhigte mich unwillk'rlich.
Vorsichtshalber ging ich aber doch langsamer und tastenden Schrittes
und hielt den Arm in die Hche, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen,
falls der Gang niedriger w'rde.
Von Zeit zu Zeit, dann immer cfter stieYA ich oben mit der Hand an, und
endlich senkte sich das Gestein so tief herab, daYA ich mich b'cken muYAte, um
durchzukommen.
Pctzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.
Ich blieb stehen und starrte hinauf.
Nach und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser, kaum
merklicher Schimmer von Licht.
M'ndete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter?
Ich richtete mich auf und tastete mit beiden Hdnden in Kopfeshche um
mich herum: die Cffnung war genau viereckig und ausgemauert.
Allmdhlich konnte ich darin als AbschluYA die schattenhaften Umrisse
eines wagerechten Kreuzes unterscheiden, und endlich gelang es mir, seine
Stdbe zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzwdngen.
Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.
Offenbar endeten hier die Xberbleibsel einer eisernen Wendeltreppe,
wenn mich das Gef'hl meiner Finger nicht tduschte?
Lang, unsagbar lang muYAte ich tappen, bis ich die zweite Stufe finden
konnte, dann klomm ich empor.
Es waren im ganzen acht Stufen. Eine jede fast in Mannshche 'ber der
andern.
Sonderbar: die Treppe stieYA oben gegen eine Art horizontalen Getdfels,
das aus regelmdYAigen, sich schneidenden Linien den Lichtschein
herabschimmern lieYA, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!
Ich duckte mich, so tief ich konnte, um aus etwas weiterer Entfernung
besser unterscheiden zu kcnnen, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem
Erstaunen, daYA sie genau die Form eines Sechsecks, wie man es auf den
Synagogen findet, bildeten.
Was mochte das nur sein?
Plctzlich kam ich dahinter: es war eine Fallt'r, die an den Kanten
Licht durchlieYA! Eine Fallt'r aus Holz in Gestalt eines Sternes.
Ich stemmte mich mit den Schultern gegen die Platte, dr'ckte sie
aufwdrts und stand im ndchsten Moment in einem Gemach, das von grellem
Mondschein erf'llt war.
Es war ziemlich klein, vollstdndig leer bis auf einen Haufen Gerumpel
in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.
Eine T're oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben
ben'tzt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern
immer wieder von neuem absuchte.
Die Gitterstdbe des Fensters standen zu eng, als daYA ich den Kopf hdtte
durchstecken kcnnen, so viel aber sah ich:
Das Zimmer befand sich ungefdhr in der Hche eines dritten Stockwerks,
denn die Hduser gegen'ber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich
tiefer.
Das eine Ufer der StraYAe unten war f'r mich noch knapp sichtbar, aber
infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe
Schlagschatten getaucht, die es mir unmcglich machten, Einzelheiten zu
unterscheiden.
Zum Judenviertel muYAte die Gasse unbedingt gehcren, denn die Fenster
dr'ben waren sdmtlich vermauert oder aus Simsen im Bau angedeutet, und nur
im Getto kehren die Hduser einander so seltsam den R'cken.
Vergebens qudlte ich mich ab herauszubringen was das wohl f'r ein
sonderbares Bauwerk sein mochte, in dem ich mich befand.
Sollte es vielleicht ein aufgelassenes Seitent'rmchen der griechischen
Kirche sein? Oder gehcrte es irgendwie zur Altneusynagoge?
Die Umgebung stimmte nicht.
Wieder sah ich mich im Zimmer um: nichts, was mir auch nur den
kleinsten AufschluYA gegeben hdtte. - Die Wdnde und die Decke waren kahl,
Bewurf und Kalk ldngst abgefallen und weder Nagellccher, noch Ndgel, die
verraten hdtten, daYA der Raum einst bewohnt gewesen.
Der Boden lag fuYAhoch bedeckt mit Staub, als hdtte ihn seit Jahrzehnten
kein lebendes Wesen betreten.
Das Ger'mpel in der Ecke zu durchsuchen, ekelte ich mich. Es lag in
tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es bestand.
Dem duYAeren Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem Knduel geballt.
Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer?
Ich tastete mit dem FuYA hin, und es gelang mir, mit dem Absatz einen
Teil davon in die Ndhe des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer 'bers
Zimmer warf. Es schien wie ein breites, dunkles Band, das sich da langsam
aufrollte.
Ein blitzender Punkt wie ein Auge!
Ein Metallknopf vielleicht?
Allmdhlich wurde mir klar: ein Drmel von sonderbarem, altmodischem
Schnitt hing da aus dem B'ndel heraus.
Und eine kleine weiYAe Schachtel, oder dergleichen lag darunter,
lockerte sich unter meinem FuYA und zerfiel in eine Menge fleckiger
Schichten.
Ich gab ihr einen leichten StoYA: Ein Blatt flog ins Helle.
Ein Bild?
Ich b'ckte mich: ein Pagad!
Was mir eine weiYAe Schachtel geschienen, war ein Tarockspiel.
Ich hob es auf.
Konnte es etwas Ldcherlicheres geben: Ein Kartenspiel hier an diesem
gespenstischen Ort!
Merkw'rdig, daYA ich mich zum Ldcheln zwingen muYAte. Ein leises Gef'hl
von Grauen beschlich mich.
Ich suchte nach einer banalen Erkldrung, wie die Karten wohl
hierhergekommen sein kcnnten, und zdhlte dabei mechanisch das Spiel. Es war
vollstdndig: 78 St'ck. Aber schon wdhrend des Zdhlens fiel mir etwas auf:
Die Bldtter waren wie aus Eis.
Eine ldhmende Kdlte ging von ihnen aus, und wie ich das Paket
geschlossen in der Hand hielt, konnte ich es kaum mehr loslassen: so
erstarrt waren meine Finger. Wieder haschte ich nach einer n'chternen
Erkldrung:
Mein d'nner Anzug, die lange Wanderung ohne Mantel und Hut in den
unterirdischen Gdngen, die grimmige Winternacht, die Steinwdnde, der
entsetzliche Frost, der mit dem Mondlicht durchs Fenster hereinfloYA: -
sonderbar genug, daYA ich erst jetzt anfing zu frieren. Die Erregung, in der
ich mich die ganze Zeit befunden, muYAte mich dar'ber hinweggetduscht haben.
-
Ein Schauer nach dem andern jagte mir 'ber die Haut. Schicht um Schicht
drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen Kcrper ein.
Ich f'hlte mein Skelett zu Eis werden und wurde mir jedes einzelnen
Knochens bewuYAt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch festfror.
Kein Umherlaufen half, kein Stampfen mit den F'YAen und nicht das
Schlagen mit den Armen. Ich biYA die Zdhne zusammen, um ihr Klappern nicht zu
hcren.
Das ist der Tod, sagte ich mir, der dir die kalten Hdnde auf den
Scheitel legt.
Und ich wehrte mich wie ein Rasender gegen den betdubenden Schlaf des
Erfrierens, der, wollig und erstickend, mich wie mit einem Mantel einh'llen
kam.
Die Briefe, in meiner Kammer - ihre Briefe! br'llte es in mir auf: man
wird sie finden, wenn ich hier sterbe. Und sie hofft auf mich! Hat ihre
Rettung in meine Hdnde gelegt! - Hilfe! - Hilfe! Hilfe! -
Und ich schrie durch das Fenstergitter hinunter auf die cde Gasse, daYA
es widerhallte: Hilfe, Hilfe, Hilfe!
Warf mich zu Boden und sprang wieder auf. Ich durfte nicht sterben,
durfte nicht! ihretwegen, nur ihretwegen! Und wenn ich Funken aus meinen
Knochen schlagen sollte, um mich zu erwdrmen.
Da fiel mein Blick auf die Lumpen in der Ecke, und ich st'rzte darauf
zu und zog sie mit schlotternden Hdnden 'ber meine Kleider.
Es war ein zerschlissener Anzug aus dickem, dunklem Tuch von
uraltmodischem, seltsamem Schnitt.
Ein Geruch nach Moder ging von ihm aus.
Dann kauerte ich mich in dem gegen'berliegenden Mauerwinkel zusammen
und sp'rte meine Haut langsam, langsam wdrmer werden. Nur das schauerliche
Gef'hl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen. Regungslos
saYA ich da und lieYA meine Augen wandern: die Karte, die ich zuerst gesehen,
- der Pagad, - lag noch immer inmitten des Zimmers in dem Lichtstreifen.
Unverwandt muYAte ich sie anstarren.
Sie schien, soweit ich auf die Entfernung hin erkennen konnte, in
Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt, und stellte den hebrdischen
Buchstaben Aleph dar, in Form eines Mannes, altfrdnkisch gekleidet, den
grauen Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm erhoben, wdhrend der
andere abwdrts deutete.
Hatte das Gesicht des Mannes nicht eine seltsame Dhnlichkeit mit
meinem, ddmmerte mir ein Verdacht auf? - Der Bart - er paYAte so gar nicht zu
einem Pagad, - - ich kroch auf die Karte zu und warf sie in die Ecke zu dem
Rest des Ger'mpels, um den qudlenden Anblick los zu sein.
Dort lag sie jetzt und schimmerte - ein grauweiYAer, unbestimmter Fleck
- zu mir her'ber aus dem Dunkel.
Mit Gewalt zwang ich mich zu 'berlegen, was ich zu beginnen hdtte, um
wieder in meine Wohnung zu kommen:
Den Morgen abwarten! Unten die Vor'bergehenden vom Fenster aus anrufen,
damit sie mir von auYAen mit einer Leiter Kerzen oder eine Laterne
heraufbrdchten! - Ohne Licht die endlosen, sich ewig kreuzenden Gdnge
zur'ckzufinden, w'rde mir nie gelingen, empfand ich als beklemmende
GewiYAheit. - Oder, falls das Fenster zu hoch ldge, daYA sich jemand vom Dach
mit einem Strick - -? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl durchfuhr es mich:
jetzt wuYAte ich, wo ich war: Ein Zimmer ohne Zugang - nur mit einem
vergitterten Fenster - das altert'mliche Haus in der Altschulgasse, das
jeder mied! - schon einmal vor vielen Jahren hatte sich ein Mensch an einem
Strick vom Dach herabgelassen, um durchs Fenster zu schauen, und der Strick
war gerissen und - Ja: ich war in dem Haus, in dem der gespenstische Golem
jedesmal verschwand!
Ein tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich wehrte, das ich nicht
einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederkdmpfen konnte, ldhmte
jedes Weiterdenken und mein Herz fing an, sich zu krampfen.
Hastig sagte ich mir vor mit steifen Lippen, es sei nur der Wind, der
da so eisig aus der Ecke her'berwehte, sagte es mir vor, schneller und
schneller, mit pfeifendem Atem - es half nicht mehr: dort dr'ben der
weiYAliche Fleck - die Karte - sie quoll auf zu blasigem Klumpen, tastete
sich hin zum Rande des Mondstreifens und kroch wieder zur'ck in die
Finsternis. - Tropfende Laute - halb gedacht, geahnt, halb wirklich - im
Raum und doch auYAerhalb um mich herum und doch anderswo, - tief im eigenen
Herzen und wieder mitten im Zimmer - erwachten: Gerdusche, wie wenn ein
Zirkel fdllt und mit der Spitze im Holz stecken bleibt!
Immer wieder: Der weiYAliche Fleck - - - der weiYAliche Fleck - -! Eine
Karte, eine erbdrmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie ich mir
ins Hirn hinein - - - umsonst - - jetzt hat er sich dennoch - dennoch
Gestalt erzwungen - der Pagad - und hockt in der Ecke und stiert her'ber zu
mir mit meinem eigenen Gesicht.
Stunden und Stunden kauerte ich da - unbeweglich - in meinem Winkel,
ein frosterstarrtes Gerippe in fremden, modrigen Kleidern! - Und er dr'ben:
ich selbst.
Stumm und regungslos.
So starrten wir uns in die Augen, - einer das grdYAliche Spiegelbild des
andern. - - -
Ob er es auch sieht, wie sich die Mondstrahlen mit schneckenhafter
Trdgheit 'ber den Boden hinsaugen und wie Zeiger eines unsichtbaren Uhrwerks
in der Unendlichkeit die Wand emporkriechen und fahler und fahler werden? -
Ich bannte ihn fest mit meinem Blick und es half ihm nichts, daYA er
sich auflcsen wollte in dem Morgenddmmerschein, der ihm vom Fenster her zu
Hilfe kam.
Ich hielt ihn fest.
Schritt vor Schritt habe ich mit ihm gerungen um mein Leben - um das
Leben, das mein ist, weil es nicht mehr mir gehcrt. - -
Und wie er kleiner und kleiner wurde und sich bei Tagesgrauen wieder in
sein Kartenblatt verkroch, da stand ich auf, ging hin'ber zu ihm und steckte
ihn in die Tasche - den Pagad.
Immer noch war die Gasse unten cd und menschenleer.
Ich durchstcberte die Zimmerecke, die jetzt im stumpfen Morgenlichte
lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne, morsche Fetzen, ein Flaschenhals.
Tote Dinge und doch so merkw'rdig bekannt.
Und auch die Mauern - wie die Risse und Spr'nge dann deutlich wurden! -
wo hatte ich sie nur gesehen?
Ich nahm das Kartenpdckchen zur Hand - es ddmmerte mir auf: hatte ich
die nicht einst selbst bemalt? Als Kind? Vor langer, langer Zeit?
Es war ein uraltes Tarockspiel. Mit hebrdischen Zeichen. - Nummer 12
muYA der "Gehenkte" sein, 'berkam's mich wie halbe Erinnerung. - Mit dem Kopf
abwdrts? Die Arme auf dem R'cken? - Ich bldtterte nach: Da! Da war er.
Dann wieder, halb Traum, halb GewiYAheit, tauchte ein Bild vor mir auf:
Ein geschwdrztes Schulhaus, bucklig, schief, ein m'rrisches Hexengebdude,
die linke Schulter hochgezogen, die andere mit einem Nebenhaus verwachsen. -
- - Wir sind mehrere halbw'chsige Jungen - ein verlassener Keller ist
irgendwo - - -
Dann sah ich an meinem Kcrper herab und wurde wieder irre: Der
altmodische Anzug war mir vcllig fremd.
Der Ldrm eines holpernden Karrens schreckte mich auf, doch als ich
hinabblickte: Keine Menschenseele. Nur ein Fleischerhund stand versonnen an
einem Eckstein.
Da! Endlich! Stimmen! menschliche Stimmen!
Zwei alte Weiber kamen langsam die StraYAe dahergetrottet, und ich
zwdngte den Kopf halb durch das Gitter und rief sie an.
Mit offenem Mund glotzten sie in die Hche und berieten sich. Aber als
sie mich sahen, stieYAen sie ein gellendes Geschrei aus und liefen davon.
Sie haben mich f'r den Golem gehalten, begriff ich.
Und ich erwartete, daYA ein Zusammenlauf von Menschen entstehen w'rde,
denen ich mich verstdndlich machen kcnnte, aber wohl eine Stunde verging,
und nur hie und da spdhte unten vorsichtig ein blasses Gesicht herauf zu
mir, um sofort in Todesschreck wieder zur'ckzufahren.
Sollte ich warten, bis vielleicht nach Stunden oder gar erst morgen
Polizisten kamen - die Staatsfalotten, wie Zwakh sie zu nennen pflegte?
Nein, lieber wollte ich einen Versuch machen, die unterirdischen Gdnge
ein St'ck weit auf ihre Richtung hin zu untersuchen.
Vielleicht fiel jetzt bei Tag durch Ritzen im Gestein eine Spur von
Licht hinab?
Ich kletterte die Leiter hinunter, setzte den Weg, den ich gestern
gekommen war, fort - 'ber ganze Halden zerbrochener Ziegelsteine und durch
versunkene Keller - erklomm eine Treppenruine und stand plctzlich - - im
Hausflur des schwarzen Schulhauses, das ich vorhin wie im Traum gesehen.
Sofort st'rzte eine Flutwelle von Erinnerungen auf mich ein: Bdnke,
bespritzt mit Tinte von oben bis unten, Rechenhefte, pldrrender Gesang, ein
Junge, der Maikdfer in der Klasse losldYAt, Leseb'cher mit zerquetschten
Butterbroten darin und der Geruch nach Orangenschalen. Jetzt wuYAte ich mit
GewiYAheit: Ich war einst als Knabe hier gewesen. - Aber ich lieYA mir keine
Zeit nachzudenken und eilte heim.
Der erste Mensch, der mir in der Salnitergasse begegnete, war ein
verwachsener alter Jude mit weiYAen Schldfenlocken. Kaum hatte er mich
erblickt, bedeckte er sein Gesicht mit den Hdnden und heulte laut hebrdische
Gebete herunter.
Auf den Ldrm hin muYAten wahrscheinlich viele Leute aus ihren Hchlen
gest'rzt sein, denn es brach ein unbeschreibliches Gezeter hinter mir los.
Ich drehte mich um und sah ein wimmelndes Heer totenblasser,
entsetzenverzerrter Gesichter sich mir nachwdlzen.
Erstaunt blickte ich an mir herunter und verstand: - ich trug noch
immer die seltsam mittelalterlichen Kleider von nachts her 'ber meinem
Anzug, und die Leute glaubten, den "Golem" vor sich zu haben.
Rasch lief ich um die Ecke hinter ein Haustor und riYA mir die modrigen
Fetzen vom Leibe.
Gleich darauf raste die Menge mit geschwungenen Stccken und geifernden
Mdulern schreiend an mir vor'ber.
Einigemal im Lauf des Tages hatte ich an Hillels T're geklopft; - es
lieYA mir keine Ruhe: ich muYAte ihn sprechen und fragen, was alle diese
seltsamen Erlebnisse bedeuteten; aber immer hieYA es, er sei noch nicht zu
Hause.
Sowie er heimkdme vom j'dischen Rathaus, wollte mich seine Tochter
sofort verstdndigen. -
Ein sonderbares Mddchen 'brigens, diese Mirjam!
Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.
Eine Schcnheit, so fremdartig, daYA man sie im ersten Moment gar nicht
fassen kann, - eine Schcnheit, die einen stumm macht, wenn man sie ansieht,
und ein unerkldrliches Gef'hl, so etwas, wie leise Mutlosigkeit in einem
erweckt.
Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden verlorengegangen sein
m'ssen, ist dieses Gesicht geformt, gr'belte ich mir zurecht, wie ich es so
im Geiste wieder vor mir sah.
Und ich dachte nach, welchen Edelstein ich wdhlen m'YAte, um es als
Gemme festzuhalten und dabei den k'nstlerischen Ausdruck richtig zu wahren:
Schon an dem rein DuYAerlichen; dem blauschwarzen Glanz des Haares und der
Augen, der alles 'bertraf, worauf ich auch riet, scheiterte es. - Wie erst
die unirdische Schmalheit des Gesichtes sinn- und visionsgemdYA in eine Kamee
bannen, ohne sich in die stumpfsinnige Dhnlichkeitsmacherei der kanonischen
"Kunst"richtung festzurennen!
Nur durch ein Mosaik lieYA es sich lcsen, erkannte ich klar, aber was
f'r Material wdhlen? Ein Menschenleben gehcrte dazu, das passende zusammen
zu finden. - -
Wo nur Hillel blieb!
Ich sehnte mich nach ihm wie nach einem lieben, alten Freunde.
Merkw'rdig, wie er mir in den wenigen Tagen - und ich hatte ihn doch,
genaugenommen, nur ein einziges Mal im Leben gesprochen, - ins Herz
gewachsen war.
Ja, richtig: die Briefe - ihre Briefe - wollte ich doch besser
verstecken. Zu meiner Beruhigung, falls ich wieder einmal ldnger von zu
Hause fort sein sollte.
Ich nahm sie aus der Truhe: - in der Kassette w'rden sie sicherer
aufbewahrt sein.
Eine Photographie glitt zwischen den Briefen heraus. Ich wollte nicht
hinschauen, aber es war zu spdt.
Den Brokatstoff um die bloYAen Schultern gelegt - so wie ich ›sie‹ das
erste Mal gesehen, als sie in mein Zimmer fl'chtete aus Saviolis Atelier -
blickte sie mir in die Augen.
Ein wahnsinniger Schmerz bohrte sich in mich ein. Ich las die Widmung
unter dem Bilde, ohne die Worte zu erfassen, und den Namen:
Deine Angelina.
Angelina!!!
Wie ich den Namen aussprach, zerriYA der Vorhang, der meine Jugendjahre
vor mir verbarg, von oben bis unten.
Vor Jammer glaubte ich zusammenbrechen zu m'ssen. Ich krallte die
Finger in die Luft und winselte, - biYA mich in die Hand: - - nur wieder
blind sein, Gott im Himmel, - den Scheintot weiterleben, wie bisher, flehte
ich.
Das Weh stieg mir in den Mund. - Quoll. - Schmeckte seltsam s'YA, - wie
Blut. - -
Angelina!!
Der Name kreiste in meinen Adern und wurde - zu unertrdglicher
gespenstischer Liebkosung.
Mit einem gewaltsamen Ruck riYA ich mich zusammen und zwang mich - mit
knirschenden Zdhnen - das Bild anzustarren, bis ich langsam Herr dar'ber
wurde!
Herr dar'ber!
Wie heute nacht 'ber das Kartenblatt.
Endlich: Schritte! Mdnnertritte.
Er kam!
Voll Jubel eilte ich zur T'r und riYA sie auf.
Schemajah Hillel stand StrauYAen und hinter ihm - ich machte mir leise
Vorw'rfe, daYA ich es als Enttduschung empfand - mit roten Bdckchen und
runden Kinderaugen: der alte Zwakh.
"Wie ich zu meiner Freude sehe, sind Sie wohlauf, Meister Pernath",
fing Hillel an.
Ein kaltes "Sie"?
Frost. Schneidender, ertctender Frost lag plctzlich im Zimmer.
Betdubt, mit halbem Ohr, hcrte ich hin, was Zwakh, atemlos vor
Aufregung, auf mich losplapperte:
"Wissen Sie schon, der Golem geht wieder um? Neulich erst sprachen wir
davon, wissen Sie noch, Pernath? Die ganze Judenstadt ist auf. Vrieslander
hat ihn selbst gesehen, den Golem. Und wieder hat es, wie immer, mit einem
Mord begonnen" - Ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?
Zwakh sch'ttelte mich: "Ja, wissen Sie denn von gar nichts, Pernath?
Unten hdngt doch groYAmdchtig ein Polizeiaufruf an den Ecken: den dicken
Zottmann, den ›Freimaurer‹ - na, ich meine doch den
Lebensversicherungsdirektor Zottmann, - soll man ermordet haben. Der Loisa -
hier im Haus - ist bereits verhaftet. Und die rote Rosina: spurlos
verschwunden. - Der Golem - der Golem - es ist ja haarstrdubend."
Ich gab keine Antwort und suchte in Hillels Augen: warum blickte er
mich so unverwandt an?
Ein verhaltenes Ldcheln zuckte plctzlich um seine Mundwinkel.
Ich verstand. Es galt mir.
Am liebsten wdre ich ihm um den Hals gefallen vor jauchzender Freude.
AuYAer mir in meinem Entz'cken, lief ich planlos im Zimmer umher. Was
zuerst bringen? Gldser? Eine Flasche Burgunder? (Ich hatte doch nur eine.)
Zigarren? - Endlich fand ich Worte: "Aber warum setzt ihr euch denn nicht?!"
- Rasch schob ich meinen beiden Freunden Sessel unter. - - -
Zwakh fing an, sich zu drgern: "Warum ldcheln Sie denn immerwdhrend,
Hillel? Glauben Sie vielleicht nicht, daYA der Golem spukt? Mir scheint. Sie
glauben 'berhaupt nicht an den Golem?"
"Ich w'rde nicht an ihn glauben, selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor
mir sdhe", antwortete Hillel gelassen mit einem Blick auf mich. - Ich
verstand den Doppelsinn, der aus seinen Worten klang.
Zwakh hielt erstaunt im Trinken inne: "Das Zeugnis von Hunderten von
Menschen gilt Ihnen nichts, Hillel? - Aber warten Sie nur, Hillel, denken
Sie an meine Worte: Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt geben! Ich
kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft hinter sich her."
"Die Hdufung gleichartiger Ereignisse ist nichts Wunderbares",
erwiderte Hillel. Er sprach im Gehen, trat ans Fenster und blickte durch die
Scheiben hinab auf den Trcdlerladen - "Wenn der Tauwind weht, r'hrt sich's
in den Wurzeln. In den s'YAen wie, in den giftigen."
Zwakh zwinkerte mir lustig zu und deutete mit dem Kopf nach Hillel.
"Wenn der Rabbi nur reden wollte, der kcnnte uns Dinge erzdhlen, daYA
einem die Haare zu Berge st'nden", warf er halblaut hin.
Schemajah drehte sich um.
"Ich bin nicht ›Rabbi‹, wenn ich auch den Titel tragen darf. Ich bin
nur ein armseliger Archivar im j'dischen Rathaus und f'hre die Register 'ber
die Lebendigen und die Toten."
Eine verborgene Bedeutung lag in seiner Rede, f'hlte ich. Auch der
Marionettenspieler schien es unterbewuYAt zu empfinden, - er wurde still, und
eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort.
"Hcren Sie mal, Rabbi -, verzeihen Sie: ›Herr Hillel‹, wollte ich
sagen", - fing Zwakh nach einer Weile wieder an, und seine Stimme klang
auffallend ernst, "ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Sie brauchen mir
ja nicht drauf zu antworten, wenn Sie nicht mcgen, oder nicht d'rfen - - -"
Schemajah trat an den Tisch und spielte mit dem Weinglas - er trank
nicht; vielleicht verbot es ihm das j'dische Ritual.
"Fragen Sie ruhig, Herr Zwakh."
"- - Wissen Sie etwas 'ber die j'dische Geheimlehre, die Kabbala,
Hillel?"
"Nur wenig."
"Ich habe gehcrt, es soll ein Dokument geben, aus dem man die Kabbala
lernen kann: den ›Sohar‹ - -"
"Ja, den Sohar - das Buch des Glanzes."
"Sehen Sie, da hat man's", schimpfte Zwakh los. "Ist es nicht eine
himmelschreiende Ungerechtigkeit, daYA eine Schrift, die angeblich die
Schl'ssel zum Verstdndnis der Bibel und zur Gl'ckseligkeit enthdlt -"
Hillel unterbrach ihn: "- nur einige Schl'ssel."
"Gut, immerhin einige! - also, daYA diese Schrift infolge ihres hohen
Wertes und ihrer Seltenheit wieder nur den Reichen zugdnglich ist? In einem
einzigen Exemplar, das noch dazu im Londoner Museum steckt, wie ich mir habe
erzdhlen lassen? Und 'berdies chalddisch, aramdisch, hebrdisch - oder was
weiYA ich wie - geschrieben? - Habe ich zum Beispiel je im Leben Gelegenheit
gehabt, diese Sprachen zu lernen oder nach London zu kommen?"
"Haben Sie denn alle Ihre W'nsche so heiYA auf dieses Ziel gerichtet?"
fragte Hillel mit leisem Spott.
"Offen gestanden - nein", gab Zwakh einigermaYAen verwirrt zu.
"Dann sollten Sie sich nicht beklagen", sagte Hillel trocken, "wer
nicht nach dem Geist schreit mit allen Atomen seines Leibes, - wie ein
Erstickender nach Luft, - der kann die Geheimnisse Gottes nicht schauen."
"Es sollte trotzdem ein Buch geben, in dem sdmtliche Schl'ssel zu den
Rdtseln der anderen Welt stehen, nicht nur einige", schoYA es mir durch den
Kopf, und meine Hand spielte automatisch mit dem Pagad, den ich immer noch
in der Tasche trug, aber ehe ich die Frage in Worte kleiden konnte, hatte
Zwakh sie bereits ausgesprochen.
Hillel ldchelte wieder sphinxhaft: "Jede Frage, die ein Mensch tun
kann, ist im selben Augenblick beantwortet, in dem er sie geistig gestellt
hat."
"Verstehen Sie, was er damit meint?", wandte sich Zwakh an mich.
Ich gab keine Antwort und hielt den Atem an, um kein Wort von Hillels
Rede zu verlieren.
Schemajah fuhr fort:
"Das ganze Leben ist nichts anderes als formgewordene Fragen, die den
Keim der Antwort in sich tragen - und Antworten, die schwanger gehen mit
Fragen. Wer irgend etwas anderes drin sieht, ist ein Narr."
Zwakh schlug mit der Faust auf den Tisch:
"Jawohl: Fragen, die jedesmal anders lauten, und Antworten, die jeder
anders versteht."
"Gerade darauf kommt es an", sagte Hillel freundlich. "Alle Menschen
'ber einen Lcffel zu - kurieren, ist lediglich Vorrecht der Drzte. Der
Fragende erhdlt die Antwort, die ihm not tut: sonst ginge nicht die Kreatur
den Weg ihrer Sehnsucht. Glauben Sie denn, unsere j'dischen Schriften sind
bloYA aus Willk'r nur in Konsonanten geschrieben? - Jeder hat sich selbst die
geheimen Vokale dazu zu finden, die ihm den nur f'r ihn allein bestimmten
Sinn erschlieYAen, - soll nicht das lebendige Wort zum toten Dogma
erstarren."
Der Marionettenspieler wehrte heftig ab:
"Das sind Worte, Rabbi, Worte! Pagad Ultimo will ich heiYAen, wenn ich
daraus klug werde."
Pagad!! - Das Wort schlug in mich ein wie der Blitz. Ich fiel vor
Entsetzen beinahe vom Stuhl.
Hillel wich meinen Augen aus.
"Pagad ultimo? Wer weiYA, ob Sie nicht wirklich so heiYAen, Herr Zwakh!"
- schlug Hillels Rede wie aus weiter Ferne an mein Ohr. "Man soll seiner
Sache niemals allzu sicher sein. - Xbrigens, da wir gerade von Karten
sprechen: Herr Zwakh, spielen Sie Tarock?"
"Tarock? Nat'rlich. Von Kindheit an."
"Dann wundert's mich, wieso Sie nach einem Buche fragen kcnnen, in dem
die ganze Kabbala steht, wo Sie es doch selbst Tausende Male in der Hand
gehabt haben."
"Ich? In der Hand gehabt? Ich?" - Zwakh griff sich an den Kopf.
"Jawohl, Sie! Ist es Ihnen niemals aufgefallen, daYA das Tarockspiel 22
Tr'mpfe hat, - genausoviel, wie das hebrdische Alphabet Buchstaben? Zeigen
unsere bchmischen Karten nicht zum XberfluYA noch Bilder dazu, die
offenkundig Symbole sind: Der Narr, der Tod, der Teufel, das Letzte Gericht?
- Wie laut, lieber Freund, wollen Sie eigentlich, daYA Ihnen das Leben die
Antworten in die Ohren schreien soll? - - Was Sie allerdings nicht zu wissen
brauchen, ist, daYA ›Tarok‹ oder ›Tarot‹ soviel bedeutet wie die j'dische
›Tora‹ = das Gesetz, oder das altdgyptische ›Tarut‹ = ›die Befragte‹, und in
der uralten Zendsprache das Wort: ›tarisk‹ = ›ich verlange die Antwort‹. -
Aber die Gelehrten sollten es wissen, bevor sie die Behauptung aufstellen,
das Tarock stamme aus der Zeit Karls des Sechsten. - Und so, wie der Pagad
die erste Karte im Spiel ist, so ist der Mensch die erste Figur in seinem
eignen Bilderbuch, sein eigner Doppelgdnger: - - der hebrdische Buchstabe
Aleph, der, nach der Form des Menschen gebaut, mit der einen Hand zum Himmel
zeigt und mit der andern abwdrts: das heiYAt also: ›So wie es oben ist, ist
es auch unten; so wie es unten ist, ist es auch oben.‹ - Darum sagte ich
vorhin: Wer weiYA, ob Sie wirklich Zwakh heiYAen und nicht: ›Pagad‹ - berufen
Sie's nicht," - Hillel blickte mich dabei unverwandt an, und ich ahnte, wie
sich unter seinen Worten ein Abgrund immer neuer Bedeutung auftat - "berufen
Sie's nicht, Herr Zwakh! Man kann da in finstere Gdnge geraten, aus denen
noch keiner zur'ckfand, der nicht - einen Talisman bei sich trug. Die
Xberlieferung erzdhlt, daYA einmal drei Mdnner hinabgestiegen seien ins Reich
der Dunkelheit, der eine wurde wahnsinnig, der zweite blind, nur der dritte,
Rabbi ben Akiba, kam heil wieder heim und sagte, er sei sich selbst
begegnet. Schon so mancher, werden Sie sagen, ist sich selbst begegnet, z.
B. Goethe, gewchnlich auf einer Br'cke, oder sonst einem Steig, der von
einem Ufer eines Flusses zum andern f'hrt, - hat sich selbst ins Auge
geblickt und ist nicht wahnsinnig geworden. Aber dann war's eben nur eine
Spiegelung des eigenen BewuYAtseins und nicht der wahre Doppelgdnger: nicht
das, was man ›den Hauch der Knochen‹, den ›Habal Garmin‹ nennt, von dem es
heiYAt: Wie er in die Grube fuhr, unverweslich, im Gebein, so wird er
auferstehn am Tage des Letzten Gerichts." - Hillels Blick bohrte sich immer
tiefer in meine Augen - "Unsere GroYAm'tter sagen von ihm: ›er wohnt hoch
'ber der Erde in einem Zimmer ohne T're, nur mit einem Fenster, von dem aus
eine Verstdndigung mit den Menschen unmcglich ist. Wer ihn zu bannen und zu
- - verfeinern versteht, der wird gut Freund mit sich selbst." - - - Was
schlieYAlich das Tarock betrifft, so wissen Sie so gut wie ich: F'r jeden
Spieler liegen die Karten anders, wer aber die Tr'mpfe richtig verwendet,
der gewinnt die Partie - - -. Aber kommen Sie jetzt, Herr Zwakh! Gehen wir,
Sie trinken sonst Meister Pernaths ganzen Wein aus, und es bleibt nichts
mehr 'brig f'r ihn selbst."
Eine Flockenschlacht tobte vor meinem Fenster. Regimenterweise jagten
die Schneesterne - winzige Soldaten in weiYAen, zottigen Mdntelchen -
hintereinander her an den Scheiben vor'ber - minutenlang - immer in
derselben Richtung, wie auf gemeinsamer Flucht vor einem ganz besonders
bcsartigen Gegner. Dann hatten sie das Davonlaufen mit einemmal dick satt,
schienen aus rdtselhaften Gr'nden einen Wutanfall zu bekommen und sausten
wieder zur'ck, bis ihnen von oben und unten neue feindliche Armeen in die
Flanken fielen und alles in ein heilloses Gewirbel auflcsten.
Monate schien mir zur'ckzuliegen, was ich an Seltsamem erst vor kurzem
erlebt hatte, und wdren nicht tdglich einigemal immer neue krause Ger'chte
'ber den Golem zu mir gedrungen, die alles wieder frisch aufleben lieYAen,
ich glaube, ich hdtte mich in Augenblicken des Zweifels verddchtigen kcnnen,
das Opfer eines seelischen Ddmmerzustandes gewesen zu sein.
Aus den bunten Arabesken, die die Ereignisse um mich gewoben, stach in
schreienden Farben hervor, was mir Zwakh 'ber den noch immer unaufgekldrten
Mord an dem sogenannten "Freimaurer" erzdhlt hatte.
Den blatternarbigen Loisa damit in Zusammenhang zu bringen, wollte mir
nicht recht einleuchten, obwohl ich einen dunklen Verdacht nicht absch'tteln
konnte, - fast unmittelbar darauf, als Prokop in jener Nacht aus dem
Kanalgitter ein unheimliches Gerdusch gehcrt zu haben geglaubt, hatten wir
den Burschen beim "Loisitschek" gesehen. Allerdings lag kein AnlaYA vor, den
Schrei unter der Erde, der 'berdies geradesogut eine Sinnestduschung gewesen
sein konnte, als Hilferuf eines Menschen zu deuten. - - -
Das Schneegestcber vor meinen Augen blendete mich und ich fing an,
alles in tanzenden Streifen zu sehen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder
auf die Gemme vor mir. Das Wachsmodell, das ich von Mirjams Gesicht
entworfen hatte, muYAte sich vortrefflich auf den bldulich leuchtenden
Mondstein da 'bertragen lassen. - Ich freute mich: es war ein angenehmer
Zufall, daYA sich etwas so Geeignetes unter meinem Mineralienvorrat gefunden
hatte. Die tiefschwarze Matrix von Hornblende gab dem Stein gerade das
richtige Licht und die Konturen paYAten so genau, als habe ihn die Natur
eigens geschaffen, ein bleibendes Abbild von Mirjams feinem Profil zu
werden.
Anfangs war meine Absicht gewesen, eine Kamee daraus zu schneiden, die
den dgyptischen Gott Osiris darstellen sollte, und die Vision des
Hermaphroditen aus dem Buche Ibbur, die ich mir jederzeit mit auffallender
Deutlichkeit ins Geddchtnis zur'ckrufen konnte, regte mich k'nstlerisch
stark an, aber allmdhlich entdeckte ich nach den ersten Schnitten eine
solche Dhnlichkeit mit der Tochter Schemajah Hillels, daYA ich meinen Plan
umstieYA. - - -
- Das Buch Ibbur! -
Ersch'ttert legte ich den Stahlgriffel weg. UnfaYAbar, was in der kurzen
Spanne Zeit in mein Leben getreten war!
Wie jemand, der sich plctzlich in eine unabsehbare Sandw'ste versetzt
sieht, wurde ich mir mit einem Schlage der tiefen, riesengroYAen Einsamkeit
bewuYAt, die mich von meinen Nebenmenschen trennte.
Konnte ich je mit einem Freund - Hillel ausgenommen - davon reden, was
ich erlebt?
Wohl war mir in den stillen Stunden der verflossenen Ndchte die
Erinnerung wiedergekehrt, daYA mich all meine Jugendjahre - von fr'her
Kindheit angefangen - ein unsagbarer Durst nach dem Wunderbaren, dem
jenseits aller Sterblichkeit Liegenden, bis zur Todespein gefoltert hatte,
aber die Erf'llung meiner Sehnsucht war wie ein Gewittersturm gekommen und
erdr'ckte den Jubelaufschrei meiner Seele mit ihrer Wucht.
Ich zitterte vor dem Augenblick, wo ich zu mir selbst kommen und das
Geschehene in seiner vollen markverbrennenden Lebendigkeit als Gegenwart
empfinden muYAte.
Nur jetzt sollte es noch nicht kommen! Erst den GenuYA auskosten:
Unaussprechliches an Glanz auf sich zukommen zu sehen!
Ich hatte es doch in meiner Macht! Brauchte nur hin'ber zu gehen in
mein Schlafzimmer und die Kassette aufzusperren, in der das Buch Ibbur, das
Geschenk der Unsichtbaren, lag!
Wie lang war's her, da hatte es meine Hand ber'hrt, als ich Angelinas
Briefe dazuschloYA!
Dumpfes Drchnen drauYAen, wie von Zeit zu Zeit der Wind die angehduften
Schneemassen von den Ddchern hinab vor die Hduser warf, gefolgt von Pausen
tiefer Stille, da die Flockendecke auf dem Pflaster jeden Laut verschlang.
Ich wollte weiterarbeiten, - da plctzlich stahlscharfe Hufschldge unten
die Gasse entlang, daYA man's fcrmlich Funken spr'hen sah.
Das Fenster zu cffnen und hinauszuschauen, war unmcglich: Muskeln aus
Eis verbanden seine Rdnder mit dem Mauerwerk, und die Scheiben waren bis zur
Hdlfte weiYA verweht. Ich sah nur, daYA Charousek scheinbar ganz friedlich
neben dem Trcdler Wassertrum stand - sie muYAten soeben ein Gesprdch
mitsammen gef'hrt haben - sah, wie die Verbl'ffung, die sich in ihrer beider
Mienen malte, wuchs und sie sprachlos offenbar den Wagen, der meinen Blicken
entzogen war, anstarrten.
Angelinas Gatte ist es, fuhr es mir durch den Kopf. - Sie selbst konnte
es nicht sein! Mit ihrer Equipage hier bei mir vorzufahren - in der
HahnpaYAgasse! - vor aller Leute Augen! Es wdre hellichter Wahnsinn gewesen.
- Aber was sollte ich zu ihrem Gatten sagen, wenn er's wdre und mich auf den
Kopf zu fragte?
Leugnen, nat'rlich leugnen.
Hastig legte ich mir die Mcglichkeiten zurecht: es kann nur ihr Gatte
sein. Er hat einen anonymen Brief bekommen, - von Wassertrum - daYA sie hier
gewesen sei zu einem Rendezvous, und sie hat eine Ausrede gebraucht:
wahrscheinlich, daYA sie eine Gemme oder sonst etwas bei mir bestellt habe. -
- - Da! w'tendes Klopfen an meiner T'r und - Angelina stand vor mir.
Sie konnte kein Wort hervorbringen, aber der Ausdruck ihres Gesichtes
verriet mir alles: sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Das Lied war
aus.
Dennoch lehnte sich irgend etwas in mir auf gegen diese Annahme. Ich
brachte es nicht fertig, zu glauben, daYA das Gef'hl, ihr helfen zu kcnnen,
mich belogen haben sollte.
Ich f'hrte sie in meinen Lehnstuhl. Streichelte ihr stumm das Haar; und
sie verbarg, todm'de wie ein Kind, ihren Kopf an meiner Brust.
Wir hcrten das Knistern der brennenden Scheite im Ofen und sahen, wie
der rote Schein 'ber die Dielen huschte, aufflammte und erlosch - aufflammte
und erlosch - aufflammte und erlosch - - -
"Wo ist das Herz aus rotem Stein - - -" klang es in meinem Innern. Ich
fuhr auf: Wo bin ich! Wie lang sitzt sie schon hier?
Und ich forschte sie aus, - vorsichtig, leise, ganz leise, daYA sie
nicht aufwache und ich mit der Sonde die schmerzende Wunde nicht ber'hre.
Bruchst'ckweise erfuhr ich, was ich zu wissen brauchte, und setzte es
mir zusammen wie ein Mosaik:
"Ihr Gatte weiYA - -?"
"Nein, noch nicht; er ist verreist."
Also um Dr. Saviolis Leben drehte sich's; - Charousek hatte es richtig
erraten. Und weil's um Saviolis Leben ging, und nicht mehr um ihres, war sie
hier. Sie denkt nicht mehr daran, irgend etwas zu verbergen, begriff ich.
Wassertrum war abermals bei Dr. Savioli gewesen. Hatte sich mit
Drohungen und Gewalt den Weg erzwungen bis zu seinem Krankenlager.
Und weiter! Weiter! Was wollte er von ihm?
Was er wollte? Sie hatte es halb erraten, halb erfahren: er wollte, daYA
- - daYA - er wollte, daYA sich Dr. Savioli - - ein Leid antue.
Sie kenne jetzt auch die Gr'nde von Wassertrums wildem besinnungslosem
HaYA: "Dr. Savioli habe einst seinen Sohn, den Augenarzt Wassory, in den Tod
getrieben."
Sofort schlug ein Gedanke in mich ein wie der Blitz: hinunterlaufen,
dem Trcdler alles verraten: daYA Charousek den Schlag gef'hrt hatte - aus dem
Hinterhalt - und nicht Savioli, der nur das Werkzeug war - - -. "Verrat!
Verrat!" heulte es mir ins Hirn, "du willst also den armen schwinds'chtigen
Charousek, der dir helfen wollte und ihr, der Rachsucht dieses Halunken
preisgeben?" - Und es zerriYA mich in blutende Hdlften. - Dann sprach ein
Gedanke eiskalt und gelassen die Losung aus: "Narr! Du hast es doch in der
Hand! Brauchst ja nur die Feile dort auf dem Tisch zu nehmen, hinunter zu
laufen und sie dem Trcdler durch die Gurgel zu jagen, daYA die Spitze hinten
zum Genick herausschaut."
Mein Herz jauchzte einen Dankesschrei zu Gott.
Ich forschte weiter:
"Und Dr. Savioli?"
Kein Zweifel, daYA er Hand an sich legen wird, wenn sie ihn nicht
rettete. Die Krankenschwestern lieYAen ihn nicht aus den Augen, hatten ihn
mit Morphium betdubt, aber vielleicht erwacht er plctzlich - vielleicht
gerade jetzt - und - und - nein, nein, sie m'sse fort, d'rfe keine Sekunde
Zeit mehr versdumen, - sie wolle ihrem Gatten schreiben, ihm alles
eingestehen, - solle er ihr das Kind nehmen, aber Savioli sei gerettet, denn
sie hdtte Wassertrum damit die einzige Waffe aus der Hand geschlagen, die er
besdYAe und mit der er drohe.
Sie wolle das Geheimnis selbst enth'llen, ehe er es verraten kcnne.
"Das werden Sie nicht tun, Angelina!" schrie ich und dachte an die
Feile und die Stimme versagte mir in jubelnder Freude 'ber meine Macht.
Angelina wollte sich losreiYAen: ich hielt sie fest.
"Nur noch eins: Xberlegen Sie, wird Ihr Gatte denn dem Trcdler so ohne
weiteres glauben?"
"Aber Wassertrum hat doch Beweise, offenbar meine Briefe, vielleicht
auch ein Bild von mir, - alles, was im Schreibtisch nebenan im Atelier
versteckt war."
Briefe? Bild? Schreibtisch? - ich wuYAte nicht mehr, was ich tat: ich
riYA Angelina an meine Brust und k'YAte sie. Auf den Mund, auf die Stirn, auf
die Augen.
Ihr blondes Haar lag wie ein goldner Schleier vor meinem Gesicht.
Dann hielt ich sie an ihren schmalen Hdnden und erzdhlte ihr mit
fliegenden Worten, daYA der Todfeind Wassertrums - ein armer bchmischer
Student - die Briefe und alles in Sicherheit gebracht hdtte und sie in
meinem Besitz seien und fest verwahrt.
Und sie fiel mir um den Hals und lachte und weinte in einem Atem. K'YAte
mich. Rannte zur T'r. Kehrte wieder um und k'YAte mich wieder.
Dann war sie verschwunden.
Ich stand wie betdubt und f'hlte noch immer den Atem ihres Mundes an
meinem Gesicht.
Ich hcrte wie die Wagenrdder 'ber das Pflaster donnerten und den
rasenden Galopp der Hufe. Eine Minute spdter war alles still. Wie ein Grab.
Auch in mir.
Plctzlich knarrte die T'r leise hinter mir, und Charousek stand im
Zimmer:
"Verzeihen Sie, Herr Pernath, ich habe lange geklopft, aber Sie
schienen es nicht zu hcren."
Ich nickte nur stumm.
"Hoffentlich nehmen Sie nicht an, daYA ich mich mit Wassertrum verschnt
habe, weil Sie mich vorhin mit ihm sprechen sahen?" - Charouseks hohnisches
Ldcheln sagte mir, daYA er nur einen grimmigen SpaYA machte. - "Sie m'ssen
ndmlich wissen: Das Gluck ist mir hold; die Kanaille da unten fdngt an, mich
in ihr Herz zu schlieYAen, Meister Pernath. - - Es ist eine seltsame Sache,
das mit der Stimme des Blutes", setzte er leise - halb f'r sich - hinzu.
Ich verstand nicht, was er damit meinen konnte, und nahm an, ich hdtte
etwas 'berhcrt. Die ausgestandene Erregung zitterte noch zu stark in mir.
"Er wollte mir einen Mantel schenken", fuhr Charousek laut fort. "Ich
habe nat'rlich dankend abgelehnt. Mich brennt schon meine eigene Haut genug.
- Und dann hat er mir Geld aufgedrdngt."
"Sie haben es angenommen?!", wollte es mir herausfahren, aber ich hielt
noch rasch meine Zunge im Zaum.
Die Wangen des Studenten bekamen kreisrunde rote Flecken:
"Das Geld habe ich selbstverstdndlich angenommen."
Mir wurde ganz wirr im Kopf!
"- an - genommen?", stammelte ich.
"Ich hdtte nie gedacht, daYA man auf Erden eine so reine Freude
empfinden kann!" - Charousek hielt einen Augenblick inne und schnitt eine
Fratze. - "Ist es nicht ein erhebendes Gef'hl, im Haushalt der Natur
›M'tterchens Vorsehung‹ ckonomischen Finger allenthalben in Weisheit und
Umsicht walten zu sehen!?" - Er sprach wie ein Pastor und klimperte dabei
mit dem Geld in seiner Tasche, - "wahrlich, als hehre Pflicht empfinde ich
es, den Schatz, mir anvertraut von milder Hand, auf Heller und Pfennig
dereinst dem edelsten aller Zwecke zuzuf'hren."
War er betrunken? Oder wahnsinnig?
Charousek dnderte plctzlich den Ton:
"Es liegt eine satanische Komik darin, daYA Wassertrum sich die - Arznei
selber bezahlt. Finden Sie nicht?"
Eine Ahnung ddmmerte mir auf, was sich hinter Charouseks Rede verbarg,
und mir graute vor seinen fiebernden Augen.
"Xbrigens lassen wir das jetzt, Meister Pernath. Erledigen wir erst die
laufenden Geschdfte. Vorhin, die Dame, das war ›sie‹ doch? Was ist ihr denn
eingefallen, hier cffentlich vorzufahren?"
Ich erzdhlte Charousek, was geschehen war.
"Wassertrum hat bestimmt keine Beweise in den Hdnden", unterbrach er
mich freudig, "sonst hdtte er nicht heute morgen abermals das Atelier
durchsucht. - Merkw'rdig, daYA Sie ihn nicht gehcrt haben!? Eine volle Stunde
lang war er dr'ben."
Ich staunte, woher er alles so genau wissen kcnne, und sagte es ihm.
"Darf ich?" - als Erkldrung nahm er sich eine Zigarette vom Tisch,
z'ndete sie an und erlduterte: "Sehen Sie, wenn Sie jetzt die T'r cffnen,
bringt die Zugluft, die vom Stiegenhaus hereinweht, den Tabakrauch aus der
Richtung. Es ist das vielleicht das einzige Naturgesetz, das Herr Wassertrum
genau kennt, und f'r alle Fdlle hat er in der StraYAenmauer des Ateliers -
das Haus gehcrt ihm, wie Sie wissen - eine kleine, versteckte, offene Nische
anbringen lassen: eine Art Ventilation, und darin ein rotes Fdhnchen. Wenn
nun jemand das Zimmer betritt oder verldYAt, das heiYAt: die Zugt'r cffnet, so
merkt es Wassertrum unten an dem heftigen Flattern des Fdhnchens. Allerdings
weiYA ich es ebenfalls," setzte Charousek trocken hinzu, "wenn's mir drum zu
tun ist, und kann es von dem Kellerloch vis-a-vis, in dem zu hausen ein
gnddiges Schicksal mir huldreichst gestattet, genau beobachten. - Der
niedliche Scherz mit der Ventilation ist zwar ein Patent des w'rdigen
Patriarchen, aber auch mir seit Jahren geldufig."
"Was f'r einen 'bermenschlichen HaYA Sie gegen ihn haben m'ssen, daYA Sie
so jeden seiner Schritte belauern. Und noch dazu seit langem, wie Sie
sagen!" warf ich ein.
"HaYA?" Charousek ldchelte krampfhaft. "HaYA? - HaYA ist kein Ausdruck.
Das Wort, das meine Gef'hle gegen ihn bezeichnen kcnnte, muYA erst geschaffen
werden. - Ich hasse, genaugenommen, auch gar nicht ihn. Ich hasse sein Blut.
Verstehen Sie das? Ich wittere wie ein wildes Tier, wenn auch nur ein
Tropfen von seinem Blut in den Adern eines Menschen flieYAt, - und" - er biYA
die Zdhne zusammen - "das kommt ›zuweilen‹ vor hier im Getto." Unfdhig
weiter zu sprechen vor Aufregung lief er ans Fenster und starrte hinaus. -
Ich hcrte wie er sein Keuchen unterdr'ckte. Wir schwiegen beide eine Weile.
"Hallo, was ist denn das?" fuhr er plctzlich auf und winkte mir hastig:
"Rasch, rasch! Haben Sie nicht einen Operngucker oder so etwas?"
Wir spdhten vorsichtig hinter den Vorhdngen hinunter:
Der taubstumme Jaromir stand vor dem Eingang des Trcdlerladens und bot,
soviel wir aus seiner Zeichensprache erraten konnten, Wassertrum einen
kleinen blitzenden Gegenstand, den er in der Hand halb verbarg, zum Kauf an.
Wassertrum fuhr danach wie ein Geier und zog sich damit in seine Hchle
zur'ck.
Gleich darauf st'rzte er wieder hervor - totenblaYA - und packte Jaromir
an der Brust: Es entspann sich ein heftiges Ringen. - Mit einem Mal lieYA
Wassertrum los und schien zu 'berlegen. Nagte w'tend an seiner gespaltenen
Oberlippe. Warf einen gr'belnden Blick zu uns herauf und zog dann Jaromir am
Arm friedlich in seinen Laden.
Wir warteten wohl eine Viertelstunde lang: sie schienen nicht fertig
werden zu kcnnen mit ihrem Handel.
Endlich kam der Taubstumme mit befriedigter Miene wieder heraus und
ging seines Weges.
"Was halten Sie davon?", fragte ich. "Es scheint nichts Wichtiges zu
sein? Vermutlich hat der arme Bursche irgendeinen erbettelten Gegenstand
versilbert."
Der Student gab keine Antwort und setzte sich schweigend wieder an den
Tisch.
Offenbar legte auch er dem Geschehnis keine Bedeutung bei, denn er fuhr
nach einer Pause da fort, wo er stehen geblieben war:
"Ja. Also ich sagte, ich hasse sein Blut. - Unterbrechen Sie mich,
Meister Pernath, wenn ich wieder heftig werde. Ich will kalt bleiben. Ich
darf meine besten Empfindungen nicht so vergeuden. Es packt mich sonst
nachher wie Ern'chterung. Ein Mensch mit Schamgef'hl soll in k'hlen Worten
reden, nicht mit Pathos wie eine Prostituierte oder - oder ein Dichter. -
Seit die Welt steht, wdr's niemand eingefallen, vor Leid die ›Hdnde zu
ringen‹, wenn nicht die Schauspieler diese Geste als besonders ›plastisch‹
ausget'ftelt hdtten."
Ich begriff, daYA er mit Absicht blind drauflos redete, um innerlich
Ruhe zu bekommen.
Es wollte ihm nicht recht gelingen. Nervcs lief er im Zimmer auf und
ab, faYAte alle mcglichen Gegenstdnde an und stellte sie zerstreut zur'ck an
ihren Platz.
Dann war er mit einem Ruck wieder mitten in seinem Thema:
"Aus den kleinsten unwillk'rlichen Bewegungen eines Menschen verrdt
sich mir dieses Blut. Ich kenne Kinder, die ›ihm‹ dhnlich sehen und als
seine gelten, aber doch sind sie nicht vom selben Stamme - man kann mich
nicht tduschen. Jahrelang erfuhr ich nicht, daYA Dr. Wassory sein Sohn ist,
aber ich habe es - ich mcchte sagen - gerochen.
Schon als kleiner Junge, als ich noch nicht ahnen konnte, in welchen
Beziehungen Wassertrum zu mir steht," - sein Blick ruhte eine Sekunde
forschend auf mir, - "besaYA ich diese Gabe. Man hat mich mit F'YAen getreten,
mich geschlagen, daYA es wohl keine Stelle an meinem Kcrper gibt, die nicht
w'YAte, was rasender Schmerz ist, - hat mich hungern und dursten lassen, bis
ich halb wahnsinnig wurde und schimmlige Erde gefressen habe, aber niemals
konnte ich diejenigen hassen, die mich peinigten. Ich konnte einfach nicht.
Es war kein Platz mehr in mir f'r HaYA. - Verstehen Sie? Und doch war mein
ganzes Wesen getrdnkt damit.
Nie hat mir Wassertrum auch nur das geringste angetan - ich will damit
sagen, daYA er mich jemals weder geschlagen oder beworfen, noch auch
irgendwie beschimpft hat, wenn ich mich als Gassenjunge unten herumtrieb:
ich weiYA das genau, - und doch richtete sich alles, was an Rachsucht und Wut
in mir kochte, gegen ihn. Nur gegen ihn!
Merkw'rdig ist, daYA ich ihm trotzdem nie als Kind einen Schabernack
gespielt habe. Wenn's die andern taten, zog ich mich sofort zur'ck. Aber
stundenlang konnte ich im Torweg stehen und, hinter der Haust'r versteckt,
durch die Angelritzen sein Gesicht unverwandt anstieren, bis mir vor
unerkldrlichem HaYAgef'hl schwarz vor den Augen wurde.
Damals, glaube ich, habe ich den Grundstein zu dem Hellsehen gelegt,
das sofort in mir aufwacht, wenn ich mit Wesen, ja sogar mit Dingen in
Ber'hrung komme, die in Verbindung mit ihm stehen. Ich muYA wohl jede seiner
Bewegungen: seine Art, den Rock zu tragen und wie er Sachen anfaYAt, hustet
und trinkt, und all das Tausenderlei damals unbewuYAt auswendig gelernt
haben, bis sich's mir in die Seele fraYA, daYA ich 'berall die Spuren davon
auf den ersten Blick mit unfehlbarer Sicherheit als seine Erbst'cke erkennen
kann.
Spdter wurde das manchmal fast zur Manie: ich warf harmlose Gegenstdnde
von mir, bloYA weil mich der Gedanke qudlte, seine Hand kcnne sie ber'hrt
haben, - andere wieder waren mir ans Herz gewachsen; ich liebte sie wie
Freunde, die ihm Bcses w'nschten."
Charousek schwieg einen Moment. Ich sah, wie er geistesabwesend ins
Leere blickte. Seine Finger streichelten mechanisch die Feile auf dem Tisch.
"Als dann ein paar mitleidige Lehrer f'r mich gesammelt hatten und ich
Philosophie und Medizin studierte - auch nebenbei selbst denken lernte -, da
kam mir langsam die Erkenntnis, was HaYA ist:
Wir kcnnen nur etwas so tief hassen, wie ich es tue, was ein Teil von
uns selbst ist.
Und wie ich spdter dahinter kam, - nach und nach alles erfuhr: was
meine Mutter war - und - und noch sein muYA, wenn - wenn sie noch lebt, - und
daYA mein eigener Leib" - er wendete sich ab, damit ich sein Gesicht nicht
sehen sollte, - "voll ist von seinem eklen Blut - nun ja, Pernath, - warum
sollen Sie's nicht wissen: er ist mein Vater! - da wurde mir klar, wo die
Wurzel lag. - - - Zuweilen kommt's mir sogar wie ein geheimnisvoller
Zusammenhang vor, daYA ich schwinds'chtig bin und Blut spucken muYA: mein
Kcrper wehrt sich gegen alles, was von ›ihm‹ ist, und stcYAt es mit Abscheu
von sich.
Oft hat mich mein HaYA bis in den Traum begleitet und zu trcsten gesucht
mit Geschichten von allen nur erdenklichen Foltern, die ich ›ihm‹ zuf'gen
durfte, aber immer verscheuchte ich sie selber, weil sie den faden
Beigeschmack des - Unbefriedigtseins in mir hinterlieYAen.
Wenn ich 'ber mich selbst nachdenke und mich wundern muYA, daYA es so gar
niemanden und nichts auf der Welt gibt, was ich zu hassen, - ja nicht einmal
als antipathisch zu empfinden imstande wdre, auYAer ›ihn‹ und seinen Stamm, -
beschleicht mich oft das widerliche Gef'hl: ich kcnnte das sein, was man
einen ›guten Menschen‹ nennt. Aber zum Gl'ck ist es nicht so. - Ich sagte
Ihnen schon: es ist kein Platz mehr in mir.
Und glauben Sie nur ja nicht, daYA ein trauriges Schicksal mich
verbittert hat: (Was er meiner Mutter angetan hat, erfuhr ich 'berdies erst
in spdteren Jahren) - ich habe einen Freudentag erlebt, der weit in den
Schatten stellt, was sonst einem Sterblichen vergcnnt ist. Ich weiYA nicht,
ob Sie kennen, was innere, echte, heiYAe Frcmmigkeit ist, - ich hatte es bis
dahin auch nicht gekannt - als ich aber an jenem Tage, an dem Wassory sich
selbst ausgerottet hat, am Laden unten stand und sah, wie ›er‹ die Nachricht
bekam, - sie ›stumpfsinnig‹, wie ein Laie, der die echte B'hne des Lebens
nicht kennt, hdtte glauben m'ssen, - hinnahm, wohl eine Stunde lang
teilnahmslos stehen blieb, seine blutrote Hasenscharte nur ein ganz klein
biYAchen hcher 'ber die Zdhne gezogen als sonst und den Blick so gewiYA - - so
- so - so eigenartig nach innen gekehrt, - - - - da f'hlte ich den
Weihrauchduft von den Schwingen des Erzengels. - - Kennen Sie das Gnadenbild
der schwarzen Muttergottes in der Teinkirche? Dort warf ich mich nieder und
die Finsternis des Paradieses h'llte meine Seele ein." -
- - - Wie ich Charousek so dastehen sah, die groYAen, trdumerischen
Augen voll Trdnen, da fielen mir Hillels Worte ein von der Unbegreiflichkeit
des dunklen Pfades, den die Br'der des Todes gehen.
Charousek fuhr fort:
"Die duYAeren Umstande, die meinen HaYA ›rechtfertigen‹ oder in den
Gehirnen der amtlich besoldeten Richter begreiflich erscheinen lassen
kcnnten, werden Sie vielleicht gar nicht interessieren: - Tatsachen sehen
sich an wie Meilensteine und sind doch nur leere Eierschalen. Sie sind das
aufdringliche Knallen der Champagnerpfropfen an den Tafeln der Protzen, das
nur der Schwachsinnige f'r das Wesentliche eines Gelages hdlt. - Wassertrum
hat meine Mutter mit all den infernalischen Mitteln, die seinesgleichen
Gewohnheit sind, gezwungen, ihm zu Willen zu sein, - wenn es nicht noch viel
schlimmer war. Und dann - - nun ja - und dann hat er sie an - ein
Freudenhaus verkauft, - - - so etwas ist nicht schwer, wenn man Polizeirdte
zu Geschdftsfreunden hat, - aber nicht etwa, weil er ihrer 'berdr'ssig
gewesen wdre, o nein! Ich kenne die Schlupfwinkel seines Herzens: an dem
Tage hat er sie verkauft, wo er sich voll Schrecken bewuYAt wurde, wie heiYA
er sie in Wirklichkeit liebte. So einer wie er handelt da scheinbar
widersinnig, aber immer gleich. Das Hamsterhafte in seinem Wesen quietscht
auf, sowie jemand kommt und kauft ihm irgend etwas ab aus seiner Trcdlerbude
gegen noch so teures Geld: er empfindet nur den Zwang des ›Hergebenm'ssens‹.
Er mcchte den Begriff ›haben‹ am liebsten in sich hineinfressen und kcnnte
er sich 'berhaupt ein Ideal ausdenken, so wdr's das, sich dereinst in den
abstrakten Begriff ›Besitz‹ aufzulcsen. - -
Und da ist es damals riesengroYA in ihm gewachsen bis zu einem Berg von
Angst: "seiner selbst nicht mehr sicher" zu sein, - nicht: etwas an Liebe
geben zu wollen, sondern geben zu m'ssen: die Gegenwart eines Unsichtbaren
in sich zu ahnen, das seinen Willen oder das, von dem er mcchte, daYA es sein
Wille sein sollte, heimlich in Fesseln schlug. - So war der Anfang. Was dann
folgte, geschah automatisch. Wie der Hecht mechanisch zubeiYAen muYA, - ob er
will oder nicht - wenn ein blitzender Gegenstand zu rechter Zeit
vor'berschwimmt.
Das Verschachern meiner Mutter ergab sich f'r Wassertrum als nat'rliche
Folge. Es befriedigte den Rest der in ihm schlummernden Eigenschaften: die
Gier nach Gold und die perverse Wonne an der Selbstqual. - - - Verzeihen
Sie, Meister Pernath," - Charouseks Stimme klang plctzlich so hart und
n'chtern, daYA ich erschrak, - "verzeihen Sie, daYA ich so furchtbar gescheit
daherrede, aber wenn man an der Universitdt ist, kommt einem eine Menge
vertrottelter B'cher unter die Hdnde; unwillk'rlich verfdllt man dann in
eine teppenhafte Ausdrucksweise." -
Ich zwang mich ihm zu Gefallen zu einem Ldcheln; innerlich verstand ich
gar wohl, daYA er mit dem Weinen kdmpfte.
Irgendwie muYA ich ihm helfen, 'berlegte ich, wenigstens seine bitterste
Not zu lindern versuchen, soweit das in meiner Macht steht. Ich nahm
unauffdllig die Hundertguldennote, die ich noch zu Hause hatte, aus der
Kommodenschublade und steckte sie in die Tasche.
"Wenn Sie spdter einmal in eine bessere Umgebung kommen und Ihren Beruf
als Arzt aus'ben, wird Frieden bei Ihnen einziehen, Herr Charousek"; sagte
ich, um dem Gesprdch eine verschnliche Richtung zu geben, - "machen Sie bald
Ihr Doktorat?"
"Demndchst. Ich bin es meinen Wohltdtern schuldig. Zweck hat's ja
keinen, denn meine Tage sind gezdhlt."
Ich wollte den 'blichen Einwand machen, daYA er doch wohl zu schwarz
sehe, aber erwehrte ldchelnd ab:
"Es ist das beste so. Es muYA 'berdies kein Vergn'gen sein, den
Heilkomcdianten zu mimen und sich zu guterletzt noch als diplomierter
Brunnenvergifter einen Adelstitel zuzuziehen. - - Andererseits", setzte er
mit seinem galligen Humor hinzu, "wird mir leider jedes weitere segensreiche
Wirken hier im Diesseits-Getto ein f'r allemal abgeschnitten sein." Er griff
nach seinem Hut. "Jetzt will ich aber nicht langer stcren. Oder wdre noch
etwas zu besprechen in der Angelegenheit Savioli? Ich denke nicht. Lassen
Sie mich jedenfalls wissen, wenn Sie etwas Neues erfahren. Am besten, Sie
hdngen einen Spiegel hier ans Fenster, als Zeichen, daYA ich Sie besuchen
soll. Zu mir in den Keller d'rfen Sie auf keinen Fall kommen: Wassertrum
wurde sofort Verdacht schcpfen, daYA wir zusammenhalten. - Ich bin 'brigens
sehr neugierig, was er jetzt tun wird, wo er gesehen hat, daYA die Dame zu
Ihnen gekommen ist. Sagen Sie ganz einfach, sie hdtte Ihnen ein Schmuckst'ck
zu reparieren gebracht, und wenn er zudringlich wird, spielen Sie eben den
Rabiaten."
Es wollte sich keine passende Gelegenheit ergeben, Charousek die
Banknote aufzudrdngen; ich nahm daher das Modellierwachs wieder vom
Fensterbrett und sagte: "Kommen Sie, ich begleite Sie ein St'ck die Treppen
hinunter. - Hillel erwartet mich", log ich.
Er stutzte:
"Sie sind mit ihm befreundet?"
"Ein wenig. Kennen Sie ihn? - - Oder miYAtrauen Sie ihm", - ich muYAte
unwillk'rlich ldcheln - "vielleicht auch?"
"Da sei Gott vor!"
"Warum sagen Sie das so ernst?"
Charousek zcgerte und dachte nach:
"Ich weiYA selbst nicht warum. Es muYA etwas UnbewuYAtes sein: so oft ich
ihm auf der StraYAe begegne, mcchte ich am liebsten vom Pflaster
heruntertreten und das Knie beugen wie vor einem Priester, der die Hostie
trdgt. - Sehen Sie, Meister Pernath, da haben Sie einen Menschen, der in
jedem Atom das Gegenteil von Wassertrum ist. Er gilt z. B. bei den Christen
hier im Viertel, die, wie immer, so auch in diesem Fall falsch informiert
sind, als Geizhals und heimlicher Milliondr und ist doch unsagbar arm."
Ich fuhr entsetzt auf: "arm?"
"Ja, womcglich noch armer als ich. Das Wort ›nehmen‹ kennt er, glaub'
ich, 'berhaupt nur aus B'chern; aber wenn er am Ersten des Monats aus dem
›Rathaus‹ kommt, dann laufen die j'dischen Bettler vor ihm davon, weil sie
wissen, er w'rde dem ndchsten besten von ihnen seinen ganzen kdrglichen
Gehalt in die Hand dr'cken und ein paar Tage spdter - samt seiner Tochter
selber verhungern. - Wenn's wahr ist, was eine uralte talmudische Legende
behauptet: daYA von den zwclf j'dischen Stdmmen zehn verflucht sind und zwei
hellig, so verkcrpert er die zwei heiligen und Wassertrum alle zehn andern
zusammen. - Haben Sie noch nie bemerkt, wie Wassertrum sdmtliche Farben
spielt, wenn Hillel an ihm vor'ber geht? Interessant, sag' ich Ihnen! Sehen
Sie, solches Blut kann sich gar nicht vermischen; da kamen die Kinder tot
zur Welt. Vorausgesetzt, daYA die M'tter nicht schon fr'her vor Entsetzen
st'rben. - Hillel ist 'brigens der einzige, an den sich Wassertrum nicht
herantraut; - er weicht ihm aus wie dem Feuer. Vermutlich, weil Hillel das
Unbegreifliche, das vollkommen Unentrdtselbare, f'r ihn bedeutet. Vielleicht
wittert er in ihm auch den Kabballsten."
Wir gingen bereits die Stiegen hinab.
"Glauben Sie, daYA es heutzutage noch Kabballsten gibt - daYA 'berhaupt
an der Kabbala etwas sein konnte?", fragte ich, gespannt, was er wohl
antworten w'rde, aber er schien nicht zugehcrt zu haben.
Ich wiederholte meine Frage.
Hastig lenkte er ab und deutete auf eine T'r des Treppenhauses, die aus
Kistendeckeln zusammengenagelt war:
"Sie haben da neue Mitbewohner bekommen, eine zwar j'dische aber arme
Familie: den meschuggenen Musikanten Nephtali Schaffranek mit Tochter,
Schwiegersohn und Enkelkindern. Wenn's dunkel wird und er allein ist mit den
kleinen Mddchen, kommt der Rappel 'ber ihn: dann bindet er sie an den Daumen
zusammen, damit sie ihm nicht davonlaufen, zwdngt sie in einen alten
H'hnerkdfig und unterweist sie im ›Gesang‹, wie er es nennt, damit sie
spdter ihren Lebensunterhalt selbst erwerben kcnnen, - das heiYAt, er lehrt
sie die verr'cktesten Lieder, die es gibt, deutsche Texte, Bruchst'cke, die
er irgendwo aufgeschnappt hat und im Ddmmer seines Seelenzustandes f'r -
preuYAische Schlachthymnen oder dergleichen hdlt."
Wirklich tcnte da eine sonderbare Musik leise auf den Gang heraus. Ein
Fiedelbogen kratzte f'rchterlich hoch und immerwdhrend in ein und demselben
Ton die Umrisse eines Gassenhauers, und zwei fadend'nne Kinderstimmen sangen
dazu:
"Frau Pick,
Frau Hock,
Frau Kle - pe - tarsch,
se stehen beirenond
und schmusen allerhond - -"
Es war wie Wahnwitz und Komik zugleich, und ich muYAte wider Willen
hellaut auflachen.
"Schwiegersohn Schaffranek - seine Frau verkauft auf dem Eiermarkt
Gurkensaft gldschenweise an die Schuljugend - lduft den ganzen Tag in den
B'ros herum", fuhr Charousek grimmig fort, "und erbettelt sich alte
Briefmarken. Die sortiert er dann, und wenn er welche darunter findet, die
zufdllig nur am Rande gestempelt sind, so legt er sie aufeinander und
schneidet sie durch. Die ungestempelten Hdlften klebt er zusammen und
verkauft sie als neu. Anfangs bl'hte das Geschdft und warf manchmal fast
einen - Gulden im Tag ab, aber schlieYAlich kamen die Prager j'dischen
GroYAindustriellen dahinter - und machen es jetzt selber. Sie schcpfen den
Rahm ab."
"W'rden Sie Not lindern, Charousek, wenn Sie 'berfl'ssiges Geld
hdtten?" fragte ich rasch. - Wir standen vor Hillels T'r und ich klopfte an.
"Halten Sie mich f'r so gemein, daYA Sie glauben kcnnen, ich tdte es
nicht?", fragte er verbl'fft zur'ck.
Mirjams Schritte kamen ndher, und ich wartete, bis sie die Klinke
niederdr'ckte, dann schob ich ihm rasch die Banknote in die Tasche:
"Nein, Herr Charousek, ich halte Sie nicht daf'r, aber mich m'YAten Sie
f'r gemein halten, wenn ich's unterlieYAe."
Ehe er etwas erwidern konnte, hatte ich ihm die Hand gesch'ttelt und
die T'r hinter mir zugezogen. Wdhrend mich Mirjam begr'YAte, lauschte ich,
was er tun w'rde.
Er blieb eine Weile stehen, dann schluchzte er leise auf und ging
langsam mit suchendem Schritt die Treppe hinunter. Wie jemand, der sich am
Geldnder halten muYA. - - -
Es war das erste Mal, daYA ich Hillels Zimmer besuchte.
Es sah schmucklos aus wie ein Gefdngnis. Der Boden peinlich sauber und
mit weiYAem Sand bestreut. Nichts an Mcbeln als zwei St'hle und ein Tisch und
eine Kommode. Ein Holzpostament je links und rechts an den Wdnden. - - -
Mirjam saYA mir gegen'ber am Fenster, und ich bossierte an meinem
Modellierwachs.
"MuYA man denn ein Gesicht vor sich haben, um die Dhnlichkeit zu
treffen?", fragte sie sch'chtern und nur, um die Stille zu unterbrechen.
Wir wichen einander scheu mit den Blicken aus. Sie wuYAte nicht, wohin
die Augen richten in ihrer Qual und Scham 'ber die jammervolle Stube, und
mir brannten die Wangen von innerem Vorwurf, daYA ich mich nicht ldngst darum
gek'mmert hatte, wie sie und ihr Vater lebten.
Aber irgend etwas muYAte ich doch antworten!
"Nicht so sehr, um die Dhnlichkeit zu treffen, als um zu vergleichen,
ob man innerlich auch richtig gesehen hat", - ich f'hlte, noch wdhrend ich
sprach, wie grundfalsch das alles war, was ich sagte.
Jahrelang hatte ich den irrigen Grundsatz der Maler, man m'sse die
duYAere Natur studieren, um k'nstlerisch schaffen zu kcnnen, stumpfsinnig
nachgebetet und befolgt; erst, seit Hillel mich in jener Nacht erweckt, war
mir das innere Schauen aufgegangen: das wahre Sehenkcnnen hinter
geschlossenen Lidern, das sofort erlischt, wenn man die Augen aufschldgt, -
die Gabe, die sie alle zu haben glauben und die doch unter Millionen keiner
wirklich besitzt.
Wie konnte ich auch nur von der Mcglichkeit sprechen, die unfehlbare
Richtschnur der geistigen Vision an den groben Mitteln des Augenscheins
nachmessen zu wollen!
Mirjam schien Dhnliches zu denken, nach dem Erstaunen in ihren Mienen
zu schlieYAen.
"Sie d'rfen es nicht so wcrtlich nehmen", entschuldigte ich mich.
Voll Aufmerksamkeit sah sie zu, wie ich mit dem Griffel die Form
vertiefte.
"Es muYA unendlich schwer sein, alles dann haargenau auf Stein zu
'bertragen?"
"Das ist nur mechanische Arbeit. So ziemlich wenigstens."
Pause.
"Darf ich die Gemme sehen, wenn sie fertig ist?" fragte sie.
"Sie ist doch f'r Sie bestimmt, Mirjam."
"Nein, nein; das geht nicht, - - das - das - -", - ich sah, wie ihre
Hdnde nervcs wurden.
"Nicht einmal diese Kleinigkeit wollen Sie von mir annehmen?",
unterbrach ich sie schnell, "ich wollte, ich d'rfte mehr f'r Sie tun."
Hastig wandte sie das Gesicht ab.
Was hatte ich da gesagt! Ich muYAte sie aufs tiefste verletzt haben. Es
hatte geklungen, als wollte ich auf ihre Armut anspielen.
Konnte ich es noch beschcnigen? Wurde es dann nicht weit schlimmer?
Ich nahm einen Anlauf:
"Hcren Sie mich ruhig an, Mirjam! Ich bitte Sie darum. - Ich schulde
Ihrem Vater so unendlich viel, - Sie kcnnen das gar nicht ermessen - -"
Sie sah mich unsicher an; verstand offenbar nicht.
"-ja ja: unendlich viel. Mehr als mein Leben."
"Weil er Ihnen damals beistand, als Sie ohnmdchtig waren? Das war doch
selbstverstdndlich."
Ich f'hlte: sie wuYAte nicht, welches Band mich mit ihrem Vater
verkn'pfte. Vorsichtig sondierte ich, wie weit ich gehen durfte, ohne zu
verraten, was er ihr verschwieg.
"Weit hcher als duYAere Hilfe, dachte ich, ist die innere zu stellen. -
Ich meine die, die aus dem geistigen EinfluYA eines Menschen auf den andern
'berstrahlt. - Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Mirjam? - Man kann
jemand auch seelisch heilen, nicht nur kcrperlich, Mirjam."
"Und das hat - -?"
"Ja, das hat Ihr Vater an mir getan!" - ich faYAte sie an der Hand, -
"begreifen Sie nicht, daYA es mir da ein Herzenswunsch sein muYA, wenn schon
nicht ihm, so doch jemand, der ihm so nahesteht, wie Sie, irgendeine Freude
zu bereiten? - Haben Sie nur ein ganz klein wenig Vertrauen zu mir! - Gibt's
denn gar keinen Wunsch, den ich Ihnen erf'llen kcnnte?"
Sie sch'ttelte den Kopf: "Sie glauben, ich f'hle mich ungl'cklich
hier?"
"GewiYA nicht. Aber vielleicht haben Sie zuweilen Sorgen, die ich Ihnen
abnehmen konnte? Sie sind verpflichtet - hcren Sie! - verpflichtet, mich
daran teilnehmen zu lassen! Warum leben Sie denn beide hier in der finstern
traurigen Gasse, wenn Sie nicht m'YAten? Sie sind noch so jung, Mirjam, und -
-"
"Sie leben doch selbst hier, Herr Pernath", unterbrach sie mich
ldchelnd, "was fesselt Sie an das Haus?"
Ich stutzte. - Ja. Ja, das war richtig. Warum lebte ich eigentlich
hier? Ich konnte es mir nicht erkldren, was fesselt dich an das Haus?
wiederholte ich mir geistesabwesend. Ich konnte keine Erkldrung finden und
vergaYA einen Augenblick ganz, wo ich war. - Dann stand ich plctzlich
entr'ckt irgendwo hoch oben - in einem Garten - roch den zauberhaften Duft
von bl'henden Holunderdolden, - sah herab auf die Stadt - - -
"Habe ich eine Wunde ber'hrt? Hab' ich Ihnen weh getan?", kam Mirjams
Stimme von weit, weit her zu mir.
Sie hatte sich 'ber mich gebeugt und sah mir dngstlich forschend ins
Gesicht.
Ich muYAte wohl lange starr dagesessen haben, daYA sie so besorgt war.
Eine Weile schwankte es hin und her in mir, dann brach sich's plctzlich
gewaltsam Bahn, 'berflutete mich, und ich sch'ttete Mirjam mein ganzes Herz
aus.
Ich erzdhlte ihr, wie einem lieben, alten Freund, mit dem man sein
ganzes Leben beisammen war und vor dem man kein Geheimnis hat, wie's um mich
stand und auf welche Weise ich aus einer Erzdhlung Zwakhs erfahren hatte,
daYA ich in fr'heren Jahren wahnsinnig gewesen und der Erinnerung an meine
Vergangenheit beraubt worden war, - wie in letzter Zeit Bilder in mir wach
geworden, die in jenen Tagen wurzeln muYAten, immer hdufiger und hdufiger,
und daYA ich vor dem Moment zitterte, wo mir alles offenbar werden und mich
von neuem zerreiYAen w'rde.
Nur, was ich mit ihrem Vater in Zusammenhang bringen muYAte: - meine
Erlebnisse in den unterirdischen Gdngen und all das 'brige, verschwieg ich
ihr.
Sie war dicht zu mir ger'ckt und hcrte mit einer tiefen atemlosen
Teilnahme zu, die mir unsdglich wohl tat.
Endlich hatte ich einen Menschen gefunden, mit dem ich mich aussprechen
konnte, wenn mir meine geistige Einsamkeit zu schwer wurde. - GewiYA wohl:
Hillel war ja noch da, aber f'r mich nur wie ein Wesen jenseits der Wolken,
das kam und verschwand wie ein Licht, an das ich nicht herankonnte, wenn ich
mich sehnte.
Ich sagte es ihr und sie verstand mich. Auch sie sah ihn so, trotzdem
er ihr Vater war.
Er hing mit unendlicher Liebe an ihr und sie an ihm - "und doch bin ich
wie durch eine Glaswand von ihm getrennt," vertraute sie mir an, "die ich
nicht durchbrechen kann. Solange ich denke, war es so. - Wenn ich ihn als
Kind im Traum an meinem Bette stehen sah, immer trug er das Gewand des
Hohenpriesters: die goldene Tafel des Moses mit den 12 Steinen darin auf der
Brust, und blaue leuchtende Strahlen gingen von seinen Schldfen aus. - Ich
glaube, seine Liebe ist von der Art, die 'bers Grab hinausgeht, und zu groYA,
als daYA wir sie fassen kcnnten. - Das hat auch meine Mutter immer gesagt,
wenn wir heimlich 'ber ihn sprachen." - - Sie schauderte plctzlich und
zitterte am ganzen Leib. Ich wollte aufspringen, aber sie hielt mich zur'ck:
"Seien Sie ruhig, es ist nichts. BloYA eine Erinnerung. Als meine Mutter
starb - nur ich weiYA, wie er sie geliebt hat, ich war damals noch ein
kleines Mddchen, - glaubte ich vor Schmerz ersticken zu m'ssen, und ich lief
zu ihm hin und krallte mich in seinen Rock und wollte aufschreien und konnte
doch nicht, weil alles geldhmt war in mir - und - und da - - - - mir lauft's
wieder eiskalt 'ber den R'cken, wenn ich daran denke - sah er mich ldchelnd
an, k'YAte mich auf die Stirn und fuhr mir mit der Hand 'ber die Augen. - - -
- Und von dem Moment an bis heute war jedes Leid, daYA ich meine Mutter
verloren hatte, wie ausgetilgt in mir. Nicht eine Trdne konnte ich
vergieYAen, als sie begraben wurde; ich sah die Sonne als strahlende Hand
Gottes am Himmel stehen und wunderte mich, warum die Menschen weinten. Mein
Vater ging hinter dem Sarge her, neben mir, und wenn ich aufblickte,
ldchelte er jedesmal leise und ich f'hlte, wie das Entsetzen durch die Menge
fuhr, als sie es sahen."
"Und sind Sie gl'cklich, Mirjam? Ganz gl'cklich? Liegt nicht zugleich
etwas Furchtbares f'r Sie in dem Gedanken, ein Wesen zum Vater zu haben, das
hinausgewachsen ist 'ber alles Menschentum?", fragte ich leise.
Mirjam sch'ttelte freudig den Kopf:
"Ich lebe wie in einem seligen Schlaf dahin. - Als Sie mich vorhin
fragten, Herr Pernath, ob ich nicht Sorgen hdtte und warum wir hier wohnten,
muYAte ich fast lachen. Ist denn die Natur schcn? Nun ja, die Bdume sind gr'n
und der Himmel ist blau, aber das alles kann ich mir viel schcner
vorstellen, wenn ich die Augen schlieYAe. MuYA ich denn, um sie zu sehen, auf
einer Wiese sitzen? - Und das biYAchen Not und - und - und Hunger? Das wird
tausendfach aufgewogen durch die Hoffnung und das Warten."
"Das Warten?", fragte ich erstaunt.
"Das Warten auf ein Wunder. Kennen Sie das nicht? Nein? Da sind Sie
aber ein ganz, ganz armer Mensch. - DaYA das so wenige kennen?! Sehen Sie,
das ist auch der Grund, weshalb ich nie ausgehe und mit niemand verkehre.
Ich hatte wohl fr'her ein paar Freundinnen - J'dinnen nat'rlich, wie ich -,
aber wir redeten immer aneinander vorbei; sie verstanden mich nicht und ich
sie nicht. Wenn ich von Wundern sprach, glaubten sie anfangs, ich mache
SpaYA, und als sie merkten, wie ernst es mir war und daYA ich auch unter
Wundern nicht das verstand, was die Deutschen mit ihren Brillen so
bezeichnen: das gesetzmdYAige Wachsen des Grases und dergleichen, sondern
eher das Gegenteil, - hdtten sie mich am liebsten f'r verr'ckt gehalten,
aber dagegen stand ihnen wieder im Wege, daYA ich ziemlich gelenkig bin im
Denken, hebrdisch und aramdisch gelernt habe, die Targumim und Midraschim
lesen kann, und was dergleichen Nebensdchlichkeiten mehr sind. SchlieYAlich
fanden sie ein Wort, das 'berhaupt nichts mehr ausdr'ckt: sie nannten mich
›'berspannt‹.
Wenn ich ihnen dann klarmachen wollte, daYA das Bedeutsame - das
Wesentliche - f'r mich in der Bibel und anderen heiligen Schriften das
Wunder und bloYA das Wunder sei und nicht Vorschriften 'ber Moral und Ethik,
die nur versteckte Wege sein kcnnen, um zum Wunder zu gelangen, - so wuYAten
sie nur mit Gemeinpldtzen zu erwidern, denn sie scheuten sich, offen
einzugestehen, daYA sie aus den Religionsschriften nur das glaubten, was
ebensogut im b'rgerlichen Gesetzbuch stehen kcnnte. Wenn sie das Wort
›Wunder‹ nur hcrten, wurde ihnen schon unbehaglich. Sie verlcren den Boden
unter den F'YAen, sagten sie.
Als ob es etwas Herrlicheres geben kcnnte, als den Boden unter den
F'YAen zu verlieren!
Die Welt ist dazu da, um von uns kaputt gedacht zu werden, hcrte ich
einmal meinen Vater sagen, - dann, dann erst fdngt das Leben an. - Ich weiYA
nicht, was er mit dem ›Leben‹ meinte, aber ich f'hle zuweilen, daYA ich eines
Tages so wie: ›erwachen‹ werde. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, in
welchen Zustand hinein. Und Wunder m'ssen dem vorhergehen, denke ich mir
immer.
›Hast du denn schon welche erlebt, daYA du fortwdhrend darauf wartest?‹
fragten mich oft meine Freundinnen, und wenn ich verneinte, wurden sie
plctzlich froh und siegesgewiYA. Sagen Sie, Herr Pernath, kcnnen Sie solche
Herzen verstehen? DaYA ich doch Wunder erlebt habe, wenn auch nur kleine, -
winzig kleine -", - Mirjams Augen gldnzten, - "wollte ich ihnen nicht
verraten, - - -"
Ich hcrte, wie Freudentrdnen ihre Stimme fast erstickten.
"- aber Sie werden mich verstehen: oft, Wochen, ja Monate", - Mirjam
wurde ganz leise - "haben wir nur von Wundern gelebt. Wenn gar kein Brot
mehr im Hause war, aber auch nicht ein Bissen mehr, dann wuYAte ich: jetzt
ist die Stunde da! - Und dann saYA ich hier und wartete und wartete, bis ich
vor Herzklopfen kaum mehr atmen konnte. Und - und dann, wenn's mich
plctzlich zog, lief ich hinunter und kreuz und quer durch die StraYAen, so
rasch ich konnte, um rechtzeitig wieder im Hause zu sein, ehe mein Vater
heimkam. Und - und jedesmal fand ich Geld. Einmal mehr, einmal weniger, aber
immer soviel, daYA ich das Nctigste einkaufen konnte. Oft lag ein Gulden
mitten auf der StraYAe; ich sah ihn von weitem blitzen und die Leute traten
darauf, rutschten aus dar'ber, aber keiner bemerkte ihn. - Das machte mich
zuweilen so 'berm'tig, daYA ich gar nicht erst ausging, sondern nebenan in
der K'che den Boden durchsuchte wie ein Kind, ob nicht Geld oder Brot vom
Himmel gefallen sei."
- Ein Gedanke schoYA mir durch den Kopf, und ich muYAte aus Freude
dar'ber ldcheln. -
Sie sah es.
"Lachen Sie nicht, Herr Pernath", flehte sie. "Glauben Sie mir, ich
weiYA, daYA diese Wunder wachsen werden und daYA sie eines Tages -"
Ich beruhigte sie: "Aber ich lache doch nicht, Mirjam! Was denken Sie
denn! Ich bin unendlich gl'cklich, daYA Sie nicht sind wie die andern, die
hinter jeder Wirkung die gewohnte Ursache suchen und bocken, wenn's - wir
rufen in solchen Fallen: Gott sei Dank! - einmal anders kommt."
Sie streckte mir die Hand hin:
"Und nicht wahr, Sie werden nie mehr sagen, Herr Pernath, daYA Sie mir -
oder uns - helfen wollen? Jetzt, wo Sie wissen, daYA Sie mir die Mcglichkeit,
ein Wunder zu erleben, rauben w'rden, wenn Sie es tdten?"
Ich versprach es. Aber im Herzen machte ich einen Vorbehalt.
Da ging die T'r und Hillel trat ein.
Mirjam umarmte ihn; und er begr'YAte mich. Herzlich und voll
Freundschaft, aber wieder mit dem k'hlen "Sie".
Auch schien etwas wie leise M'digkeit oder Unsicherheit auf ihm zu
lasten. - Oder irrte ich mich?
Vielleicht kam es nur von der Ddmmerung, die in der Stube lag.
"Sie sind gewiYA hier, mich um Rat zu fragen", fing er an, als Mirjam
uns allein gelassen hatte, "in der Sache, die die fremde Dame betrifft - -?"
Ich wollte ihn verwundert unterbrechen, aber er fiel mir in die Rede:
"Ich weiYA es von dem Studenten Charousek. Ich sprach ihn auf der Gasse
an, weil er mir merkw'rdig verdndert vorkam. Er hat mir alles erzdhlt. In
der Xberf'lle seines Herzens. Auch, daYA - Sie ihm Geld geschenkt haben." Er
sah mich durchdringend an und betonte jedes seiner Worte auf hcchst seltsame
Weise, aber ich verstand nicht, was er damit wollte:
"GewiYA, es hat dadurch ein paar Tropfen Gl'ck mehr vom Himmel geregnet
- und - und in diesem - Fall hat's vielleicht auch nicht geschadet, aber -,"
er dachte eine Weile nach, - "aber manchmal schafft man sich und anderen nur
Leid damit. Gar so leicht ist das Helfen nicht, wie Sie denken, mein lieber
Freund! Da wdre es sehr, sehr einfach, die Welt zu erlcsen. - Oder glauben
Sie nicht?"
"Geben Sie denn nicht auch den Armen? Oft alles, was Sie besitzen,
Hillel?", fragte ich.
Er sch'ttelte ldchelnd den Kopf: "Mir scheint, Sie sind 'ber Nacht ein
Talmudist geworden, daYA Sie eine Frage wieder mit einer Frage beantworten.
Da ist freilich schwer streiten."
Er hielt inne, als ob ich darauf antworten sollte, aber wiederum
verstand ich nicht, worauf er eigentlich wartete.
"Xbrigens, um zu dem Thema zur'ckzukommen", fuhr er in verdndertem Tone
fort, "ich glaube nicht, daYA Ihrem Sch'tzling - ich meine die Dame -
augenblicklich Gefahr droht. Lassen Sie die Dinge an sich herantreten. Es
heiYAt zwar: ›der kluge Mann baut vor‹, aber der Kl'gere, scheint mir, wartet
ab und ist auf alles gefaYAt. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, daYA
Aaron Wassertrum mit mir zusammentrifft, aber das muYA dann von ihm ausgehen,
- ich tue keinen Schritt, er muYA her'berkommen. Ob zu Ihnen oder zu mir, ist
gleichg'ltig - und dann will ich mit ihm reden. An ihm wird's sein, sich zu
entscheiden, ob er meinen Rat befolgen will oder nicht. Ich wasche meine
Hdnde in Unschuld."
Ich versuchte dngstlich in seinem Gesicht zu lesen. So kalt und
eigent'mlich drohend hatte er noch nie gesprochen. Aber hinter diesem
schwarzen, tiefliegenden Auge schlief ein Abgrund.
"Es ist wie eine Glaswand zwischen ihm und uns", fielen mir Mirjams
Worte ein.
Ich konnte ihm nur wortlos die Hand dr'cken und - gehen.
Er begleitete mich bis vor die T're und, als ich die Treppe hinaufging
und mich noch einmal umdrehte, sah ich, daYA er stehen geblieben war und mir
freundlich nachwinkte, aber wie jemand, der noch gern etwas sagen mcchte und
nicht kann.
Ich hatte die Absicht, mir Mantel und Stock zu holen und in die kleine
Wirtsstube "Zum alten Ungelt" essen zu gehen, wo allabendlich Zwakh,
Vrieslander und Prokop bis spdt in die Nacht beisammen saYAen und einander
verr'ckte Geschichten erzdhlten; aber kaum betrat ich mein Zimmer, da fiel
der Vorsatz von mir ab, - wie wenn mir Hdnde ein Tuch oder sonst etwas, was
ich am Leibe getragen, abgerissen hdtten.
Es lag eine Spannung in der Luft, 'ber die ich mir keine Rechenschaft
geben konnte, die aber trotzdem vorhanden war wie etwas Greifbares und sich
im Verlauf weniger Sekunden derart heftig auf mich 'bertrug, daYA ich vor
Unruhe anfangs kaum wuYAte, was ich zuerst tun sollte: Licht anz'nden, hinter
mir abschlieYAen, mich niedersetzen oder auf und ab gehen.
Hatte sich jemand in meiner Abwesenheit eingeschlichen und versteckt?
War's die Angst eines Menschen vor dem Gesehenwerden, die mich ansteckte?
War Wassertrum vielleicht hier?
Ich griff hinter die Gardinen, cffnete den Schrank, tat einen Blick ins
Nebenzimmer: - niemand.
Auch die Kassette stand unverr'ckt an ihrem Platz.
Ob es nicht am besten war, ich verbrannte die Briefe kurz entschlossen,
um ein f'r allemal die Sorge um sie los zu sein?
Schon suchte ich nach dem Schl'ssel in meiner Westentasche - aber muYAte
es denn jetzt geschehen? Es blieb mir doch Zeit genug bis morgen fr'h.
Erst Licht machen!
Ich konnte die Streichhclzer nicht finden.
War die T'r abgesperrt? - Ich ging ein paar Schritte zur'ck. Blieb
wieder stehen.
Warum mit einemmal die Angst?
Ich wollte mir Vorw'rfe machen, daYA ich feig sei: - die Gedanken
blieben stecken. Mitten im Satz.
Eine wahnwitzige Idee 'berfiel mich plctzlich: rasch, rasch auf den
Tisch steigen, einen Sessel packen und zu mir hinaufziehen und "dem" den
Schddel damit von oben herab einschlagen, das da auf dem Boden herumkroch, -
- wenn - wenn es in die Ndhe kam.
"Es ist doch niemand hier," sagte ich mir laut und drgerlich vor, "hast
du dich denn je im Leben gef'rchtet?"
Es half nichts. Die Luft, die ich einatmete, wurde d'nn und schneidend
wie Dther.
Wenn ich irgendetwas gesehen hdtte: das GrdYAlichste, was man sich
vorstellen kann, - im Nu wdre die Furcht von mir gewichen.
Es kam nichts.
Ich bohrte meine Augen in alle Winkel:
Nichts.
Xberall lauter wohlbekannte Dinge: Mcbel, Truhen, die Lampe, das Bild,
die Wanduhr - leblose, alte, treue Freunde.
Ich hoffte, sie w'rden sich vor meinen Blicken verdndern und mir Grund
geben, eine Sinnestduschung als Ursache f'r das w'rgende Angstgef'hl in mir
zu finden.
Auch das nicht. - Sie blieben ihrer Form starr getreu. Viel zu starr
f'r das herrschende Halbdunkel, als daYA es nat'rlich gewesen wdre.
"Sie stehen unter demselben Zwang wie du selbst", f'hlte ich. "Sie
trauen sich nicht, auch nur die leiseste Bewegung zu machen."
Warum tickt die Wanduhr nicht? -
Das Lauern ringsum trank jeden Laut.
Ich r'ttelte am Tisch und wunderte mich, daYA ich das Gerdusch hcren
konnte.
Wenn doch wenigstens der Wind ums Haus pfiffe! - Nicht einmal das! Oder
das Holz im Ofen aufknallen wollte: - das Feuer war erloschen.
Und immerwdhrend dasselbe entsetzliche Lauern in der Luft - pausenlos,
l'ckenlos, wie das Rinnen von Wasser.
Dieses vergebliche Auf-dem-Sprung-stehen aller meiner Sinne! Ich
verzweifelte daran, es je 'berdauern zu kcnnen. - Der Raum voll Augen, die
ich nicht sehen, - voll von planlos wandernden Hdnden, die ich nicht greifen
konnte.
"Es ist das Entsetzen, das sich aus sich selbst gebiert, die ldhmende
Schrecknis des unfaYAbaren Nicht-Etwas, das keine Form hat und unserm Denken
die Grenzen zerfriYAt", begriff ich dumpf.
Ich stellte mich steif hin und wartete.
Wartete wohl eine Viertelstunde: vielleicht lieYA "es" sich verleiten
und schlich von r'ckwdrts an mich heran - und ich konnte es ertappen?!
Mit einem Ruck fuhr ich herum: wieder nichts.
Dasselbe markverzehrende "Nichts", das nicht war und doch das Zimmer
mit seinem grausigen Leben erf'llte.
Wenn ich hinausliefe? Was hinderte mich?
"Es w'rde mit mir gehen", wuYAte ich sofort mit unabweisbarer
Sicherheit. Auch, daYA es mir nichts n'tzen kcnnte, wenn ich Licht machte,
sah ich ein, - dennoch suchte ich so lange nach dem Feuerzeug, bis ich es
gefunden hatte.
Aber der Kerzendocht wollte nicht brennen und kam lang aus dem Glimmen
nicht heraus: die kleine Flamme konnte nicht leben und nicht sterben, und
als sie sich endlich doch ein schwinds'chtiges Dasein erkdmpft hatte, blieb
sie glanzlos wie gelbes, schmutziges Blech. Nein, da war die Dunkelheit noch
besser.
Ich lcschte wieder aus und warf mich angezogen 'bers Bett. Zdhlte die
Schldge meines Herzens: eins, zwei, drei - vier ... bis tausend, und immer
von neuem - Stunden, Tage, Wochen, wie mir schien, bis meine Lippen trocken
wurden und das Haar sich mir strdubte: keine Sekunde der Erleichterung.
Auch nicht eine einzige.
Ich fing an, mir Worte vorzusagen, wie sie mir gerade auf die Zunge
kamen: "Prinz", "Baum", "Kind", "Buch" - und sie krampfhaft zu wiederholen,
bis sie plctzlich als sinnlose, schreckhafte Laute aus barbarischer Vorzeit
nackt mir gegen'berstanden, und ich mit aller Kraft nachdenken muYAte, in
ihre Bedeutung zur'ckzufinden: P-r-i-n-z? - B-u-ch?
War ich nicht schon wahnsinnig? Oder gestorben? - Ich tastete an mir
herum.
Aufstehen!
Mich in den Sessel setzen!
Ich lieYA mich in den Lehnstuhl fallen.
Wenn doch endlich der Tod kdme!
Nur dieses blutlose, furchtbare Lauern nicht mehr f'hlen! "Ich - will -
nicht - ich will - nicht!", schrie ich. "Hcrt ihr denn nicht?!"
Kraftlos fiel ich zur'ck.
Konnte es nicht fassen, daYA ich immer noch lebte.
Unfdhig, irgend etwas zu denken oder zu tun, stierte ich geradeaus vor
mich hin.
"Weshalb er mir nur die Kcrner so beharrlich hinreicht?", ebbte ein
Gedanke auf mich zu, zog sich zur'ck und kam wieder. Zog sich zur'ck. Kam
wieder.
Langsam wurde mir endlich klar, daYA ein seltsames Wesen vor mir stand -
vielleicht schon, seit ich hier saYA, dagestanden hatte - und mir die Hand
hinstreckte:
Ein graues, breitschultriges Geschcpf, in der GrcYAe eines gedrungen
gewachsenen Menschen, auf einen spiralfcrmig gedrehten Knotenstock aus
weiYAem Holz gest'tzt.
Wo der Kopf hdtte sitzen m'ssen, konnte ich nur einen Nebelballen aus
fahlem Dunst unterscheiden.
Ein tr'ber Geruch nach Sandelholz und nassem Schiefer ging von der
Erscheinung aus.
Ein Gef'hl vollkommenster Wehrlosigkeit raubte mir fast die Besinnung.
Was ich die ganze lange Zeit an nervenzernagender Qual mitgemacht, drdngte
sich jetzt zu Todesschrecken zusammen und war in diesem Wesen zur Form
geronnen.
Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, ich w'rde wahnsinnig werden vor
Entsetzen und Furcht, wenn ich das Gesicht des Phantoms sehen kcnnte, -
warnte mich davor, schrie es mir in die Ohren - und doch zog es mich wie ein
Magnet, daYA ich den Blick von dem fahlen Nebelballen nicht wenden konnte und
darin forschte nach Augen, Nase und Mund.
Aber so sehr ich mich auch abm'hte: der Dunst blieb unbeweglich. Wohl
gl'ckte es mir, Kcpfe aller Art auf den Rumpf zu setzen, doch jedesmal wuYAte
ich, daYA sie nur meiner Einbildungskraft entstammten.
Sie zerrannen auch stets - fast in derselben Sekunde, in der ich sie
geschaffen hatte.
Nur die Form eines dgyptischen Ibiskopfs blieb noch am ldngsten
bestehen.
Die Umrisse des Phantoms schleierten schemenhaft in der Dunkelheit,
zogen sich kaum merklich zusammen und dehnten sich wieder aus, wie unter
langsamen Atemz'gen, die die ganze Gestalt durchliefen, die einzige
Bewegung, die zu bemerken war. Statt der F'YAe ber'hrten Knochenstumpen den
Boden, von denen das Fleisch - grau und blutleer - auf Spannenbreite zu
wulstigen Rdndern emporgezogen war.
Regungslos hielt das Geschcpf mir seine Hand hin.
Kleine Kcrner lagen dann. BohnengroYA, von roter Farbe und mit schwarzen
Punkten am Rande.
Was sollte ich damit?!
Ich f'hlte dumpf: eine ungeheure Verantwortung lag auf mir - eine
Verantwortung, die weit hinausging 'ber alles Irdische, - wenn ich jetzt
nicht das Richtige tat.
Zwei Waagschalen, jede belastet mit dem Gewicht des halben
Weltgebdudes, schweben irgendwo im Reich der Ursachen, ahnte ich - auf
welche von beiden ich ein Stdubchen warf: die sank zu Boden.
Das war das furchtbare Lauern ringsum!, verstand ich. "Keinen Finger
r'hren!", riet mir mein Verstand, - "und wenn der Tod in alle Ewigkeit nicht
kommen sollte und mich erlcsen aus dieser Qual." -
Auch dann hdttest du deine Wahl getroffen: du hdttest die Kcrner
abgelehnt, raunte es in mir. Hier gibt's kein Zur'ck.
Hilfesuchend blickte ich um mich, ob mir denn kein Zeichen wurde, was
ich tun sollte. Nichts.
Auch in mir kein Rat, kein Einfall - alles tot, gestorben.
Das Leben von Myriaden Menschen wiegt leicht wie eine Feder in diesem
furchtbaren Augenblick, erkannte ich. - -
Es muYAte bereits tiefe Nacht sein, denn ich konnte die Wdnde meines
Zimmers nicht mehr unterscheiden.
Nebenan im Atelier stampften Schritte; ich hcrte, daYA jemand Schrdnke
r'ckte, Schubladen aufriYA und polternd zu Boden warf, glaubte Wassertrums
Stimme zu erkennen, wie er in seinem rcchelnden BaYA wilde Fluche ausstieYA;
ich horchte nicht hin. Es war mir belanglos wie das Rascheln einer Maus. -
Ich schloYA die Augen:
Menschliche Antlitze zogen in langen Reihen an mir vor'ber. Die Lider
zugedr'ckt - starre Totenmasken: - mein eigenes Geschlecht, meine eigenen
Vorfahren.
Immer dieselbe Schddelbildung, wie auch der Typus zu wechseln schien,
so stand es auf aus seinen Gr'ften, - mit glattem gescheiteltem Haar,
gelocktem und kurz geschnittenem, mit Allongeper'cken und in Ringe
gezwdngten Schcpfen - durch Jahrhunderte heran, bis die Z'ge mir bekannter
und bekannter wurden und in ein letztes Gesicht zusammenflossen: - das
Gesicht des Golem, mit dem die Kette meiner Ahnen abbrach.
Dann lcste die Finsternis mein Zimmer in einen unendlichen leeren Raum
auf, in dessen Mitte ich mich auf meinem Lehnstuhl sitzen wuYAte, vor mir der
graue Schatten wieder mit dem ausgestreckten Arm.
Und als ich die Augen aufschlug, standen in zwei sich schneidenden
Kreisen, die einen Achter bildeten, fremdartige Wesen um uns herum:
Die des einen Kreises geh'llt in Gewdnder mit violettem Schimmer, die
des anderen mit rctlich schwarzem. Menschen einer fremden Rasse, von hohem,
unnat'rlich schmdchtigem Wuchs, die Gesichter hinter leuchtenden T'chern
verborgen.
Das Herzbeben in meiner Brust sagte mir, daYA der Zeitpunkt der
Entscheidung gekommen war. Meine Finger zuckten nach den Kcrnern: - und da
sah ich, wie ein Zittern durch die Gestalten des rctlichen Kreises ging. -
Sollte ich die Kcrner zur'ckweisen?: Das Zittern ergriff den bldulichen
Kreis; - ich blickte den Mann ohne Kopf scharf an; er stand da - in
derselben Stellung: regungslos wie fr'her.
Sogar sein Atem hatte aufgehcrt.
Ich hob den Arm, wuYAte noch immer nicht, was ich tun sollte, und -
schlug auf die ausgestreckte Hand des Phantoms, daYA die Kcrner 'ber den
Boden hinrollten.
Einen Moment, so jdh wie ein elektrischer Schlag, entglitt mir das
BewuYAtsein, und ich glaubte in endlose Tiefen zu st'rzen, - dann stand ich
fest auf den F'YAen.
Das graue Geschcpf war verschwunden. Ebenso die Wesen des rctlichen
Kreises.
Die bldulichen Gestalten hingegen hatten einen Ring um mich gebildet;
sie trugen eine Inschrift aus goldnen Hieroglyphen auf der Brust und hielten
stumm - es sah aus wie ein Schwur - zwischen Zeigefinger und Daumen die
roten Kcrner in die Hohe, die ich dem Phantom ohne Kopf aus der Hand
geschlagen hatte.
Ich hcrte, wie drauYAen Hagelschauer gegen die Fenster tobten und
br'llender Donner die Luft zerriYA:
Ein Wintergewitter in seiner ganzen besinnungslosen Wut raste 'ber die
Stadt hinweg. Vom FluYA her drchnten durch das Heulen des Sturms in
rhythmischen Intervallen die dumpfen Kanonensch'sse, die das Brechen der
Eisdecke auf der Moldau verk'ndeten. Die Stube loderte im Licht der
ununterbrochen aufeinanderfolgenden Blitze. Ich f'hlte mich plctzlich so
schwach, daYA mir die Knie zitterten und ich mich setzen muYAte.
"Sei ruhig," sagte deutlich eine Stimme neben mir, "sei ganz ruhig, es
ist heute die Lelschimurim: die Nacht der Besch'tzung." -
Allmdhlich lieYA das Unwetter nach, und der betdubende Ldrm ging 'ber in
das eintcnige Trommeln der SchloYAen auf die Dacher.
Die Mattigkeit in meinen Gliedern nahm derart zu, daYA ich nur mehr mit
stumpfen Sinnen und halb im Traum wahrnahm, was um mich her vorging:
Jemand aus dem Kreis sagte die Worte:
"Den ihr suchet, der ist nicht hier."
Die andern erwiderten etwas in einer fremden Sprache.
Hierauf sagte der erste wieder leise einen Satz, dann kam der Name
"Henoch"
vor, aber ich verstand das 'brige nicht: der Wind trug das Stchnen der
berstenden Eisschollen zu laut vom Flusse her'ber.
Dann lcste sich einer aus dem Kreis, trat vor mich hin, deutete auf die
Hieroglyphen auf seiner Brust - sie waren dieselben Buchstaben wie die der
'brigen - und fragte mich, ob ich sie lesen kcnne.
Und als ich - lallend vor M'digkeit, - verneinte, streckte er die
Handfldche gegen mich aus, und die Schrift erschien leuchtend auf meiner
Brust in Lettern, die zuerst lateinisch waren:
CHABRAT ZEREH AUR BOCHER
und sich langsam in die mir unbekannten verwandelten. - - - Und ich
fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, wie ich ihn seit jener Nacht, in
der Hillel mir die Zunge gelcst, nicht mehr gekannt hatte.
Wie im Fluge waren mir die Stunden der letzten Tage vergangen. Kaum,
daYA ich mir Zeit zu den Mahlzeiten lieYA.
Ein unwiderstehlicher Drang nach duYAerer Tdtigkeit hatte mich von fr'h
bis abends an meinen Arbeitstisch gefesselt.
Die Gemme war fertig geworden, und Mirjam hatte sich wie ein Kind
dar'ber gefreut.
Auch der Buchstabe "I" in dem Buche Ibbur war ausgebessert.
Ich lehnte mich zur'ck und lieYA ruhevoll all die kleinen Geschehnisse
der heutigen Stunden an mir vor'berziehen:
Wie das alte Weib, das mich bediente, am Morgen nach dem Ungewitter zu
mir ins Zimmer gest'rzt kam mit der Meldung, die steinerne Br'cke sei in der
Nacht eingest'rzt. -
Seltsam: - Eingest'rzt! Vielleicht gerade in der Stunde, wo ich die
Kcrner - - - nein, nein, nicht daran denken; es kcnnte einen Anstrich von
N'chternheit bekommen, was damals geschehen war, und ich hatte mir
vorgenommen, es in meiner Brust begraben sein zu lassen, bis es von selbst
wieder erwachte, - nur nicht daran r'hren.
Wie lange war's her, da ging ich noch 'ber die Br'cke, sah die
steinernen Statuen - und jetzt lag sie, die Br'cke, die Jahrhunderte
gestanden, in Tr'mmern.
Es stimmte mich beinahe wehm'tig, daYA ich nie mehr meinen FuYA auf sie
setzen sollte. Wenn man sie auch wieder aufbaute, war es doch nicht mehr die
alte, geheimnisvolle, steinerne Br'cke.
Stundenlang hatte ich, wdhrend ich an der Gemme schnitt, dar'ber
nachdenken m'ssen, und so selbstverstdndlich, als hdtte ich es nie vergessen
gehabt, war es lebendig in mir geworden: wie oft ich als Kind und auch in
spdtern Jahren zu dem Bildnis der heiligen Luitgard und all den andern, die
jetzt begraben lagen in den tosenden Wassern, aufgeblickt.
Die vielen, kleinen lieben Dinge, die ich in meiner Jugend mein eigen
genannt, hatte ich wieder gesehen im Geiste - und meinen Vater und meine
Mutter und die Menge Schulkameraden. Nur an das Haus, wo ich gewohnt, konnte
ich mich nicht mehr erinnern.
Ich wuYAte, es w'rde plctzlich, eines Tages, wenn ich es am wenigsten
erwartete, wieder vor mir stehen; und ich freute mich darauf.
Die Empfindung, daYA sich mit einemmal alles nat'rlich und einfach in
mir abwickelte, war so behaglich.
Als ich vorgestern das Buch Ibbur aus der Kassette geholt hatte, - es
war so gar nichts Erstaunliches daran gewesen, daYA es aussah, nun, wie eben
ein altes, mit wertvollen Initialen geschm'cktes Pergamentbuch aussieht -
schien es mir ganz selbstverstdndlich.
Ich konnte nicht begreifen, daYA es jemals gespenstisch auf mich gewirkt
hatte!
Es war in hebrdischer Sprache geschrieben, vollkommen unverstdndlich
f'r mich.
Wann wohl der Unbekannte es wieder holen kommen wurde?
Die Freude am Leben, die wdhrend der Arbeit heimlich in mich eingezogen
war, erwachte von neuem in ihrer ganzen erquickenden Frische und
verscheuchte die Nachtgedanken, die mich hinterr'cks wieder 'berfallen
wollten.
Rasch nahm ich Angelinas Bild - ich hatte die Widmung, die darunter
stand, abgeschnitten - und k'YAte es.
Es war das alles so tcricht und widersinnig, aber warum nicht einmal
von - Gl'ck trdumen, die glitzernde Gegenwart festhalten und sich daran
freuen, wie 'ber eine Seifenblase?
Konnte denn nicht vielleicht doch in Erf'llung gehen, was mir da die
Sehnsucht meines Herzens vorgaukelte? War es so ganz und gar unmcglich, daYA
ich 'ber Nacht ein ber'hmter Mann wurde? Ihr ebenb'rtig, wenn auch nicht an
Herkunft? Zumindest Dr. Savioli ebenb'rtig? Ich dachte an die Gemme Mirjams:
wenn mir noch andere so gelangen wie diese - kein Zweifei, selbst die ersten
K'nstler aller Zeiten hatten nie etwas Besseres geschaffen.
Und nur einen Zufall angenommen: der Gatte Angelinas st'rbe plctzlich?
Mir wurde heiYA und kalt: ein winziger Zufall - und meine Hoffnung, die
verwegenste Hoffnung, gewann Gestalt. An einem d'nnen Faden, der st'ndlich
reiYAen konnte, hing das Gl'ck, das mir dann in den SchoYA fallen m'YAte.
War mir denn nicht schon tausendfach Wunderbareres geschehen? Dinge,
von denen die Menschheit gar nicht ahnte, daYA sie 'berhaupt existierten?
War es kein Wunder, daYA binnen weniger Wochen k'nstlerische Fdhigkeiten
in mir erwacht waren, die mich jetzt schon weit 'ber den Durchschnitt
erhoben?
Und ich stand doch erst am Anfang des Weges!
Hatte ich denn kein Anrecht auf Gl'ck?
Ist denn Mystik gleichbedeutend mit Wunschlosigkeit?
Ich 'bertcnte das: "Ja" in mir: - nur noch eine Stunde trdumen - eine
Minute - ein kurzes Menschendasein!
Und ich trdumte mit offenen Augen:
Die Edelsteine auf dem Tisch wuchsen und wuchsen und umgaben mich von
allen Seiten mit farbigen Wasserfdllen. Bdume aus Opal standen in Gruppen
beisammen und strahlten die Lichtwellen des Himmels, der blau schillerte wie
der Fl'gel eines gigantischen Tropenschmetterlings, in Funkenspr'hregen 'ber
unabsehbare Wiesen voll heiYAem Sommerduft.
Mich d'rstete, und ich k'hlte meine Glieder in dem eisigen Gischt der
Bdche, die 'ber Felsblccke rauschten aus schimmerndem Perlmutter.
Schw'ler Hauch strich 'ber Hdnge, 'bersdt mit Bl'ten und Blumen, und
machte mich trunken mit den Ger'chen von Jasmin, Hyazinthen, Narzissen,
Seidelbast - - -
Unertrdglich! Unertrdglich! Ich verlcschte das Bild. - Mich d'rstete.
Das waren die Qualen des Paradieses.
Ich riYA die Fenster auf und lieYA den Tauwind an meine Stirne wehen.
Es roch nach kommendem Fr'hling - - -
Mirjam!
Ich muYAte an Mirjam denken.
Wie sie sich vor Erregung an der Wand hatte halten m'ssen, um nicht
umzufallen, als sie mir erzdhlen gekommen, ein Wunder sei geschehen, ein
wirkliches Wunder: sie habe ein Goldst'ck gefunden in dem Brotlaib, den der
Bdcker vom Gang aus durchs Gitter ins K'chenfenster gelegt. - - -
Ich griff nach meiner Bcrse. - Hoffentlich war es heute nicht schon zu
spdt, und ich kam noch zurecht, ihr wieder einen Dukaten zuzuzaubern!
Tdglich hatte sie mich besucht, um mir Gesellschaft zu leisten, wie sie
es nannte, dabei aber fast nicht gesprochen, so erf'llt war sie von dem
"Wunder" gewesen. Bis in die tiefsten Tiefen hatte das Erlebnis sie
aufgew'hlt und, wenn ich mir vorstellte, wie sie manchmal plctzlich ohne
duYAern Grund - nur unter dem EinfluYA ihrer Erinnerung - totenblaYA geworden
war bis in die Lippen, schwindelte mir bei dem bloYAen Gedanken, ich kcnnte
in meiner Blindheit Dinge angerichtet haben, deren Tragweite bis ins
Grenzenlose ging.
Und wenn ich mir die letzten, dunklen Worte Hillels ins Geddchtnis rief
und in Zusammenhang damit brachte, 'berlief es mich eiskalt.
Die Reinheit des Motivs war keine Entschuldigung f'r mich, - der Zweck
heiligt die Mittel nicht, das sah ich ein.
Und was, wenn 'berdies das Motiv: "helfen zu wollen" nur scheinbar
"rein" war? Hielt sich nicht vielleicht doch eine heimliche L'ge dahinter
verborgen?: der selbstgefdllige, unbewuYAte Wunsch, in der Rolle des Helfers
zu schwelgen?
Ich fing an, irre an mir selbst zu werden.
DaYA ich Mirjam viel zu oberfldchlich beurteilt hatte, war klar.
Schon als die Tochter Hillels muYAte sie anders sein als andere Mddchen.
Wie hatte ich nur so vermessen sein kcnnen, auf solch tcrichte Weise in
ein Innenleben einzugreifen, das vielleicht himmelhoch 'ber meinem eigenen
stand!
Schon ihr Gesichtsschnitt, der hundertmal eher in die Zeit der sechsten
dgyptischen Dynastie paYAte und selbst f'r diese noch viel zu vergeistigt
war, als in die unsrige mit ihren Verstandesmenschentypen, hdtte mich warnen
m'ssen.
"Nur der ganz Dumme miYAtraut dem duYAern Schein", hatte ich irgendwo
einmal gelesen. - Wie richtig! Wie richtig!
Mirjam und ich waren jetzt gute Freunde; sollte ich ihr eingestehen,
daYA ich es gewesen war, der die Dukaten Tag f'r Tag ins Brot geschmuggelt
hatte?
Der Schlag kdme zu plctzlich. W'rde sie betduben.
Ich durfte das nicht wagen, muYAte behutsamer vorgehen.
Das "Wunder" irgendwie abschwdchen? Statt das Geld ins Brot zu stecken,
es auf die Treppenstufe zu legen, daYA sie es finden muYAte, wenn sie die T'r
aufmachte, und so weiter, und so weiter? Etwas Neues, weniger Schroffes
w'rde sich schon ausdenken lassen, irgendein Weg, der sie aus dem
Wunderbaren allmdhlich wieder ins Alltdgliche her'berlenkte, trcstete ich
mich.
Ja! Das war das Richtige.
Oder den Knoten zerhauen? Ihren Vater einweihen und zu Rate ziehen? Die
Schamrcte stieg mir ins Gesicht. Zu diesem Schritt blieb Zeit genug, wenn
alle andern Mittel versagten.
Nur gleich ans Werk gehen, keine Zeit versdumen!
Ein guter Einfall kam mir: Ich muYAte Mirjam zu etwas ganz
Absonderlichem bewegen, sie f'r ein paar Stunden aus der gewohnten Umgebung
reiYAen, daYA sie andere Eindr'cke bekam.
Wir w'rden einen Wagen nehmen und eine Spazierfahrt machen. Wer kannte
uns denn, wenn wir das Judenviertel mieden?
Vielleicht interessierte es sie, die eingest'rzte Br'cke zu
besichtigen?
Oder der alte Zwakh oder eine ihrer fr'heren Freundinnen sollte mit ihr
fahren, wenn sie es ungeheuerlich finden w'rde, daYA ich mit dabei sei.
Ich war fest entschlossen, keinen Widerspruch gelten zu lassen. - - -
An der T'rschwelle rannte ich einen Mann beinahe 'ber den Haufen.
Wassertrum!
Er muYAte durchs Schl'sselloch hereingespdht haben, denn er stand
geb'ckt, als ich mit ihm zusammengestoYAen war.
"Suchen Sie mich?", fragte ich barsch.
Er stammelte ein paar Worte der Entschuldigung in seinem unmcglichen
Jargon; dann bejahte er.
Ich forderte ihn auf, ndher zu treten und sich zu setzen, aber er blieb
am Tisch stehen und drehte krampfhaft mit der Hutkrempe. Eine tiefe
Feindseligkeit, die er vergebens vor mir verbergen wollte, spiegelte aus
seinem Gesicht und jeder seiner Bewegungen.
Noch nie hatte ich den Mann in so unmittelbarer Ndhe gesehen. Seine
grauenhafte HdYAlichkeit war es nicht, die einen so abstieYA; (sie machte mich
eher mitleidig gestimmt: er sah aus wie ein Geschcpf, dem die Natur selbst
bei seiner Geburt voll Wut und Abscheu mit dem FuYA ins Gesicht getreten
hatte) - etwas anderes, Unwdgbares, das von ihm ausging, trug die Schuld
daran.
Das "Blut", wie Charousek es treffend bezeichnet hatte.
Unwillk'rlich wischte ich mir die Hand ab, die ich ihm bei seinem
Eintritt gereicht hatte.
So wenig auffdllig ich es machte, er schien es doch bemerkt zu haben,
denn er muYAte sich plctzlich mit Gewalt zwingen, das Aufflammen des Hasses
in seinen Z'gen zu unterdr'cken.
"H'bsch ham Se's hier", fing er endlich stockend an, als er sah, daYA
ich ihm nicht den Gefallen tat, das Gesprdch zu beginnen.
Im Widerspruch zu seinen Worten schloYA er dabei die Augen, vielleicht,
um meinem Blick nicht zu begegnen. Oder glaubte er, daYA es seinem Gesicht
einen harmloseren Ausdruck verleihen w'rde?
Man konnte ihm deutlich anhcren, welche M'he er sich gab, hochdeutsch
zu reden.
Ich f'hlte mich nicht zu einer Entgegnung verpflichtet und wartete, was
er weiter sagen w'rde.
In seiner Verlegenheit griff er nach der Feile, die - weiYA Gott wieso -
noch seit Charouseks Besuch auf dem Tisch lag, fuhr aber unwillk'rlich
sofort wie von einer Schlange gebissen zur'ck. Ich staunte innerlich 'ber
seine unterbewuYAte seelische Feinf'hligkeit.
"Freilich, nat'rlich, es gehcrt zum Geschdft, daYA man's fein hat,"
raffte er sich auf, zu sagen, "wenn man - so noble Besuche bekommt." Er
wollte die Augen aufschlagen, um zu sehen, welchen Eindruck die Worte auf
mich machten, hielt es aber offenbar noch f'r verfr'ht und schloYA sie
schnell wieder.
Ich wollte ihn in die Enge treiben: "Sie meinen die Dame, die neulich
hier vorfuhr? Sagen Sie doch offen, wo Sie hinauswollen!"
Er zcgerte einen Moment, dann packte er mich heftig am Handgelenk und
zerrte mich ans Fenster.
Die sonderbare, unmotivierte Art, mit der er es tat, erinnerte mich
daran, wie er vor einigen Tagen den taubstummen Jaromir unten in seine Hchle
gerissen hatte.
Mit krummen Fingern hielt er mir einen blitzenden Gegenstand hin:
"Was glauben Sie, Herr Pernath, laYAt sich da noch was machen?"
Es war eine goldene Uhr mit so stark verbeulten Deckeln, daYA es fast
aussah, als hdtte sie jemand mit Absicht verbogen.
Ich nahm ein VergrcYAerungsglas: die Scharniere waren zur Hdlfte
abgerissen und innen - stand da nicht etwas eingraviert? Kaum mehr leserlich
und noch 'berdies mit einer Menge ganz frischer Schrammen zerkratzt. Langsam
entzifferte ich:
K-rl Zott-mann.
Zottmann? Zottmann? - Wo hatte ich diesen Namen doch gelesen? Zottmann?
Ich konnte mich nicht entsinnen. Zottmann?
Wassertrum schlug mir die Lupe beinahe aus der Hand:
"Im Werk is nix, da hab' ich schon selber geschaut. Aber mit'm Gehduse,
da stinkt's."
"Braucht man nur gerade zu klopfen - hcchstens ein paar Lctstellen. Das
kann Ihnen ebensogut jeder beliebige Goldarbeiter machen, Herr Wassertrum."
"Ich leg' doch Wert darauf, daYA es eine solide Arbeit wird. Was man so
sagt: k'nstlerisch", unterbrach er mich hastig. Fast dngstlich.
"Nun gut, wenn Ihnen derart viel daran liegt -"
"Viel daran liegt!" Seine Stimme schnappte 'ber vor Eifer. "Ich will
sie doch selber tragen, die Uhr. Und wenn ich sie jemandem zeig', will ich
sagen kcnnen: schauen Sie mal her, so arbeitet der Herr von Pernath."
Ich ekelte mich vor dem Kerl; er spuckte mir seine widerwdrtigen
Schmeicheleien fcrmlich ins Gesicht.
"Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen, wird alles fertig sein."
Wassertrum wand sich in Krdmpfen: "Das gibt's nicht. Das will ich
nicht. Drei Tag. Vier Tag. Die ndchste Woche is Zeit genug. Das ganze Leben
mccht' ich mir Vorw'rfe machen, daYA ich Ihnen gedrdngt hab'."
Was wollte er nur, daYA er so auYAer sich geriet? - Ich machte einen
Schritt ins Nebenzimmer und sperrte die Uhr in die Kassette. Angelinas
Photographie lag obenauf. Schnell schlug ich den Deckel wieder zu - f'r den
Fall, daYA Wassertrum mir nachblicken sollte.
Als ich zur'ckkam, fiel mir auf, daYA er sich verfdrbt hatte.
Ich musterte ihn scharf, lieYA aber meinen Verdacht sofort fallen:
Unmcglich! Er konnte nichts gesehen haben.
"Also, dann vielleicht ndchste Woche", sagte ich, um seinem Besuch ein
Ende zu machen.
Er schien mit einemmal keine Eile mehr zu haben, nahm einen Sessel und
setzte sich.
Im Gegensatz zu fr'her hielt er seine Fischaugen jetzt beim Reden weit
offen und fixierte beharrlich meinen obersten Westenknopf.
Pause.
"Die Duksel hat Ihnen nat'rlich gesagt, Sie sollen sich nix wissen
machen, wenn's heraus kommt. Waas?" sprudelte er plctzlich ohne jede
Einleitung auf mich los und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Es lag etwas merkw'rdig Schreckhaftes in der Abgerissenheit, mit der er
von einer Sprechweise in die andere 'bergehen - von Schmeicheltcnen
blitzartig ins Brutale springen konnte, und ich hielt es f'r sehr
wahrscheinlich, daYA die meisten Menschen, besonders Frauen, sich im
Handumdrehen in seiner Gewalt befinden muYAten, wenn er nur die geringste
Waffe gegen sie besaYA.
Ich wollte auffahren, ihn am Hals packen und vor die T'r setzen, war
mein erster Gedanke; dann 'berlegte ich, ob es nicht kl'ger sei, ihn
zuvcrderst einmal gr'ndlich auszuhorchen.
"Ich verstehe wahrhaftig nicht, was Sie meinen, Herr Wassertrum;" - ich
bem'hte mich, ein mcglichst dummes Gesicht zu machen - "Duksel? Was ist das:
Duksel?"
"Soll ich Ihnen vielleicht Deitsch lernen?", fuhr er mich grob an. "Die
Hand werden Sie aufheben m'ssen bei Gericht, wenn's um die Wurscht geht.
Verstehen Sie mich?! Das sag ich Ihnen!" - Er fing an zu schreien: "Mir ins
Gesicht hinein werden Sie nicht abschwcren, daYA ›sie‹ von da dr'ben" - er
deutete mit dem Daumen nach dem Atelier - "zu Ihnen heribber geloffen is mit
en Teppich an und - sonst nix!"
Die Wut stieg mir in die Augen; ich packte den Halunken an der Brust
und sch'ttelte ihn:
"Wenn Sie jetzt noch ein Wort in diesem Ton sagen, breche ich Ihnen die
Knochen im Leibe entzwei! Verstanden?"
Aschfahl sank er in den Stuhl zur'ck und stotterte:
"Was is? Was is? Was wollen Sie? Ich mein' doch bloYA."
Ich ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, um mich zu beruhigen.
Horchte nicht hin, was er alles zu seiner Entschuldigung herausgeiferte.
Dann setzte ich mich ihm dicht gegen'ber, in der festen Absicht, die
Sache, soweit sie Angelina betraf, ein f'r allemal mit ihm ins reine zu
bringen und, sollte es im Frieden nicht gehen, ihn zu zwingen, endlich die
Feindseligkeiten zu ercffnen und seine paar schwachen Pfeile vorzeitig zu
verschieYAen.
Ohne seine Unterbrechungen im geringsten zu beachten, sagte ich ihm auf
den Kopf zu, daYA Erpressungen irgendwelcher Art - ich betonte das Wort -
miYAgl'cken m'YAten, da er auch nicht eine einzige Anschuldigung mit Beweisen
erhdrten kcnnte und ich mich einer Zeugenschaft (angenommen, es wdre
'berhaupt im Bereiche der Mcglichkeit, daYA es je zu einer solchen kdme) -
bestimmt zu entziehen wissen w'rde. Angelina st'nde mir viel zu nahe, als
daYA ich sie nicht in der Stunde der Not retten w'rde, koste es, was es
wolle, sogar einen Meineid!
Jede Muskel in seinem Gesicht zuckte, seine Hasenscharte zog sich bis
zur Nase auseinander, er fletschte die Zdhne und kollerte wie ein Truthahn
mir immer wieder in die Rede hinein: "Will ich denn was von die Duksel? So
hcren Sie doch zu!" - Er war auYAer sich vor Ungeduld, daYA ich mich nicht
beirren lieYA. - "Um den Savioli is mir's zu tun, um den gottverfluchten
Hund, - den - den -", fuhr es ihm plctzlich br'llend heraus.
Er japste nach Luft. Rasch hielt ich inne: endlich war er dort, wo ich
ihn haben wollte, aber schon hatte er sich gefaYAt und fixierte wieder meine
Weste.
"Hcren Sie zu, Pernath;" er zwang sich, die k'hle, abwdgende
Sprechweise eines Kaufmanns nachzuahmen, "Sie reden fort von der Duk - - von
der Dame. Gut! sie ist verheiratet. Gut: sie hat sich eingelassen mit dem -
mit dem jungen Lauser. Was hab' ich damit zu tun?" Er bewegte die Hdnde vor
meinem Gesicht hin und her, die Fingerspitzen zusammengedr'ckt, als hielte
er eine Prise Salz darin - "soll sie sich das selber abmachen, die Duksel. -
Ich bin e Weltmann und Sie sin auch e Weltmann. Wir kennen doch das beide.
Waas? Ich will doch nur zu meinem Geld kommen. Verstehen Sie, Pernath?!"
Ich horchte erstaunt auf:
"Zu welchem Geld? Ist Ihnen denn Dr. Savioli etwas schuldig?"
Wassertrum wich aus:
"Abrechnungen hab' ich mit ihm. Das kommt doch auf eins heraus."
"Sie wollen ihn ermorden!" schrie ich.
Er sprang auf. Taumelte. Gluckste ein paarmal.
"Jawohl! Ermorden! Wie lange wollen Sie mir noch Komcdie vorspielen!"
Ich deutete auf die T'r. "Schauen Sie, daYA Sie hinauskommen."
Langsam griff er nach seinem Hut, setzte ihn auf und wandte sich zum
Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen und sagte mit einer Ruhe, deren ich
ihn nie f'r fdhig gehalten hdtte:
"Auch recht. Ich hab' Sie herauslassen wollen. Gut. Wenn nicht: Nicht.
Barmherzige Barbiere machen faule Wunden. Mein Zarb'chel ist voll. Wenn Sie
gescheit gewesen wdren -: der Savioli is Ihnen doch nur im Weg?! Jetzt -
mach - ich - mit - Ihnen allen dreien" - er deutete mit einer Geste des
Erdrosselns an, womit er es meinte - "PreYAcolleeh".
Seine Mienen dr'ckten eine so satanische Grausamkeit aus und er schien
seiner Sache so sicher zu sein, daYA mir das Blut in den Adern erstarrte. Er
muYAte eine Waffe in Hdnden haben, von der ich nichts ahnte, die auch
Charousek nicht kannte. Ich f'hlte den Boden unter mir wanken.
"Die Feile! Die Feile!" hcrte ich es in meinem Hirn fl'stern. Ich
schdtzte die Entfernung ab: ein Schritt bis zum Tisch - zwei Schritte bis zu
Wassertrum - - ich wollte zuspringen - - - da stand wie aus dem Boden
gewachsen Hillel auf der Schwelle.
Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen.
Ich sah nur - wie durch Nebel -, daYA Hillel unbeweglich stehen blieb
und Wassertrum Schritt f'r Schritt bis an die Wand zur'ckwich.
Dann hcrte ich Hillel sagen:
"Sie kennen doch, Aaron, den Satz: Alle Juden sind B'rgen f'reinander?
Machen Sie's einem nicht zu schwer." - Er f'gte ein paar hebrdische Worte
hinzu, die ich nicht verstand.
"Was haben Sie das netig, an der T're zu schn'ffeln?" geiferte der
Trcdler mit bebenden Lippen.
"Ob ich gehorcht habe oder nicht, braucht Sie nicht zu k'mmern!" -
wieder schloYA Hillel mit einem hebrdischen Satz, der diesmal wie eine
Drohung klang. Ich erwartete, daYA es zu einem Zank kommen w'rde, aber
Wassertrum antwortete nicht eine Silbe, 'berlegte einen Augenblick und ging
dann trotzig hinaus.
Gespannt blickte ich Hillel an. Er winkte mir zu, ich solle schweigen.
Offenbar wartete er auf irgend etwas, denn er horchte angestrengt auf den
Gang hinaus. Ich wollte die T're schlieYAen gehen: er hielt mich mit einer
ungeduldigen Handbewegung zur'ck.
Wohl eine Minute verging, dann kamen die schleppenden Schritte des
Trcdlers wieder die Stufen herauf. Ohne ein Wort zu sprechen ging Hillel
hinaus und machte ihm Platz.
Wassertrum wartete, bis er auYAer Hcrweite war, dann knurrte er mich
verbissen an:
"Geben Se mer meine Uhr zor'ck."
Wo nur Charousek blieb?
Beinahe 24 Stunden waren vergangen, und noch immer lieYA er sich nicht
blicken.
Sollte er das Zeichen vergessen haben, das wir verabredet hatten? Oder
sah er es vielleicht nicht?
Ich ging ans Fenster und richtete den Spiegel so, daYA der Sonnenstrahl,
der darauf schien, genau auf das vergitterte Guckloch seiner Kellerwohnung
fiel.
Das Eingreifen Hillels - gestern - hatte mich ziemlich beruhigt.
Bestimmt w'rde er mich gewarnt haben, wenn eine Gefahr im Anzug wdre.
Xberdies: Wassertrum konnte nichts von Belang mehr unternommen haben;
gleich, nachdem er mich verlassen hatte, war er in seinen Laden
zur'ckgekehrt, - ich warf einen Blick hinunter: richtig, da lehnte er
unbeweglich hinter seinen Herdplatten, genau so, wie ich ihn schon
fr'hmorgens gesehen - - -
Unertrdglich, das ewige Warten!
Die milde Fr'hlingsluft, die durch das offene Fenster aus dem
Nebenzimmer hereinstrcmte, machte mich krank vor Sehnsucht.
Dies schmelzende Tropfen von den Ddchern! Und wie die feinen
Wasserschn're im Sonnenlicht gldnzten!
Es zog mich hinaus an unsichtbaren Fdden. Voll Ungeduld ging ich in der
Stube auf und ab. Warf mich in einen Sessel. Stand wieder auf.
Dieses s'chtige Keimen einer Ungewissen Verliebtheit in meiner Brust,
es wollte nicht weichen.
Die ganze Nacht 'ber hatte es mich gequdlt. Einmal war es Angelina
gewesen, die sich an mich geschmiegt, dann wieder sprach ich scheinbar ganz
harmlos mit Mirjam, und kaum hatte ich das Bild zerrissen, kam abermals
Angelina und k'YAte mich; ich roch den Duft ihres Haares, und ihr weicher
Zobelpelz kitzelte mich am Hals, rutschte von ihren entblcYAten Schultern -
und sie wurde zu Rosina, die mit trunkenen, halbgeschlossenen Augen tanzte -
im Frack - nackt; - - - und alles in einem Halbschlaf, der doch genau so
gewesen war wie Wachsein. Wie ein s'YAes, verzehrendes, ddmmeriges Wachsein.
Gegen Morgen stand dann mein Doppelgdnger an meinem Bett, der
schattenhafte Habal Garmin, "der Hauch der Knochen", von dem Hillel
gesprochen, - und ich sah ihm an den Augen an: er war in meiner Macht, muYAte
mir jede Frage beantworten, die ich ihm stellen w'rde nach irdischen oder
jenseitigen Dingen, und er wartete nur darauf, aber der Durst nach dem
Geheimnisvollen konnte nicht an gegen die Schw'le meines Blutes und
versickerte im d'rren Erdreich meines Verstandes. - Ich schickte das Phantom
weg, es solle zum Spiegelbild Angelinas werden, und es schrumpfte zusammen
zu dem Buchstaben "Aleph", wuchs wieder empor, stand da als das KoloYAweib,
splitternackt, wie ich es einstens im Buche Ibbur gesehen, mit dem Pulse
gleich einem Erdbeben, und beugte sich 'ber mich, und ich atmete den
betdubenden Geruch ihres heiYAen Fleisches ein.
Kam denn Charousek immer noch nicht? - Die Glocken sangen von den
Kircht'rmen.
Eine Viertelstunde wollte ich noch warten - dann aber hinaus! Durch
belebte StraYAen voll festtdgig gekleideter Menschen schlendern, mich in das
frohe Gewimmel mischen in den Stadtteilen der Reichen, schcne Frauen sehen
mit koketten Gesichtern und schmalen Hdnden und F'YAen.
Vielleicht begegnete ich dabei Charousek zufdllig, entschuldigte ich
mich vor mir selbst.
Ich holte das altert'mliche Tarockspiel vom B'cherbord, um mir die Zeit
rascher zu vertreiben. -
Vielleicht lieYA sich aus den Bildern Anregung schcpfen zum Entwurf
einer Kamee?
Ich suchte nach dem Pagad.
Nicht zu finden. Wo konnte er hingeraten sein?
Ich bldtterte noch einmal die Karten durch und verlor mich in
Nachdenken 'ber ihren verborgenen Sinn. Besonders der "Gehenkte", - was
konnte er nur bedeuten?:
Ein Mann hdngt an einem Seil zwischen Himmel und Erde, den Kopf nach
abwdrts, die Arme auf den R'cken gebunden, den rechten Unterschenkel 'ber
das linke Bein verschrdnkt, daYA es aussieht wie ein Kreuz 'ber einem
verkehrten Dreieck?
Unverstdndliches Gleichnis.
Da! - Endlich! Charousek kam.
Oder doch nicht?
Freudige Xberraschung, es war Mirjam.
"Wissen Sie, Mirjam, daYA ich soeben zu Ihnen hinuntergehen wollte und
Sie bitten, eine Spazierfahrt mit mir zu machen?" Es war nicht ganz die
Wahrheit, aber ich machte mir weiter keine Gedanken dar'ber. - "Nicht wahr,
Sie schlagen es mir nicht ab?! Ich bin heute so unendlich froh im Herzen,
daYA Sie, gerade Sie, Mirjam, meiner Freude die Krone aufsetzen m'ssen."
"- spazierenfahren?", wiederholte sie derart verbl'fft, daYA ich laut
auflachen muYAte.
"Ist denn der Vorschlag gar so wunderbar?"
"Nein, nein, aber - -," sie suchte nach Worten, "unerhcrt merkw'rdig.
Spazierenfahren!"
"Durchaus nicht merkw'rdig, wenn Sie sich vorhalten, daYA es
Hunderttausende von Menschen tun - eigentlich ihr ganzes Leben nichts
anderes tun."
"Ja, andere Menschen!" gab sie, immer noch vollstdndig 'berrumpelt, zu.
Ich faYAte ihre beiden Hdnde:
"Was andere Menschen an Freude erleben d'rfen, mcchte ich, daYA Sie,
Mirjam, in noch unendlich viel reicherem MaYAe genieYAen."
Sie wurde plctzlich leichenblaYA, und ich sah an der starren Taubheit
ihres Blickes, woran sie dachte. Es gab mir einen Stich.
"Sie d'rfen es nicht immer mit sich herumtragen, Mirjam," redete ich
ihr zu, "das - das Wunder. Wollen Sie mir das nicht versprechen - aus - aus
Freundschaft?"
Sie hcrte die Angst aus meinen Worten und blickte mich erstaunt an.
"Wenn es Sie nicht so angriffe, kcnnte ich mich mit Ihnen freuen, aber
so? Wissen Sie, daYA ich tief besorgt bin um Sie, Mirjam? - Um - um - wie
soll ich nur sagen? - um Ihre seelische Gesundheit! Fassen Sie es nicht
wcrtlich auf, aber -: ich wollte, das Wunder wdre nie geschehen."
Ich erwartete, sie w'rde mir widersprechen, aber sie nickte nur in
Gedanken versunken.
"Es verzehrt Sie. Habe ich nicht recht, Mirjam?" Sie raffte sich auf:
"Manchmal mcchte ich beinahe auch, es wdre nicht geschehen."
Es klang wie ein Hoffnungsstrahl f'r mich. - "Wenn ich mir denken
soll," sie sprach ganz langsam und traumverloren, "daYA Zeiten kommen
kcnnten, wo ich ohne solche Wunder leben m'YAte - - -."
"Sie kcnnen doch 'ber Nacht reich werden und brauchen dann nicht mehr
-," fuhr ich ihr unbedacht in die Rede, hielt aber rasch inne, als ich das
Entsetzen in ihrem Gesicht bemerkte, - "ich meine: Sie kcnnen plctzlich auf
nat'rliche Weise Ihrer Sorgen enthoben werden, und die Wunder, die Sie dann
erleben, w'rden geistiger Art sein: - innere Erlebnisse."
Sie sch'ttelte den Kopf und sagte hart: "Innere Erlebnisse sind keine
Wunder. Erstaunlich genug, daYA es Menschen zu geben scheint, die 'berhaupt
keine haben. - Seit meiner Kindheit, Tag f'r Tag, Nacht f'r Nacht, erlebe
ich -" (sie brach mit einem Ruck ab, und ich erriet, daYA noch etwas anderes
in ihr war, von dem sie mir nie gesprochen hatte, vielleicht das Weben
unsichtbarer Geschehnisse, dhnlich den meinigen) - "aber das gehcrt nicht
hierher. Selbst, wenn einer aufst'nde und machte Kranke gesund durch
Handauflegen, ich kcnnte es kein Wunder nennen. Erst, wenn der leblose Stoff
- die Erde - beseelt wird vom Geist und die Gesetze der Natur zerbrechen,
dann ist das geschehen, wonach ich mich sehne, seit ich denken kann. - Mir
hat einmal mein Vater gesagt: es gdbe zwei Seiten der Kabbala: eine magische
und eine abstrakte, die sich niemals zur Deckung bringen lieYAen. Wohl kcnne
die magische die abstrakte an sich ziehen, aber nie und nimmer umgekehrt.
Die magische ist ein Geschenk, die andere kann errungen werden, wenn auch
nur mit Hilfe eines F'hrers." Sie nahm den ersten Faden wieder auf: "Das
Geschenk ist es, nach dem ich d'rste; was ich mir erringen kann, ist mir
gleichg'ltig und wertlos wie Staub. Wenn ich mir denken soll, es kcnnten
Zeiten kommen, sagte ich vorhin, wo ich wieder ohne diese Wunder leben
m'YAte," - ich sah, wie sich ihre Finger krampften und Reue und Jammer
zerfleischten mich, - "ich glaube, ich sterbe jetzt schon angesichts der
bloYAen Mcglichkeit."
"Ist das der Grund, weshalb auch Sie w'nschten, das Wunder wdre nie
geschehen?", forschte ich.
"Nur zum Teil. Es ist noch etwas anderes da. Ich - ich - ", sie dachte
einen Augenblick nach, "war noch nicht reif dazu, ein Wunder in dieser Form
zu erleben. Das ist es. Wie soll ich es Ihnen erkldren? Nehmen Sie einmal
an, bloYA als Beispiel, ich hdtte seit Jahren jede Nacht ein und denselben
Traum, der sich immer weiter fortspinnt und in dem mich jemand - sagen wir:
ein Bewohner einer andern Welt - belehrt und mir nicht nur an einem
Spiegelbilde von mir selbst und seinen allmdhlichen Verdnderungen zeigt, wie
weit ich von der magischen Reife, ein ›Wunder‹ erleben zu kcnnen, entfernt
bin, sondern: mir auch in Verstandesfragen, wie sie mich einmal tags'ber
beschdftigen, derart AufschluYA gibt, daYA ich es jederzeit nachpr'fen kann.
Sie werden mich verstehen: Ein solches Wesen ersetzt einem an Gl'ck alles,
was sich auf Erden ausdenken ldYAt; es ist f'r mich die Br'cke, die mich mit
dem ›Dr'ben‹ verbindet, ist die Jakobsleiter, auf der ich mich 'ber die
Dunkelheit des Alltags erheben kann ins Licht, - ist mir F'hrer und Freund,
und alle meine Zuversicht, daYA ich mich auf den dunkeln Wegen, die meine
Seele geht, nicht verirren kann in Wahnsinn und Finsternis, setze ich auf
›ihn‹, der mich noch nie belogen hat. - Da mit einem Mal, entgegen allem,
was er mir gesagt hat, kreuzt ein ›Wunder‹ mein Leben! Wem soll ich jetzt
glauben? War das, was mich die vielen Jahre 'ber ununterbrochen erf'llt hat,
eine Tduschung? Wenn ich daran zweifeln m'YAte, ich st'rzte kopf'ber in einen
bodenlosen Abgrund. - Und doch ist das Wunder geschehen! Ich w'rde
aufjauchzen vor Freude, wenn -"
"Wenn - - -?" unterbrach ich sie atemlos. Vielleicht sprach sie selbst
das erlcsende Wort, und ich konnte ihr alles eingestehen.
"- wenn ich erf'hre, daYA ich mich geirrt habe, - daYA es gar kein Wunder
war! Aber ich weiYA so genau, wie ich weiYA, daYA ich hier sitze, ich ginge
zugrunde daran"; (mir blieb das Herz stehen) - "zur'ckgerissen werden, vom
Himmel wieder herab m'ssen auf die Erde? Glauben Sie, daYA das ein Mensch
ertragen kann?"
"Bitten Sie doch Ihren Vater um Hilfe", sagte ich ratlos vor Angst.
"Meinen Vater? Um Hilfe?" - sie blickte mich verstdndnislos an - "wo es
nur zwei Wege f'r mich gibt, kann er da einen dritten finden? - - Wissen
Sie, was die einzige Rettung f'r mich wdre? Wenn mir das geschdhe, was Ihnen
geschehen ist. Wenn ich in dieser Minute alles, was hinter mir liegt: mein
ganzes Leben bis zum heutigen Tag - vergessen kcnnte. - Ist es nicht
merkw'rdig: was Sie als Ungl'ck empfinden, wdre f'r mich das hcchste Gl'ck!"
Wir schwiegen beide noch eine lange Zeit. Dann ergriff sie plctzlich
meine Hand und ldchelte. Beinahe frchlich.
"Ich will nicht, daYA Sie sich meinetwegen grdmen;" - (sie trcstete mich
- mich!) - "vorhin waren Sie so voll Freude und Gl'ck 'ber den Fr'hling
drauYAen, und jetzt sind Sie die Betr'bnis selbst. Ich hdtte Ihnen 'berhaupt
nichts sagen sollen. ReiYAen Sie es aus Ihrem Geddchtnis und denken Sie
wieder so heiter wie vorhin! - Ich bin ja so froh -"
"Sie? Froh? Mirjam?", unterbrach ich sie bitter.
Sie machte ein 'berzeugtes Gesicht: "Ja! Wirklich! Froh! Als ich zu
Ihnen heraufging, war ich so unbeschreiblich dngstlich, - ich weiYA nicht
warum: ich konnte das Gef'hl nicht loswerden, daYA Sie in einer groYAen Gefahr
schweben", - ich horchte auf - "aber, statt mich dar'ber zu freuen, Sie
gesund und wohlauf zu treffen, habe ich Sie angeunkt und - -"
Ich zwang mich zur Lustigkeit: "und das kcnnen Sie nur gutmachen, wenn
Sie mit mir ausfahren." (Ich bem'hte mich, so viel Xbermut wie mcglich in
meine Stimme zu legen:) "Ich mcchte doch einmal sehen, Mirjam, ob es mir
nicht gelingt, Ihnen die tr'ben Gedanken zu verscheuchen. Sagen Sie, was Sie
wollen: Sie sind noch lange kein dgyptischer Zauberer, sondern vorldufig nur
ein junges Mddchen, dem der Tauwind noch manchen bcsen Streich spielen
kann."
Sie wurde plctzlich ganz lustig:
"Ja, was ist denn das heute mit Ihnen, Herr Pernath? So hab' ich Sie
noch nie gesehen! - Xbrigens ›Tauwind‹: bei uns Judenmddchen lenken
bekanntlich die Eltern den Tauwind, und wir haben nur zu gehorchen. Tuen es
nat'rlich auch. Es steckt uns schon so im Blut. - Mir ja nicht", setzte sie
ernsthafter hinzu, "meine Mutter hat bcs gestreikt, als sie den grdYAlichen
Aaron Wassertrum heiraten sollte."
"Was? Ihre Mutter? Den Trcdler da unten?"
Mirjam nickte. "Gott sei Dank ist es nicht zustande gekommen. - F'r den
armen Menschen freilich war es ein vernichtender Schlag."
"Armer Mensch, sagen Sie?" fuhr ich auf. "Der Kerl ist ein Verbrecher."
Sie wiegte nachdenklich den Kopf: "GewiYA, er ist ein Verbrecher. Aber
wer in einer solchen Haut steckt und kein Verbrecher wird, muYA ein Prophet
sein."
Ich r'ckte neugierig ndher;
"Wissen Sie Genaueres 'ber ihn? Mich interessiert das. Aus ganz
besonderen - -"
"Wenn Sie einmal seinen Laden von innen gesehen hdtten, Herr Pernath,
w'YAten Sie sofort, wie es in seiner Seele ausschaut. Ich sage das, weil ich
als Kind sehr oft drin war. - Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Ist denn
das so merkw'rdig? - Gegen mich war er immer freundlich und g'tig. Einmal
sogar, erinnere ich mich, schenkte er mir einen groYAen blitzenden Stein, der
mir besonders unter seinen Sachen gefallen hatte. Meine Mutter sagte, es sei
ein Brillant, und ich muYAte ihn nat'rlich sofort zur'cktragen.
Erst wollte er ihn lange nicht wiedernehmen, aber dann riYA er ihn mir
aus der Hand und warf ihn voll Wut weit von sich. Ich habe aber dennoch
gesehen, wie ihm dabei die Trdnen aus den Augen st'rzten; ich konnte auch
damals schon genug Hebrdisch, um zu verstehen, was er murmelte: ›Alles ist
verflucht, was meine Hand ber'hrt.‹ - - Es war das letzte Mal, daYA ich ihn
besuchen durfte. Nie wieder hat er mich seitdem aufgefordert, zu ihm zu
kommen. Ich weiYA auch warum: Hdtte ich ihn nicht zu trcsten versucht, wdre
alles beim alten geblieben, so aber, weil er mir unendlich leid tat und ich
es ihm sagte, wollte er mich nicht mehr sehen. - - - Sie verstehen das
nicht, Herr Pernath? Es ist doch so einfach: er ist ein Besessener, - ein
Mensch, der sofort miYAtrauisch, unheilbar miYAtrauisch wird, wenn jemand an
sein Herz r'hrt. Er hdlt sich f'r noch viel hdYAlicher, als er in
Wirklichkeit ist, - wenn das 'berhaupt mcglich sein kann, und darin wurzelt
sein ganzes Denken und Handeln. Man sagt, seine Frau hdtte ihn gern gehabt,
vielleicht war es mehr Mitleid als Liebe, aber immerhin glaubten es sehr
viele Leute. Der einzige, der vom Gegenteil tief durchdrungen war, war er.
Xberall wittert er Verrat und HaYA.
Nur bei seinem Sohn machte er eine Ausnahme. Ob es daher kam, daYA er
ihn vom Sduglingsalter an hatte heranwachsen sehen, also das Keimen jeder
Eigenschaft von Urbeginn in dem Kinde sozusagen miterlebte und daher nie zu
einem Punkte gelangte, wo sein MiYAtrauen hdtte einsetzen kcnnen, oder ob es
im j'dischen Blute lag: alles, was an Liebesfdhigkeit in ihm lebte, auf
seinen Nachkommen auszugieYAen - in jener instinktiven Furcht unserer Rasse:
wir kcnnten aussterben und eine Mission nicht erf'llen, die wir vergessen
haben, die aber dunkel in uns fortlebt, - wer kann das wissen!
Mit einer Umsicht, die beinahe an Weisheit grenzte, und bei einem
unbelesenen Menschen, wie er, wunderbar ist, leitete er die Erziehung seines
Sohnes. Mit dem Scharfsinn eines Psychologen rdumte er dem Kinde jedes
Erlebnis aus dem Wege, das zur Entwicklung der Gewissenstdtigkeit hdtte
beitragen kcnnen, um ihm k'nftige seelische Leiden zu ersparen.
Er hielt ihm als Lehrer einen hervorragenden Gelehrten, der die Ansicht
verfocht, die Tiere seien empfindungslos und ihre SchmerzduYAerung ein
mechanischer Reflex.
Aus jedem Geschcpf so viel Freude und GenuYA f'r sich selbst
herauspressen, wie nur irgend mcglich, und dann die Schale sofort als
nutzlos wegzuwerfen: das war ungefdhr das Abc seines weitblickenden
Erziehungssystems.
DaYA das Geld als Standarte und Schl'ssel zur ›Macht‹ dabei eine erste
Rolle spielte, kcnnen Sie sich denken, Herr Pernath. Und so wie er selbst
den eigenen Reichtum sorgsam geheim hdlt, um die Grenzen seines Einflusses
in Dunkel zu h'llen, so ersann er sich ein Mittel, seinem Sohn Dhnliches zu
ermcglichen, ihm aber gleichzeitig die Qual eines scheinbar drmlichen Lebens
zu ersparen: er durchtrdnkte ihn mit der infernalischen L'ge von der
›Schcnheit‹, brachte ihm die duYAere und innere Gebdrde der Dsthetik bei,
lehrte ihn duYAerlich: die Lilie auf dem Felde heucheln und innerlich ein
Aasgeier sein.
Nat'rlich war das mit der ›Schcnheit‹ wohl kaum eigene Erfindung von
ihm - vermutlich die ›Verbesserung‹ eines Ratschlags, den ihm ein Gebildeter
gegeben hatte.
DaYA ihn sein Sohn spdter verleugnete, wo und wann er nur konnte, nahm
er niemals 'bel. Im Gegenteil, er machte es ihm zur Pflicht: denn seine
Liebe war selbstlos, und wie ich es schon einmal von meinem Vater sagte: -
von der Art, die 'bers Grab hinausgeht."
Mirjam schwieg einen Augenblick und ich sah ihr an, wie sie ihre
Gedanken stumm weiterspann, hcrte es an dem verdnderten Klang ihrer Stimme,
als sie sagte:
"Seltsame Fr'chte wachsen auf dem Baume des Judentums."
"Sagen Sie, Mirjam," fragte ich, "haben Sie nie davon gehcrt, daYA
Wassertrum eine Wachsfigur in seinem Laden stehen hat? Ich weiYA nicht mehr,
wer es mir erzdhlt hat, - es war vielleicht nur ein Traum - -"
"Nein, nein, es ist schon richtig, Herr Pernath: eine lebensgroYAe
Wachsfigur steht in der Ecke, in der er, mitten unter dem tollsten Ger'mpel,
auf seinem Strohsack schldft. Er hat sie vor Jahren einem Schaubudenbesitzer
abgewuchert, heiYAt es, bloYA weil sie einem Mddchen - einer Christin -
dhnlich sah, die angeblich einmal seine Geliebte gewesen sein soll."
"Charouseks Mutter!" drdngte es sich mir auf.
"Ihren Namen wissen Sie nicht, Mirjam?"
Mirjam sch'ttelte den Kopf. "Wenn Ihnen daran liegt, - soll ich mich
erkundigen?"
"Ach Gott, nein, Mirjam; es ist mir vollkommen gleichg'ltig", (ich sah
an ihren blitzenden Augen, daYA sie sich in Eifer geredet hatte. Sie durfte
nicht wieder zu sich kommen, nahm ich mir vor), "aber was mich viel mehr
interessiert, ist das Gebiet, von dem Sie vorhin fl'chtig sprachen. Ich
meine das ›vom Tauwind‹. - Ihr Vater w'rde Ihnen doch gewiYA nicht
vorschreiben, wen Sie heiraten sollen?"
Sie lachte lustig auf. "Mein Vater? Wo denken Sie hin!"
"Nun, das ist ein groYAes Gl'ck f'r mich."
"Wieso?" fragte sie arglos.
"Weil ich dann noch Chancen habe."
Es war nur ein Scherz, und sie nahm es auch nicht anders hin, aber doch
sprang sie rasch auf und ging ans Fenster, um mich nicht sehen zu lassen,
daYA sie rot wurde.
Ich lenkte ein, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen:
"Das eine bitte ich mir aus als alter Freund: Mich m'ssen Sie
einweihen, wenn's einmal so weit ist. - Oder gedenken Sie 'berhaupt ledig zu
bleiben?"
"Nein! nein! nein!" - sie wehrte so entschlossen ab, daYA ich
unwillk'rlich ldchelte - "einmal muYA ich ja doch heiraten."
"Nat'rlich! Selbstverstdndlich!"
Sie wurde nervcs wie ein Backfisch.
"Kcnnen Sie denn nicht eine Minute ernsthaft bleiben, Herr Pernath?" -
Ich machte gehorsam ein Lehrergesicht, und sie setzte sich wieder. - "Also:
wenn ich sage, ich muYA doch einmal heiraten, so meine ich damit, daYA ich mir
zwar bis jetzt den Kopf'ber die ndheren Umstdnde nicht zerbrochen habe, den
Sinn des Lebens aber gewiYA nicht verst'nde, wenn ich annehmen w'rde, ich sei
als Weib auf die Welt gekommen, um kinderlos zu bleiben."
Das erste Mal, seit ich sie kannte, sah ich das Frauenhafte in ihren
Z'gen.
"Es gehcrt mit zu meinen Trdumen", fuhr sie leise fort, "mir
vorzustellen, daYA es ein Endziel sei, wenn zwei Wesen zu einem verschmelzen,
- zu dem, was - - haben Sie nie von dem dgyptischen Osiriskult gehcrt? - zu
dem verschmelzen, was der ›Hermaphrodit‹ als Symbol bedeuten mag."
Ich horchte gespannt auf: "Der Hermaphrodit -?"
"Ich meine: Die magische Vereinigung von mdnnlich und weiblich im
Menschengeschlecht zu einem Halbgott. Als Endziel! - Nein, nicht als
Endziel, als Beginn eines neuen Weges, der ewig ist - kein Ende hat."
"Und hoffen Sie, dereinst denjenigen zu finden," fragte ich
ersch'ttert, "den Sie suchen? - Kann es nicht sein, daYA er in einem fernen
Land lebt, vielleicht gar nicht auf Erden ist?"
"Davon weiYA ich nichts"; sagte sie einfach, "ich kann nur warten. Wenn
er durch Zeit und Raum von mir getrennt ist, - was ich nicht glaube, weshalb
wdre ich dann hier im Getto angebunden? - oder durch die Kl'fte
gegenseitigen Nichterkennens - und ich finde ihn nicht, dann hat mein Leben
keinen Zweck gehabt und war das gedankenlose Spiel eines idiotischen Ddmons.
- Aber, bitte, bitte, reden wir nicht mehr davon," flehte sie, "wenn man den
Gedanken nur ausspricht, bekommt er schon einen hdYAlichen, irdischen
Beigeschmack, und ich mcchte nicht -"
Sie brach plctzlich ab.
"Was mcchten Sie nicht, Mirjam?"
Sie hob die Hand. Stand rasch auf und sagte:
"Sie bekommen Besuch, Herr Pernath!"
Seidenkleider raschelten auf dem Gang.
Ungest'mes Klopfen. Dann:
Angelina!
Mirjam wollte gehen; ich hielt sie zur'ck:
"Darf ich vorstellen: die Tochter eines lieben Freundes - Frau Grdfin
-"
"Nicht einmal vorfahren kann man mehr. Xberall das Pflaster
aufgerissen. Wann werden Sie einmal in eine menschenw'rdige Gegend siedeln,
Meister Pernath? DrauYAen schmilzt der Schnee und der Himmel jubelt, daYA es
einem die Brust zersprengt, und Sie hocken hier in Ihrer Tropfsteingrotte
wie ein alter Frosch, - - 'brigens wissen Sie, daYA ich gestern bei meinem
Juwelier war und er gesagt hat: Sie seien der grcYAte K'nstler, der feinste
Gemmenschneider, den es heute gibt, wenn nicht einer der grcYAten, die je
gelebt haben?!" - Angelina plauderte wie ein Wasserfall, und ich war
verzaubert. Sah nur mehr ihre strahlenden, blauen Augen, die kleinen F'YAe in
den winzigen Lackstiefeln, sah das kaprizicse Gesicht aus dem Wust von
Pelzwerk leuchten und die rosigen Ohrldppchen.
Sie lieYA sich kaum Zeit auszuatmen.
"An der Ecke steht mein Wagen. Ich hatte schon Angst, Sie nicht zu
Hause zu treffen. Sie haben doch hoffentlich noch nicht zu Mittag gegessen?
Wir fahren zuerst - ja, wohin fahren wir zuerst? Wir fahren zuerst einmal -
warten Sie - - ja: vielleicht in den Baumgarten, oder kurz: irgendwohin ins
Freie, wo man so recht das Keimen und heimliche Sprossen in der Luft ahnt.
Kommen Sie, kommen Sie, nehmen Sie Ihren Hut; und dann essen Sie bei mir, -
und dann schwdtzen wir bis abends. Nehmen Sie doch Ihren Hut! Worauf warten
Sie denn? - Eine warme, ganz weiche Decke ist unten: da wickeln wir uns ein
bis an die Ohren und kuscheln uns zusammen, bis uns siedheiYA wird."
Was sollte ich nur sagen?! "Soeben habe ich mit der Tochter meines
Freundes eine Spazierfahrt verabredet - -"
Mirjam hatte sich bereits hastig von Angelina verabschiedet, noch ehe
ich aussprechen konnte.
Ich begleitete sie bis vor die T'r, obschon sie mich freundlich
abwehren wollte.
"Hcren Sie mich an, Mirjam, ich kann es Ihnen hier auf der Treppe nicht
so sagen, wie ich an Ihnen hdnge - - und daYA ich tausendmal lieber mit Ihnen
- -"
"Sie d'rfen die Dame nicht warten lassen, Herr Pernath," drdngte sie,
"adieu und viel Vergn'gen!"
Sie sagte es voll Herzlichkeit und unverstellt und echt, aber ich sah,
daYA der Glanz in ihren Augen erloschen war.
Sie eilte die Treppe hinunter, und das Leid schn'rte mir die Kehle
zusammen.
Mir war, als hdtte ich eine Welt verloren.
Wie im Rausch saYA ich an Angelinas Seite. Wir fuhren in rasendem Trab
durch die menschen'berf'llten StraYAen.
Eine Brandung des Lebens rings um mich, daYA ich, halb betdubt, nur noch
die kleinen Lichtflecke in dem Bilde, das an mir vor'berhuschte,
unterscheiden konnte: blitzende Juwelen in Ohrringen und Muffketten, blanke
Zylinderh'te, weiYAe Damenhandschuhe, einen Pudel mit rosa Halsschleife, der
kldffend in die Rdder beiYAen wollte, schdumende Rappen, die uns
entgegensausten in silbernen Geschirren, ein Ladenfenster, drin schimmernde
Schalen voll Perlschn'ren und funkelnden Geschmeiden, - Seidenglanz um
schlanke Mddchenh'ften.
Der scharfe Wind, der uns ins Gesicht schnitt, lieYA mich die Wdrme von
Angelinas Kcrper doppelt sinnverwirrend empfinden.
Die Schutzleute an den Kreuzungen sprangen respektvoll zur Seite, wenn
wir an ihnen vor'berjagten.
Dann ging's im Schritt 'ber das Quai, das eine einzige Wagenreihe war,
an der eingest'rzten steinernen Br'cke vorbei, umstaut vom Gew'hl gaffender
Gesichter.
Ich blickte kaum hin: - das kleinste Wort aus dem Munde Angelinas, ihre
Wimpern, das eilige Spiel ihrer Lippen, - alles, alles war mir unendlich
viel wichtiger, als zuzusehen, wie die Felstr'mmer dort unten den
antaumelnden Eisschollen die Schultern entgegenstemmten. -
Parkwege. Dann - gestampfte, elastische Erde. Dann Laubrascheln unter
den Hufen der Pferde, nasse Luft, bldtterlose Baumriesen voll von
Krdhennestern, totes Wiesengr'n mit weiYAlichen Inseln schwindenden Schnees,
alles zog an mir vorbei wie getrdumt.
Nur mit ein paar kurzen Worten, fast gleichg'ltig, kam Angelina auf Dr.
Savioli zu sprechen.
"Jetzt, wo die Gefahr vor'ber ist", sagte sie mit entz'ckender,
kindlicher Unbefangenheit, "und ich weiYA, daYA es ihm auch wieder besser
geht, kommt mir alles das, was ich mitgemacht habe, so grdYAlich langweilig
vor. - Ich will mich endlich einmal wieder freuen, die Augen zumachen und
untertauchen in dem glitzernden Schaum des Lebens. Ich glaube, alle Frauen
sind so. Sie gestehen es bloYA nicht ein. Oder sie sind so dumm, daYA sie es
selbst nicht wissen. Meinen Sie nicht auch?" Sie hcrte gar nicht hin, was
ich darauf antwortete. "Xbrigens sind mir die Frauen vollstdndig
uninteressant. Sie d'rfen es nat'rlich nicht als Schmeichelei auffassen:
aber - wahrhaftig, die bloYAe Ndhe eines sympathischen Mannes ist mir im
kleinen Finger lieber als das anregendste Gesprdch mit einer noch so
gescheiten Frau. Es ist ja schlieYAlich doch alles dummes Zeug, was man da
zusammenschwdtzt. - Hcchstens: das biYAchen Putz - na und! Die Moden wechseln
ja nicht gar so hdufig. - - Nicht wahr, ich bin leichtsinnig?", fragte sie
plctzlich kokett, daYA ich mich, bestrickt von ihrem Reiz, zusammennehmen
muYAte, nicht ihr Kcpfchen zwischen meine Hdnde zu nehmen und sie in den
Nacken zu k'ssen, - "sagen Sie, daYA ich leichtsinnig bin!"
Sie schmiegte sich noch dichter an und hdngte sich in mich ein.
Wir fuhren aus der Allee heraus an Bosketts entlang mit
strohumwickelten Zierstauden, die aussahen in ihren H'llen wie R'mpfe von
Ungeheuern mit abgehauenen Gliedern und Hduptern.
Leute saYAen auf Bdnken in der Sonne und blickten hinter uns drein und
steckten die Kcpfe zusammen.
Wir schwiegen eine Weile und hingen unseren Gedanken nach. Wie war
Angelina doch so vollstdndig anders, als sie bisher in meiner Einbildung
gelebt hatte! - Als sei sie erst heute f'r mich in die Gegenwart ger'ckt!
War das wirklich dieselbe Frau, die ich damals in der Domkirche
getrcstet hatte?
Ich konnte den Blick nicht wenden von ihrem halboffenen Mund.
Sie sprach noch immer kein Wort. Schien im Geiste ein Bild zu sehen.
Der Wagen bog 'ber eine feuchte Wiese.
Es roch nach erwachender Erde.
"Wissen Sie, - - Frau - -?"
"Nennen Sie mich doch Angelina", unterbrach sie mich leise.
"Wissen Sie, Angelina, daYA - daYA ich heute die ganze Nacht von Ihnen
getrdumt habe?", stieYA ich gepreYAt hervor.
Sie machte eine kleine rasche Bewegung, als wolle sie ihren Arm aus
meinem ziehen, und sah mich groYA an. "Merkw'rdig! Und ich von Ihnen! - Und
in diesem Moment habe ich dasselbe gedacht."
Wieder stockte das Gesprdch, und beide errieten wir, daYA wir auch
dasselbe getrdumt hatten.
Ich f'hlte es an dem Beben ihres Blutes. Ihr Arm zitterte kaum merklich
an meiner Brust. Sie blickte krampfhaft von mir weg aus dem Wagen hinaus. -
- -
Langsam zog ich ihre Hand an meine Lippen, streifte den weiYAen,
duftenden Handschuh zur'ck, hcrte, wie ihr Atem heftig wurde, und preYAte
toll vor Liebe meine Zdhne in ihren Handballen.
- - Stunden spdter ging ich wie ein Trunkener durch den Abendnebel
hinab der Stadt zu. Planlos wdhlte ich die StraYAen und ging lange, ohne es
zu wissen, im Kreise herum.
Dann stand ich am FluYA 'ber eisernes Geldnder gebeugt und starrte hinab
in die tosenden Wellen.
Noch immer f'hlte ich Angelinas Arme um meinen Nacken, sah das
steinerne Becken des Springbrunnens, an dem wir schon einmal Abschied
voneinander genommen vor vielen Jahren, vor mir, mit den faulenden
Ulmenbldttern darin, und sie wanderte wieder mit mir, wie soeben erst vor
kurzem, den Kopf an meine Schulter gelehnt, stumm durch den frcsteldnen,
ddmmrigen Park ihres Schlosses.
Ich setzte mich auf eine Bank und zog den Hut tief ins Gesicht, um zu
trdumen.
Die Wasser brausten 'ber das Wehr und ihr Rauschen verschlang die
letzten, aufmurrenden Gerdusche der schlafengehenden Stadt.
Wenn ich von Zeit zu Zeit meinen Mantel fester um mich zog und
aufblickte, lag der FluYA in immer tieferen Schatten, bis er endlich, von der
schweren Nacht erdr'ckt, schwarzgrau dahinstrcmte und der Gischt des
Staudamms als weiYAer, blendender Streifen schrdg hin'ber zum andern Ufer
lief.
Mich schauderte bei dem Gedanken, wieder zur'ck zu m'ssen in mein
trauriges Haus.
Der Glanz eines kurzen Nachmittags hatte mich f'r immer zum Fremdling
in meiner Wohnstdtte gemacht.
Eine Spanne von wenigen Wochen, vielleicht nur von Tagen, dann muYAte
das Gl'ck vor'ber sein - und nichts blieb davon als eine wehe, schcne
Erinnerung.
Und dann?
Dann war ich heimatlos hier und dr'ben, diesseits und jenseits des
Flusses.
Ich stand auf! Wollte noch durch das Parkgitter einen Blick auf das
SchloYA werfen, hinter dessen Fenstern sie schlief, ehe ich in das finstere
Getto ging. - - - Ich schlug die Richtung ein, aus der ich gekommen war,
tappte mich durch den dichten Nebel an Hduserreihen entlang und 'ber
schlummernde Pldtze, sah schwarze Monumente drohend auftauchen und einsame
Schilderhduser und die Schncrkel von Barockfassaden. Der matte Schimmer
einer Laterne wuchs zu riesigen, phantastischen Ringen in verblichenen
Regenbogenfarben aus dem Dunst heraus, wurde zum fahlgelben, stechenden Auge
und zerging hinter mir in der Luft.
Mein FuYA tastete breite, steinerne Stufenfldchen, mit Kies bestreut. Wo
war ich? Ein Hohlweg, der steil aufwdrts f'hrt?
Glatte Gartenmauern links und rechts? Die kahlen Dste eines Baumes
hdngen her'ber. Sie kommen vom Himmel herunter: der Stamm verbirgt sich
hinter der Nebelwand. -
Ein paar morsche, d'nne Zweige brechen krachend ab, wie mein Hut sie
streift, und fallen an meinem Mantel hinab in den nebligen grauen Abgrund,
der mir meine F'YAe verbirgt.
Dann ein strahlender Punkt: ein einsames Licht in der Ferne - irgendwo
- rdtselhaft - zwischen Himmel und Erde. - - -
Ich muYAte fehlgegangen sein. Es konnte nur die "alte SchloYAstiege" sein
neben den Hdngen der F'rstenbergschen Gdrten - - -
Dann lange Strecken lehmiger Erde. - Ein gepflasterter Weg.
Ein massiger Schatten ragt hoch auf, den Kopf in einer schwarzen,
steifen Zipfelm'tze: "die Daliborka" = der Hungerturm, in dem Menschen einst
verschmachteten, derweilen Kcnige unten im "Hirschgraben" das Wild hetzten.
Ein schmales, gewundenes GdYAchen mit SchieYAscharten, ein Schneckengang,
kaum breit genug, die Schultern durchzulassen - und ich stand vor einer
Reihe von Hduschen, keines hcher als ich.
Wenn ich den Arm ausstreckte, konnte ich auf die Ddcher greifen.
Ich war in die "Goldmachergasse" geraten, wo im Mittelalter die
alchimistischen Adepten den Stein der Weisen gegl'ht und die Mondstrahlen
vergiftet haben.
Es r'hrte kein anderer Weg hinaus als der, den ich gekommen war.
Aber ich fand die Mauerl'cke nicht mehr, die mich eingelassen, - stieYA
an ein Holzgatter.
Es n'tzt nichts, ich muYA jemand wecken, damit man mir den Weg zeigt,
sagte ich mir. Sonderbar, daYA hier ein Haus die Gasse abschlieYAt - grcYAer
als die andern und anscheinend wohnlich? Ich kann mich nicht entsinnen, es
je bemerkt zu haben.
Es muYA wohl weiYA get'ncht sein, daYA es so hell aus dem Nebel leuchtet?
Ich gehe durch das Gatter 'ber den schmalen Gartenstreif, dr'cke das
Gesicht an die Scheiben: - alles finster. Ich klopfe ans Fenster. - Da geht
drinnen ein steinalter Mann, eine brennende Kerze in der Hand, durch eine
T'r mit greisenhaft wankenden Schritten bis mitten in die Stube, bleibt
stehen, dreht langsam den Kopf nach den verstaubten alchimistischen Retorten
und Kolben an der Wand, starrt nachdenklich auf die riesigen Spinnweben in
den Ecken und richtet dann seinen Blick unverwandt auf mich.
Der Schatten seiner Backenknochen fdllt ihm auf die Augenhchlen, daYA es
aussieht, als seien sie leer wie die einer Mumie.
Er sieht mich offenbar nicht.
Ich klopfe ans Glas.
Er hcrt mich nicht. Geht lautlos wie ein Schlafwandler wieder aus dem
Zimmer.
Ich warte vergebens.
Klopfe ans Haustor: niemand cffnet. - - -
Es blieb mir nichts 'brig, als so lange zu suchen, bis ich den Ausgang
aus der Gasse endlich fand.
Ob es nicht am besten wdre, ich ginge noch unter Menschen, 'berlegte
ich. - Zu meinen Freunden: Zwakh, Prokop und Vrieslander ins "alte Ungelt",
wo sie bestimmt sein w'rden -, um meine verzehrende Sehnsucht nach Angelinas
K'ssen wenigstens f'r ein paar Stunden zu 'bertduben? Rasch mache ich mich
auf den Weg.
Wie ein Trifolium von Toten hockten sie um den wurmstichigen, alten
Tisch herum, - alle drei: weiYAe d'nnstielige Tonpfeifen zwischen den Zdhnen,
und das Zimmer voll Rauch.
Man konnte kaum ihre Gesichtsz'ge unterscheiden, so schluckten die
dunkelbraunen Wdnde das spdrliche Licht der altmodischen Hdngelampe ein.
In der Ecke die spindeld'rre, wortkarge, verwitterte Kellnerin mit
ihrem ewigen Strickstrumpf, dem farblosen Blick und der gelben
Entenschnabelnase!
Mattrote Decken hingen vor den geschlossenen T'ren, so daYA die Stimmen
der Gdste im Nebenzimmer nur wie das leise Summen eines Bienenschwarms
her'berdrangen.
Vrieslander, seinen kegelfcrmigen Hut mit der geraden Krempe auf dem
Kopf, mit seinem Knebelbart, der bleigrauen Gesichtsfarbe und der Narbe
unter dem Auge, sah aus wie ein ertrunkener Holldnder aus einem vergessenen
Jahrhundert.
Josua Prokop hatte sich eine Gabel quer durch die Musikerlocken
gesteckt, klapperte unaufhcrlich mit seinen gespenstisch langen
Knochenfingern und sah bewundernd zu, wie sich Zwakh abm'hte, der bauchigen
Arakflasche das Purpurmdntelchen einer Marionette umzuhdngen.
"Das wird Babinski", erkldrte mir Vrieslander mit tiefem Ernst. "Sie
wissen nicht, wer Babinski war? Zwakh, erzdhlen Sie Pernath rasch, wer
Babinski war!"
"Babinski war", begann Zwakh sofort, ohne auch nur eine Sekunde von
seiner Arbeit aufzusehen, "einst ein ber'hmter Raubmcrder in Prag. - Viele
Jahre betrieb er sein schdndliches Handwerk, ohne daYA es jemand bemerkt
hdtte. Nach und nach jedoch fiel es in den besseren Familien auf, daYA bald
dieses, bald jenes Mitglied der Sippe beim Essen fehlte und sich nie wieder
blicken lieYA. Wenn man auch anfangs nichts sagte, da die Sache gewissermaYAen
ihre guten Seiten hatte, indem man weniger zu kochen brauchte, so durfte
wiederum nicht auYAer acht gelassen werden, daYA das Ansehen in der
Gesellschaft leicht darunter leiden und man ins Gerede kommen konnte.
Besonders, wenn es sich um das spurlose Verschwinden mannbarer Tcchter
handelte.
Xberdies verlangte die Hochachtung vor sich selbst, daYA man auf ein
b'rgerliches Zusammenleben in der Familie nach auYAen hin das nctige Gewicht
legte.
Die Zeitungsrubriken: "Kehre zur'ck, alles ist verziehen" wuchsen immer
mehr und mehr, - ein Umstand, den Babinski, leichtsinnig wie die meisten
Berufsmcrder, in seine Berechnungen nicht einbezogen hatte, - und erregten
schlieYAlich die allgemeine Aufmerksamkeit.
In dem lieblichen Dcrfchen Krtsch bei Prag hatte sich Babinski, der
innerlich ein ausgesprochen idyllischer Charakter war, mit der Zeit durch
seine unverdrossene Tdtigkeit ein kleines, aber trautes Heim geschaffen. Ein
Hduschen, blitzend vor Sauberkeit, und ein Gdrtchen davor mit bl'henden
Geranien.
Da es ihm seine Eink'nfte nicht gestatteten, sich zu vergrcYAern, sah er
sich genctigt, um die Leichen seiner Opfer unauffdllig bestatten zu kcnnen,
statt eines Blumenbeetes - wie er es gern gesehen hdtte - einen
grasbewachsenen und schlichten, aber, den Umstdnden angemessen: zweckmdYAigen
Grabh'gel anzulegen, der sich m'helos verldngern lieYA, wenn es der Betrieb
oder die Saison erforderte.
Auf dieser Weihestdtte pflegte Babinski allabendlich nach des Tages
Last und M'hen in den Strahlen der untergehenden Sonne zu sitzen und auf
seiner Flcte allerlei schwerm'tige Weisen zu blasen." - -
"Halt!" unterbrach Josua Prokop rauh, zog einen Hausschl'ssel aus der
Tasche, hielt ihn wie eine Klarinette an den Mund und sang:
"Zimzerlim zambusla - deh."
"Waren Sie denn dabei, daYA Sie die Melodie so genau kennen?", fragte
Vrieslander erstaunt.
Prokop warf ihm einen bitterbcsen Blick zu: "Nein. Dazu hat Babinski zu
fr'h gelebt. Aber was er gespielt haben kann, muYA ich als Komponist doch am
besten wissen. Ihnen steht dar'ber kein Urteil zu: Sie sind nicht
musikalisch. - - Zimzerlim - zambusla - busla - deh."
Zwakh hcrte ergriffen zu, bis Prokop seinen Hausschl'ssel wieder
einsteckte, und fuhr dann fort:
"Das bestdndige Wachsen des H'gels erweckte allmdhlich Verdacht bei den
Anrainern, und einem Polizeimann aus der Vorstadt Zizkov, der gelegentlich
von weitem zusah, wie Babinski gerade eine alte Dame der guten Gesellschaft
erw'rgte, geb'hrt das Verdienst, dem selbsts'chtigen Treiben des Unholdes
ein f'r allemal Schranken gesetzt zu haben:
Man verhaftete Babinski in seinem Tuskulum.
Der Gerichtshof verurteilte ihn unter Zubilligung des mildernden
Umstandes eines ansonsten trefflichen Leumundes zum Tode durch den Strang
und beauftragte zugleich die Firma Gebr'der Leipen - Seilwaren en gros und
en detail - die nctigen Hinrichtungsutensilien, soweit diese in ihre Branche
fielen, unter Anrechnung ziviler Preise einem hohen Staatsdrar gegen
Quittung auszuhdndigen.
Nun f'gte es sich aber, daYA der Strick riYA und Babinski zu
lebensldnglichem Gefdngnis begnadigt wurde.
Zwanzig Jahre verb'YAte der Raubmcrder hinter den Mauern von Sankt
Pankraz, ohne daYA je ein Vorwurf 'ber seine Lippen gekommen wdre; - noch
heute ist der Beamtenstab des Institutes voll Lob 'ber seine vorbildliche
Auff'hrung, ja, man gestattete ihm sogar, an den Geburtstagen unseres
Allerhcchsten Landesherrn ab und zu die Flcte zu blasen; -"
Prokop suchte sofort wieder nach seinem Hausschl'ssel, aber Zwakh
wehrte ihm.
"- infolge allgemeiner Amnestie wurde dem Babinski der Rest der Strafe
nachgesehen, und er bekam die Stelle eines Pfcrtners im Kloster der
›Barmherzigen Schwestern‹.
Die leichte Gartenarbeit, die er nebenbei mit zu versehen hatte, ging
ihm dank der groYAen, wdhrend seines fr'heren Wirkungskreises erworbenen
Geschicklichkeit im Gebrauch des Spatens hurtig von der Hand, so daYA ihm
hinldnglich MuYAe blieb, Herz und Geist an guter, sorgfdltig ausgewdhlter
Lekt're zu ldutern.
Die daraus resultierenden Folgen waren hocherfreulich.
Sooft ihn die Oberin Samstagabends ins Wirtshaus schickte, damit er
sein Gem't ein wenig erheitere, jedesmal kam er p'nktlich vor Anbruch der
Nacht nach Hause mit dem Hinweis, der Verfall der allgemeinen Moral stimme
ihn tr'be und soviel lichtscheues Gesindel schlimmster Sorte mache die
LandstraYAe unsicher, daYA es f'r jeden Friedliebenden ein Gebot der Klugheit
sei, rechtzeitig die Schritte heimwdrts zu lenken.
Es war nun damaliger Zeit in Prag bei den Wachsziehern die Unsitte
eingerissen, kleine Fig'rchen feilzuhalten, die ein rotes Manterle umhdngen
hatten und den Raubmcrder Babinski darstellten.
Wohl in keiner der leidtragenden Familien fehlte ein solches.
Gewchnlich aber standen sie in den Ldden unter Glasst'rzen, und 'ber
nichts konnte sich Babinski so empcren, als wenn er eines derartigen
Wachsbildes ansichtig wurde.
›Es ist im hcchsten Grade unw'rdig und zeugt von einer Gem'tsroheit
sondersgleichen, einem Menschen bestdndig die Verfehlungen seiner Jugendzeit
vor Augen zu f'hren,‹ pflegte Babinski in solchen Fdllen zu sagen ›und es
ist tief zu bedauern, daYA von Seiten der Obrigkeit nichts geschieht, so
offenkundigem Unfug zu steuern.‹
Noch auf dem Totenbette duYAerte er sich in dhnlichem Sinne.
Nicht vergebens, denn bald darauf verf'gte die Behcrde die Einstellung
des Handels mit den drgerniserregenden Babinskischen Statuetten." - - -
- - - Zwakh tat einen mdchtigen Schluck aus seinem Grogglas und alle
drei grinsten wie die Teufel, dann wandte er vorsichtig den Kopf nach der
farblosen Kellnerin, und ich sah, wie sie eine Trdne im Auge zerdr'ckte.
- "Na, und Sie geben nichts zum besten, auYAer - nat'rlich - daYA Sie aus
Dankbarkeit f'r den 'berstandenen KunstgenuYA die Zeche berappen,
wertgeschdtzter Kollege und Gemmenschneider?", fragte mich Vrieslander nach
einer langen Pause allgemeinen Tiefsinnes.
Ich erzdhlte ihnen meine Wanderung durch den Nebel.
Als ich in der Schilderung zu der Stelle kam, wo ich das weiYAe Haus
erblickt hatte, nahmen alle drei vor Spannung die Pfeifen aus den Zdhnen,
und als ich schloYA, schlug Prokop mit der Faust auf den Tisch und rief:
"Das ist doch rein - -! Alle Sagen, die es gibt, erlebt dieser Pernath
am eigenen Kadaver. - A propos, der Golem von damals - Sie wissen: die Sache
hat sich aufgekldrt."
"Wieso aufgekldrt?" fragte ich baff.
"Sie kennen doch den verr'ckten j'dischen Bettler ›Haschile‹? Nein? Nun
also: dieser Haschile war der Golem."
"Ein Bettler der Golem?"
"Jawohl, der Haschile war der Golem. Heute nachmittag ging das Gespenst
seelenvergn'gt bei hellichtem Sonnenschein in seinem ber'chtigten
altmodischen Anzug aus dem XVII. Jahrhundert durch die Salnitergasse
spazieren, und da hat es der Schinder mit einer Hundeschlinge gl'cklich
eingefangen."
"Was soll das heiYAen? Ich verstehe kein Wort!" fuhr ich auf.
"Ich sage Ihnen doch: der Haschile war es! Er hat die Kleider, hcre
ich, vor ldngerer Zeit hinter einem Haustor gefunden. - Xbrigens, um auf das
weiYAe Haus auf der Kleinseite zur'ckzukommen: die Sache ist furchtbar
interessant. Es geht ndmlich eine alte Sage, daYA dort oben in der
Alchimistengasse ein Haus steht, das nur bei Nebel sichtbar wird, und auch
da bloYA ›Sonntagskindern‹. Man nennt es ›die Mauer zur letzten Laterne‹. Wer
bei Tag hinaufgeht, sieht dort nur einen groYAen, grauen Stein, - dahinter
st'rzt es jdh ab in die Tiefe in den Hirschgraben, und Sie kcnnen von Gl'ck
sagen, Pernath, daYA Sie keinen Schritt weiter gemacht haben: Sie wdren
unfehlbar hinuntergefallen und hdtten sdmtliche Knochen gebrochen.
Unter dem Stein, heiYAt es, ruht ein riesiger Schatz, und er soll von
dem Orden der ›Asiatischen Br'der‹, die angeblich Prag gegr'ndet haben, als
Grundstein f'r ein Haus gelegt worden sein, das dereinst am Ende der Tage
ein Mensch bewohnen wird - besser gesagt ein Hermaphrodit - ein Geschcpf,
das sich aus Mann und Weib zusammensetzt. Und der wird das Bild eines Hasen
im Wappen tragen, - nebenbei: der Hase war das Symbol des Osiris, und daher
stammt wohl die Sitte mit dem Osterhasen.
Bis die Zeit gekommen ist, heiYAt es, hdlt Methusalem in eigener Person
Wache an dem Ort, damit Satan nicht den Stein beflattert und einen Sohn mit
ihm zeugt: den sogenannten Armilos. - Haben Sie noch nie von diesem Armilos
erzdhlen hcren? - Sogar wie er aussehen w'rde, weiYA man - das heiYAt, die
alten Rabbiner wissen es; - wenn er auf die Welt kdme: Haare aus Gold w'rde
er haben, r'ckwdrts zum Schopf gebunden, dann: zwei Scheitel, sichelfcrmige
Augen und Arme bis herunter zu den F'YAen."
"Dieses Ehrengigerl sollte man aufzeichnen", brummte Vrieslander und
suchte nach einem Bleistift.
"Also: Pernath, wenn Sie einmal das Gl'ck haben sollten, ein
Hermaphrodit zu werden und en passant den vergrabenen Schatz zu finden,"
schloYA Prokop, "dann vergessen Sie nicht, daYA ich stets Ihr bester Freund
gewesen bin!"
- Mir war nicht zum SpaYAmachen zumute, und ich f'hlte ein leises Weh im
Herzen.
Zwakh mochte es mir ansehen, wenn er auch den Grund nicht wuYAte, denn
er kam mir rasch zu Hilfe:
"Jedenfalls ist es hcchst merkw'rdig, fast unheimlich, daYA Pernath
gerade eine Vision an jener Stelle hatte, die mit einer uralten Sage so eng
verkn'pft ist. - Da sind Zusammenhdnge, aus deren Umklammerung sich ein
Mensch anscheinend nicht befreien kann, wenn seine Seele die Fdhigkeit hat,
Formen zu sehen, die dem Tastsinn vorenthalten sind. - Ich kann mir nicht
helfen: das Xbersinnliche ist doch das Reizvollste! - Was meint ihr?"
Vrieslander und Prokop waren ernst geworden, und jeder von uns hielt
eine Antwort f'r 'berfl'ssig.
"Was meinen Sie, Eulalia?" wiederholte Zwakh, zur'ckgewendet, seine
Frage.
Die alte Kellnerin kratzte sich mit der Stricknadel am Kopf, seufzte,
errctete und sagte:
"Aber gdhn' Sie! Sie sind mir ein Schlimmer."
"Eine verdammt gespannte Luft war heute den ganzen Tag 'ber", fing
Vrieslander an, nachdem sich unser Heiterkeitsausbruch gelegt hatte, "nicht
einen Pinselstrich hab' ich fertiggebracht. Fortwdhrend hab' ich an die
Rosina denken m'ssen, wie sie im Frack getanzt hat."
"Ist sie wieder aufgefunden worden?", fragte ich.
"›Aufgefunden‹ ist gut. Die Sittenpolizei hat sie doch f'r ein ldngeres
Engagement gewonnen! - Vielleicht hat sie dem Herrn Kommissdr - damals ›beim
Loisitschek‹, ins Auge gestochen? Jedenfalls ist sie jetzt - fieberhaft
tdtig und trdgt wesentlich zur Hebung des Fremdenverkehrs in der Judenstadt
bei. Ein verflucht dralles Mensch ist sie 'brigens schon geworden in der
kurzen Zeit."
"Wenn man bedenkt, was ein Weib aus einem Mann machen kann bloYA
dadurch, daYA sie ihn verliebt sein ldYAt in sich: es ist zum Staunen", warf
Zwakh hin. "Um das Geld aufzubringen, zu ihr gehen zu kcnnen, ist der arme
Bursche, der Jaromir, 'ber Nacht K'nstler geworden. Er geht in den
Wirtshdusern herum und schneidet Silhouetten f'r Gdste aus, die sich auf
diese Art portrdtieren lassen."
Prokop, der den SchluYA 'berhcrt hatte, schmatzte mit den Lippen:
"Wirklich? Ist sie so h'bsch geworden, die Rosina? - Haben Sie ihr
schon ein K'YAchen geraubt, Vrieslander?"
Die Kellnerin sprang sofort auf und verlieYA indigniert das Zimmer.
"Das Suppenhuhn! Die hat's wahrhaftig nctig, - Tugendanfdlle! Pah!",
brummte Prokop drgerlich hinter ihr drein.
"Was wollen Sie, sie ist doch bei der unrichtigen Stelle abgegangen.
Und auYAerdem war der Strumpf gerade fertig", beschwichtigte ihn Zwakh.
Der Wirt brachte neuen Grog und die Gesprdche fingen allmdhlich an,
eine schw'le Richtung zu nehmen. Zu schw'l, als daYA sie mir nicht ins Blut
gegangen wdren bei meiner fiebrigen Stimmung.
Ich strdubte mich dagegen, aber je mehr ich mich innerlich abschloYA und
an Angelina zur'ckdachte, um so heiYAer brauste es mir in den Ohren.
Ziemlich unvermittelt verabschiedete ich mich.
Der Nebel war durchsichtiger geworden, spr'hte feine Eisnadeln auf
mich, war aber immer noch so dicht, daYA ich die StraYAentafeln nicht lesen
konnte und von meinem Heimweg um ein geringes abkam.
Ich war in eine andere Gasse geraten und wollte eben umkehren, da hcrte
ich meinen Namen rufen:
"Herr Pernath! Herr Pernath!"
Ich blickte um mich, in die Hche:
Niemand!
Ein offenes Haustor, dar'ber diskret eine kleine, rote Laterne, gdhnte
neben mir auf, und eine helle Gestalt - schien mir - stand tief im Flur
darin.
Wieder: "Herr Pernath! Herr Pernath!" Im Fl'sterton.
Ich trat erstaunt in den Gang, - da schlangen sich warme Frauenarme um
meinen Hals, und ich sah bei dem Lichtstrahl, der aus einem sich langsam
cffnenden T'rspalt fiel, daYA es Rosina war, die sich heiYA an mich preYAte.
Ein grauer, blinder Tag.
Bis tief in den Morgen hinein hatte ich geschlafen, traumlos,
bewuYAtlos, wie ein Scheintoter.
Meine alte Bedienerin war ausgeblieben oder hatte vergessen
einzuheizen.
Kalte Asche lag im Ofen.
Staub auf den Mcbeln.
Der FuYAboden nicht gekehrt.
Frcstelnd ging ich auf und ab.
Widerwdrtiger Geruch nach ausgeatmetem Fusel lag im Zimmer. Mein
Mantel, meine Kleider stanken nach altem Tabakrauch.
Ich riYA das Fenster auf, schloYA es wieder: - der kalte, schmutzige
Hauch von der StraYAe war unertrdglich.
Spatzen mit durchndYAtem Gefieder hockten regungslos drauYAen auf den
Dachrinnen.
Wohin ich blickte, miYAfarbene Verdrossenheit. Alles in mir war
zerrissen, zerfetzt.
Das Sitzpolster auf dem Lehnstuhl - wie fadenscheinig es war! Die
RoYAhaare quollen hervor aus den Rdndern.
Man muYAte es zum Tapezierer schicken - - ach was, sollte es so bleiben
- noch ein cdes Menschenleben hindurch, bis alles zu Gerumpel zerfiel!
Und dort, welch geschmackloser, zweckwidriger Plunder, diese
Zwirnlappen an den Fenstern!
Warum drehte ich sie nicht zu einem Strick und erhenkte mich daran?!
Dann brauchte ich diese augenverletzenden Dinge wenigstens nie mehr zu
sehen, und der ganze graue, zerm'rbende Jammer war vor'ber - ein f'r
allemal.
Ja! Das war das gescheiteste! Ein Ende machen.
Heute noch.
Jetzt noch - vormittags. Gar nicht erst zum Essen gehen. - Ein
ekelhafter Gedanke, mit vollem Magen sich aus der Welt zu schaffen! In der
nassen Erde liegen und unverdaute, verfaulende Speisen in sich zu haben.
Wenn nur nie wieder die Sonne scheinen wollte und ihre freche L'ge von
der Freude des Daseins einem ins Herz funkeln.
Nein! ich lieYA mich nicht mehr narren, wollte nicht ldnger der
Spielball sein eines tdppischen, zwecklosen Schicksals, das mich emporhob
und dann wieder in Pf'tzen stieYA, bloYA damit ich die Vergdnglichkeit alles
Irdischen einsehen sollte, etwas, was ich ldngst wuYAte, was jedes Kind weiYA,
jeder Hund auf der StraYAe weiYA.
Arme, arme Mirjam! Wenn ich ihr wenigstens helfen kcnnte.
Es hieYA, einen EntschluYA fassen, einen ernsten, unabdnderlichen
BeschluYA, bevor der verfluchte Trieb zum Dasein wieder in mir erwachen
konnte und mir neue Trugbilder vorgaukeln.
Wozu hatten sie mir denn gedient: alle diese Botschaften aus dem Reich
des Unverweslichen?
Zu nichts, zu gar, gar nichts.
Nur dazu vielleicht, daYA ich im Kreis herumgetaumelt war und jetzt die
Erde als unmcgliche Qual empfand.
Da gab es nur noch eins.
Ich rechnete im Kopf zusammen, wieviel Geld ich auf der Bank liegen
hatte.
Ja, nur so ging es. Das war noch das Einzige, Winzige, was von meinen
nichtigen Taten im Leben irgendeinen Wert haben konnte!
Alles, was ich besaYA - die paar Edelsteine in der Schublade dazu, -
zusammenschn'ren in ein Paket und es Mirjam schicken. Ein paar Jahre
wenigstens w'rde es die Sorge ums tdgliche Leben von ihr nehmen. Und einen
Brief an Hillel schreiben, in dem ich ihm sagte, wie es um sie stand mit dem
"Wunder".
Er allein konnte ihr helfen.
Ich f'hlte: ja, er w'rde Rat wissen f'r sie.
Ich suchte die Steine zusammen, steckte sie ein, sah auf die Uhr: wenn
ich jetzt auf die Bank ging - in einer Stunde konnte alles in Ordnung
gebracht sein.
Und dann noch einen StrauYA roter Rosen kaufen f'r Angelina! - - - - es
schrie auf in mir vor Weh und wilder Sehnsucht. - Nur noch einen Tag, einen
einzigen Tag mcchte ich leben!
Um dann abermals dieselbe w'rgende Verzweiflung mitmachen zu m'ssen?
Nein, nicht eine einzige Minute mehr warten! Es kam wie Befriedigung
'ber mich, daYA ich mir nicht nachgegeben hatte.
Ich blickte umher. Blieb mir noch etwas zu tun?
Richtig: die Feile dort. Ich steckte sie in die Tasche, - wollte sie
fortwerfen irgendwo auf der Gasse, wie ich es mir neulich schon vorgenommen.
Ich haYAte die Feile! Wieviel hatte gefehlt, und ich wdre zum Mcrder
geworden durch sie.
Wer kam mich denn da wieder stcren?
Es war der Trcdler.
"Nur en Augenblick, Herr von Pernath", bat er fassungslos, als ich ihm
bedeutete, daYA ich keine Zeit hdtte. "Nur en ganz en kurzen Augenblick. Nur
d paar Worte."
Der SchweiYA lief ihm 'bers Gesicht, und er zitterte vor Aufregung.
"Kann man hier auch ungestcrt mit Ihnen sprechen, Herr von Pernath? Ich
mccht' nicht, daYA der - der Hillel wieder hereinkommt. Sperren Sie doch
lieber die T'r ab, oder geh'mer besser ins Nebenzimmer", - er zog mich in
seiner gewohnten, heftigen Art hinter sich drein.
Dann sah er sich ein paarmal scheu um und fl'sterte heiser:
"Ich hab mir's 'berlegt, wissen Sie, - das von neilich. Es is besser
so. Es kommt nix hereaus dabei. Gut. Vor'ber is vor'ber."
Ich suchte in seinen Augen zu lesen.
Er hielt meinen Blick aus, krampfte aber die Hand in die Stuhllehne,
solche Anstrengung kostete es ihn.
"Das freut mich, Herr Wassertrum," sagte ich, so freundlich ich konnte,
"das Leben ist zu tr'b, als daYA man es sich gegenseitig noch mit HaYA
verbittern sollte."
"Rein, als ob man ein gedr'cktes Buch reden hcrt," grunzte er
erleichtert, w'hlte in seinen Hosentaschen und zog wieder die goldene Uhr
mit den verbogenen Sprungdeckeln hervor, "und damit Sie sehen, ich mein's
ehrlich, m'ssen Sie die Kleinigkeit da von mir annehmen. Als Geschenk."
"Was fdllt Ihnen denn ein," wehrte ich ab, "Sie werden doch wohl nicht
glauben -", da fiel mir ein, was Mirjam 'ber ihn gesagt hatte, und ich
streckte ihm die Hand hin, um ihn nicht zu krdnken.
Er achtete nicht darauf, wurde plctzlich weiYA wie die Wand, lauschte
und rcchelte:
"Da! Da! Hab' ich's doch gewuYAt. Schon wieder der Hillel! Er klopft."
Ich horchte, ging ins andere Zimmer zur'ck und zog zu seiner Beruhigung
die Verbindungst'r hinter mir halb zu.
Es war diesmal nicht Hillel. Charousek trat ein, legte, wie zum
Zeichen, daYA er wisse, wer nebenan sei, den Finger an die Lippen und
'bersch'ttete mich in der ndchsten Sekunde und ohne abzuwarten, was ich
sagen w'rde, mit einem Schwall von Worten:
"Oh, mein hochverehrter, liebwerter Meister Pernath, wie soll ich nur
die Worte finden, Ihnen meine Freude auszudr'cken, daYA ich Sie allein und
wohlauf zu Hause antreffe." - - - Er sprach wie ein Schauspieler, und seine
schw'lstige, unnat'rliche Redeweise stand in so krassem Gegensatz zu seinem
verzerrten Gesicht, daYA ich ein tiefes Grauen vor ihm empfand.
"Niemals hdtte ich, Meister, es gewagt, in dem zerlumpten Zustande zu
Ihnen zu kommen, in dem Sie mich gewiYA schon des cfteren auf der StraYAe
erblickt haben, - doch, was sage ich: erblickt! haben Sie mir doch oft
huldreich die Hand gereicht.
DaYA ich heute vor Sie hintreten kann mit weiYAem Kragen und in sauberem
Anzug, - wissen Sie, wem ich es verdanke? Einem der edelsten und leider -
ach - meist verkannten Menschen unserer Stadt. R'hrung 'bermannt mich, wenn
ich seiner gedenke.
Selber in bescheidenen Verhdltnissen, hat er dennoch eine offene Hand
f'r Arme und Bed'rftige. Von jeher, wenn ich ihn traurig vor seinem Laden
stehen sah, trieb es mich aus tiefstem Herzen heraus, zu ihm zu treten und
ihm stumm die Hand zu dr'cken.
Vor einigen Tagen rief er mich an, als ich vor'berging, schenkte mir
Geld und versetzte mich dadurch in die Lage, mir gegen Ratenzahlung einen
Anzug kaufen zu kcnnen.
Und wissen Sie, Meister Pernath, wer mein Wohltdter war? -
Mit Stolz sage ich es, denn ich war von jeher der einzige, der geahnt
hat, welch goldenes Herz in seinem Busen schldgt: Es war - Herr Aaron
Wassertrum!" - -
- - Ich verstand nat'rlich, daYA Charousek seine Komcdie auf den
Trcdler, der nebenan lauschte, gem'nzt hatte, wenn mir auch unklar blieb,
was er damit bezweckte; keinesfalls schien mir die allzuplumpe Schmeichelei
geeignet, den miYAtrauischen Wassertrum hinters Licht zu f'hren. Charousek
erriet offenbar aus meiner bedenklichen Miene, was ich dachte, sch'ttelte
grinsend den Kopf, und auch seine ndchsten Worte sollten mir wahrscheinlich
sagen, daYA er seinen Mann genau kenne und wisse, wie dick er auftragen
d'rfe.
"Jawohl! Herr - Aaron - Wassertrum! Es dr'ckt mir fast das Herz ab, daYA
ich ihm nicht selbst sagen kann, wie unendlich dankbar ich ihm bin, und
beschwcre Sie, Meister, verraten Sie ihm niemals, daYA ich hier war und Ihnen
alles erzdhlt habe. - Ich weiYA, die Selbstsucht der Menschen hat ihn
verbittert und tiefes, unheilbares - ach, leider nur zu gerechtfertigtes
MiYAtrauen in seine Brust gepflanzt.
Ich bin Seelenarzt, aber auch mein Gef'hl sagt mir, es ist am besten:
Herr Wassertrum erfdhrt nie - auch aus meinem Munde nicht - wie hoch ich von
ihm denke. - Es hieYAe das: Zweifel in sein ungl'ckliches Herz sden. Und das
sei ferne von mir. Lieber soll er mich f'r undankbar halten.
Meister Pernath! Ich bin selbst ein Ungl'cklicher und weiYA von
Kindesbeinen an, was es heiYAt, einsam und verlassen in der Welt zu stehen!
Ich kenne nicht einmal den Namen meines Vaters. Auch mein M'tterlein habe
ich niemals von Angesicht zu Angesicht gesehen. Sie muYA fr'hzeitig gestorben
sein -" Charouseks Stimme wurde seltsam geheimnisvoll und eindringlich, -
"und war, wie ich bestimmt glaube, eine jener tiefseelisch angelegten
Naturen, die nie sagen kcnnen, wie unendlich sie lieben, und zu denen auch
Herr Aaron Wassertrum gehcrt.
Ich besitze eine abgerissene Seite aus dem Tagebuch meiner Mutter - ich
trage das Blatt bestdndig auf der Brust - und darin steht, daYA sie meinen
Vater, obschon er hdYAlich gewesen sein soll, geliebt hat, wie wohl noch nie
ein sterbliches Weib auf Erden einen Mann geliebt hat.
Dennoch scheint sie es nie gesagt zu haben. - Vielleicht aus dhnlichen
Gr'nden, weshalb ich z. B. Herrn Wassertrum nicht sagen kcnnte - und wenn
mir das Herz dar'ber brdche - was ich f'r ihn an Dankbarkeit f'hle.
Aber noch eins geht aus dem Tagebuchblatt hervor, wenn ich es auch nur
erraten kann, denn die Sdtze sind fast unleserlich vor Trdnenspuren: mein
Vater - sein Andenken mcge vergehen im Himmel und auf Erden! - muYA
scheuYAlich an meiner Mutter gehandelt haben."
- Charousek fiel plctzlich auf die Knie, daYA der Boden drchnte, und
schrie in so markersch'tternden Tcnen, daYA ich nicht wuYAte, spielte er noch
immer Komcdie oder war er wahnsinnig geworden:
"Du Allmdchtiger, dessen Namen der Mensch nicht aussprechen soll, hier
auf meinen Knien liege ich vor Dir: verflucht, verflucht, verflucht sei mein
Vater in alle Ewigkeit!"
Er biYA das letzte Wort fcrmlich entzwei und horchte eine Sekunde lang
mit aufgerissenen Augen.
Dann feixte er wie der Satan. Auch mir schien es, als hdtte Wassertrum
nebenan leise gestchnt.
"Verzeihen Sie, Meister," fuhr Charousek nach einer Pause mit mimenhaft
erstickter Stimme fort, "verzeihen Sie, daYA es mich 'bermannt hat, aber es
ist mein Gebet fr'h und spdt, der Allmdchtige wolle es f'gen, daYA mein
Vater, wer immer er auch sein mcge, dereinst das grdYAlichste Ende nehme, das
sich ausdenken ldYAt."
Ich wollte unwillk'rlich etwas erwidern, allein Charousek unterbrach
mich rasch:
"Doch jetzt, Meister Pernath, komme ich zu der Bitte, die ich Ihnen
vorzutragen habe:
Herr Wassertrum besaYA einen Sch'tzling, den er 'ber die MaYAen ins Herz
geschlossen hatte, - es d'rfte ein Neffe von ihm gewesen sein. Es heiYAt
sogar, es sei sein Sohn gewesen, aber ich will es nicht glauben, denn sonst
hdtte er doch denselben Namen getragen, in Wirklichkeit aber hieYA er:
Wassory, Dr. Theodor Wassory.
Die Trdnen treten mir in die Augen, wenn ich ihn im Geiste vor mir
sehe. Ich war ihm aus ganzer Seele zugetan, als hdtte mich ein unmittelbares
Band der Liebe und Verwandtschaft mit ihm verkn'pft."
Charousek schluchzte, als kcnne er vor Ergriffenheit kaum
weitersprechen.
"Ach, daYA dieser Edeling von der Erde gehen muYAte! - Ach! Ach!
Was auch der Grund gewesen sein mag, - ich habe ihn nie erfahren, - er
hat sich selbst den Tod gegeben. Und ich war unter denen, die zu Hilfe
gerufen wurden - - ach, ach, zu spdt - zu spdt - zu spdt! Und als ich dann
allein am Totenlager stand und seine kalte, bleiche Hand mit K'ssen
bedeckte, da - warum soll ich es nicht eingestehen, Meister Pernath? - es
war ja doch kein Diebstahl - da nahm ich eine Rose von der Brust der Leiche
und eignete mir das Fldschchen an, mit dessen Inhalt der Ungl'ckliche seinem
bl'henden Leben ein schnelles Ende bereitet hatte."
Charousek zog eine Medizinflasche hervor und fuhr bebend fort:
"Beides lege ich hier auf Ihren Tisch, die verdorrte Rose und die
Phiole; sie waren mir ein Andenken an meinen dahingegangenen Freund.
Wie oft in Stunden innerer Verlassenheit, wenn ich mir den Tod
herbeiw'nschte in der Einsamkeit meines Herzens und der Sehnsucht nach
meiner toten Mutter, spielte ich mit diesem Fldschchen, und es gab mir einen
seligen Trost, zu wissen: ich brauchte nur die Fl'ssigkeit auf ein Tuch zu
gieYAen und einzuatmen und schwebte schmerzlos hin'ber in die Gefilde, wo
mein lieber, guter Theodor ausruht von den M'hsalen unseres Jammertales.
Und nun bitte ich Sie, hochverehrter Meister, - und deswegen bin ich
hergekommen - nehmen Sie beides und bringen Sie es Herrn Wassertrum.
Sagen Sie, Sie hdtten es von jemandem bekommen, dem Dr. Wassory
nahestand, dessen Namen Sie jedoch gelobt hdtten, nie zu nennen, -
vielleicht von einer Dame.
Er wird es glauben, und es wird ihm ein Andenken sein, wie es ein
teures Andenken f'r mich war.
Das soll der heimliche Dank sein, den ich ihm gebe. Ich bin arm und es
ist alles, was ich habe, aber es macht mich froh, zu wissen: beides wird
jetzt ihm gehcren, und dennoch ahnt er nicht, daYA ich der Geber bin.
Es liegt darin zugleich auch f'r mich etwas unendlich S'YAes.
Und jetzt leben Sie wohl, teurer Meister, und seien Sie im voraus
vieltausendmal bedankt."
Er hielt meine Hand fest, zwinkerte und fl'sterte mir, als ich noch
immer nicht verstand, kaum hcrbar etwas zu.
"Warten Sie, Herr Charousek, ich werde Sie ein St'ckchen
hinunterbegleiten", sagte ich mechanisch die Worte nach, die ich von seinen
Lippen las, und ging mit ihm hinaus.
Auf dem finsteren Treppenabsatz im ersten Stock blieben wir stehen, und
ich wollte mich von Charousek verabschieden.
"Ich kann mir denken, was Sie mit der Komcdie bezweckt haben. - - Sie -
Sie wollen, daYA sich Wassertrum mit dem Fldschchen vergiftet!" Ich sagte es
ihm ins Gesicht.
"Freilich", gab Charousek aufgerdumt zu.
"Und dazu, glauben Sie, werde ich meine Hand bieten?"
"Durchaus nicht nctig."
"Aber ich sollte Wassertrum doch die Flasche bringen, sagten Sie
vorhin!"
Charousek sch'ttelte den Kopf:
"Wenn Sie jetzt zur'ckgehen, werden Sie sehen, daYA er sie bereits
eingesteckt hat."
"Wie kcnnen Sie das nur annehmen?", fragte ich erstaunt. "Ein Mensch
wie Wassertrum wird sich niemals umbringen, - ist viel zu feig dazu -
handelt nie nach plctzlichen Impulsen."
"Da kennen Sie das schleichende Gift der Suggestion nicht", unterbrach
mich Charousek ernst. "Hdtte ich in alltdglichen Worten geredet, w'rden Sie
vielleicht recht behalten, aber auch den kleinsten Tonfall habe ich vorher
berechnet. Nur das widerlichste Pathos wirkt auf solche Hundsfctter! Glauben
Sie mir! Sein Mienenspiel bei jedem meiner Sdtze hdtte ich Ihnen hinzeichnen
kcnnen. - Kein ›Kitsch‹ wie es die Maler nennen, ist niedertrdchtig genug,
als daYA er nicht der bis ins Mark verlogenen Menge Trdnen entlockte - sie
ins Herz trifft! Glauben Sie denn, man hdtte nicht ldngst sdmtliche Theater
mit Feuer und Schwert ausgetilgt, wenn es anders wdre? An der
Sentimentalitdt erkennt man die Kanaille. Tausende armer Teufel kcnnen
verhungern, da wird nicht geweint, aber wenn ein Schminkkamel auf der Buhne,
als Bauerntrampel verkleidet, die Augen verdreht, dann heulen sie wie die
SchloYAhunde. - - Wenn Vdterchen Wassertrum vielleicht auch morgen vergessen
hat, was ihm soeben noch - Herzjauche kostete: jedes meiner Worte wird
wieder in ihm lebendig werden, wenn die Stunden reifen, wo er sich selbst
unendlich bedauernswert vorkommt. - In solchen Momenten des groYAen Misereres
bedarf es bloYA eines leisen AnstoYAes, - und f'r den werde ich sorgen - und
selbst die feigste Pfote greift nach dem Gift. Es muYA nur zur Hand sein!
Theodorchen hdtte wahrscheinlich auch nicht zugegrapst, wenn ich's ihm nicht
so bequem gemacht hdtte."
"Charousek, Sie sind ein furchtbarer Mensch", rief ich entsetzt.
"Empfinden Sie denn gar kein - - -"
Er hielt mir schnell den Mund zu und drdngte mich in eine Mauernische!
"Still! Da ist er!"
Mit taumelnden Schritten, sich an der Wand st'tzend, kam Wassertrum die
Stiege herunter und wankte an uns vor'ber.
Charousek sch'ttelte mir fluchtig die Hand und schlich ihm nach. - -
Als ich in mein Zimmer zur'ckgekehrt war, sah ich, daYA die Rose und das
Fldschchen verschwunden waren und an ihrer Stelle die goldene, zerbeulte Uhr
des Trcdlers auf dem Tisch lag.
"Acht Tage m'sse ich warten, ehe ich mein Geld bekommen kcnne; es sei
das die 'bliche K'ndigungsfrist", hatte man mir auf der Bank gesagt.
Man solle den Direktor holen, denn ich sei in grcYAter Eile und geddchte
in einer Stunde abzureisen, hatte ich eine Ausrede gebraucht.
Er sei nicht zu sprechen und kcnne an den Gepflogenheiten der Bank auch
nichts dndern, hieYA es, und ein Kerl mit einem Glasauge, der zugleich mit
mir an den Schalter getreten war, hatte dar'ber gelacht.
Acht graue, furchtbare Tage auf den Tod sollte ich also warten!
Wie ein Zeitraum ohne Ende kam es mir vor. - - -
Ich war so niedergeschlagen, daYA ich mir gar nicht bewuYAt wurde, wie
lange ich schon vor der T're eines Kaffeehauses auf und nieder geschritten
sein mochte.
Endlich trat ich ein, bloYA um den widerwdrtigen Kerl mit dem Glasauge
los zu werden, der mir von der Bank her nachgekommen war und sich immer in
meiner Ndhe hielt und, wenn ich ihn anblickte, sofort auf dem Boden
herumsuchte, als habe er etwas verloren.
Er hatte einen hellkarierten, viel zu engen Rock an und schwarze,
speckgldnzende Hosen, die ihm wie Sdcke um die Beine schlotterten. Auf
seinem linken Stiefel war ein eifcrmiger, gewclbter Lederfleck aufgesteppt,
daYA es aussah, als tr'ge er darunter einen Siegelring auf der Zehe.
Kaum hatte ich mich niedergesetzt, kam auch er herein und lieYA sich an
einem Nebentisch nieder.
Ich glaubte, er wolle mich anbetteln, und suchte schon nach meinem
Portemonnai, da sah ich einen groYAen Brillanten an seinen wulstigen
Metzgerfingern aufblitzen.
Stunden und Stunden saYA ich in dem Kaffeehaus und glaubte vor innerer
Nervositdt wahnsinnig werden zu m'ssen, - aber wohin sollte ich gehen? Nach
Hause? Herumschlendern? Eines schien mir grdYAlicher als das andere.
Die veratmete Luft, das ewige, alberne Klappen der Billardkugeln, das
trockene, unaufhcrliche Gerausper eines halbblinden Zeitungstigers mir
gegen'ber, ein storchbeiniger Infanteneleutnant, der abwechselnd in der Nase
bohrte oder sich mit gelben Zigarettenfingern vor einem Taschenspiegel den
Schnurrbart kdmmte, ein braunsammetenes Gebrodel ekelhafter, verschwitzter,
schnatternder Italiener um den Kartentisch in der Ecke, die bald unter
gellem Gekreisch ihre Trumpfe mit dem Faustknochel hinschlugen, bald unter
Brecherscheinungen ins Zimmer spuckten. Und das alles in den Wandspiegeln
doppelt und dreifach sehen zu m'ssen! Es sog mir langsam das Blut aus den
Adern. -
Es wurde allmdhlich dunkel und ein plattfuYAiger, knieweicher Kellner
tastete mit einer Stange nach den Gasl'stern, um sich endlich kopfsch'ttelnd
zu 'berzeugen, daYA sie nicht brennen wollten.
So oft ich das Gesicht wandte, immer begegnete ich dem schielenden
Wolfsblick des Glasdugigen, der sich dann jedesmal rasch hinter eine Zeitung
versteckte oder seinen schmutzigen Schnurrbart in die langst ausgetrunkene
Kaffeetasse tauchte.
Er hatte seinen steifen, runden Hut tief aufgest'lpt, daYA ihm die Ohren
fast waagerecht abstanden, machte aber keine Miene, aufzubrechen.
Es war nicht mehr auszuhalten.
Ich zahlte und ging.
Als ich die Glast'r hinter mir zumachen wollte, nahm mir jemand die
Klinke aus der Hand - Ich drehte mich um:
Wieder der Kerl!
Drgerlich wollte ich nach links biegen, in der Richtung der Judenstadt
zu, da drdngte er sich an meine Seite und hinderte mich daran.
"Da hcrt denn doch alles auf!" schrie ich ihn an.
"Nach rechts geht's," sagte er kurz.
"Was soll das heiYAen?"
Er fixierte mich frech:
"Sie sind der Pernath!"
"Sie wollen wahrscheinlich sagen: Herr Pernath?"
Er lachte nur hdmisch:
"Alsdann keine Faxen jetz! Sie gah'n Sie mit!"
"Ja, sind Sie toll? Wer sind Sie eigentlich?", fuhr ich auf.
Er gab keine Antwort, schlug seinen Rock zur'ck und zeigte vorsichtig
auf einen abgeschabten Blechadler, der im Futter festgesteckt war.
Ich begriff: der Falott war Geheimpolizist und verhaftete mich.
"So sagen Sie doch, um Himmels willen, was ist denn los?"
"Sie werden sich's schonn erfahrrdhn. Auf dem Ddpartemdnt", erwiderte
er grob. "Alla marsch jetz!"
Ich schlug ihm vor, ich wollte einen Wagen nehmen.
"Nix da!"
Wir gingen zur Polizei.
Ein Gendarm f'hrte mich vor eine T'r.
ALOIS OTSCHIN
Polizeirat
las ich auf der Porzellantafel.
"Sie kdnnen sich eintrdtten", sagte der Gendarm.
Zwei schmierige Schreibtische mit meterhohen Aufsdtzen standen einander
gegen'ber.
Ein paar verkraxte St'hle dazwischen.
Das Bild des Kaisers an der Wand.
Ein Glas mit Goldfischen auf dem Fensterbrett.
Sonst nichts im Zimmer.
Ein KlumpfuYA und daneben ein dicker Filzschuh unter zerfransten grauen
Hosen hinter dem linken Schreibpult.
Ich hcrte rascheln. Jemand murmelte ein paar Worte in bchmischer
Sprache und gleich darauf tauchte der Herr Polizeirat aus dem rechten
Schreibtisch auf und trat vor mich hin.
Er war ein kleiner Mann mit grauem Spitzbart und hatte die sonderbare
Manier, bevor er anfing zu reden, die Zdhne zu fletschen wie jemand, der in
grelles Sonnenlicht schaut.
Dabei kniff er die Augen hinter den Brillenglasern zusammen, was ihm
den Ausdruck furchterregender Niedertracht verlieh.
"Sie heiYAen Athanasius Pernath und sind" - er blickte auf ein Blatt
Papier, auf dem nichts stand - "Gemmenschneider."
Sofort kam Leben in den KlumpfuYA unter dem anderen Schreibtisch: er
wetzte sich an dem Stuhlbein, und ich hcrte das Rauschen einer Schreibfeder.
Ich bejahte:
"Pernath. Gemmenschneider."
"No, da sin wir ja gleich beisammen, Herr - - - Pernath, - jawohl
Pernath. Ja wohl ja." - Der Herr Polizeirat war mit einem Schlag von
erstaunlicher Liebensw'rdigkeit, als hdtte er die erfreulichste Nachricht
von der Welt bekommen, streckte mir beide Hdnde entgegen und bem'hte sich in
ldcherlicher Weise, die Miene eines Biedermannes aufzusetzen.
"Also, Herr Pernath, erzdhlen Sie mir einmal, was treiben Sie so den
ganzen Tag?"
"Ich glaube, daYA Sie das nichts angeht, Herr Otschin", antwortete ich
kalt.
Er kniff die Augen zusammen, wartete einen Moment und fuhr blitzschnell
los:
"Seit wann hat die Grdfin ihr Verhdltnis mit dem Savioli?"
Ich war auf etwas Dhnliches gefaYAt gewesen und zuckte nicht mit der
Wimper.
Er suchte mich geschickt durch Kreuz- und Querfragen in Widerspr'che zu
verwickeln, aber, so sehr mir auch vor Entsetzen das Herz im Halse schlug,
ich verriet mich nicht und kam immer wieder darauf zur'ck, daYA ich den Namen
Savioli nie gehcrt hdtte, mit Angelina von meinem Vater her befreundet sei,
und daYA sie schon cfter Kameen bei mir bestellt habe.
Ich f'hlte trotzdem genau, daYA der Polizeirat mir ansah, wie ich ihn
belog, und innerlich schdumte vor Wut, nichts aus mir herausbekommen zu
kcnnen.
Er dachte eine Weile nach, dann zog er mich am Rock dicht an sich,
deutete warnend mit dem Daumen auf den linken Schreibtisch und fl'sterte mir
ins Ohr:
"Athanasius! Ihr seliger Vater war mein bester Freund. Ich will Sie
retten, Athanasius! Aber Sie m'ssen mir alles sagen 'ber die Grdfin. - Hcren
Sie: alles."
Ich begriff nicht, was das bedeuten sollte. "Was meinen Sie damit: Sie
wollen mich retten?", fragte ich laut.
Der KlumpfuYA stampfte drgerlich auf den Boden. Der Polizeirat wurde
aschgrau im Gesicht vor HaYA. Zog die Lippe empor. Wartete. - Ich wuYAte, daYA
er gleich wieder losspringen w'rde; (sein Verbl'ffungssystem erinnerte mich
an Wassertrum) und wartete ebenfalls, - sah, daYA ein Bocksgesicht, der
Inhaber des KlumpfuYAes, lauernd hinter dem Schreibpulte auftauchte - - dann
schrie mich der Polizeirat plctzlich gellend an:
"Mcrder".
Ich war sprachlos vor Verbl'ffung.
MiYAmutig zog sich das Bocksgesicht wieder hinter sein Pult zur'ck.
Auch der Herr Polizeirat schien ziemlich betreten 'ber meine Ruhe,
versteckte es aber geschickt, indem er einen Stuhl herbeizog und mich
aufforderte, Platz zu nehmen.
"Sie verweigern also, 'ber die Grdfin die von mir gew'nschte Auskunft
zu geben, Herr Pernath?"
"Ich kann sie nicht geben, Herr Polizeirat, wenigstens nicht in dem
Sinne, wie Sie erwarten. Erstens kenne ich niemand namens Savioli, und dann
bin ich felsenfest 'berzeugt, daYA es eine Verleumdung ist, wenn man der
Grdfin nachsagt, sie hintergehe ihren Gatten."
"Sind Sie bereit, das zu beeiden?"
Mir stockte der Atem. "Ja! Jederzeit."
"Gut. Hm."
Eine ldngere Pause entstand, wdhrend der Polizeirat angestrengt
nachzugr'beln schien.
Als er mich wieder anblickte, lag ein komcdiantenhafter Zug von
Schmerzlichkeit in seiner Fratze. Unwillk'rlich muYAte ich an Charousek
denken, wie er dann mit trdnenerstickter Stimme anfing:
"Mir kcnnen Sie es doch sagen, Athanasius, - mir, dem alten Freund
Ihres Vaters - mir, der Sie auf den Armen getragen hat -" ich konnte das
Lachen kaum verbeiYAen: er war hcchstens zehn Jahre dlter als ich - "nicht
wahr, Athanasius, es war Notwehr?"
Das Bocksgesicht erschien abermals.
"Was war Notwehr?", fragte ich verstdndnislos.
"Das mit dem - - - Zottmann!" schrie mir der Polizeirat einen Namen ins
Gesicht.
Das Wort traf mich wie ein Dolchstich: Zottmann! Zottmann! Die Uhr! Der
Name Zottmann stand doch in der Uhr eingraviert.
Ich f'hlte, wie mir alles Blut zum Herzen strcmte: Der grauenhafte
Wassertrum hatte mir die Uhr gegeben, um den Verdacht des Mordes auf mich zu
lenken.
Sofort warf der Polizeirat die Maske ab, fletschte die Zdhne und kniff
die Augen zusammen:
"Sie gestehen also den Mord ein, Pernath?"
"Das ist alles ein Irrtum. Ein entsetzlicher Irrtum. Um Gottes willen
hcren Sie mich an. Ich kann es Ihnen erkldren, Herr Polizeirat - -!", schrie
ich.
"Werden Sie mir jetzt alles mitteilen in bezug auf die Frau Grdfin",
unterbrach er mich rasch: "ich mache Sie aufmerksam: Sie verbessern Ihre
Lage damit."
"Ich kann nicht mehr sagen, als bereits geschehen ist: die Grdfin ist
unschuldig."
Er biYA die Zdhne zusammen und wandte sich an das Bocksgesicht:
"Schreiben Sie: - Also, Pernath gesteht den Mord an dem
Versicherungsbeamten Karl Zottmann ein."
Mich packte eine besinnungslose Wut.
"Sie Polizeikanaille!" br'llte ich los, "was unterstehen Sie sich?!"
Ich suchte nach einem schweren Gegenstand.
Im ndchsten Augenblick hatten mich zwei Schutzleute gepackt und mir
Handschellen angelegt.
Der Polizeirat bldhte sich jetzt wie der Hahn auf dem Mist:
"Und die Uhr da?", - er hielt plctzlich die verbeulte Uhr in der Hand,
- "hat der ungl'ckliche Zottmann noch gelebt, als Sie ihn beraubten, oder
nicht?"
Ich war wieder ganz ruhig geworden und gab mit klarer Stimme zu
Protokoll: "Die Uhr hat mir heute vormittag der Trcdler Aaron Wassertrum -
geschenkt."
Ein wieherndes Geldchter brach los, und ich sah, wie der KlumpfuYA und
der Filzpantoffel mitsammen einen Freudentanz unter dem Schreibtisch
auff'hrten.
Die Hdnde gefesselt, hinter mir ein Gendarm mit aufgepflanztem
Bajonett, muYAte ich durch die abendlich beleuchteten StraYAen gehen.
Gassenjungen zogen in Scharen johlend links und rechts mit, Weiber
rissen die Fenster auf, drohten mit Kochlcffeln herunter und schimpften
hinter mir drein.
Schon von weitem sah ich den massigen Steinw'rfel des Gerichtsgebdudes
mit der Inschrift auf dem Giebel herannahen:
"Die strafende Gerechtigkeit ist die Beschirmung aller Braven."
Dann nahm mich ein riesiges Tor auf und ein Flurzimmer, in dem es nach
K'che stank.
Ein vollbdrtiger Mann mit Sdbel, Beamtenrock und -m'tze, barfuYA und die
Beine in langen, um die Kncchel zusammengebundenen Unterhosen, stand auf,
stellte die Kaffeem'hle, die er zwischen den Knien hielt, weg und befahl
mir, mich auszuziehen.
Dann visitierte er meine Taschen, nahm alles heraus, was er darin fand,
und fragte mich, ob ich - Wanzen hdtte.
Als ich verneinte, zog er mir die Ringe von den Fingern und sagte, es
sei gut, ich kcnnte mich wieder ankleiden.
Man f'hrte mich mehrere Stockwerke hinauf und durch Gdnge, in denen
vereinzelt groYAe, graue, verschlieYAbare Kisten in den Fensternischen
standen.
Eiserne T'ren mit Riegelstangen und kleinen, vergitterten Ausschnitten,
'ber jedem eine Gasflamme, zogen sich in ununterbrochener Reihe die Wand
entlang.
Ein h'nenhafter, soldatisch aussehender Gefangenwdrter - das erste
ehrliche Gesicht seit Stunden - sperrte eine der T'ren auf, schob mich in
eine dunkle, schrankartige, pestilenzialisch stinkende Cffnung und schloYA
hinter mir ab.
Ich stand in vollkommener Finsternis und tappte mich zurecht.
Mein Knie stieYA an einen Blechk'bel.
Endlich erwischte ich - der Raum war so eng, daYA ich mich kaum umdrehen
konnte - eine Klinke, und stand in - einer Zelle.
Je zwei und zwei Pritschen mit Strohsdcken an den Mauern.
Der Durchgang dazwischen nur einen Schritt breit.
Ein Quadratmeter Gitterfenster hoch oben in der Querwand lieYA den
matten Schein des Nachthimmels herein.
Unertrdgliche Hitze, vom Geruch alter Kleider verpestete Luft erf'llte
den Raum.
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewchnt hatten, sah ich, daYA auf
drei der Pritschen - die vierte war leer - Menschen in grauen
Strdflingskleidern saYAen; die Arme auf die Knie gest'tzt und die Gesichter
in den Hdnden vergraben.
Keiner sprach ein Wort.
Ich setzte mich auf das leere Bett und wartete. Wartete. Wartete.
Eine Stunde.
Zwei - drei Stunden!
Wenn ich drauYAen einen Schritt zu hcren glaubte, fuhr ich auf:
Jetzt, jetzt kam man mich holen, um mich dem Untersuchungsrichter
vorzuf'hren.
Jedesmal war es eine Tduschung gewesen. Immer wieder verloren sich die
Schritte auf dem Gang.
Ich riYA mir den Kragen auf - glaubte, ersticken zu m'ssen.
Ich hcrte, wie ein Gefangener nach dem andern sich dchzend ausstreckte.
"Kann man denn das Fenster da oben nicht aufmachen?", fragte ich voll
Verzweiflung laut in die Dunkelheit hinein. Ich erschrak fast vor meiner
eigenen Stimme.
"Es geht net", antwortete es m'rrisch von einem der Strohsdcke her'ber.
Ich tastete trotzdem mit der Hand an der Schmalwand entlang: ein Brett
in Brusthche lief quer hin - - - zwei Wasserkr'ge - - - St'cke von
Brotrinden.
M'hsam kletterte ich hinauf, hielt mich an den Gitterstdben und preYAte
das Gesicht an die Fensterritzen, um wenigstens etwas frische Luft zu atmen.
So stand ich, bis mir die Knie zitterten. Eintcniger, schwarzgrauer
Nachtnebel vor meinen Augen.
Die kalten Eisenstdbe schwitzten.
Es muYAte bald Mitternacht sein.
Hinter mir hcrte ich schnarchen. Nur einer schien nicht schlafen zu
kcnnen: er warf sich hin und her auf dem Stroh und stchnte manchmal halblaut
auf.
Wollte denn der Morgen nicht endlich kommen?! Da! Es schlug wieder.
Ich zdhlte mit bebenden Lippen:
Eins, zwei, drei! - Gott sei Dank, nur noch wenige Stunden, dann muYAte
die Ddmmerung kommen. Es schlug weiter:
Vier? f'nf? - Der SchweiYA trat mir auf die Stirn. - Sechs!! - Sieben -
- - es war elf Uhr.
Erst eine Stunde war vergangen, seit ich das letzte Mal hatte schlagen
hcren.
Allmdhlich legten sich meine Gedanken zurecht:
Wassertrum hat mir die Uhr des vermiYAten Zottmann zugespielt, um mich
in Verdacht zu bringen, einen Mord begangen zu haben. - Er muYAte also selbst
der Mcrder sein; wie hdtte er sonst in den Besitz der Uhr kommen kcnnen?
W'rde er die Leiche irgendwo gefunden und dann erst beraubt haben, hdtte er
sich bestimmt die tausend Gulden Belohnung geholt, die f'r die Entdeckung
des VermiYAten cffentlich ausgesetzt waren. - Das konnte aber nicht sein: die
Plakate klebten noch immer an den StraYAenecken, wie ich deutlich auf meinem
Weg ins Gefdngnis gesehen hatte. - - -
DaYA der Trcdler mich angezeigt haben muYAte, war klar.
Ebenso: daYA er mit dem Polizeirat, wenigstens was Angelina betraf,
unter einer Decke steckte. Wozu sonst das Verhcr wegen Savioli?
Andererseits ging daraus hervor, daYA Wassertrum Angelinas Briefe noch
nicht in Hdnden hatte.
Ich gr'belte nach - - -
Mit einem Schlag stand alles mit entsetzlicher Deutlichkeit vor mir,
als wdre ich selbst dabei gewesen.
Ja; nur so konnte es sein: Wassertrum hatte meine eiserne Kassette, in
der er Beweise vermutete, heimlich an sich genommen, als er gerade mit
seinen Polizeikomplizen meine Wohnung durchstcberte, - konnte sie nicht
sogleich cffnen, da ich den Schl'ssel bei mir trug, und war - - - vielleicht
gerade jetzt daran, sie in seiner Hchle aufzubrechen.
In wahnsinniger Verzweiflung r'ttelte ich an den Gitterstdben, sah
Wassertrum im Geiste vor mir, wie er in Angelinas Briefen w'hlte -
Wenn ich nur Charousek benachrichtigen kcnnte, daYA er Savioli
wenigstens rechtzeitig warnen ging!
Einen Augenblick klammerte ich mich an die Hoffnung, meine Verhaftung
m'sse bereits wie ein Lauffeuer in der Judenstadt bekannt geworden sein, und
ich vertraute auf Charousek wie auf einen rettenden Engel. Gegen seine
infernalische Schlauheit kam der Trcdler nicht auf; "Ich werde ihn genau in
der Stunde an der Gurgel haben, in der er Dr. Savioli an den Hals will",
hatte Charousek schon einmal gesagt.
In der ndchsten Minute wieder verwarf ich alles, und eine wilde Angst
packte mich: Wie, wenn Charousek zu spdt kam?
Dann war Angelina verloren. - - -
Ich biYA mir die Lippen blutig und zerkrallte mir die Brust aus Reue,
daYA ich die Briefe damals nicht sofort verbrannt hatte; - - - ich schwor es
mir zu, Wassertrum noch in derselben Stunde aus der Welt zu schaffen, wo ich
wieder auf freiem FuYA sein w'rde.
Ob ich von eigener Hand starb oder am Galgen - was lag mir daran!
DaYA der Untersuchungsrichter meinen Worten glauben w'rde, wenn ich ihm
die Geschichte mit der Uhr plausibel machte, ihm von Wassertrums Drohungen
erzdhlte, - keinen Augenblick zweifelte ich daran.
Bestimmt morgen schon muYAte ich frei sein; zumindest w'rde das Gericht
auch Wassertrum wegen Mordverdachts verhaften lassen.
Ich zdhlte die Stunden und betete, daYA sie rascher vergehen mcchten;
starrte hinaus in den schwdrzlichen Dunst.
Nach unsdglich langer Zeit fing es endlich an, heller zu werden, und
zuerst wie ein dunkler Fleck, dann immer deutlicher, tauchte ein kupfernes,
riesiges Gesicht aus dem Nebel: das Zifferblatt einer alten Turmuhr. Doch
die Zeiger fehlten; - neuerliche Qual.
Dann schlug es f'nf.
Ich hcrte, wie die Gefangenen erwachten und gdhnend eine Unterhaltung
in bchmischer Sprache f'hrten.
Eine Stimme kam mir bekannt vor; ich drehte mich um, stieg von dem
Brett herunter und - sah den blatternarbigen Loisa auf der Pritsche,
gegen'ber der meinigen, sitzen und mich verwundert anstarren.
Die beiden anderen waren Gesellen mit verwegenen Gesichtern und
musterten mich geringschdtzig.
"Defraudant? Was?", fragte der eine halblaut seinen Kameraden und stieYA
ihn mit dem Ellenbogen an.
Der Gefragte brummte irgend etwas verdchtlich, kramte in seinem
Strohsack, holte ein schwarzes Papier hervor und legte es auf den Boden.
Dann sch'ttete er aus dem Krug ein wenig Wasser darauf, kniete nieder,
bespiegelte sich darin und kdmmte sich mit den Fingern das Haar in die
Stirn.
Hierauf trocknete er das Papier mit zdrtlicher Sorgfalt ab und
versteckte es wieder unter der Pritsche.
"Pan Pernath, Pan Pernath", murmelte Loisa dabei bestdndig mit
aufgerissenen Augen vor sich hin, wie jemand, der ein Gespenst sieht.
"Die Herrschaften kennen einand, wie ich bemerkc", sagte der
Ungekdmmte, dem dies auffiel, in dem geschraubten Dialekt eines
tschechischen Wieners und machte mir spcttisch eine halbe Verbeugung:
"Erlaubens mich vorzustellen: Vussatka ist mein Name. Der schwarze Vussatka.
- Brandstiftung", setzte er eine Oktave tiefer stolz hinzu.
Der Frisierte spuckte zwischen den Zdhnen durch, blickte mich eine
Weile verdchtlich an, deutete sich dann auf die Brust und sagte lakonisch:
"Einbruch."
Ich schwieg.
"No, und zweng wos f'r einen Verdachtc sin Sie hier, Herr Graf?" fragte
der Wiener nach einer Pause.
Ich 'berlegte einen Moment, dann sagte ich ruhig: "Wegen Raubmord".
Die beiden fuhren verbl'fft auf, der spcttische Ausdruck auf ihren
Gesichtern machte einer Miene grenzenloser Hochachtung Platz, und sie riefen
fast wie aus einem Munde:
"Rdschpdkt, Rdschpdkt."
Als sie sahen, daYA ich keine Notiz von ihnen nahm, zogen sie sich in
die Ecke zur'ck und unterhielten sich fl'sternd miteinander.
Nur einmal stand der Frisierte auf, kam zu mir, pr'fte schweigend die
Muskeln meines Oberarms und ging dann kopfsch'ttelnd zu seinem Freund
zur'ck.
"Sie sind doch auch unter dem Verdacht hier, den Zottmann ermordet zu
haben?" fragte ich Loisa unauffdllig.
Er nickte. "Ja, schon lang."
Wieder vergingen einige Stunden.
Ich schloYA die Augen und stellte mich schlafend.
"Herr Pernath. Herr Pernath!" hcrte ich plctzlich ganz leise Loisas
Stimme.
"Ja?" - - - Ich tat, als erwachte ich.
"Herr Pernath?, bitte entschuldigen Sie, - bitte - bitte, wissen Sie
nicht, was die Rosina macht? - Ist sie zu Hause?", stotterte der arme
Bursche. Er tat mir unendlich leid, wie er mit seinen entz'ndeten Augen an
meinen Lippen hing und vor Aufregung die Hdnde verkrampfte.
"Es geht ihr gut. Sie - sie ist jetzt Kellnerin beim - - alten Ungelt",
log ich.
Ich sah, wie er erleichtert aufatmete.
Zwei Strdflinge hatten auf einem Brett Blechtcpfe mit heiYAem Wurstabsud
stumm hereingebracht und drei davon in die Zelle gestellt, dann knallten
nach einigen Stunden abermals die Riegel und der Aufseher f'hrte mich zum
Untersuchungsrichter.
Mir schlotterten die Knie vor Erwartung, wie wir treppauf, treppab
schritten.
"Glauben Sie, ist es mcglich, daYA ich heute noch freigelassen werde?",
fragte ich den Aufseher beklommen.
Ich sah, wie er mitleidig ein Ldcheln unterdr'ckte. "Hm. Heute noch? Hm
- - Gott, - mcglich ist ja alles." -
Mir wurde eiskalt.
Wieder las ich eine Porzellantafel an einer T'r und einen Namen:
KARL FREIHERR VON LEISETRETER
Wieder ein schmuckloses Zimmer und zwei Schreibpulte mit meterhohen
Aufsdtzen.
Ein alter, groYAer Mann mit weiYAem, geteiltem Vollbart, schwarzem
Gehrock, roten, wulstigen Lippen, knarrenden Stiefeln.
"Sie sind Herr Pernath?"
"Jawohl."
"Gemmenschneider?"
"Jawohl."
"Zelle Nr. 70?"
"Jawohl."
"Des Mordes an Zottmann verddchtig?"
"Ich bitte, Herr Untersuchungsrichter - -"
"Des Mordes an Zottmann verddchtig?"
"Wahrscheinlich. Wenigstens vermute ich es. Aber - -"
"Gestdndig?"
"Was soll ich denn gestehen, Herr Untersuchungsrichter, ich bin doch
unschuldig!"
"Gestdndig?"
"Nein."
"Dann verhdnge ich Untersuchungshaft 'ber Sie. - F'hren Sie den Mann
hinaus, Gefangenwdrter."
"Bitte, so hcren Sie mich doch an, Herr Untersuchungsrichter, - ich muYA
unbedingt heute noch zu Hause sein. Ich habe wichtige Dinge zu veranlassen -
-"
Hinter dem zweiten Schreibtisch meckerte jemand.
Der Herr Baron schmunzelte. -
"F'hren Sie den Mann hinaus, Gefangenwdrter."
Tag um Tag schlich dahin, Woche um Woche, und immer noch saYA ich in der
Zelle.
Um zwclf Uhr durften wir tdglich hinunter in den Gefdngnishof und mit
anderen Untersuchungsgefangenen und Strdflingen zu zweit 40 Minuten im Kreis
herumgehen auf der nassen Erde.
Miteinander zu reden, war verboten.
In der Mitte des Platzes stand ein kahler, sterbender Baum, in dessen
Rinde ein ovales Glasbild der Muttergottes eingewachsen war.
An den Mauern wuchsen k'mmerliche Ligusterstauden, die Bldtter fast
schwarz vom fallenden RuYA.
Ringsum die Gitter der Zellen, aus denen zuweilen ein kittgraues
Gesicht mit blutleeren Lippen herunterschaute.
Dann ging's wieder hinauf in die gewohnten Gr'fte zu Brot, Wasser und
Wurstabsud und sonntags zu faulenden Linsen.
Erst einmal war ich wieder vernommen worden:
Ob ich Zeugen hdtte, daYA mir "Herr" Wassertrum angeblich die Uhr
geschenkt habe?
"Ja: Herrn Schemajah Hillel - - das heiYAt - nein" (ich erinnerte mich,
er war nicht dabei gewesen) - - "aber Herr Charousek" - (nein, auch er war
ja nicht dabei).
"Kurz: also niemand war dabei?"
"Nein, niemand war dabei, Herr Untersuchungsrichter."
Wieder das Gemecker hinter dem Schreibtisch und wieder das:
"F'hren Sie den Mann hinaus, Gefangenwdrter!" - - -
Meine Besorgnis um Angelina war einer dumpfen Resignation gewichen: Der
Zeitpunkt, wo ich um sie zittern muYAte, war vor'ber. Entweder Wassertrums
Racheplan war ldngst gegl'ckt, oder Charousek hatte eingegriffen, sagte ich
mir.
Aber die Sorge um Mirjam trieb mich jetzt fast zum Wahnsinn.
Ich stellte mir vor, wie sie Stunde um Stunde darauf wartete, daYA sich
das Wunder erneuere, - wie sie fr'h am Morgen, wenn der Bdcker kam,
hinauslief und mit bebenden Hdnden das Brot untersuchte, - wie sie
vielleicht um meinetwillen vor Angst verging.
Oft in der Nacht peitschte es mich aus dem Schlaf, und ich stieg auf
das Wandbrett und starrte empor zu dem kupfernen Gesicht der Turmuhr und
verzehrte mich in dem Wunsch, meine Gedanken mcchten zu Hillel dringen und
ihm ins Ohr schreien, er solle Mirjam helfen und sie erlcsen von der Qual
des Hoffens auf ein Wunder.
Dann wieder warf ich mich auf das Stroh und hielt den Atem an, bis mir
die Brust fast zersprang, - um das Bild meines Doppelgdngers vor mich zu
zwingen, damit ich ihn zu ihr schicken kcnnte als einen Trost.
Und einmal war er auch erschienen neben meinem Lager mit den
Buchstaben: Chabrat Zereh Aur Bocher in Spiegelschrift auf der Brust, und
ich wollte aufschreien vor Jubel, daYA jetzt alles wieder gut w'rde, aber er
war in den Boden versunken, noch ehe ich ihm den Befehl geben konnte, Mirjam
zu erscheinen. - - -
DaYA ich so gar keine Nachricht bekam von meinen Freunden!
Ob es denn verboten sei, einem Briefe zu schicken? fragte ich meine
Zellengenossen.
Sie wuYAten es nicht.
Sie hdtten noch nie welche bekommen - allerdings wdre auch niemand da,
der ihnen schreiben kcnnte, sagten sie.
Der Gefangenwdrter versprach mir, sich gelegentlich zu erkundigen.
Meine Ndgel waren rissig geworden vom AbbeiYAen und mein Haar
verwildert, denn Schere, Kamm und B'rste gab es nicht.
Auch kein Wasser zum Waschen.
Fast ununterbrochen kdmpfte ich mit Brechreiz, denn der Wurstabsud war
mit Soda gew'rzt statt mit Salz. - - Eine Gefdngnisvorschrift, um dem
"Xberhandnehmen des Geschlechtstriebs vorzubeugen."
Die Zeit verging in grauer, furchtbarer Eintcnigkeit.
Drehte sich wie im Kreis wie ein Rad der Qual.
Da gab es die gewissen Momente, die jeder von uns kannte, wo plctzlich
einer oder der andere aufsprang und stundenlang auf und nieder lief wie ein
wildes Tier, um sich dann wieder gebrochen auf die Pritsche fallen zu lassen
und stumpfsinnig weiter zu warten - zu warten - zu warten.
Wenn der Abend kam, zogen die Wanzen in Scharen gleich Ameisen 'ber die
Wdnde und ich fragte mich erstaunt, warum denn der Kerl in Sdbel und
Unterhosen mich so gewissenhaft ausgeforscht habe, ob ich kein Ungeziefer
hdtte.
F'rchtete man vielleicht im Landesgericht, es kcnne eine Kreuzung
fremder Insektenrassen entstehen?
Mittwoch vormittags kam gewchnlich ein Schweinskopf herein mit
Schlapphut und zuckenden Hosenbeinen: der Gefdngnisarzt Dr. Rosenblatt, und
'berzeugte sich, daYA alle vor Gesundheit strotzten.
Und wenn einer sich beschwerte, gleichg'ltig wor'ber, so verschrieb er
- Zinksalbe zum Einreiben der Brust.
Einmal kam auch der Landgerichtsprdsident mit - ein hochgewachsener,
parf'mierter Halunke der "guten Gesellschaft", dem die gemeinsten Laster im
Gesicht geschrieben standen, und sah nach, ob - alles in Ordnung sei: "ob
sich noch immer kaner derhenkt hobe", wie sich der Frisierte ausdr'ckte.
Ich war auf ihn zugetreten, um ihm eine Bitte vorzutragen, da hatte er
einen Satz hinter den Gefangenwdrter gemacht und mir einen Revolver
vorgehalten. - "Was ich denn wolle", schrie er mich an.
Ob Briefe f'r mich da seien, fragte ich hcflich. Statt der Antwort
bekam ich einen StoYA vor die Brust vom Herrn Dr. Rosenblatt, der gleich
darauf das Weite suchte. Auch der Herr Prdsident zog sich zur'ck und hchnte
durch den T'rausschnitt: - ich solle lieber den Mord gestehen. Eher bekdme
ich in diesem Leben keine Briefe.
Ich hatte mich ldngst an die schlechte Luft und die Hitze gewchnt und
frcstelte bestdndig. Selbst, wenn die Sonne schien.
Zwei der Gefangenen hatten schon einige Male gewechselt, aber ich
achtete nicht darauf. Diese Woche waren es ein Taschendieb und ein
Wegelagerer, das ndchste Mal ein Falschm'nzer oder ein Hehler, die
hereingef'hrt wurden.
Was ich gestern erlebte, war heute vergessen.
Gegen das W'hlen der Sorge um Mirjam verblaYAten alle duYAeren
Begebenheiten.
Nur ein Ereignis hatte sich mir tiefer eingeprdgt - es verfolgte mich
zuweilen als Zerrbild bis in den Traum:
Ich hatte auf dem Wandbrett gestanden, um hinauf in den Himmel zu
starren, da f'hlte ich plctzlich, daYA mich ein spitzer Gegenstand in die
H'fte stach, und als ich nachsah, bemerkte ich, daYA es die Feile gewesen
war, die sich mir durch die Tasche zwischen Rock und Futter gebohrt hatte.
Sie muYAte schon lange dort gesteckt haben, sonst hdtte sie der Mann in der
Flurstube gewiYA bemerkt.
Ich zog sie heraus und warf sie achtlos auf meinen Strohsack.
Als ich dann herunterstieg, war sie verschwunden, und ich zweifelte
keinen Augenblick, daYA nur Loisa sie genommen haben konnte.
Einige Tage spdter holte man ihn aus der Zelle, um ihn einen Stock
tiefer unterzubringen.
Es d'rfe nicht sein, daYA zwei Untersuchungsgefangene, die desselben
Verbrechens beschuldigt wdren, wie er und ich, in der gleichen Zelle sdYAen,
hatte der Gefangenwdrter gesagt.
Aus ganzem Herzen w'nschte ich, es mcchte dem armen Burschen gelingen,
sich mit Hilfe der Feile zu befreien.
Auf meine Frage, welches Datum denn wdre - die Sonne schien so warm wie
im Hochsommer und der m'de Baum im Hof trieb ein paar Knospen - hatte der
Gefangenwdrter zuerst geschwiegen, dann aber mir zugefl'stert, es sei der
15. Mai. Eigentlich d'rfe er es nicht sagen, denn es sei verboten, mit den
Gefangenen zu sprechen, - insbesondere solche, die noch nicht gestanden
hdtten, m'YAten hinsichtlich der Zeit im unklaren gehalten werden.
Drei volle Monate war ich also schon im Gefdngnis und noch immer keine
Nachricht aus der Welt da drauYAen!
Wenn es Abend wurde, drangen leise Kldnge eines Klaviers durch das
Gitterfenster, das jetzt an warmen Tagen offen war.
Die Tochter des BeschlieYAers unten spiele, hatte mir ein Strdfling
gesagt.
Tag und Nacht trdumte ich von Mirjam.
Wie es ihr wohl ging?!
Zuzeiten hatte ich das trcstliche Gef'hl, als seien meine Gedanken zu
ihr gedrungen und st'nden an ihrem Bette, wdhrend sie schlief, und legten
ihr lindernd die Hand auf die Stirne.
Dann wieder, in Momenten der Hoffnungslosigkeit, wenn einer nach dem
andern meiner Zellengenossen zum Verhcr gefuhrt wurde, - nur ich nicht, -
drosselte mich eine dumpfe Furcht, sie sei vielleicht schon lange tot.
Da stellte ich dann Fragen an das Schicksal, ob sie noch lebe oder
nicht, krank sei oder gesund, und die Anzahl einer Handvoll Halme, die ich
aus dem Strohsack riYA, sollte mir Antwort geben.
Und fast jedesmal "ging es schlecht aus", und ich w'hlte in meinem
Innern nach einem Blick in die Zukunft; - suchte meine Seele, die mir das
Geheimnis verbarg, zu 'berlisten durch die scheinbar abseits liegende Frage,
ob wohl f'r mich dereinst noch ein Tag kommen w'rde, wo ich heiter sein und
wieder lachen kcnnte.
Immer bejahte das Orakel in solchen Fdllen, und dann war ich eine
Stunde lang gl'cklich und froh.
Wie eine Pflanze heimlich wdchst und sproYAt, war allmdhlich in mir eine
unbegreifliche, tiefe Liebe zu Mirjam erwacht, und ich faYAte es nicht, daYA
ich so oft hatte bei ihr sitzen und mit ihr reden kcnnen, ohne mir damals
schon klar dar'ber geworden zu sein.
Der zitternde Wunsch, daYA auch sie mit gleichen Gef'hlen an mich denken
mcchte, steigerte sich in solchen Augenblicken oft bis zur Ahnung der
GewiYAheit, und wenn ich dann auf dem Gange drauYAen einen Schritt hcrte,
f'rchtete ich mich beinahe davor, man kcnnte mich holen und freilassen und
mein Traum w'rde in der groben Wirklichkeit der AuYAenwelt in nichts
zerrinnen.
Mein Ohr war in der langen Zeit der Haft so scharf geworden, daYA ich
auch das leiseste Gerdusch vernahm.
Jedesmal bei Anbruch der Nacht hcrte ich in der Ferne einen Wagen
fahren und zergr'belte mir den Kopf, wer wohl dann sitzen mcchte.
Es lag etwas seltsam Fremdartiges in dem Gedanken, daYA es Menschen gab
da drauYAen, die tun und lassen durften, was sie wollten, - die sich frei
bewegen konnten und da und dort hingehen, und es dennoch nicht als
unbeschreiblichen Jubel empfanden.
DaYA auch ich jemals wieder so gl'cklich werden w'rde, im Sonnenschein
durch die StraYAen wandern zu kcnnen; - - ich war nicht mehr imstande, es mir
vorzustellen.
Der Tag, an dem ich Angelina in den Armen gehalten, schien mir einem
ldngstverflossenen Dasein anzugehcren; - ich dachte daran zur'ck mit jener
leisen Wehmut, wie sie einen beschleicht, wenn man ein Buch aufschldgt und
findet dann welke Blumen, die einst die Geliebte der Jugendjahre getragen
hat.
Ob wohl der alte Zwakh noch immer Abend f'r Abend mit Vrieslander und
Prokop beim "Ungelt" saYA und der vertrockneten Eulalia das Hirn konfus
machte?
Nein, es war doch Mai: - die Zeit, wo er mit seinem Marionettenkasten
durch die Provinznester zog und auf gr'nen Wiesen vor den Toren den Ritter
Blaubart spielte.
Ich saYA allein in der Zelle. - Vussatka, der Brandstifter, mein
einziger Gefdhrte seit einer Woche, war vor ein paar Stunden zum
Untersuchungsrichter geholt worden.
Merkw'rdig lange dauerte diesmal sein Verhcr.
Da. Die eiserne Vorlegestange klirrte an der T'r. Und mit
freudestrahlender Miene st'rmte Vussatka herein, warf ein B'ndel Kleider auf
die Pritsche und begann, sich mit Windeseile umzukleiden.
Den Strdflingsanzug warf er St'ck f'r St'ck mit einem Fluch auf den
Boden.
"Nix hamms mer beweisen kcnna, dc Hallodri. - Brandstiftung! - Ja doder
-" er zog mit dem Zeigefinger an seinem unteren Augenlid. "Auf den schwarzen
Vussatka sans jung. - Der Wind war's, hab i g'sagt. Und bi fest blimm. Den
kennens iazt eispirrn, wanns'n derwischen - den Herrn von Wind. - No servus
heit abend! - Do werd aufdraht. Beim Loisitschek." - Er breitete die Arme
aus und tanzte einen "G'strampften". - "Nur einmahl im Lebchn blie-het der
Mai." Er st'lpte sich mit einem Krach einen steifen Deckel mit einer kleinen
blaugesprenkelten NuYAhdherfeder darauf 'ber den Schddel. - "Ja, richtig, das
wird Ihna intrissirn, Herr Graf: wissens was Neies? Eana Freund, der Loisa,
is ausbrochen! - Grad hab i's erfahrehn oben bei die Hallodri. Schon vurigen
Monat - gegen Uldimoh hat er das Weide gesucht und ist ldngst ieber -
pbhuit" - er schlug sich mit den Fingern auf den Handr'cken - "ieber alle
Bergch." -
"Aha, die Feile", dachte ich mir und ldchelte.
"Alsdann haltens Ihna jetzt auch bald dazu, Herr Graf," der
Brandstifter streckte mir kameradschaftlich die Hand hin, "daYA Sie mcglichst
bei Zeitchn freikommen. - Und wenn Sie mal kein Geld nicht habehn, fragen
Sie sich nur beim Loisitschek nach dem schwarzen Vussatka. - Kennte mich
jedes Mddel durten. So! - Alsdann Servus, Herr Graf. War mir ein
Vergniegen."
Er stand noch in der T're, da schob der Wdrter schon einen neuen
Untersuchungsgefangenen in die Zelle.
Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm den Schlot mit der
Soldatenm'tze, der einmal neben mir bei Regenwetter in dem Torbogen der
HahnpaYAgasse gestanden hatte. Eine freudige Xberraschung! Vielleicht wuYAte
er zufdllig etwas 'ber Hillel und Zwakh und alle die andern?
Ich wollte sofort anfangen, ihn auszufragen, aber zu meinem grcYAten
Erstaunen legte er mit geheimnisvoller Miene den Finger an den Mund und
bedeutete mir, ich solle schweigen.
Erst als die T'r von auYAen abgesperrt und der Schritt des
Gefangenwdrters auf dem Gange verhallt war, kam Leben in ihn.
Mir schlug das Herz vor Aufregung.
Was sollte das bedeuten?
Kannte er mich denn, und was wollte er?
Das erste, was der Schlot tat, war, daYA er sich niedersetzte und seinen
linken Stiefel auszog.
Dann zerrte er mit den Zdhnen einen Stcpsel aus dem Absatz, entnahm dem
entstandenen Hohlraum ein kleines gebogenes Eisenblech, riYA die anscheinend
nur locker befestigte Schuhsohle ab und reichte mir beides mit stolzer Miene
hin. -
Alles in Windeseile und ohne auf meine erregten Fragen auch nur im
geringsten zu achten.
"So! Einen schcnen GruYA vom Herrn Charousek."
Ich war so verbl'fft, daYA ich kein Wort herausbringen konnte. -
"Brauchens' bloYA Eisenblechl ndhmen und Sohlen ausanand brechen in der
Nacht. Oder wann sunst niemand siecht. - Ise ndmlich hohl inewdndig" -
erkldrte der Schlot mit 'berlegener Miene, "und finden Sie sich drinn eine
Brieffel von Herrn Charousek."
Im XbermaYA meines Entz'ckens fiel ich dem Schlot um den Hals, und die
Trdnen st'rzten mir aus den Augen.
Er wehrte mich voll Milde ab und sagte vorwurfsvoll:
"Missen sich mehr zusammenndhmen, Herr von Pernath! Mir habens me nicht
eine Minutten zum Zeitverlieren. Es kann sich soffort herauskommen, daYA ich
in der falschen Zellen bin. Der Franzl und ich habens me unt beim Pordjch
die Nummern mitsamm vertauscht." -
Ich muYAte wohl ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, denn der Schlot
fuhr fort:
"Wann Sie das auch nicht verstdhn, macht nix. Kurz: ich bin hier,
Pasta!"
"Sagen Sie doch," fiel ich ihm ins Wort, "sagen Sie doch, Herr - - Herr
- - -"
"Wenzel," - half mir der Schlot aus, "ich heiYAe der schcne Wenzel."
"Sagen Sie mir doch, Wenzel, was macht der Archivar Hillel, und wie
geht es seiner Tochter?"
"Dazu ist jetz keine Zeit nicht", unterbrach mich der schcne Wenzel
ungeduldig. "Ich kann ich doch im ndxen Augenblick herausgeschmissen werden.
- Also: ich bin ich hier, weil ich einen Raubanfall extra eingestanden hab -
-"
"Was, Sie haben bloYA meinetwegen, und um zu mir kommen zu kcnnen, einen
Raubanfall begangen, Wenzel?" fragte ich ersch'ttert.
Der Schlot sch'ttelte verdchtlich den Kopf: "Wenn ich wirklich einen
Raub anf all begangen hdtt, mecht ich ihm doch nicht eingestdhen. Was
glauben Sie von mir!?"
Ich verstand allmdhlich: - der brave Kerl hatte eine List gebraucht, um
mir den Brief Charouseks ins Gefdngnis zu schmuggeln.
"So; zuverderscht" - er machte ein duYAerst wichtiges Gesicht - "muYA ich
Ihnen Unterricht in der Ebilebsie gdben."
"Worin?"
"In der Ebilebsie! - Gdbm S' amal scharf Obacht und merkens Ihna alles
genau! - Alsdann schaugens hdr: Zuerscht macht me Speichel in der Goschen;"
- er blies die Backen auf und bewegte sie hin und her, wie jemand, der sich
den Mund aussp'lt - "dann kriegt me Schaum vorm Maul, sengen S' so": - er
machte auch dies. Mit widerwdrtiger Nat'rlichkeit. "Nachhe drehte ma die
Daumen in die Faust. - Nachhe kugelt me die Augen raus" - er schielte
entsetzlich - "und dann - das ise sich bisl schwdr - stoYAt me so halbeten
Schrei aus. Segen S', so: Bc - bc - bc, und gleichzeitig fallt me sich um."
Er lieYA sich der Ldnge nach zu Boden fallen, daYA das Haus zitterte, und
sagte beim Aufstehen:
"Das ise sich die natierliche Ebilebsie, wie's uns der Dr. Hulbert
gottsdlig beim ›Bataljohn‹ gelernt hat."
"Ja, ja, es ist tduschend dhnlich," gab ich zu, "aber wozu dient das
alles?"
"Weil Sie sich zuerscht aus der Zellen rausmissen!", erkldrte der
schcne Wenzel. "Der Dr. Rosenblatt is doch ein Mordsochs! Wenn einer schon
gar kan Kopf mehr hat, sagt der Rosenblatt immer noch: der Mann ise sich
pumperlgesund! - Nur vor die Ebilebsie hat e' an Viechsrdschpdkt. Wann aner
daas gut kann: gleich ise drieben in der Krankenzelle. - - Und da ise sich
das Ausbrechen dann ein Kinderspielzeug;" - er wurde tief geheimnisvoll -
"den Fenstergitter in der Krankenzelle ise ndmlich durchgesdgt und nur
schwach mit Dreck zusammengepappt. - Es ise sich das ein Geheimnis vom
Bataljohn! - Sie brauchen dann bloYA ein paar Ndchte scharf aufpassen und,
wenn Sie eine Seilschlingen vom Dach herunter bis vors Fenster kommen segen,
heben Sie leise den Gitter aus, damit niemand nicht aufwacht, steckens die
Schultern in die Schlinge, und mir ziegen Ihnen hinauf aufs Dach und lassen
Ihnen auf der andern Seiten hinunter auf die StraYAen. - Pasta."
"Weshalb soll ich denn aus dem Gefdngnis ausbrechen?" wandte ich
sch'chtern ein, "ich bin doch unschuldig."
"Das ise doch kein Grund, um nicht auszubrechen!", widerlegte mich der
schcne Wenzel und machte vor Erstaunen kreisrunde Augen.
Ich muYAte meine ganze Beredsamkeit aufbieten, um ihm den verwegenen
Plan, der, wie er sagte, das Resultat eines "Bataillons" beschlusses war,
auszureden.
DaYA ich "die Gabe Gottes" von der Hand wies und lieber warten wollte,
bis ich von selbst freikommen w'rde, war ihm unbegreiflich.
"Jedenfalls danke ich Ihnen und Ihren braven Kameraden auf das
allerherzlichste," sagte ich ger'hrt und dr'ckte ihm die Hand. "Wenn die
schwere Zeit f'r mich vor'ber ist, wird es mein erstes sein, mich Ihnen
allen erkenntlich zu zeigen."
"Ise gar nicht ndtig", lehnte Wenzel freundlich ab. "Wann Sie ein paar
Glas ›Pils‹ zahlen, ndhmen wir sich dankbar an, abe sunst nix. Pan
Charousek, was ise jetz Schatzmistr vom Bataljohn hat e' uns schon erzdhlt,
was Sie f'r ein heimlicher Wohltdter sin. Soll ich ihm was ausrichten, wenn
ich in paar Tdg wieder herauskomm?"
"Ja, bitte," fiel ich rasch ein, "sagen Sie ihm, er mcchte zu Hillel
gehen und ihm mitteilen, ich hdtte soviel Angst wegen der Gesundheit seiner
Tochter Mirjam. Herr Hillel solle sie nicht aus den Augen lassen. - Werden
Sie sich den Namen merken?: Hillel!"
"Hirrdl?"
"Nein: Hillel."
"Hilldr?"
"Nein: Hill-el."
Wenzel zerbrach sich fast die Zunge an dem f'r einen Tschechen
unmcglichen Namen, aber schlieYAlich bewdltigte er ihn doch unter wilden
Grimassen.
"Und dann noch eins: Herr Charousek mcge - ich lasse ihn herzlich drum
bitten - sich auch, soweit es in seiner Macht steht, der "vornehmen Dame" -
er weiYA schon, wer darunter zu verstehen ist - annehmen."
"Sie meinen sich wahrscheinlich die adlige Flietschen, die was da
Gspusi ghabt hat mit dem Niemetz - dem Dr. Sapoli? - No, die hat sich doch
scheiden lassen und ise mit dem Kind und dem Sapoli f'rt."
"Wissen Sie das bestimmt?"
Ich f'hlte meine Stimme zittern. So sehr ich mich um Angelinas willen
freute, - es krampfte mir doch das Herz zusammen.
Wieviel Sorge hatte ich ihretwegen getragen und jetzt - - - war ich
vergessen.
Vielleicht glaubte sie, ich sei wirklich ein Raubmcrder.
Ein bitterer Geschmack stieg mir in die Kehle.
Der Schlot schien mit dem Feingef'hl, das verwahrlosten Menschen
seltsamerweise eigen ist bei allen Dingen, die sich um Liebe drehen, erraten
zu haben, wie mir zumute war, denn er blickte scheu weg und antwortete
nicht.
"Wissen Sie vielleicht auch, wie es Herrn Hillels Tochter, dem Frdulein
Mirjam geht? Kennen Sie sie?", fragte ich gepreYAt.
"Mirjam? Mirjam?" - Wenzel legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten -
"Mirjam? - Gdht sich die cfters in der Nacht zum Loisitschek?"
Ich muYAte unwillk'rlich ldcheln. "Nein. Ganz bestimmt nicht."
"Dann kenn ich sie nicht", sagte Wenzel trocken.
Wir schwiegen eine Weile.
Vielleicht steht in dem Briefchen etwas 'ber sie, hoffte ich.
"DaYA den Wassertrum der Deiwel g'holt hat", fing Wenzel plctzlich
wieder an, "wdrden Sie sich wohl schon gehdrt haben?"
Ich fuhr entsetzt auf.
"No ja." - Wenzel deutete auf seine Kehle. - "Murxi, murxi! Ich sag ich
Ihndn; es war Ihndn schaislich. Wie sie den Laden aufgebrochen haben, weil
er sich paar Tdg nicht hat segen lassen, war ich natierlich der erschte
drin; - wie denn nicht! - Und da hat e' durten g'sdssen, der Wassertrum, in
einem dreckigen Ldhnsessel, die Brust voller Blut und die Augen wie aus
Glas. - - - Wissen S', ich bin ich ein handfeste Kerl, aber mir hat sich
alles gedrdht, sag ich Ihndn, und ich hab' gemeint, ich hau ich ohnmdchtig
hi-iin. Furt' a furt' hab' ich mir vorsagen missen: Wenzel, hab' ich mir
vorg'sagt, Wenzel, reg' dich nicht auf, es is doch bloYA ein toter Jud. - Er
hat eine Feile in der Kehle stecken gehabt und im Laden war sich alles
umedum geschmissen. - Ein Raubmord natierlich."
"Die Feile! Die Feile!" Ich f'hlte, wie mir der Atem kalt wurde vor
Grausen. Die Feile! So hatte sie also doch ihren Weg gefunden!
"Ich weiYA ich auch, wer's war", fuhr Wenzel nach einer Pause halblaut
fort. "Niemand anders, sag ich Ihndn, als der blattersteppige Loiso. - Ich
hab' ich ndmlich sein Taschenmesser auf dem Boden im Laden entdeckt und
rasch eing'stdckt, damit sich die Polizei nicht draufkommt. - Er ise sich
durch einen unterirdischen Gang in den Laden - - -" er brach mit einem Ruck
seine Rede ab und horchte ein paar Sekunden lang angestrengt, dann warf er
sich auf die Pritsche und fing an, f'rchterlich zu schnarchen.
Gleich darauf klirrte das VorhdngeschloYA und der Gefdngniswdrter kam
herein und musterte mich argwchnisch.
Ich machte ein teilnahmsloses Gesicht und Wenzel war kaum zu erwecken.
Erst nach vielen P'ffen richtete er sich gdhnend auf und taumelte,
gefolgt von dem Wdrter, schlaftrunken hinaus.
Fiebernd vor Spannung faltete ich Charouseks Brief auseinander und las:
Den 12. Mai.
"Mein lieber armer Freund und Wohltdter!"
Woche um Woche habe ich gewartet, daYA Sie endlich freikommen w'rden, -
immer vergebens, - habe alle mcglichen Schritte versucht, um
Entlastungsmaterial f'r Sie zu sammeln, aber ich fand keins.
Ich bat den Untersuchungsrichter, das Verfahren zu beschleunigen, aber
jedesmal hieYA es, er kcnne nichts tun - es sei Sache der Staatsanwaltschaft
und nicht die seinige.
Amtsschimmel!
Eben erst, vor einer Stunde, gelang mir jedoch etwas, von dem ich mir
den besten Erfolg erhoffe: ich habe erfahren, daYA Jaromir dem Wassertrum
eine goldene Taschenuhr, die er nach der damaligen Verhaftung seines Bruders
Loisa in dessen Bett gefunden hatte, verkauft hat.
Beim ›Loisitschek‹, wo, wie Sie wissen, die Detektivs verkehren, geht
das Ger'cht, man hdtte die Uhr des angeblich ermordeten Zottmann - dessen
Leiche 'brigens noch immer nicht entdeckt ist - als corpus delicti bei Ihnen
gefunden. Das 'brige reimte ich mir zusammen: Wassertrum et cetera!
Ich habe mir Jaromir sofort vorgenommen, ihm 1000 fl gegeben - -" Ich
lieYA den Brief sinken, und die Freudentrdnen traten mir in die Augen: nur
Angelina konnte Charousek die Summe gegeben haben. Weder Zwakh, noch Prokop,
noch Vrieslander besaYAen so viel Geld. Sie hatte mich also doch nicht
vergessen! - Ich las weiter:
"- 1000 fl gegeben und ihm weitere 2000 fl versprochen, wenn er mit mir
sofort zur Polizei ginge und eingest'nde, die Uhr seinem Bruder zu Hause
entwendet und verkauft zu haben.
Das alles kann aber erst geschehen, wenn dieser Brief durch Wenzel
bereits an Sie unterwegs ist. Die Zeit reicht nicht aus.
Aber seien Sie versichert: es wird geschehen. Heute noch. Ich b'rge
Ihnen daf'r.
Ich zweifle keinen Augenblick, daYA Loisa den Mord begangen hat und die
Uhr die Zottmanns ist.
Sollte sie es wider Erwarten nicht sein, - nun, dann weiYA Jaromir, was
er zu tun hat: - Jedenfalls wird er sie als die bei Ihnen gefundene
agnoszieren.
Also harren Sie aus und verzweifeln Sie nicht! Der Tag, wo Sie frei
sein werden, steht vielleicht bald bevor.
Ob trotzdem ein Tag kommen wird, wo wir uns wiedersehen?
Ich weiYA es nicht.
Fast mcchte ich sagen: ich glaube es nicht, denn mit mir geht's rasch
zu Ende, und ich muYA auf der Hut sein, daYA mich die letzte Stunde nicht
'berrascht.
Aber eins halten Sie fest: wir werden uns wiedersehen.
Wenn auch nicht in diesem Leben und nicht wie die Toten in jenem Leben,
aber an dem Tag, wo die Zeit zerbricht, - wo, wie es in der Bibel steht, der
HERR die ausspeien wird aus seinem Munde, die lau waren und weder kalt noch
warm. - - -
Wundern Sie sich nicht, daYA ich so rede! Ich habe nie mit Ihnen 'ber
diese Dinge gesprochen und, als Sie einmal das Wort ›Kabbala‹ ber'hrten, bin
ich Ihnen ausgewichen, aber - ich weiYA, was ich weiYA.
Vielleicht verstehen Sie, was ich meine, und wenn nicht, so streichen
Sie, ich bitte Sie darum, das, was ich gesagt habe, aus Ihrem Geddchtnis. -
- Einmal, in meinen Delirien, glaubte ich - ein Zeichen auf Ihrer Brust zu
sehen. - Mag sein, daYA ich wach getrdumt habe.
Nehmen Sie an, wenn Sie mich wirklich nicht verstehen sollten, daYA ich
gewisse Erkenntnisse gehabt habe - innerlich! - fast schon von Kindheit an,
die mich einen seltsamen Weg gef'hrt haben; - Erkenntnisse, die sich nicht
decken mit dem, was die Medizin lehrt oder Gott sei Dank noch nicht weiYA;
hoffentlich auch nie erfahren wird.
Aber ich habe mich nicht dumm machen lassen von der Wissenschaft, deren
hcchstes Ziel es ist, einen - ›Wartesaal‹ auszustaffieren, den man am besten
niederrisse.
Doch genug davon.
Ich will Ihnen erzdhlen, was sich inzwischen zugetragen hat:
Ende April war Wassertrum so weit, daYA meine Suggestion anfing zu
wirken.
Ich sah es daran, daYA er auf der Gasse bestdndig gestikulierte und laut
mit sich selbst sprach.
So etwas ist ein sicheres Zeichen, daYA die Gedanken eines Menschen sich
zum Sturm rotten, um 'ber ihren Herrn herzufallen.
Dann kaufte er sich ein Taschenbuch und machte sich Notizen.
Er schrieb!
Er schrieb! DaYA ich nicht lache! Er schrieb.
Und dann ging er zu einem Notar. Unten vor dem Hause wuYAte ich, was er
oben machte: - er machte sein Testament.
DaYA er mich zum Erben einsetzte, habe ich mir allerdings nicht gedacht.
Ich hdtte wahrscheinlich den Veitstanz bekommen vor Vergn'gen, wenn's mir
eingefallen wdre.
Er setzte mich zum Erben ein, weil ich der einzige auf der Erde bin, an
dem er noch etwas gutmachen kcnnte, wie er glaubte. Das Gewissen hat ihn
'berlistet.
Vielleicht war's auch die Hoffnung, ich w'rde ihn segnen, wenn ich mich
nach seinem Tode durch seine Huld plctzlich als Milliondr sdhe, und dadurch
den Fluch wettmachen, den er in Ihrem Zimmer aus meinem Mund hat mit anhcren
m'ssen.
Dreifach hat demnach meine Suggestion gewirkt.
Rasend witzig, daYA er heimlich also doch an eine Wiedervergeltung im
Jenseits geglaubt hat, wdhrend er sich's das ganze Leben lang m'hselig
ausreden wollte.
Aber so ist's bei allen den Ganzgescheiten; man sieht es schon an der
wahnwitzigen Wut, in die sie geraten, wenn man's ihnen ins Gesicht sagt. Sie
f'hlen sich ertappt.
Von dem Moment an, wo Wassertrum vom Notar kam, lieYA ich ihn nicht mehr
aus dem Auge.
Des Nachts horchte ich an den Verschlagbrettern seines Ladens, denn
jede Minute konnte die Entscheidung fallen. -
Ich glaube, durch Mauern hindurch w'rde ich das ersehnte schnalzende
Gerdusch gehcrt haben, wenn er den Stcpsel aus der Giftflasche gezogen
hdtte.
Es fehlte vielleicht nur eine Stunde, und mein Lebenswerk war
vollbracht.
Da griff ein Unberufener ein und ermordete ihn. Mit einer Feile.
Lassen Sie sich das Ndhere von Wenzel erzdhlen, mir wird es zu bitter,
alles das niederschreiben zu m'ssen.
Nennen Sie es Aberglaube, - aber, wie ich sah, daYA Blut vergossen
worden war - die Dinge im Laden waren befleckt davon, - kam es mir vor, als
sei mir seine Seele entwischt.
Etwas in mir, - ein feiner, untr'glicher Instinkt - sagt mir, daYA es
nicht dasselbe ist, ob ein Mensch von fremder Hand stirbt oder von eigener:
- daYA Wassertrum sein Blut mit sich in die Erde hdtte nehmen m'ssen, dann
erst wdre meine Mission erf'llt gewesen. - Jetzt, wo es anders gekommen ist,
f'hle ich mich als AusgestoYAener, als ein Werkzeug, das nicht w'rdig
befunden wurde in der Hand des Todesengels.
Aber ich will mich nicht auflehnen. Mein HaYA ist von der Art, die 'bers
Grab hinaus geht, und noch habe ich ja mein eigenes Blut, das ich vergieYAen
kann, wie ich will, damit es dem seinigen nachgehe im Reich der Schatten auf
Schritt und Tritt. - - -
Jeden Tag, seit sie Wassertrum verscharrt haben, sitze ich drauYAen bei
ihm auf dem Friedhof und horche in meine Brust hinein, was ich tun soll.
Ich glaube, ich weiYA es bereits, aber ich will noch warten, bis das
innere Wort, das zu mir spricht, klar wird wie eine Quelle. - Wir Menschen
sind unrein, und oft bedarf es langen Fastens und Wachens, bis wir das
Fl'stern unserer Seele verstehen. - - -
In der verflossenen Woche wurde mir offiziell vom Gericht mitgeteilt,
daYA mich Wassertrum zum Universalerben eingesetzt hat.
DaYA ich f'r mich keinen Kreuzer davon anr'hre, brauche ich Ihnen wohl
nicht zu versichern, Herr Pernath. - Ich werde mich h'ten, ›ihm‹ - f'r
›dr'ben‹ eine Handhabe zu geben.
Die Hduser, die er besessen hat, lasse ich versteigern, die
Gegenstdnde, die er ber'hrt hat, werden verbrannt, und was an Geld und
Geldeswert sich dann ergibt, fdllt nach meinem Tode zu einem Drittel Ihnen
zu. -
Ich sehe im Geiste, wie Sie aufspringen und protestieren, aber ich kann
Sie beruhigen. Was Sie bekommen, ist Ihr rechtmdYAiges Eigentum mit Zinsen
und Zinseszinsen. Schon lange wuYAte ich, daYA Wassertrum vor Jahren Ihren
Vater und seine Familie um alles gebracht hat, - erst jetzt bin ich in der
Lage, es aktenmdYAig nachweisen zu kcnnen.
Ein zweites Drittel wird unter die zwclf Mitglieder des "Bataillons"
verteilt, die den Dr. Hulbert noch perscnlich gekannt haben. Ich will, daYA
jeder von ihnen reich wird und Zutritt bekommt zur Prager - "guten
Gesellschaft".
Das letzte Drittel gehcrt zu gleichen Teilen den ndchsten sieben
Raubmcrdern des Landes, die mangels zureichender Beweise freigesprochen
werden m'ssen.
Ich bin das dem cffentlichen Drgernis schuldig.
So. Das wdre wohl alles.
Und jetzt, mein lieber, lieber Freund, leben Sie wohl und gedenken Sie
zuweilen
Ihres
aufrichtigen und dankbaren
Innocenz Charousek."
Tief ersch'ttert legte ich den Brief aus der Hand. Ich konnte mich
nicht freuen 'ber die Nachricht von meiner bevorstehenden Enthaftung.
Charousek! Armer Mensch! Wie ein Bruder k'mmerte er sich um mein
Schicksal. BloYA, weil ich ihm einst 100 fl geschenkt hatte. Wenn ich ihm nur
einmal noch die Hand dr'cken kcnnte!
Ich f'hlte: ja, er hatte recht; der Tag w'rde nie kommen.
Ich sah ihn vor mir: seine flackernden Augen, die schwinds'chtigen
Schultern, die hohe, noble Stirn.
Vielleicht, daYA alles ganz anders gekommen wdre, wenn eine hilfreiche
Hand rechtzeitig in dies verdorrte Leben eingegriffen hdtte.
Noch einmal las ich den Brief durch.
Wieviel Methode in Charouseks Irrsinn lag! Ob er 'berhaupt irrsinnig
war?
Ich schdmte mich beinahe, diesen Gedanken auch nur einen Augenblick
geduldet zu haben.
Sagten seine Anspielungen nicht genug? Er war ein Mensch wie Hillel,
wie Mirjam, wie ich selbst; ein Mensch, 'ber den die eigene Seele Gewalt
gewonnen hatte, - den sie durch die wilden Schluchten und Kl'fte des Lebens
emporf'hrte in die Firnenwelt eines unbetreten Landes.
Er, der doch ein ganzes Leben auf Mord gesonnen, stand er nicht reiner
da, als irgendeiner von denen, die naser'mpfend umhergehen und angelernte
Gebote eines unbekannten, mythischen Propheten zu befolgen vorgeben?
Er hielt das Gebot, das ihm ein 'bermdchtiger Trieb diktierte, ohne an
eine "Belohnung" hier oder jenseits auch nur zu denken.
Was er getan hatte, war es etwas anderes als frcmmste Pflichterf'llung
in des Wortes verborgenster Bedeutung?
"Feig, hinterlistig, mordgierig, krank, eine problematische - eine
Verbrechernatur" - ich hcrte fcrmlich, wie das Urteil der Menge 'ber ihn
lauten muYAte, wenn sie mit ihren blinden Stallaternen in seine Seele
hineinzuleuchten kdme, - dieser geifernden Menge, die nie und nimmer
begreifen wird, daYA die giftige Herbstzeitlose tausendfach schcner und edler
ist als der n'tzliche Schnittlauch. - - -
Wieder ging das T'rschloYA drauYAen, und ich hcrte, daYA man einen
Menschen hereinschob.
Ich drehte mich nicht einmal um, so sehr war ich erf'llt von dem
Eindruck des Briefes.
Kein Wort 'ber Angelina, nichts von Hillel stand darin.
Freilich: Charousek muYAte in grcYAter Eile geschrieben haben, die
Schrift verriet es mir.
Ob mir wohl noch ein Brief von ihm heimlich 'berbracht werden w'rde?
Ich hoffte heimlich auf den morgigen Tag, auf den gemeinsamen Rundgang
der Gefangenen im Hof. - Da war es noch am leichtesten, daYA mir irgendeiner
vom "Bataillon" etwas zusteckte.
Eine leise Stimme schreckte mich aus meinen Gr'beleien:
"W'rden Sie gestatten, mein Herr, daYA ich mich Ihnen vorstelle? Mein
Name ist Laponder. Amadeus Laponder".
Ich drehte mich um.
Ein kleiner, schmdchtiger, noch ziemlich junger Mann in gewdhlter
Kleidung, nur ohne Hut, wie alle Untersuchungsgefangenen, verbeugte sich
korrekt vor mir.
Er war glattrasiert wie ein Schauspieler, und seine groYAen, hellgr'n
gldnzenden, mandelfcrmigen Augen hatten das Eigent'mliche an sich, daYA, so
geradeaus sie auch auf mich gerichtet waren, sie mich doch nicht zu sehen
schienen. - Es lag so etwas wie - Geistesabwesenheit darin.
Ich murmelte meinen Namen und verbeugte mich ebenfalls und wollte mich
wieder umdrehen, konnte aber lange den Blick von dem Menschen nicht wenden,
so fremdartig wirkte er auf mich mit dem pagodenhaften Ldcheln, das die
aufwdrts gezogenen Mundwinkel der feingeschwungenen Lippen bestdndig seinem
Gesicht aufdr'ckten.
Er sah fast aus wie eine chinesische Buddhastatue aus Rosenquarz, mit
seiner faltenlosen, durchsichtigen Haut, der mddchenhaft schmalen Nase und
den zarten N'stern.
"Amadeus Laponder, Amadeus Laponder", wiederholte ich vor mich hin.
"Was er wohl begangen haben mag?"
"Waren Sie schon beim Verhcr", fragte ich nach einer Weile.
"Ich komme soeben von dort. - Hoffentlich werde ich Sie hier nicht
lange inkommodieren m'ssen", antwortete Herr Laponder liebensw'rdig.
"Armer Teufel," dachte ich mir, "er ahnt nicht, was einem
Untersuchungsgefangenen bevorsteht."
Ich wollte ihn langsam vorbereiten:
"Man gewchnt sich allmdhlich an das Stillsitzen, wenn einmal die
ersten, schlimmsten Tage vor'ber sind." - - -
Er machte ein verbindliches Gesicht.
Pause.
"Hat das Verhcr lange gedauert, Herr Laponder?"
Er ldchelte zerstreut:
"Nein. Ich wurde bloYA gefragt, ob ich gestdndig sei, und muYAte das
Protokoll unterschreiben."
"Sie haben unterschrieben, daYA Sie gestdndig sind?" fuhr es mir heraus.
"Allerdings."
Er sagte es, als ob es sich von selbst verst'nde.
Es kann nichts Schlimmes sein, legte ich mir zurecht, weil er so gar
keine Aufregung zeigt. Wahrscheinlich eine Herausforderung zum Duell oder
etwas Dhnliches.
"Ich bin leider schon so lange hier, daYA es mir wie ein Menschenleben
vorkommt"; - ich seufzte unwillk'rlich, und er machte sofort eine
teilnehmende Miene. "Ich w'nsche Ihnen, daYA Sie das nicht mitzumachen
brauchen, Herr Laponder. Nach allem, was ich sehe, werden Sie bald auf
freiem FuYA sein."
"Wie man's nimmt", antwortete er ruhig, aber es klang wie ein
versteckter Doppelsinn.
"Sie glauben nicht?", fragte ich ldchelnd. Er sch'ttelte den Kopf.
"Wie soll ich das verstehen? - Was haben Sie denn gar so Schreckliches
begangen? Verzeihen Sie, Herr Laponder, es ist nicht Neugierde von mir, -
lediglich Teilnahme, daYA ich frage."
Er zcgerte einen Augenblick, dann sagte er, ohne mit der Wimper zu
zucken:
"Lustmord."
Mir war, als hdtte er mich mit einem Stock 'ber den Kopf geschlagen.
Vor Abscheu und Grausen konnte ich keinen Ton herausbringen.
Er schien es zu bemerken und blickte diskret zur Seite, aber nicht das
leiseste Minenspiel in seinem automatenhaft ldchelnden Gesicht verriet, daYA
er 'ber mein plctzlich verdndertes Benehmen verletzt gewesen wdre.
Wir wechselten kein Wort weiter und blickten stumm aneinander vorbei. -
- -
Als ich mich nach Einbruch der Dunkelheit niederlegte, folgte er
sogleich meinem Beispiel, entkleidete sich, hdngte sorgsam seine Kleider an
den Wandnagel, streckte sich aus und schien, nach seinen ruhigen, tiefen
Atemz'gen zu schlieYAen, unmittelbar darauf fest eingeschlafen zu sein.
Die ganze Nacht konnte ich nicht zur Ruhe kommen.
Das bestdndige Gef'hl, ein solches Scheusal in meiner ndchsten Ndhe zu
haben und dieselbe Luft mit ihm atmen zu m'ssen, war mir so grdYAlich und
aufregend, daYA die Eindr'cke des Tages, Charouseks Brief und all das erlebte
Neue tief in den Hintergrund traten.
Ich hatte mich so gelegt, daYA ich den Mcrder bestdndig im Auge behielt,
denn ich w'rde es nicht haben ertragen kcnnen, ihn hinter mir zu wissen.
Die Zelle war vom Schimmer des Mondes matt durchddmmert, und ich konnte
sehen, daYA Laponder regungslos, fast starr, dalag.
Seine Z'ge hatten etwas Leichenhaftes bekommen, und der halbgecffnete
Mund erhchte diesen Eindruck.
Viele Stunden hindurch dnderte er nicht ein einziges Mal seine Lage.
Erst spdt nach Mitternacht, als ein d'nner Mondstrahl auf sein Gesicht
fiel, kam eine leise Unruhe 'ber ihn und er bewegte unaufhcrlich die Lippen,
wie jemand, der im Schlaf spricht. Es schien immer dasselbe Wort zu sein, -
ein zweisilbiger Satz vielleicht, - so wie:
"LaYA mich. LaYA mich, LaYA mich."
Die ndchsten paar Tage vergingen, ohne daYA ich Notiz von ihm genommen
hdtte, und auch er brach niemals das Schweigen.
Sein Benehmen blieb nach wie vor gleich liebensw'rdig. Sooft ich auf
und ab gehen wollte, sah er es mir sofort an und zog hcflich, wenn er auf
der Pritsche saYA, die F'YAe zur'ck, um mir nicht im Wege zu sein.
Ich fing an, mir Vorw'rfe wegen meiner Schroffheit zu machen, konnte
aber den Abscheu vor ihm beim besten Willen nicht loswerden.
So sehr ich gehofft hatte, mich an seine Ndhe gewchnen zu kcnnen, - es
ging nicht.
Selbst in den Ndchten hielt es mich wach. Kaum eine Viertelstunde
verbrachte ich im Schlaf.
Abend f'r Abend wiederholte sich haargenau derselbe Vorgang: Er wartete
respektvoll, bis ich mich ausstreckte, zog dann seine Kleider aus, legte sie
pedantisch in Falten, hdngte sie auf, und so weiter und so weiter.
Eines Nachts - es mochte um die zweite Stunde sein - stand ich
schlaftrunken vor M'digkeit wieder auf dem Wandbrett, starrte in den
Vollmond, dessen Strahlen sich wie glitzerndes Cl auf dem kupfernen Gesicht
der Turmuhr spiegelten, und dachte voll Trauer an Mirjam.
Da hcrte ich plctzlich leise ihre Stimme hinter mir.
Sofort war ich wach, 'berwach, - fuhr herum und horchte.
Eine Minute verging.
Schon glaubte ich, ich hdtte mich getduscht, da kam es wieder. Ich
konnte die Worte nicht genau verstehen, aber es klang wie:
"Frag' mich. Frag' mich."
Es war bestimmt Mirjams Stimme.
Schlotternd vor Aufregung stieg ich, so leise ich konnte, herab und
trat an das Bett Laponders.
Das Mondlicht schien voll auf sein Gesicht, und ich konnte deutlich
unterscheiden, daYA er die Lider offen hatte, doch nur das WeiYAe der Augdpfel
war sichtbar.
An der Starre der Wangenmuskeln sah ich, daYA er im Tiefschlaf lag.
Nur die Lippen bewegten sich wieder wie neulich. Und allmdhlich
verstand ich die Worte, die hinter seinen Zdhnen hervordrangen:
"Frag' mich. Frag' mich."
Die Stimme war der von Mirjam tduschend dhnlich.
"Mirjam? Mirjam?" rief ich unwillk'rlich, ddmpfte aber sofort den Ton,
um den Schldfer nicht zu erwecken.
Ich wartete, bis sein Gesicht wieder starr geworden war, dann
wiederholte ich leise:
"Mirjam? Mirjam?"
Sein Mund formte ein kaum vernehmbares, aber doch deutliches:
"Ja."
Ich legte mein Ohr dicht an seine Lippen. Nach einer Weile hcrte ich
Mirjams Stimme fl'stern - so unverkennbar ihre Stimme, daYA mir Kdlteschauer
'ber die Haut liefen.
Ich trank die Worte so gierig, daYA ich nur den Sinn begriff. Sie sprach
von Liebe zu mir und von dem unsagbaren Gl'ck, daYA wir uns endlich gefunden
hdtten - und uns nie wieder trennen w'rden - hastig - ohne Pause, wie
jemand, der f'rchtet, unterbrochen zu werden und jede Sekunde ausn'tzen
will.
Dann wurde die Stimme stockend - erlosch zeitweilig ganz.
"Mirjam?" fragte ich, bebend vor Angst und mit eingezogenem Atem,
"Mirjam, bist du gestorben?"
Lange keine Antwort.
Dann fast unverstdndlich:
"Nein. - Ich lebe. - Ich schlafe."
Nichts mehr.
Ich lauschte und lauschte.
Vergebens.
Nichts mehr.
Vor Ergriffenheit und Zittern muYAte ich mich auf die Kante der Pritsche
st'tzen, um nicht vorn'ber auf Laponder zu fallen.
Die Tduschung war so vollstdndig gewesen, daYA ich Mirjam momentelang
tatsdchlich vor mir liegen zu sehen glaubte und alle meine Kraft
zusammennehmen muYAte, um nicht einen KuYA auf die Lippen des Mcrders zu
dr'cken.
"Henoch! Henoch!" - hcrte ich ihn plctzlich lallen, dann immer klarer
und artikulierter: "Henoch! Henoch!"
Sofort erkannte ich Hillel.
"Bist du es, Hillel?"
Keine Antwort.
Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, daYA man Schlafenden, um sie zum
Reden zu bringen, die Fragen nicht ins Ohr stellen d'rfe, sondern gegen das
Nervengeflecht in der Magengrube richten m'sse.
Ich tat es:
"Hillel?"
"Ja, ich hcre dich!"
"Ist Mirjam gesund? WeiYAt du alles?" fragte ich schnell.
"Ja. Ich weiYA alles. WuYAte es ldngst. - Sei ohne Sorge, Henoch, und
f'rchte dich nicht!"
"Kannst du mir verzeihen, Hillel?"
"Ich sage dir doch: sei ohne Sorge."
"Werden wir uns bald wiedersehen?" - Ich f'rchtete, die Antwort nicht
mehr verstehen zu kcnnen; schon der letzte Satz war nur noch gehaucht
worden.
"Ich hoffe es. Ich will warten - auf dich - wenn ich kann - dann muYA
ich - Land -"
"Wohin? In welches Land?" - ich fiel beinahe auf Laponder - "In welches
Land? In welches Land?"
"- Land - Gad - s'dlich - Paldstina -"
Die Stimme erstarb.
Hundert Fragen schcssen mir in der Verwirrung durch den Kopf: Warum
nennt er mich Henoch? Zwakh, Jaromir, die Uhr, Vrieslander, Angelina,
Charousek.
"Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner zuweilen", kam es plctzlich
wieder laut und deutlich von den Lippen des Mcrders. Diesmal in Charouseks
Tonfall, aber dhnlich so, als hdtte ich selbst es gesagt.
Ich erinnerte mich: es war wcrtlich der SchluYAsatz aus Charouseks
Brief. -
Das Gesicht Laponders lag bereits im Dunkel. Das Mondlicht fiel auf die
Kopfenden des Strohsacks. In einer Viertelstunde muYAte es aus der Zelle
verschwunden sein.
Ich stellte Frage auf Frage, bekam aber keine Antwort mehr:
Der Mcrder lag unbeweglich da wie eine Leiche und hatte die Lider
geschlossen.
Ich machte mir die heftigsten Vorw'rfe, alle die Tage 'ber in Laponder
nur den Verbrecher und niemals den Menschen gesehen zu haben. -
Nach dem, was ich soeben erlebt, war er offenbar ein Somnambuler - ein
Geschcpf, das unter dem EinfluYA des Vollmonds stand.
Vielleicht hatte er den Lustmord in einer Art Ddmmerzustand begangen.
Bestimmt sogar. -
Jetzt, wo der Morgen graute, war die Starrheit aus seinen Z'gen
gewichen und hatte dem Ausdruck seligen Friedens Platz gemacht.
So ruhig kann ein Mensch doch nicht schlummern, der einen Mord auf dem
Gewissen hat, sagte ich mir.
Ich konnte den Moment, wo er aufwachen w'rde, kaum erwarten.
Ob er wohl w'YAte, was geschehen war?
Endlich schlug er die Augen auf, begegnete meinem Blick und sah zur
Seite.
Sofort trat ich zu ihm und ergriff seine Hand: "Verzeihen Sie mir, Herr
Laponder, daYA ich bisher so unfreundlich zu Ihnen gewesen bin. Es war das
Ungewohnte, das -"
"Seien Sie 'berzeugt, mein Herr, ich begreife vollkommen," unterbrach
er mich lebhaft, "daYA es ein scheuYAliches Gef'hl sein muYA, mit einem
Lustmcrder beisammen zu sein."
"Reden Sie nicht mehr davon", bat ich. "Es ist mir heute nacht so
mancherlei durch den Kopf gegangen, und ich werde den Gedanken nicht los,
Sie kcnnten vielleicht - - -" ich suchte nach Worten.
"Sie halten mich f'r krank", half er mir heraus.
Ich bejahte: "Ich glaube es aus gewissen Anzeichen schlieYAen zu d'rfen.
Ich - ich - darf ich Ihnen eine direkte Frage stellen, Herr Laponder?"
"Ich bitte darum."
"Es klingt etwas merkw'rdig, - aber - w'rden Sie mir sagen, was Sie
heute getrdumt haben?"
Er sch'ttelte ldchelnd den Kopf: "Ich trdume nie."
"Aber Sie haben aus dem Schlaf gesprochen."
Er blickte 'berrascht auf. Dachte eine Weile nach. Dann sagte er
bestimmt:
"Das kann nur geschehen sein, wenn Sie mich etwas gefragt haben." - Ich
gab es zu. "Denn wie gesagt, ich trdume nie. Ich - ich wandere", setzte er
nach einer Pause halblaut hinzu.
"Sie wandern? Wie soll ich das verstehen?"
Er schien nicht recht mit der Sprache heraus zu wollen, und ich hielt
es f'r angezeigt, ihm die Gr'nde zu nennen, die mich bewogen hatten, in ihn
zu dringen, und erzdhlte ihm in Umrissen, was nachts geschehen war.
"Sie kcnnen sich fest darauf verlassen," sagte er ernst, als ich zu
Ende war, "daYA alles auf Richtigkeit beruht, was ich im Schlaf gesprochen
habe. Wenn ich vorhin bemerkte, daYA ich nicht trdume, sondern ›wandere‹, so
meine ich damit, daYA mein Traumleben anders beschaffen ist als das - sagen
wir: normaler Menschen. Nennen Sie es, wenn Sie wollen, ein Austreten aus
dem Kcrper. - - So war ich z. B. heute nacht in einem hcchst sonderbaren
Zimmer, zu dem der Eingang von unten herauf durch eine Fallt'r f'hrte."
"Wie sah es aus?" fragte ich rasch. "War es unbewohnt? Leer?"
"Nein; es standen Mcbel darin; aber nicht viele. Und ein Bett, in dem
ein junges Mddchen schlief - oder wie scheintot lag, - und ein Mann saYA
neben ihr und hielt seine Hand 'ber ihre Stirn." - Laponder schilderte die
Gesichter der beiden. Kein Zweifel, es waren Hillel und Mirjam.
Ich wagte vor Spannung kaum zu atmen.
"Bitte, erzdhlen Sie weiter. War sonst noch jemand im Zimmer?"
"Sonst noch jemand? Warten Sie - - - nein: sonst war niemand mehr im
Zimmer. Ein siebenflammiger Leuchter brannte auf dem Tisch. - Dann ging ich
eine Wendeltreppe hinunter."
"Sie war zerbrochen?" fiel ich ein.
"Zerbrochen? Nein, nein; sie war ganz in Ordnung. Und von ihr zweigte
seitlich eine Kammer ab, darin saYA ein Mann mit silbernen Schnallen an den
Schuhen und von fremdartigem Typus, wie ich noch nie einen Menschen gesehen
habe: von gelber Gesichtsfarbe und mit schrdgstehenden Augen; - er war
vorn'ber gebeugt und schien auf etwas zu warten. Auf einen Auftrag
vielleicht."
"Ein Buch - ein altes groYAes Buch haben Sie nirgends gesehen?",
forschte ich.
Er rieb sich die Stirn:
"Ein Buch sagen Sie? - Ja. Sehr richtig: ein Buch lag auf dem Boden. Es
war aufgeschlagen, ganz aus Pergament, und mit einem groYAen, goldenen ›A‹
fing die Seite an."
"Mit einem ›I‹, meinen Sie wohl?"
"Nein, mit einem ›A‹."
"Wissen Sie das bestimmt? War es nicht ein ›I‹?"
"Nein, es war bestimmt ein ›A‹."
Ich sch'ttelte den Kopf und fing an zu zweifeln. Offenbar hatte
Laponder im Halbschlaf in meinem Vorstellungsinhalt gelesen und alles wirr
durcheinander gebracht: Hillel, Mirjam, den Golem, das Buch Ibbur und den
unterirdischen Gang.
"Haben Sie die Gabe zu ›wandern‹, wie Sie es nennen, schon lang?",
fragte ich.
"Seit meinem 21. Jahr - - -", er stockte, schien nicht gern davon zu
reden; da nahm seine Miene plctzlich den Ausdruck grenzenlosen Erstaunens
an, und er starrte auf meine Brust, als ob er dort etwas sdhe.
Ohne auf meine Verwunderung zu achten, ergriff er hastig meine Hand und
bat - fast flehentlich:
"Um Himmels willen, sagen Sie mir alles. Es ist heute der letzte Tag,
den ich bei Ihnen verbringen darf. Vielleicht schon in einer Stunde werde
ich abgeholt, um mein Todesurteil anzuhcren - -."
Ich unterbrdche ihn entsetzt:
"Dann m'ssen Sie mich mitnehmen als Zeugen! Ich werde beschwcren, daYA
Sie krank sind. - Sie sind monds'chtig. Es darf nicht sein, daYA man Sie
hinrichtet, ohne Ihren Geisteszustand untersucht zu haben. So nehmen Sie
doch Vernunft an!"
Er wehrte nervcs ab: "Das ist doch so nebensdchlich, - bitte, sagen Sie
mir alles!"
"Aber was soll ich Ihnen denn sagen? - Reden wir doch lieber von Ihnen
und - -"
"Sie m'ssen, ich weiYA das jetzt, gewisse, seltsame Dinge erlebt haben,
die mich nah angehen, - ndher als Sie ahnen kcnnen; - - ich bitte Sie, sagen
Sie mir alles!", flehte er.
Ich konnte es nicht fassen, daYA ihn mein Leben mehr interessierte als
seine eigenen, doch wahrhaftig gen'gend dringenden Angelegenheiten; um ihn
aber zu beruhigen, erzdhlte ich ihm alles, was mir an Unbegreiflichem
geschehen war.
Bei jedem grcYAeren Abschnitt nickte er zufrieden, wie jemand, der eine
Sache bis zum Grund durchschaut.
Als ich zu der Stelle kam, wo die Erscheinung ohne Kopf vor mir
gestanden und mir die schwarzroten Kcrner hingehalten hatte, konnte er es
kaum erwarten, den SchluYA zu erfahren.
"Also, aus der Hand geschlagen haben Sie sie ihm", murmelte er sinnend.
"Ich hdtte nie gedacht, daYA es einen dritten ›Weg‹ geben kcnnte.
"Es war das kein dritter Weg", sagte ich, "es war derselbe, wie wenn
ich die Kcrner abgelehnt hdtte."
Er ldchelte.
"Glauben Sie nicht, Herr Laponder?"
"Wenn Sie sie abgelehnt hdtten, wdren Sie wohl auch den ›Weg des
Lebens‹ gegangen, aber die Kcrner, die magische Krdfte bedeuten, wdren nicht
zur'ckgeblieben. - So sind sie auf den Boden gerollt, wie Sie sagen. Das
heiYAt: sie sind hiergeblieben und werden von Ihren Vorfahren so lange
geh'tet, bis die Zeit des Keimens da ist. Dann werden die Krdfte, die in
Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden."
Ich verstand nicht: "Von meinen Vorfahren werden die Kcrner beh'tet?"
"Sie m'ssen es teilweise symbolisch auffassen, was Sie erlebt haben",
erkldrte Laponder. "Der Kreis der bldulich strahlenden Menschen, der Sie
umstand, war die Kette der ererbten ›Iche‹, die jeder von einer Mutter
Geborene mit sich herumschleppt. Die Seele ist nichts ›Einzelnes‹, - sie
soll es erst werden, und das nennt man dann: ›Unsterblichkeit‹; Ihre Seele
ist noch zusammengesetzt aus vielen ›Ichen‹ - so, wie ein Ameisenstaat aus
vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler tausend Vorfahren in
sich: - die Hdupter Ihres Geschlechtes. Bei allen Wesen ist es so. Wie
kcnnte denn ein Huhn, das aus einem Ei k'nstlich erbr'tet wurde, sich
sogleich die richtige Nahrung suchen, wenn nicht die Erfahrung von
Jahrmillionen in ihm stdke? - Das Vorhandensein des ›Instinkts‹ verrdt die
Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der Seele. - Aber, verzeihen Sie, ich
wollte Sie nicht unterbrechen."
Ich erzdhlte zu Ende. Alles. Auch das, was Mirjam 'ber den
"Hermaphroditen" gesagt hatte.
Als ich innehielt und aufblickte, bemerkte ich, daYA Laponder weiYA
geworden war wie der Kalk an der Wand und Trdnen 'ber seine Wangen liefen.
Rasch stand ich auf, tat, als sdhe ich es nicht, und ging in der Zelle
auf und nieder, um abzuwarten, bis er sich beruhigt haben w'rde.
Dann setzte ich mich ihm gegen'ber und bot meine ganze Beredsamkeit
auf, ihn zu 'berzeugen, wie dringend nctig es wdre, den Richtern gegen'ber
auf seinen krankhaften Geisteszustand hinzuweisen.
"Wenn Sie wenigstens den Mord nicht eingestanden hdtten!", schloYA ich.
"Aber ich muYAte doch! Man hat mich auf mein Gewissen gefragt", sagte er
naiv.
"Halten Sie denn eine L'ge f'r schlimmer als - als einen Lustmord?",
fragte ich verbl'fft.
"Im allgemeinen vielleicht nicht, in meinem Fall gewiYA. - Sehen Sie:
als ich vom Untersuchungsrichter gefragt wurde, ob ich gest'nde, hatte ich
die Kraft, die Wahrheit zu sagen. Es stand also in meiner Wahl, zu l'gen
oder nicht zu l'gen. - Als ich den Lustmord beging - - bitte, ersparen Sie
mir die Details: es war so grdYAlich, daYA ich die Erinnerung nicht wieder
aufleben lassen mcchte - - als ich den Lustmord beging, da hatte ich keine
Wahl. Wenn ich auch bei vollkommen klarem BewuYAtsein handelte, so hatte ich
dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt
hatte, wachte auf und war stdrker als ich. Glauben Sie, wenn ich die Wahl
gehabt haben w'rde, ich hdtte gemordet? - Nie habe ich getctet - nicht
einmal das kleinste Tier, - und jetzt wdre ich es schon gar nicht mehr
imstande.
Nehmen Sie an, es wdre Menschengesetz: zu morden, und auf die
Unterlassung st'nde der Tod - dhnlich, wie es im Krieg der Fall ist, -
augenblicklich hdtte ich mir den Tod verdient. - Weil mir keine Wahl bliebe.
Ich kcnnte ganz einfach nicht morden. Damals, als ich den Lustmord beging,
lag die Sache umgekehrt."
"Um so mehr, wo Sie sich jetzt quasi als ein anderer f'hlen, m'ssen Sie
alles aufbieten, dem Richterspruch zu entgehen!", wandte ich ein.
Laponder machte eine abwehrende Handbewegung: "Sie irren! Die Richter
haben von ihrem Standpunkt aus ganz recht. Sollen sie einen Menschen wie
mich vielleicht frei umherlaufen lassen? Damit morgen oder 'bermorgen wieder
das Unheil losbricht?"
"Nein; aber in einer Heilanstalt f'r Geisteskranke sollte man Sie
internieren. Das ist es doch, was ich sage!"
"Wenn ich irrsinnig wdre, hdtten Sie recht", erwiderte Laponder
gleichm'tig. "Aber ich bin nicht irrsinnig. Ich bin etwas ganz anderes, -
etwas, was dem Irrsinn sehr dhnlich sieht, aber gerade das Gegenteil ist.
Bitte, hcren Sie zu. Sie werden mich sogleich verstehen. - - - Was Sie mir
vorhin von dem Phantom ohne Kopf - ein Symbol nat'rlich: dieses Phantom; den
Schl'ssel kcnnen Sie leicht finden, wenn Sie dar'ber nachdenken - erzdhlten,
ist mir einst genauso passiert. Nur habe ich die Kcrner angenommen. Ich gehe
also den ›Weg des Todes‹! - F'r mich ist das Heiligste, das ich denken kann:
meine Schritte vom Geistigen in mir lenken zu lassen. Blind, vertrauensvoll,
wohin der Weg auch f'hren mag: ob zum Galgen oder zum Thron, ob zur Armut
oder zum Reichtum. Niemals habe ich gezcgert, wenn die Wahl in meine Hand
gelegt war.
Darum habe ich auch nicht gelogen, als die Wahl in meiner Hand lag.
Kennen Sie die Worte des Propheten Micha:
"Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist,
und was der Herr von dir fordert,"?
W'rde ich gelogen haben, hdtte ich eine Ursache geschaffen, weil ich
die Wahl hatte; - - als ich den Mord beging, schuf ich keine Ursache; nur
die Wirkung einer in mir schlummernden, ldngst gelegten Ursache, 'ber die
ich keine Gewalt mehr besaYA, wurde frei.
Also sind meine Hdnde rein.
Dadurch, daYA das Geistige in mir mich zum Mcrder werden lieYA, hat es
eine Hinrichtung an mir vollzogen; dadurch, daYA mich die Menschen an den
Galgen kn'pfen, wird mein Schicksal losgelcst von dem ihrigen: - ich komme
zur Freiheit."
Er ist ein Heiliger, f'hlte ich, und das Haar strdubte sich mir vor
Schauder 'ber meine eigene Kleinheit.
"Sie haben mir erzdhlt, daYA Sie durch den hypnotischen Eingriff eines
Arztes in Ihr BewuYAtsein lange die Erinnerung an Ihre Jugendzeit vergessen
hatten", fuhr er fort. "Es ist das das Kennzeichen - das Stigma - aller
derer, die von der ›Schlange des geistigen Reiches‹ gebissen sind. Es
scheint fast, als m'YAten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft werden, wie
ein Edelreis auf den wilden Baum, ehe das Wunder der Erweckung geschehen
kann; - was sonst durch den Tod getrennt wird, geschieht hier durch
Erlcschen der Erinnerung - manchmal nur durch eine plctzliche innere Umkehr.
Bei mir war es so, daYA ich scheinbar ohne duYAere Ursache in meinem 21.
Jahr eines Morgens wie verdndert erwachte. Was mir bis dahin lieb gewesen,
erschien mir mit einemmal gleichg'ltig: Das Leben kam mir dumm vor wie eine
Indianergeschichte und verlor an Wirklichkeit; die Trdume wurden zu
GewiYAheit - zu apodiktischer, beweiskrdftiger GewiYAheit, verstehen Sie wohl:
zu beweiskrdftiger, realer GewiYAheit, und das Leben des Tages wurde zum
Traum.
Alle Menschen kcnnten das, wenn sie den Schl'ssel hdtten. Und der
Schl'ssel liegt einzig und allein darin, daYA man sich seiner ›Ichgestalt‹,
sozusagen seiner Haut, im Schlaf bewuYAt wird, - die schmale Ritze findet,
durch die sich das BewuYAtsein zwdngt zwischen Wachsein und Tiefschlaf.
Darum sagte ich vorhin: ›ich wandere‹ und nicht: ›ich trdume‹.
Das Ringen nach der Unsterblichkeit ist ein Kampf um das Zepter gegen
die uns innewohnenden Kldnge und Gespenster; und das Warten auf das
Kcnigwerden des eigenen ›Ichs‹ ist das Warten auf den Messias.
Der schemenhafte Habal Garmin, den Sie gesehen haben, der ›Hauch der
Knochen‹ der Kabbala, das war der Kcnig. Wenn er gekrcnt sein wird, dann -
reiYAt der Strick entzwei, mit dem Sie durch die duYAeren Sinne und den
Schornstein des Verstandes an die Welt gebunden sind.
Wieso es kommen konnte, daYA ich trotz meinem Losgetrenntsein vom Leben
'ber Nacht zum Lustmcrder werden konnte, fragen Sie mich? Der Mensch ist wie
ein Glasrohr, durch das bunte Kugeln laufen: bei fast allen im Leben nur die
eine. Ist die Kugel rot, heiYAt der Mensch: ›schlecht‹. Ist sie gelb, dann
ist der Mensch: ›gut‹. Laufen zwei hintereinander - eine rote und eine
gelbe, dann hat ›man‹ einen ›ungefestigten‹ Charakter. Wir von der ›Schlange
Gebissenen‹, machen in einem Leben durch, was sonst an der ganzen Rasse in
einem Weltenalter geschieht: die farbigen Kugeln rasen hintereinander her
durch das Glasrohr, und wenn sie zu Ende sind - - dann sind wir Propheten, -
sind die Spiegel Gottes geworden."
Laponder schwieg.
Lange konnte ich kein Wort sprechen. Seine Rede hatte mich fast
betdubt.
"Weshalb fragten Sie mich vorhin so dngstlich nach meinen Erlebnissen,
wo Sie doch so viel, viel hcher stehen als ich?", fing ich endlich wieder
an.
"Sie irren," sagte Laponder, "ich stehe weit unter Ihnen. - Ich fragte
Sie, weil ich f'hlte, daYA Sie den Schl'ssel besitzen, der mir noch fehlte."
"Ich? Einen Schl'ssel. O Gott!"
"Jawohl Sie! Und Sie haben ihn mir gegeben. - Ich glaube nicht, daYA es
einen gl'cklicheren Menschen auf Erden gibt, als ich es heute bin."
DrauYAen entstand ein Gerdusch; die Riegel wurden zur'ckgeschoben, -
Laponder achtete kaum darauf:
"Das mit dem Hermaphroditen war der Schl'ssel. Jetzt habe ich die
GewiYAheit. Schon deshalb bin ich froh, daYA man mich holen kommt, denn bald
bin ich am Ziel."
Vor Trdnen konnte ich Laponders Gesicht nicht mehr unterscheiden, ich
hcrte nur das Ldcheln in seiner Stimme.
"Und jetzt: Leben Sie wohl, Herr Pernath, und denken Sie: das, was man
morgen aufhenkt, sind nur meine Kleider; Sie haben mir das Schcnste
ercffnet, - das Letzte, was ich noch nicht wuYAte. Jetzt geht's zur Hochzeit
- - -," er stand auf und folgte dem Gefangenwdrter - "es hdngt mit dem
Lustmord eng zusammen", waren die letzten Worte, die ich hcrte und nur
dunkel begriff.
Sooft seit jener Nacht der Vollmond am Himmel stand, glaubte ich immer
wieder Laponders schlafendes Gesicht auf der grauen Leinwand des Bettes
liegen zu sehen.
In den ndchsten Tagen, nachdem er weggef'hrt worden war, hatte ich ein
Hdmmern und Zimmern aus dem Hinrichtungshof heraufdrchnen hcren, das
manchmal bis zum Morgengrauen dauerte.
Ich erriet, was es bedeutete, und hielt mir stundenlang die Ohren zu
vor Verzweiflung.
Monat um Monat verfloYA. Ich sah, wie der Sommer zerrann, am Krankwerden
des k'mmerlichen Laubs im Hof; roch es an dem pelzigen Hauch, der aus den
Mauern drang.
Wenn mein Blick bei den Rundgdngen auf den sterbenden Baum fiel und das
eingewachsene Glasbild der Heiligen in seiner Rinde, zog ich unwillk'rlich
jedesmal den Vergleich, wie tief sich auch Laponders Gesicht in mich
eingegraben hatte. Bestdndig trug ich es in mir herum, dieses Buddhagesicht
mit der faltenlosen Haut und dem seltsamen, immerwdhrenden Ldcheln.
Ein einziges Mal noch - im September - hatte mich der
Untersuchungsrichter holen lassen und miYAtrauisch gefragt, wie ich es
begr'nden kcnne, daYA ich bei dem Bankschalter gesagt, ich m'sse dringend
verreisen, und warum ich in den Stunden vor meiner Verhaftung so unruhig
gewesen wdre und meine sdmtlichen Edelsteine zu mir gesteckt hdtte.
Auf meine Antwort, ich sei mit der Absicht umgegangen, mir das Leben zu
nehmen, hatte es wieder hinter dem Schreibtisch hchnisch gemeckert. -
Bis dahin war ich allein in meiner Zelle gewesen und konnte meinen
Gedanken, meiner Trauer um Charousek, der, wie ich f'hlte, ldngst tot sein
muYAte, und Laponder und meiner Sehnsucht nach Mirjam nachhdngen.
Dann kamen wieder neue Gefangene: diebische Kommis mit verlebten
Gesichtern, dickwanstige Bankkassierer, - "Waisenkinder", wie der schwarze
Vussatka sie genannt haben w'rde, - und verpesteten mir die Luft und die
Stimmung.
Eines Tages gab einer von ihnen voll Entr'stung zum besten, daYA vor
geraumer Zeit ein Lustmord in der Stadt geschehen sei. Zum Gl'ck hdtte man
den Tdter sogleich erwischt und kurzen ProzeYA mit ihm gemacht.
"Laponder hat er geheiYAen, der Schuft, der gottserbdrmliche", schrie
ein Kerl mit einer Raubtierschnauze, der wegen KindsmiYAhandlung zu - 14
Tagen Gefdngnis verurteilt worden war, dazwischen. "Auf frischer Tat
habn's'n g'faYAt. Die Lampen is umg'fallen bei dem Krawall und's Zimmer is
ausbrennt. Die Leich' von dem Mddel is dabei so verkohlt, daYA mer bis zum
heutigen Tage noch nct hat rausbringen kcnnen, wer sie eigentlich war.
Schwarze Haar hat's g'habt und a schmal's G'sicht, dcs is alls, was mer
weiYA. Und der Laponder hat net ums Verrecken rausg'r'ckt mit ihrem Namen. -
Wann's nach mir gangen wdr, i hdtt ihm d'Haut ab'zogen und Pfeffer drauf
g'streut. - Dcs san halt die feinen Herren! Mcrder san's, alle z'samm. - - -
- Als ob's net anderne Mittel g'nua gebet, wann aner a Mddel los sein w'll",
setzte er mit zynischem Ldcheln hinzu.
Die Wut kochte in mir, und am liebsten hdtte ich den Halunken zu Boden
geschlagen.
Nacht f'r Nacht schnarchte er in dem Bett, auf dem Laponder gelegen.
Ich atmete auf, als er endlich freigelassen wurde.
Aber selbst da war ich ihn noch nicht los: seine Rede hatte sich wie
ein Pfeil mit Widerhaken in mich eingebohrt.
Fast bestdndig, hauptsdchlich in der Dunkelheit, nagte jetzt in mir der
grausige Verdacht, Mirjam kcnnte das Opfer Laponders gewesen sein.
Je mehr ich dagegen ankdmpfte, desto tiefer verstrickte ich mich in dem
Gedanken, bis er beinahe zur fixen Idee wurde.
Manchmal, besonders wenn der Mond grell durchs Gitter schien, wurde es
besser: ich konnte mir die Stunden, die ich mit Laponder verlebt, dann
lebendig machen, und das tiefe Gef'hl f'r ihn verscheuchte mir die Qual, -
aber nur zu oft kamen die grdYAlichen Minuten wieder, wo ich Mirjam ermordet
und verkohlt im Geiste vor mir sah und glaubte, vor Angst den Verstand
verlieren zu m'ssen.
Die schwachen Anhaltspunkte, die ich f'r meinen Verdacht hatte,
verdichteten sich in solchen Zeiten zu einem geschlossenen Ganzen, - zu
einem Gemdlde voll unbeschreiblich entsetzenerregender Einzelheiten.
Anfang November gegen 10 Uhr abends, es war bereits stockfinster und
die Verzweiflung in mir hatte einen derartigen Hchepunkt erreicht, daYA ich
mich, um nicht laut aufzuschreien, in meinen Strohsack verbiYA wie ein
verdurstendes Tier, cffnete plctzlich der Gefangenwdrter die Zelle und
forderte mich auf, mit ihm zum Untersuchungsrichter zu kommen. Ich f'hlte
mich so schwach, daYA ich mehr taumelte als ging.
Die Hoffnung, jemals dieses schreckliche Haus verlassen zu d'rfen, war
ldngst in mir gestorben.
Ich machte mich darauf gefaYAt, wieder eine kalte Frage gestellt zu
bekommen, das stereotype Gemecker hinter dem Schreibtisch zu hcren und dann
zur'ck in die Finsternis zu m'ssen.
Der Herr Baron Leisetreter war bereits nach Hause gegangen und nur ein
alter, buckliger Schreiber mit Spinnenfingern stand im Zimmer.
Dumpf wartete ich, was mit mir geschehen w'rde.
Es fiel mir auf, daYA der Gefangenwdrter mit hereingekommen war und mir
gutm'tig zublinzelte, aber ich war viel zu niedergeschlagen, als daYA ich mir
'ber die Bedeutung alles dessen hdtte klarwerden kcnnen.
"Die Untersuchung hat ergeben", fing der Schreiber an, meckerte, stieg
auf einen Sessel und kramte erst lange auf dem B'cherbord nach
Schriftst'cken, ehe er fortfuhr: "hat ergeben, daYA der in Frage kommende
Karl Zottmann vor seinem Tode anldYAlich einer heimlichen Zusammenkunft mit
der unverehelichten ehemaligen Prostituierten Rosina Metzeles, die damaliger
Zeit den Spitznamen ›die rote Rosina‹ f'hrte, dann spdter von einem
taubstummen, nunmehr unter polizeilicher Aufsicht stehenden
Silhubettenschneider namens Jaromir KwbYAnitschka aus dem Weinsalon ›Kautsky‹
losgekauft wurde und seit einigen Monaten mit Seiner Durchlaucht dem F'rsten
Ferri Athenstddt im gemeinsamen, wilden Konkubinate als Maiteresse lebt, von
hinterlistiger Hand in ein unterirdisches, aufgelassenes Kellergewclbe des
Hauses Nummer conscriptionis 21873, gebrochen durch rcmisch III, der
HahnpaYAgasse, laufende Numero sieben, gelockt, dortselbst eingeschlossen und
sich selbst, beziehungsweise dem Tode durch Verhungern oder Erfrieren
'berlassen wurde. - - Der obenerwdhnte Zottmann ndmlich", erkldrte der
Schreiber mit einem Blick 'ber die Brille hinweg und bldtterte ein paarmal
um.
"Die Untersuchung hat weiters ergeben, daYA der obenerwdhnte Karl
Zottmann allem Anscheine nach - nach eingetretenem Ableben - seiner
sdmtlichen bei ihm getragenen Habseligkeiten, insbesondere seiner sub
faszikel rcmisch P gebrochen durch ›Bdh‹ beigeschlossenen doppelmanteligen
Taschenuhr" - der Schreiber hob die Uhr an der Kette in die Hche - "beraubt
wurde. Der eidesstattlichen Aussage des Silhubettenschnitzers Jaromir
KwbYAnitschka, verwaisten Sohnes des vor 17 Jahren verstorbenen
Hostienbdckers gleichen Namens: die Uhr im Bette seines inzwischen fl'chtig
gegangenen Bruders Loisa gefunden und an den Altwarenhdndler und mehrfachen,
inzwischen aus dem Leben geschiedenen Realitdtenbesitzer Aaron Wassertrum
gegen Inempfangnahme von Geldeswert verduYAert zu haben, konnte mangels
Glaubw'rdigkeit kein Gewicht beigelegt werden.
Die Untersuchung hat weiters ergeben, daYA die Leiche des erwdhnten Karl
Zottmann in der r'ckwdrtigen Hosentasche zur Zeit ihrer Auffindung ein
Notizbuch bei sich trug, in der sie vermutlich bereits einige Tage vor
erfolgtem Ableben mehrere den Tatbestand erhellende und die Ergreifung des
Tdters durch die k. k. Behcrden erleichternde Eintragungen vorgenommen
hatte.
Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge
auf den nunmehr durch die Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend
verddchtig gewordenen Loisa KwbYAnitschka, zurzeit fl'chtig, gelenkt und
unter einem verf'gt, die Untersuchungshaft gegen Athanasius Pernath,
Gemmenschneider, dermalen noch unbescholten, aufzuheben, und das Verfahren
gegen ihn einzustellen.
Prag im Juli
gezeichnet
Dr. Freiherr von Leisetreter."
Der Boden schwankte unter meinen F'YAen, und ich verlor eine Minute das
BewuYAtsein.
Als ich erwachte, saYA ich auf einem Stuhl, und der Gefangenwdrter
klopfte mir freundlich auf die Schulter.
Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich
und sagte zu mir:
"Die Verlesung der Verf'gung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr
Name mit einem ›Pdh‹ beginnt und naturgemdYA im Alphabet erst gegen SchluYA
vorkommen kann." - Dann las er weiter:
"Xberdies ist der Athanasius Pernath, Gemmenschneider, in Kenntnis zu
setzen, daYA ihm laut testamentarischer Verf'gung des im Mai mit Tod
abgegangenen stud. med. Innocenz Charousek ein Drittel von dessen gesamter
Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und ist er zur Unterfertigung des
Protokolls hiermit anzuhalten."
Der Schreiber hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing
an zu schmieren.
Ich erwartete gewohnheitsmdYAig, daYA er meckern w'rde, aber er meckerte
nicht.
"Innocenz Charousek", murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.
Der Gefangenwdrter beugte sich 'ber mich und fl'sterte mir ins Ohr:
"Kurz vor seinem Tode war er bei mir, der Herr Dr. Charousek, und hat
sich nach Ihnen erkundigt. Er ldYAt Sie viel-vielmals gr'YAen, hat er g'sagt.
Ich hab's nat'rlich damals nicht ausrichten d'rfen. Es ist streng verboten.
Ein schreckliches Ende hat er 'brigens genommen, der Herr Dr. Charousek. Er
hat sich selbst entleibt. Man hat ihn tot auf dem Grabh'gel des Aaron
Wassertrum, auf der Brust liegend, gefunden. - Er hat zwei tiefe Lccher in
die Erde gegraben gehabt, sich die Pulsadern aufgeschnitten und dann die
Arme in die Lccher gesteckt. So ist er verblutet. Er ist wahrscheinlich
wahnsinnig gewesen, der Herr Dr. Char - - -"
Der Schreiber schob gerduschvoll seinen Stuhl zur'ck und reichte mir
die Feder zum Unterschreiben.
Dann richtete er sich stolz auf und sagte genau im Tonfall seines
freiherrlichen Vorgesetzten:
"Gefangenwdrter, f'hren Sie den Mann hinaus."
Wie vor langer, langer Zeit hatte wiederum der Mann mit Sdbel und
Unterhosen im Torzimmer seine Kaffeem'hle vom SchoYA genommen; nur daYA er
mich diesmal nicht untersuchte und mir meine Edelsteine, das Portemonnaie
mit den zehn Gulden darin, meinen Mantel und alles 'brige zur'ckgab. - - -
Dann stand ich auf der StraYAe.
"Mirjam! Mirjam! Jetzt endlich naht das Widersehen!" - Ich unterdr'ckte
einen Schrei wildesten Entz'ckens.
Es muYAte Mitternacht sein. Der Vollmond schwebte glanzlos wie ein
fahler Messingteller hinter Dunstschleiern.
Das Pflaster war mit einer zdhen Schicht von Schmutz bedeckt.
Ich wankte auf eine Droschke zu, die im Nebel aussah wie ein
zusammengebrochenes vorsintflutliches Ungeheuer. Meine Beine versagten fast
den Dienst; ich hatte das Gehen verlernt und taumelte - auf empfindungslosen
Sohlen wie ein R'ckenmarkskranker. - -
"Kutscher, fahren Sie mich, so rasch Sie kcnnen, in die HahnpaYAgasse 7!
- Haben Sie mich verstanden?: - HahnpaYAgasse 7."
Nach wenigen Metern Fahrt blieb die Droschke stehn.
"HahnpaYAgassd, gnd' Herr?"
"Ja, ja, nur rasch."
Wieder fuhr der Wagen ein St'ck weiter. Wieder blieb er stehen.
"Um Himmels willen, was gibt's denn?"
"HahnpaYAgassd', gnd' Herr?"
"Ja, ja. Ja doch."
"In die HahnpaYAgassd kann me doch nicht fahrrdhn!"
"Warum denn nicht?"
"Ise sich doch ieberall Pflaste aufgrissen, Judenstadt wirde sich doch
assaniert."
"Also fahren Sie eben, soweit Sie kcnnen, aber jetzt rasch gefdlligst."
Die Droschke machte einen einzigen Galoppsprung und stolperte dann
gemdchlich weiter.
Ich lieYA die klapprigen Fenster herunter und sog mit gierigen Lungen
die Nachtluft ein.
Alles war mir so fremd geworden, so unbegreiflich neu: die Hduser, die
StraYAen, die geschlossenen Ldden. Ein weiYAer Hund trabte einsam und
miYAgelaunt auf dem nassen Trottoir vor'ber. Ich sah ihm nach. - Wie
sonderbar!! Ein Hund! Ich hatte ganz vergessen, daYA es solche Tiere gab. -
Vor Freude kindisch rief ich ihm nach: "Aber, aber! Wie kann man nur so
verdrossen sein." - - -
Was Hillel wohl sagen w'rde!? - Und Mirjam?
Nur noch wenige Minuten und ich war bei ihnen. Nicht eher wollte ich
aufhcren, an ihre T'r zu klopfen, bis ich sie aus den Federn getrieben.
Jetzt war ja alles gut - all der Jammer dieses Jahres vor'ber! -
W'rde das ein Weihnachten werden!
Diesmal durfte ich es nicht verschlafen, wie das letztemal.
Einen Augenblick lahmte mich wieder das alte Entsetzen: die Worte des
Strdflings mit der Raubtierschnauze fielen mir ein. Das verbrannte Gesicht -
der Lustmord - aber nein, nein! - Ich sch'ttelte es gewaltsam ab: nein,
nein, es konnte, es konnte nicht sein. - Mirjam lebte! Ich hatte doch ihre
Stimme aus Laponders Mund gehcrt.
Nur noch eine Minute - eine halbe - - und dann -
Die Droschke hielt vor einem Tr'mmerhaufen. Barrikaden aus
Pflastersteinen 'berall!
Rote Laternen brannten darauf.
Beim Schein von Fackeln grub und schaufelte ein Heer von Arbeitern.
Halden von Schutt und Mauerbrocken versperrten den Weg. Ich kletterte
umher, versank bis ans Knie.
Das hier, das muYAte doch die HahnpaYAgasse sein?!
M'hsam orientierte ich mich. Nichts als Ruinen ringsum.
Stand denn da nicht das Haus, in dem ich gewohnt hatte?
Die Vorderseite war eingerissen.
Ich kletterte auf einen Erdh'gel; tief unter mir lief ein schwarzer,
gemauerter Gang die ehemalige Gasse entlang. Ich schaute empor: wie riesige
Bienenzellen hingen die bloYAgelegten Wohnrdume nebeneinander in der Luft,
halb vom Fackelschein, halb von dem tr'ben Mondlicht beschienen.
Das dort oben, das muYAte mein Zimmer sein - ich erkannte es an der
Bemalung der Wdnde.
Nur noch ein Streifen davon war 'brig.
Und daranstoYAend das Atelier - Saviolis. Mir wurde plctzlich ganz leer
im Herzen. Wie seltsam! Das Atelier! - Angelina! - - So weit, so unabsehbar
fern lag das alles hinter mir!
Ich drehte mich um: von dem Haus, in dem Wassertrum gewohnt, kein Stein
mehr auf dem andern. Alles dem Erdboden gleichgemacht: der Trcdlerladen, die
Kellerwohnung Charouseks - - - alles, alles.
"Der Mensch geht dahin wie ein Schatten" - fiel mir ein Satz ein, den
ich einmal irgendwo gelesen.
Ich fragte einen Arbeiter, ob er nicht wisse, wo die Leute jetzt
wohnten, die hier ausgezogen seien; ob er vielleicht den Archivar Schemajah
Hillel kenne.
"Nix daitsch", war die Antwort.
Ich schenkte dem Mann einen Gulden: er verstand zwar sofort deutsch,
konnte mir aber keine Auskunft geben.
Auch von seinen Kameraden niemand.
Vielleicht, daYA beim "Loisitschek" etwas zu erfahren wdre?
Der "Loisitschek" sei gesperrt, hieYA es, das Haus w'rde renoviert.
Also irgend jemand in der Nachbarschaft wecken! - Ging das nicht?
"Weit a breit wohnt sich keine Katz," sagte der Arbeiter; "weil ise
behdrdlich verbotten. Von wdgen Typhus."
"Der ›Ungelt‹? Der wird doch offen haben?"
"Ungelt ise sich geschlossen."
"Bestimmt?"
"Bestimmt!"
Aufs Geratewohl nannte ich ein paar Namen von Hccklern und
Tabaktrafikantinnen, die in der Ndhe gewohnt hatten; dann die Namen Zwakh,
Vrieslander, Prokop - -
Bei allen sch'ttelte der Mann den Kopf.
"Vielleicht kennen Sie den Jaromir KwbYAnitschka?"
Der Arbeiter horchte auf.
"Jaromir? Ise sich taubstumm?"
Ich jubelte. Gott sei Dank. Wenigstens ein Bekannter.
"Ja, er ist taubstumm. Wo wohnt er?"
"Schneid 'e sich Bildeln aus? Aus schwarzem Pappjir?"
"Ja. Er ist es schon. Wo kann ich ihn wohl treffen?"
So umstdndlich wie mcglich bezeichnete mir der Mann ein Nachtcafjhaus
in der inneren Stadt und fing sofort wieder an zu schaufeln.
Xber eine Stunde lang watete ich durch Schuttfelder, balancierte 'ber
schwankende Bretter und kroch unter Querbalken durch, die die StraYAen
versperrten. Das ganze Judenviertel war eine einzige Steinw'ste, als hdtte
ein Erdbeben die Stadt zerstcrt.
Atemlos vor Aufregung, schmutzbedeckt und mit zerrissenen Schuhen fand
ich mich endlich aus dem Labyrinth heraus.
Ein paar Hduserreihen, und ich stand vor der gesuchten Spelunke.
"Cafe Chaos" stand dar'ber geschrieben.
Ein menschenleeres, winziges Lokal, das kaum gen'gend Platz lieYA f'r
die paar Tische, die an die Wdnde ger'ckt waren.
In der Mitte auf einem dreibeinigen Billard schlief ein Kellner und
schnarchte.
Ein Marktweib, mit einem Gem'sekorb vor sich, saYA in der Ecke und
nickte 'ber einem Glase Caj.
Endlich geruhte der Kellner aufzustehen und mich zu fragen, was ich
w'nschte. Bei dem frechen Blick, mit dem er mich vom Kopf bis zu FuYA
musterte, kam mir erst zum BewuYAtsem, wie abgerissen ich aussehen muYAte.
Ich warf einen Blick in den Spiegel und entsetzte mich: ein fremdes,
blutleeres Gesicht, faltig, grau wie Kitt, mit struppigem Bart und wirrem,
langem Haar starrte mir entgegen.
Ob der Silhouettenschneider Jaromir nicht dagewesen sei, fragte ich und
bestellte schwarzen Kaffee.
"WoaYA net, wo er so lang bleibt", war die gegdhnte Antwort.
Dann legte sich der Kellner wieder auf das Billard und schlief weiter.
Ich nahm das "Prager Tagblatt" von der Wand und - wartete.
Die Buchstaben liefen wie Ameisen 'ber die Seiten, und ich begriff
nicht ein einziges Wort von dem, was ich las.
Die Stunden vergingen, und hinter den Scheiben zeigte sich bereits das
verddchtige tiefe Dunkelblau, das den Einbruch der Morgenddmmerung f'r ein
Lokal mit Gasbeleuchtung anzeigt.
Hie und da spdhten ein paar Schutzleute mit gr'nlich schillernden
Federb'schen herein und gingen in langsamem, schwerem Schritt wieder weiter.
Drei 'berndchtig aussehende Soldaten traten ein.
Ein StraYAenkehrer nahm einen Schnaps.
Endlich, endlich: Jaromir.
Er hatte sich so verdndert, daYA ich ihn anfangs gar nicht
wiedererkannte: die Augen erloschen, die Vorderzdhne ausgefallen, das Haar
sch'tter und tiefe Hchlen hinter den Ohren.
Ich war so froh, nach so langer Zeit wieder ein bekanntes Gesicht zu
sehen, daYA ich aufsprang, ihm entgegenging und seine Hand faYAte.
Er benahm sich auYAerordentlich scheu und blickte immerwdhrend nach der
T're. Durch alle mcglichen Gesten suchte ich ihm begreiflich zu machen, daYA
ich mich freute, ihn getroffen zu haben. - Er schien es mir lange nicht zu
glauben.
Aber, was f'r Fragen ich auch stellte, stets die gleiche hilflose
Handbewegung des Nichtverstehens bei ihm.
Wie konnte ich mich nur verstdndlich machen?!
Halt! Eine Idee!
Ich lieYA mir einen Bleistift geben und zeichnete nacheinander die
Gesichter von Zwakh, Vrieslander und Prokop auf.
"Was? Alle nicht mehr in Prag?"
Er fuchtelte lebhaft in der Luft herum, machte die Gebdrde des
Geldzdhlens, marschierte mit den Fingern 'ber den Tisch, schlug sich auf den
Handr'cken. Ich erriet: alle drei hatten wahrscheinlich von Charousek Geld
bekommen und zogen jetzt als kaufmdnnische Kompagnie mit dem vergrcYAerten
Marionettentheater durch die Welt.
"Und Hillel? Wo wohnt er jetzt?" - Ich zeichnete sein Gesicht, ein Haus
dazu und ein Fragezeichen.
Das Fragezeichen verstand Jaromir nicht; - er konnte nicht lesen, aber
er begriff, was ich wollte, - nahm ein Streichholz, warf es scheinbar in die
Hche und lieYA es nach Taschenspielerart geschickt verschwinden.
Was bedeutete das? Hillel sollte auch verreist sein?
Ich zeichnete das j'dische Rathaus auf.
Der Taubstumme sch'ttelte heftig den Kopf.
"Hillel ist also nicht mehr dort?"
"Nein!" (Kopfsch'tteln.)
"Wo ist er denn?"
Wieder das Spiel mit dem Streichholz.
"Er meint halt, daYA der Herr weg ist, und niem'd weiYA nicht, wohin",
mischte sich der StraYAenkehrer, der uns die ganze Zeit 'ber interessiert
zugesehen hatte, belehrend ein.
Vor Schreck krampfte sich mir das Herz zusammen: Hillel fort! - Jetzt
war ich ganz allein auf der Welt. - - Die Gegenstdnde im Zimmer fingen vor
meinen Augen an zu flimmern.
"Und Mirjam?"
Meine Hand zitterte so stark, daYA ich ihr Gesicht lange nicht dhnlich
zeichnen konnte.
"Ist Mirjam auch verschwunden?"
"Ja. Auch verschwunden. Spurlos."
Ich stchnte laut auf, lief im Zimmer hin und her, daYA die drei Soldaten
einander fragend anblickten.
Jaromir suchte mich zu beruhigen und bem'hte sich, mir noch etwas
anderes mitzuteilen, was er erfahren zu haben schien: er legte den Kopf auf
den Arm, wie jemand, der schldft.
Ich hielt mich an der Tischplatte: "Um Gottes Christi willen, Mirjam
ist gestorben?"
Kopfsch'tteln. Jaromir wiederholte die Gebdrde des Schlafens.
"War Mirjam krank gewesen?" Ich zeichnete eine Medizinflasche.
Kopfsch'tteln. Wieder legte Jaromir die Stirn auf den Arm. - - -
Das Zwielicht kam, eine Gasflamme nach der andern erlosch und noch
immer konnte ich nicht herausbringen, was die Geste bedeuten sollte.
Ich gab es auf. Dachte nach.
Das einzige, was mir zu tun blieb, war, in aller Fr'he auf das j'dische
Rathaus zu gehen, um dort Erkundigungen einzuziehen, wohin Hillel mit Mirjam
gereist sein kcnne.
Ich muYAte ihm nach. - - -
Wortlos saYA ich neben Jaromir. Stumm und taub wie er.
Als ich nach einer langen Zeit aufblickte, sah ich, daYA er mit einer
Schere an einer Silhouette herumschnitt.
Ich erkannte das Profil Rosinas. Er reichte mir das Blatt 'ber den
Tisch her'ber, legte die Hand auf die Augen und - weinte still vor sich hin.
- -
Dann sprang er plctzlich auf und taumelte ohne GruYA zur T'r hinaus.
Der Archivar Schemajah Hillel sei eines Tages ohne Grund ausgeblieben
und nicht mehr wiedergekommen; seine Tochter habe er jedenfalls mitgenommen,
denn auch sie sei von niemand mehr gesehen worden seit jener Zeit, hatte man
mir auf dem j'dischen Rathaus gesagt. Das war alles, was ich erfahren
konnte.
Keine Spur, wohin sie sich gewandt haben mochten.
Auf der Bank hieYA es, mein Geld sei gerichtlich immer noch mit Beschlag
belegt, man erwarte aber tdglich den Bescheid, es mir auszahlen zu d'rfen.
Also auch die Erbschaft Charouseks muYAte noch den Amtsweg gehen, und
ich wartete doch mit brennender Ungeduld auf das Geld, um dann alles
aufzubieten, Hillels und Mirjams Spur zu suchen.
Ich hatte meine Edelsteine verkauft, die ich noch in der Tasche gehabt,
und mir zwei kleine, mcblierte, aneinanderstoYAende Dachkammern in der
Altschulgasse - die einzige Gasse, die von der Assanierung der Judenstadt
verschont geblieben, - gemietet.
Sonderbarer Zufall: es war dasselbe wohlbekannte Haus, von dem die Sage
ging, der Golem sei einst darin verschwunden.
Ich hatte mich bei den Bewohnern - zumeist kleine Kaufleute oder
Handwerker - erkundigt, was denn Wahres an dem Ger'cht von dem "Zimmer ohne
Zugang" sei, und war ausgelacht worden. - Wie man einen derartigen Unsinn
denn glauben kcnne!
Meine eigenen Erlebnisse, die sich darauf bezogen, hatten im Gefdngnis
die Bldsse eines ldngst verwehten Traumbildes angenommen und ich sah in
ihnen nur noch Symbole ohne Blut und Leben, - strich sie aus dem Buch meiner
Erinnerungen.
Die Worte Laponders, die ich zuweilen so klar in mir hcrte, als sdYAe er
mir gegen'ber wie damals in der Zelle und sprdche zu mir, bestdrkten mich
darin, daYA ich rein innerlich geschaut haben m'sse, was mir ehedem greifbare
Wirklichkeit geschienen.
War denn nicht alles vergangen und verschwunden, was ich einst besessen
hatte? Das Buch Ibbur, das phantastische Tarockspiel, Angelina und sogar
meine alten Freunde Zwakh, Vrieslander und Prokop! - - -
Es war Weihnachtsabend, und ich hatte mir einen kleinen Baum mit roten
Kerzen nach Hause gebracht. Ich wollte noch einmal jung sein und
Lichterglanz um mich haben und den Duft von Tannennadeln und brennendem
Wachs.
Ehe das Jahr noch zu Ende ging, war ich vielleicht schon unterwegs und
suchte in Stddten und Dcrfern, oder wohin es mich innerlich ziehen w'rde,
nach Hillel und Mirjam.
Alle Ungeduld, alles Warten war allmdhlich von mir gewichen und alle
Furcht, Mirjam kcnne ermordet worden sein, und mit dem Herzen wuYAte ich, ich
w'rde sie beide finden.
Es war ein bestdndiges gl'ckliches Ldcheln in mir, und wenn ich meine
Hand auf etwas legte, kam mir's vor, als ginge ein Heilen von ihr aus. Die
Zufriedenheit eines Menschen, der nach langer Wanderung heimkehrt und die
T'rme seiner Vaterstadt von weitem blinken sieht, erf'llte mich auf ganz
sonderbare Weise.
Einmal war ich noch in dem kleinen Kaffeehaus gewesen, um Jaromir zum
Weihnachtsabend zu mir zu holen. - Er habe sich nie mehr blicken lassen,
erfuhr ich, und schon wollte ich betr'bt wieder gehen, da kam ein alter
Tabulettkrdmer herein und bot kleine, wertlose Antiquitdten zum Kauf an.
Ich kramte in seinem Kasten unter all den Uhranhdngseln, kleinen
Kruzifixen, Kammnadeln und Broschen herum, da fiel mir ein Herz aus rotem
Stein an einem verschossenen Seidenbande in die Hand, und ich erkannte es
voll Erstaunen als das Andenken, das mir Angelina, als sie noch ein kleines
Mddchen gewesen, einst beim Springbrunnen in ihrem SchloYA geschenkt hatte.
Und mit einem Schlag stand meine Jugendzeit vor mir, als sdhe ich in
einen Guckkasten tief hinein in ein kindlich gemaltes Bild. -
Lange, lange stand ich ersch'ttert da und starrte auf das kleine, rote
Herz in meiner Hand. - - -
Ich saYA in der Dachkammer und lauschte dem Knistern der Tannennadeln,
wenn hie und da ein kleiner Zweig 'ber den Wachskerzen zu glimmen begann.
"Vielleicht spielt gerade jetzt in dieser Stunde der alte Zwakh
irgendwo in der Welt seinen ›Marionettenweihnachtsabend‹", malte ich mir
aus, - "und deklamiert mit geheimnisvoller Stimme die Strophe seines
Lieblingsdichters Oskar Wiener":
Wo ist das Herz aus rotem Stein?
Es hdngt an einem Seidenbande.
O du, o gib das Herz nicht her;
Ich war ihm treu und hatt' es lieb,
Und diente sieben Jahre schwer
Um dieses Herz, und hatt' es lieb!"
Eigent'mlich feierlich wurde mir plctzlich zumute.
Die Kerzen waren heruntergebrannt. Nur eine einzige flackerte noch.
Rauch ballte sich im Zimmer.
Als ob mich eine Hand zcge, wandte ich mich plctzlich um und:
Da stand mein Ebenbild auf der Schwelle. Mein Doppelgdnger. In einem
weiYAen Mantel. Eine Krone auf dem Kopf.
Nur einen Augenblick.
Dann brachen Flammen durch das Holz der T'r, und eine Wolke
erstickenden heiYAen Qualms schlug herein:
Feuersbrunst im Haus! Feuer! Feuer!
Ich reiYAe das Fenster auf. Klettere auf das Dach hinaus.
Von weitem rast schon das gellende Klingeln der Feuerwehr heran.
Blitzende Helme und abgehackte Kommandorufe.
Dann das gespenstische, rhythmische, schlapfende Atmen der Pumpen, wie
die Ddmonen des Wassers sich ducken zum Sprung auf ihren Todfeind: das
Feuer.
Glas klirrt und rote Lohe schieYAt aus allen Fenstern.
Matratzen werden hinuntergeworfen, die ganze StraYAe liegt voll davon,
Menschen springen nach, werden verwundet weggetragen.
In mir aber jauchzt etwas auf in wilder jubelnder Ekstase; ich weiYA
nicht warum. Das Haar strdubt sich mir.
Ich laufe auf den Schornstein zu, um nicht versengt zu werden, denn die
Flammen greifen nach mir.
Das Seil eines Rauchfangkehrers ist herumgewickelt.
Ich rolle es auf, schlinge es um Handgelenk und Bein, wie ich es als
Knabe beim Turnen gelernt habe, und lasse mich ruhig an der Fassade des
Hauses hinab. -
Komme an einem Fenster vorbei. Blicke hinein:
Drin ist alles blendend erleuchtet.
Und da sehe ich - - - da sehe ich - - - mein ganzer Kcrper wird ein
einziger hallender Freudenschrei:
"Hillel! Mirjam! Hillel!"
Ich will auf die Gitterstdbe losspringen.
Greife daneben. Verliere den Halt am Seil.
Einen Augenblick hdnge ich, Kopf abwdrts, die Beine gekreuzt, zwischen
Himmel und Erde.
Das Seil singt bei dem Ruck. Knirschend dehnen sich die Fasern.
Ich falle.
Mein BewuYAtsein erlischt.
Noch im Sturz greife ich nach dem Fenstersims, aber ich gleite ab. Kein
Halt:
der Stein ist glatt.
Glatt wie ein St'ck Fett.
"- - - wie ein St'ck fett!"
Das ist der Stein, der aussieht wie ein St'ck Fett.
Die Worte gellen mir noch in den Ohren. Dann richte ich mich auf und
muYA mich besinnen, wo ich bin.
Ich liege im Bett und wohne im Hotel.
Ich heiYAe doch gar nicht Pernath.
Habe ich das alles nur getrdumt?
Nein! So trdumt man nicht.
Ich schaue auf die Uhr: kaum eine Stunde habe ich geschlafen. Es ist
halb drei.
Und dort hdngt der fremde Hut, den ich heute im Dom auf dem Hradschin
verwechselt habe, als ich beim Hochamt auf der Betbank saYA.
Steht ein Name darin?
Ich nehme ihn und lese in goldenen Buchstaben auf dem weiYAen
Seidenfutter den fremden und doch so bekannten Namen:
Jetzt ldYAt es mir keine Ruhe mehr; ich ziehe mich hastig an und laufe
die Treppe hinunter.
"Portier! Aufmachen! Ich gehe noch eine Stunde spazieren."
"Wohin, bitt schdn?"
"In die Judenstadt. In die HahnpaYAgasse. Gibt's 'berhaupt eine StraYAe,
die so heiYAt?"
"Freilich, freilich" - der Portier ldchelt malitics - "aber in der
Judenstadt, ich mache aufmerksam: ist nicht mehr viel los. Alles neu gebaut,
bitte."
"Macht nichts. Wo liegt die HahnpaYAgasse?"
Der dicke Finger des Portiers deutet auf die Karte: "Hier, bitte."
"Und die Schenke ›Zum Loisitschek‹?"
"Hier, bitte."
"Geben Sie mir ein groYAes St'ck Papier."
"Hier, bitte."
Ich wickle Pernaths Hut hinein. Merkw'rdig: er ist fast neu, tadellos
sauber und doch so br'chig, als wdre er uralt. -
Unterwegs 'berlege ich:
Alles, was dieser Athanasius Pernath erlebt hat, habe ich im Traum
miterlebt, in einer Nacht mitgesehen, mitgehcrt, mitgef'hlt, als wdre ich er
gewesen. Warum weiYA ich denn aber nicht, was er in dem Augenblick, als der
Strick riYA und er "Hillel, Hillel!" rief, hinter dem Gitterfenster erblickt
hat?
Er hat sich in diesem Augenblick von mir getrennt, begreife ich.
Ich muYA diesen Athanasius Pernath auffinden, und wenn ich drei Tage und
drei Ndchte herumlaufen sollte, nehme ich mir vor. - - -
Also das ist die HahnpaYAgasse?
Nicht anndhernd so habe ich sie im Traum gesehen! -
Lauter neue Hduser.
Eine Minute spdter sitze ich im Cafj Loisitschek. Ein stilloses,
ziemlich sauberes Lokal.
Im Hintergrund allerdings eine Estrade mit Holzgeldnder; eine gewisse
Dhnlichkeit mit dem alten getrdumten "Loisitschek" ist nicht zu leugnen.
"Befehlen, bitt' schcn?", fragt die Kellnerin, ein dralles Mddel, in
einen rotsamtenen Frack buchstdblich hineingeknallt.
"Kognak, Frdulein. - So, danke."
"- Hm. Frdulein!"
"Bitte?"
"Wem gehcrt das Kaffeehaus?"
"Dem Herrn Kommerzialrat Loisitschek. - Das ganze Haus gehcrt ihm. Ein
sehr feiner reicher Herr."
- Aha, der Kerl mit den Schweinszdhnen an der Uhrkette! erinnere ich
mich. -
Ich habe einen guten Einfall, der mich orientieren wird:
"Frdulein!"
"Bitte?"
"Wann ist die steinerne Br'cke eingest'rzt?"
"Vor dreiunddreiYAig Jahren."
"Hm. Vor dreiunddreiYAig Jahren!" - ich 'berlege: der Gemmenschneider
Pernath muYA also jetzt fast neunzig sein.
"Frdulein!"
"Bitte?"
"Ist hier niemand unter den Gdsten, der sich noch erinnern kann, wie
die alte Judenstadt von damals ausgesehen hat? Ich bin Schriftsteller und
interessiere mich daf'r."
Die Kellnerin denkt nach: "Von den Gdsten? Nein. - Aber warten S': der
Billardmarqueur, der dort mit einem Studenten Carambol spielt, - sehen Sie
ihn? Der mit der Hakennase, der Alte, - der hat immer hier gelebt und wird
Ihnen alles sagen. Soll ich ihn rufen, wenn er fertig ist?"
Ich folgte dem Blick des Mddchens:
Ein schlanker, weiYAhaariger, alter Mann lehnt dr'ben am Spiegel und
kreidet seine Queue. Ein verw'stetes, aber seltsam vornehmes Gesicht. Woran
erinnert er mich nur?
"Frdulein, wie heiYAt der Marqueur?"
Die Kellnerin st'tzt sich im Stehen mit dem Ellenbogen auf den Tisch,
leckt an einem Bleistift, schreibt in Windeseile ihren Vornamen unzdhlige
Male auf die Marmorplatte und lcscht ihn jedesmal mit nassem Finger rasch
wieder aus. Dazwischen wirft sie mir mehr oder minder sengende Glutblicke
zu; - je nachdem sie ihr gelingen. UnerldYAlich ist nat'rlich das
gleichzeitige Emporziehen der Augenbrauen, denn es erhcht das Mdrchenhafte
des Blickes.
"Frdulein, wie heiYAt der Marqueur?", wiederhole ich meine Frage. Ich
sehe ihr an, sie hdtte lieber gehcrt: Frdulein, warum tragen Sie nicht nur
einen Frack? oder etwas Dhnliches, aber ich frage es nicht; mir geht mein
Traum zu sehr im Kopf herum.
"No, wie wird er denn heiYAen," schmollt sie, "Ferri heiYAt er halt.
Ferri Athenstddt."
"So so? Ferri Athenstddt! - Hm, - also wieder ein alter Bekannter."
"Erzdhlen Sie mir doch recht, recht viel von ihm, Frdulein," girre ich,
muYA mich aber sofort mit einem Kognak stdrken, "Sie plaudern gar so herzig!"
(Ich ekle mich vor mir selber.)
Sie neigt sich geheimnisvoll dicht zu mir, damit mich ihre Haare im
Gesicht kitzeln, und fl'stert:
"Der Ferri, der war Ihnen fr'her ein ganz ein Geriebener. - Er soll von
uraltem Adel gewesen sein - es ist nat'rlich nur so ein Gerede, weil er
keinen Bart nicht trdgt - und furchtbar viel Geld g'habt habn. Eine
rothaarige J'din, die schon von Jugend auf eine ›Person‹ war" - sie schrieb
wieder rasch ein paarmal ihren Namen auf - "hat ihn dann ganz ausgezogen. -
Punkto Geld mein' ich nat'rlich. No, und wie er dann kein Geld nicht mehr
gehabt hat, ist sie weg und hat sich von einem hohen Herrn heiraten lassen:
von dem ..." - sie fl'sterte mir einen Namen ins Ohr, den ich nicht
verstehe. "Der hohe Herr hat dann nat'rlich auf alle Ehre verzichten m'ssen
und sich von da an nur mehr Ritter von Ddmmerich nennen d'rfen. No ja. Aber
daYA sie fr'her eine ›Person‹ g'wesen ist, hat er ihr halt doch nicht
wegwaschen kcnnen. Ich sag immer -."
"Fritzi! Zahlen!" ruft jemand von der Estrade herab. -
Ich lasse meine Blicke durch das Lokal wandern, da hcre ich plctzlich
ein leises metallisches Zirpen, wie von einer Grille, hinter mir.
Ich drehe mich neugierig um. Traue meinen Augen nicht:
Das Gesicht zur Wand gekehrt, alt wie Methusalem, eine Spieldose, so
klein wie eine Zigarettenschachtel, in zitternden Skeletthdnden sitzt ganz
in sich zusammengesunken - der blinde, greise Nephtali Schaffranek in der
Ecke und leiert mit der winzigen Kurbel.
Ich trete zu ihm.
Im Fl'sterton singt er konfus vor sich hin:
"Frau Pick,
Frau Hock.
Und rote, blaue Stern
die schmusen allerhand.
Von Messinung, an Rducherl und Rohn."
"Wissen Sie, wie der alte Mann heiYAt?" frage ich einen vorbeieilenden
Kellner.
"Nein, mein Herr, niemand kennt weder ihn noch seinen Namen. Er selbst
hat ihn vergessen. Er ist ganz allein auf der Welt. Bitte, er ist 110 Jahre
alt! Er kriegt bei uns jede Nacht einen sogenannten Gnadenkaffee."
Ich beugte mich 'ber den Greis, - rufe ihm ein Wort ins Ohr:
"Schaffranek!"
Es durchfdhrt ihn wie ein Blitz. Er murmelt etwas, streicht sich
sinnend 'ber die Stirn.
"Verstehen Sie mich, Herr Schaffranek?"
Er nickt.
"Passen Sie mal gut auf! Ich mcchte Sie etwas fragen, aus alter Zeit.
Wenn Sie mir alles gut beantworten, bekommen Sie den Gulden, den ich hier
auf den Tisch lege."
"Gulden", wiederholt der Greis und fdngt sofort an, wie ein Rasender
auf seiner zirpenden Spieldose zu kurbeln.
Ich halte seine Hand fest: "Denken Sie einmal nach! - Haben Sie nicht
vor etwa 33 Jahren einen Gemmenschneider namens Pernath gekannt?"
"Hadrbolletz! Hosenschneider!" - lallt er asthmatisch auf und lacht
'bers ganze Gesicht, in der Meinung, ich hdtte ihm einen famosen Witz
erzdhlt.
"Nein, nicht Hadrbolletz: - - Pernath!"
"Pereles?!" - er jubelt fcrmlich.
"Nein, auch nicht Pereies. - Per-nath!"
"Pascheies?!" - er krdht vor Freude. - -
Ich gebe enttduscht meinen Versuch auf.
"Sie wollten mich sprechen, mein Herr?", - der Marqueur Ferri
Athenstddt steht vor mir und verbeugt sich k'hl.
"Ja. Ganz richtig. - Wir kcnnen dabei eine Partie Billard spielen."
"Spielen Sie um Geld, mein Herr? Ich gebe Ihnen 90 auf 100 vor."
"Also gut: um einen Gulden. Fangen Sie vielleicht an, Marqueur."
Seine Durchlaucht nimmt das Queue, zielt, gickst, macht ein drgerliches
Gesicht. Ich kenne das: er ldYAt mich bis 9 kommen, und dann macht er in
einer Serie "aus".
Mir wird immer kurioser zumute. Ich gehe direkt auf mein Ziel los:
"Entsinnen Sie sich, Herr Marqueur: vor langer Zeit, etwa in den
Jahren, als die steinerne Br'cke einst'rzte, in der damaligen Judenstadt
einen gewissen - Athanasius Pernath gekannt zu haben?"
Ein Mann in einer rotweiYAgestreiften Leinwandjacke, mit Schielaugen und
kleinen goldenen Ohrringen, der auf einer Bank an der Wand sitzt und eine
Zeitung liest, fdhrt auf, stiert mich an und bekreuzigt sich.
"Pernath? Pernath?" wiederholt der Marqueur und denkt angestrengt nach
- "Pernath? - War er nicht groYA, schlank? Braunes Haar, melierten
kurzgeschnittenen Spitzbart?"
"Ja. Ganz richtig."
"Etwa vierzig Jahre alt damals? Er sah aus wie --", Seine Durchlaucht
starrt mich plctzlich 'berrascht an. - "Sie sind ein Verwandter von ihm,
mein Herr?!"
Der Schieldugige bekreuzigt sich.
"Ich? Ein Verwandter? Komische Idee. - Nein. Ich interessiere mich nur
f'r ihn. Wissen Sie noch mehr?", sage ich gelassen, f'hle aber, daYA mir
eiskalt im Herzen wird.
Ferri Athenstddt denkt wieder nach.
"Wenn ich nicht irre, galt er seinerzeit f'r verr'ckt. - Einmal
behauptete er, er hieYAe - warten Sie mal, - ja: Laponder! Und dann wieder
gab er sich f'r einen gewissen - Charousek aus."
"Kein Wort wahr!" fdhrt der Schieldugige dazwischen. "Den Charousek
hat's wirklich gegeben. Mein Vater hat doch mehrere 1000 fl von ihm geerbt."
"Wer ist dieser Mann?", fragte ich den Marqueur halblaut.
"Er ist Fdhrmann und heiYAt Tschamrda. - Was den Pernath betrifft, so
erinnere ich mich nur, oder glaube es wenigstens - daYA er in spdteren Jahren
eine sehr schcne, dunkelhdutige J'din geheiratet hat."
"Mirjam!" sage ich mir und werde so aufgeregt, daYA mir die Hdnde
zittern und ich nicht mehr weiterspielen kann.
Der Fdhrmann bekreuzigt sich.
"Ja, was ist denn heute mit Ihnen los, Herr Tschamrda?", fragt der
Marqueur erstaunt.
"Der Pernath hat niemals nicht gelebt", schreit der Schieldugige los.
"Ich glaub's nicht."
Ich schenke dem Mann sofort einen Kognak ein, damit er gesprdchiger
wird.
"Es gibt ja wohl Leut', die sagen, der Pernath lebt noch immer", r'ckt
der Fdhrmann endlich heraus, "er is, hcr ich. Kammschneider und wohnt auf
dem Hradschin."
"Wo auf dem Hradschin?"
Der Fdhrmann bekreuzigt sich:
"Das ist es ja eben! Er wohnt, wo kein lebender Mensch wohnen kann: an
der Mauer zur letzten Latern."
"Kennen Sie sein Haus, Herr - Herr - Tschamrda?"
"Nicht um die Welt mccht ich dort hinaufgehen!", protestiert der
Schieldugige. "Wof'r halten Sie mich? Jesus, Maria und Josef!"
"Aber den Weg hinauf kcnnten Sie mir doch von weitem zeigen, Herr
Tschamrda?"
"Das schon", brummte der Fdhrmann. "Wenn Sie warten wollen bis 6 Uhr
fr'h; dann geh ich zur Moldau hinunter. Aber ich rat Ihnen ab! Sie st'rzen
in den Hirschgraben und brechen Hals und Knochen! Heilige Muttergottes!"
Wir gehen zusammen durch den Morgen; frischer Wind weht vom Flusse her.
Ich f'hle vor Erwartung kaum den Boden unter mir.
Plctzlich taucht das Haus in der Altschulgasse vor mir auf.
Jedes Fenster erkenne ich wieder: die geschweifte Dachrinne, das
Gitter, die fettig gldnzenden Steinsimse - alles, alles!
"Wann ist dieses Haus abgebrannt?", frage ich den Schieldugigen. Es
braust mir in den Ohren vor Spannung.
"Abgebrannt? Niemals nicht!"
"Doch! Ich weiYA es bestimmt."
"Nein."
"Aber ich weiYA es doch! Wollen Sie wetten?"
"Wieviel?"
"Einen Gulden."
"Gemacht!" - Und Tschamrda holt den Hausmeister heraus. "Ist dieses
Haus jemals abgebrannt?"
"I woher denn!" Der Mann lacht. -
Ich kann und kann es nicht glauben.
"Schon siebzig Jahr' wohn ich drin," beteuert der Hausmeister, "ich
m'YAt's doch wahrhaftig wissen."
- - - Sonderbar, sonderbar! - - -
Der Fdhrmann rudert mich in seinem Kahn, der aus acht ungehobelten
Brettern besteht, mit komischen schiefen Zuckbewegungen 'ber die Moldau. Die
gelben Wasser schdumen gegen das Holz. Die Ddcher des Hradschins glitzern
rot in der Morgensonne. Ein unbeschreiblich feierliches Gef'hl ergreift
Besitz von mir. Ein leise ddmmerndes Gef'hl wie aus einem fr'heren Dasein,
als sei die Welt um mich her verzaubert - eine traumhafte Erkenntnis, als
lebte ich zuweilen an mehreren Orten zugleich.
Ich steige aus.
"Wieviel bin ich schuldig, Herr Tschamrda?"
"Einen Kreuzer. Wenn Sie mitg'holfen hdtten rudern, - hdtt's zwei
Kreuzer 'kost."
Denselben Weg, den ich heute nacht im Schlaf schon einmal gegangen,
wandere ich wieder empor: die kleine, einsame SchloYAstiege. Mir klopft das
Herz und ich weiYA voraus: jetzt kommt der kahle Baum, dessen Dste 'ber die
Mauer her'bergreifen.
Nein: er ist mit weiYAen Bl'ten besdt.
Die Luft ist voll von s'YAem Fliederhauch.
Zu meinen F'YAen liegt die Stadt im ersten Licht wie eine Vision der
VerheiYAung.
Kein Laut. Nur Duft und Glanz.
Mit geschlossenen Augen kcnnte ich mich hinauffinden in die kleine,
kuriose Alchimistengasse, so vertraut ist mir plctzlich jeder Schritt.
Aber, wo heute nacht das Holzgitter vor dem weiYAschimmemden Haus
gestanden hat, schlieYAt jetzt ein prachtvolles, gebauchtes, vergoldetes
Gitter die Gasse ab.
Zwei Eibenbdume ragen aus bl'hendem, niederem Gestrduch und flankieren
das Eingangstor der Mauer, die hinter dem Gitter entlang lduft.
Ich strecke mich, um 'ber das Strauchwerk hin'berzusehen, und bin
geblendet von neuer Pracht:
Die Gartenmauer ist ganz mit Mosaik bedeckt. T'rkisblau mit goldenen,
eigenartig gemuschelten Fresken, die den Kult des dgyptischen Gottes Osiris
darstellen.
Das Fl'geltor ist der Gott selbst: ein Hermaphrodit aus zwei Hdlften,
die die T're bilden, - die rechte weiblich, die linke mdnnlich. - Er sitzt
auf einem kostbaren, flachen Thron aus Perlmutter - im Halbrelief - und sein
goldener Kopf ist der eines Hasen. Die Ohren sind in die Hche gestellt und
dicht aneinander, daYA sie aussehen wie die beiden Seiten eines
aufgeschlagenen Buches. -
Es riecht nach Tau, und Hyazinthenduft weht 'ber die Mauer her'ber. - -
-
Lange stehe ich wie versteinert da und staune. Mir wird, als trdte eine
fremde Welt vor mich, und ein alter Gdrtner oder Diener mit silbernen
Schnallenschuhen, Jabot und sonderbar zugeschnittenem Rock kommt von links
hinter dem Gitter auf mich zu und fragt mich durch die Stdbe, was ich
w'nsche.
Ich reiche ihm stumm den eingewickelten Hut Athanasius Pernaths hinein.
Er nimmt ihn und geht durch das Fl'geltor.
Als es sich cffnet, sehe ich dahinter ein tempelartiges, marmornes Haus
und auf seinen Stufen:
und an ihn gelehnt:
und beide schauen hinab in die Stadt.
Einen Augenblick wendet sich Mirjam um, erblickt mich, ldchelt und
fl'stert Athanasius Pernath etwas zu.
Ich bin gebannt von ihrer Schcnheit.
Sie ist so jung, wie ich sie heut nacht im Traum gesehen.
Athanasius Pernath dreht sich langsam zu mir, und mein Herz bleibt
stehen:
Mir ist, als sdhe ich mich im Spiegel, so dhnlich ist sein Gesicht dem
meinigen.
Dann fallen die Fl'gel des Tores zu, und ich erkenne nur noch den
schimmernden Hermaphroditen.
Der alte Diener gibt mir meinen Hut und sagt - ich hcre seine Stimme
wie aus den Tiefen der Erde -:
"Herr Athanasius Pernath ldYAt verbindlichst danken und bittet, ihn
nicht f'r ungastfreundlich zu halten, daYA er Sie nicht einlddt, in den
Garten zu kommen, aber es ist strenges Hausgesetz so von alters her.
Ihren Hut, soll ich ausrichten, habe er nicht aufgesetzt, da ihm die
Verwechslung sofort aufgefallen sei.
Er wolle nur hoffen, daYA der seinige Ihnen keine Kopfschmerzen
verursacht habe."
Last-modified: Tue, 21 Jan 2003 08:55:12 GMT