Ocenite etot tekst:


     Heinrich Bull
     Wanderer, kommst du nach Spa... (1950)

     Pechatnyj istochnik:
     Heinrich Bull. Mein trauriges Gesicht, Moskau, 1968
     OCR, Spellcheck: Il'ya Frank
     http://www.franklang.ru
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     Als der Wagen hielt, brummte der  Motor  noch eine Weile; draußen
wurde irgendwo ein groXes Tor aufgerissen. Licht fiel durch das zertrXmmerte
Fenster in das Innere des Wagens, und ich sah jetzt, dass auch die GlXhbirne
oben  an  der  Decke  zerfetzt  war;  nur  ihr  Gewinde  stak  noch  in  der
SchraubXffnung, ein paar flimmernde DrXhtchen mit Glasresten. Dann hXrte der
Motor auf zu  brummen, und drauXen schrie eine  Stimme:  "Die Toten hierhin,
habt ihr Tote dabei?"
     "Verflucht", rief der Fahrer zurXck, "verdunkelt ihr schon nicht mehr?"
     "Da nXtzt kein  Verdunkeln mehr, wenn die  ganze  Stadt wie eine Fackel
brennt", schrie die fremde Stimme. "Ob ihr Tote habt, habe ich gefragt?"
     "WeiX nicht."
     "Dle Toten hierhin, hXrst du? Und die anderen  die Treppe hinauf in den
Zeichensaal, verstehst du?"
     "Ja, ja."
     Aber ich war noch nicht tot, ich gehXrte zu den anderen, und sie trugen
mich die Treppe hinauf. Erst ging es in einen langen,  schwach  beleuchteten
Flur,  dessen WXnde mit  grXner  ulfarbe gestrichen waren; krumme, schwarze,
altmodische Kleiderhaken waren in die WXnde eingelassen, und da waren  TXren
mit  Emailleschildchen  VI  a und  VI b,  und  zwischen  diesen TXren  hing,
sanftglXnzend unter Glas in einem schwarzen Rahmen, die Medea  von Feuerbach
und blickte in  die Ferne; dann kamen TXren mit V a  und V b, und dazwischen
hing  ein  Bild  des Dornausziehers,  eine  wunderbare  rXtlich  schimmernde
Fotografie in braunem Rahmen. Auch  die  groXe SXule in der  Mitte  vor  dem
Treppenaufgang ar da,  und hinter  ihr, lang und schmal, wunderbar  gemacht,
eine  Nachbildung des  Parthenonfrises in Gips,  gelblich schimmernd,  echt,
antik, und alles kam, wie es kommen musste: der griechische Hoplit, bunt und
gefXhrlich, wie ein Hahn sah er  aus, gefiedert,  und im Treppenhaus selbst,
auf der Wand, die hier mit gelber ulfarbe gestrichen war, da hingen sie alle
der Reihe nach: vom GroXen KurfXrsten bis Hitler
     Und  dort, in dem schmalen kleinen Gang,  wo ich endlich wieder fXr ein
paar Schritte gerade  auf meiner Bahre lag,  da  war das  besonders  schXne,
besonders groXe, besonders bunte Bild des Alten Fritzen mit der himmelblauen
Uniform,  den strahlenden  Augen und dem groXen, golden glXnzenden Stern auf
der Brust.
     Wieder  lag ich dann schief  auf der Bahre und wurde vorbeigetragen  an
den Rassegesichtern: da war der nordische KapitXn mit dem Adlerblick und dem
dummen Mund, die westische Moselanerin,  ein bisschen hager  und scharf, der
ostische  Grinser  mit   der   Zwiebelnase  und   das   lange  adamsapfelige
Bergfilmprofil;  und  dann kam wieder ein  Flur, wieder lag ich fXr ein paar
Schritte gerade auf  meiner Bahre, und bevor die TrXger in die zweite Treppe
hineinschwenkten, sah ich es  noch  eben: das Kriegerdenkmal mit dem groXen,
goldenen Eisernen Kreuz obendrauf und dem steinernen Lorbeerkranz.
     Das  ging alles  sehr  schnell: ich  bin nicht  schwer,  und die TrXger
rasten. Immerhin: alles konnte  auch TXuschung sein; ich hatte hohes Fieber,
hatte Xberall Schmerzen. Im Kopf,  in  den Armen und Beinen,  und mein  Herz
schlug wie verrXckt; was sieht man nicht alles im Fieber!
     Aber als wir an den Rassegesichtern vorbei waren, kam alles andere: die
drei  BXsten von  CXsar, Cicero, Marc Aurel,  brav  nebeneinander, wunderbar
nachgemacht,  ganz gelb und echt, antik und wXrdig standen sie an  der Wand,
und auch  die HermessXule kam, als  wir  um die Ecke  schwenkten,  und  ganz
hinten  im Flur X  der Flur war hier rosenrot gestrichen X ganz, ganz hinten
im Flur hing die groXe Zeusfratze Xber dem Eingang zum Zeichensaal; doch die
Zeusfratze war noch weit. Rechts sah ich durch das  Fenster den Feuerschein,
der  ganze  Himmel war  rot,  und schwarze, dicke  Wolken  von  Qualm  zogen
feierlich  vorXber... Und  wieder musste ich links sehen, und wieder sah ich
Schildchen  Xber  den  TXren  0 Ia und  0 Ib, und zwischen  den  brXunlichen
muffigen TXren sah ich  nur Nietzsches Schnurrbart und seine  Nasenspitze in
einem goldenen Rahmen,  denn  sie hatten  die andere  HXlfte des Bildes  mit
einem Zettel Xberklebt, auf dem zu lesen war: "Leichte Chirurgie"...
     Wenn  jetzt, dachte ich flXchtig Xwenn jetzt ... aber  da war es schon:
das  Bild  von  Togo,  bunt  und  groX,  flach  wie  ein  alter  Stich,  ein
prachtvoller Druck, und  vorne, vor den KolonialhXusern, vor den  Negern und
dem Soldaten, der da sinnlos mit seinem Gewehr herumstand, vor allem war das
groXe, ganz naturgetreu abgebildete BXndel Bananen: links ein BXndel, rechts
ein  BXndel,  und  auf  der mittleren Banane im rechten BXndel, da war etwas
hingekritzelt, ich sah es; ich selbst musste es hingeschrieben haben ...
     Aber  nun wurde  die TXr zum Zeichensaal aufgerissen, und  ich schwebte
unter der  ZeusbXste hinein und  schloss die Augen. Ich  wollte  nichts mehr
sehen. Der  Zeichensaal roch  nach Jod, ScheiXe, Mull  und Tabak, und es war
laut. Sie  setzten  mich ab,  und ich sagte zu  den TrXgern: "Steck mir  'ne
Zigarette in den Mund, links oben in der Tasche."
     Ich spXrte, wie einer mir an der Tasche herumfummelte, dann zischte ein
Streichholz, und ich hatte die brennende Zigarette im  Mund. Ich  zog daran.
"Danke", sagte ich.
     Alles das, dachte ich, ist kein Beweis. Letzten Endes gibt  es in jedem
Gymnasium  einen  Zeichensaal, GXnge, in denen krumme, alte Kleiderhaken  in
grXn-  und gelbgestrichene WXnde eingelassen  sind; letzten  Endes ist  kein
Beweis, dass ich in meiner Schule bin, wenn die Medea zwischen VI a und VI b
hXngt und Nietzsches Schnurrbart zwischen 0 Ia und 0 Ib. Gewiss gibt es eine
Vorschrift,   die  besagt,  dass  er   da   hXngen  muss.  Hausordnung   fXr
humanistische  Gymnasien  in  PreuXen:  Medea  zwischen  VI  a   und  VI  b,
Dornauszieher dort, CXsar, Marc Aurel und Cicero im Flur und Nietzsche oben,
wo sie schon Philosophie lernen. Parthenonfries,  ein  buntes Bild von Togo.
Dornauszieher    und   Parthenonfries    sind   schlieXlich   gute,    alte,
generationenlang bewXhrte  Schulrequisiten, und gewiss  bin  ich  nicht  der
einzige, der den Einfall  gehabt hat, auf eine  Banane zu schreiben: Es lebe
Togo.  Auch die Witze, die sie in den Schulen machen, sind immer  dieselben.
Und auXerdem besteht die MXglichkeit, dass ich Fieber habe, dass ich trXume.
     Schmerzen  hatte  ich jetzt nicht mehr.  Im Auto war  es  noch  schlimm
gewesen;  wenn  sie  durch  die  kleinen  SchlaglXcher  fuhren,  schrie  ich
jedesmal; da waren die groXen Trichter schon besser: das Auto hob und senkte
sich wie ein Schiff in einem Wellental. Aber jetzt  schien die Spritze schon
zu wirken,  die sie mir irgendwo im Dunkeln in  den Arm gehauen hatten:  ich
hatte gespXrt, wie die Nadel sich durch die Haut  bohrte und wie es unten am
Bein ganz heiX wurde.
     Es kann  ja  nicht wahr sein, dachte ich, so  viele Kilometer kann  das
Auto ja  gar nicht  gefahren sein: fast  dreiXig. Und  auXerdem:  du  spXrst
nichts;  kein GefXhl sagt es dir, nur die  Augen; kein GefXhl sagt dir, dass
du in  deiner  Schule bist, in  deiner Schule, die du vor drei  Monaten erst
verlassen hast. Acht  Jahre sind  keine Kleinigkeit, solltest  du  nach acht
Jahren das alles nur mit den Augen erkennen?
     Hinter  meinen geschlossenen Lidern sah ich alles  noch einmal, wie ein
Film  lief  es   ab:  unterer  Flur,  grXn  gestrichen,  Treppe  rauf,  gelb
gestrichen, Kriegerdenkmal, Flur, Treppe rauf, CXsar, Cicero, Marc Aurel ...
Hermes, Nietzscheschnurrbart, Togo, Zeusfratze ...
     Ich  spuckte  meine  Zigarette  aus und  schrie; es war immer  gut,  zu
schreien; man musste nur laut schreien; schreien  war  herrlich; ich  schrie
wie verrXckt. Als sich jemand Xber mich beugte, machte  ich immer noch nicht
die  Augen auf; ich spXrte  einen  fremden Atem, warm und  widerlich roch er
nach Tabak und Zwiebeln, und eine Stimme fragte ruhig:
     "Was ist es denn?"
     "Was zu trinken", sagte ich, "und noch 'ne Zigarette, die Tasche oben."
     Wieder  fummelte  einer  an  meiner Tasche herum,  wieder  zischte  ein
Streichholz, und jemand steckte mir 'ne brennende Zigarette in den Mund.
     "Wo sind wir?" fragte ich.
     "In Bendorf."
     "Danke", sagte ich und zog.
     Immerhin schien  ich wirklich  in  Bendorf zu sein, zu Hause  also, und
wenn ich nicht auXergewXhnlich hohes Fieber hatte, stand wohl fest, dass ich
in  einem humanistischen  Gymnasium war:  eine Schule war es bestimmt. Hatte
die Stimme unten nicht geschrien: "Die anderen in den Zeichensaal!"? Ich war
ein  anderer,  ich  lebte;  die  lebten,  waren  offenbar  die  anderen. Der
Zeichensaal war also da, und wenn ich  richtig hXrte, warum sollte ich nicht
richtig sehen, und dann stimmte  es wohl  auch, dass  ich  CXsar, Cicero und
Marc  Aurel  erkannt  hatte,  und  das  konnte nur in  einem  humanistischen
Gymnasium  sein; ich glaube  nicht,  dass sie  diese  Kerle  in  den anderen
Schulen auf den Fluren an die Wand stellen.
     Endlich  brachte  er  mir  Wasser:  wieder  roch  ich  den  Tabak-  und
Zwiebelatem aus seinem Gesicht, und ich machte, ohne es zu wollen, die Augen
auf:  da   war   ein   mXdes,   altes,  unrasiertes   Gesicht   Xber   einer
Feuerwehruniform, und eine alte Stimme sagte leise: "Trink, Kamerad!"
     Ich trank;  es  war Wasser, aber Wasser ist herrlich;  ich  spXrte  den
metallenen Geschmack des Kochgeschirrs  auf meinen  Lippen, und es war schXn
zu spXren,  welch eine Menge Wasser noch nachdrXngte, aber der Feuerwehrmann
riss  mir das Kochgeschirr von  den  Lippen und  ging: ich  schrie, aber  er
wandte sich nicht  um, zuckte nur mXde die Schultern und ging weiter; einer,
der  neben mir lag, sagte ruhig: "Hat gar keinen Zweck zu brXllen, sie haben
nicht mehr Wasser; die Stadt brennt, du siehst es doch."
     Ich sah  es durch  die Verdunkelung hindurch, es  glXhte  und  wummerte
hinter den  schwarzen VorhXngen, Rot hinter  Schwarz, wie in einem Ofen, auf
den man neue Kohlen geschXttet hat. Ich sah es: ja, die Stadt brannte.
     "Wie heiXt die Stadt?" fragte ich den, der neben mir lag.
     "Bendorf", sagte er.
     "Danke."
     Ich blickte ganz gerade vor mich hin auf  die Fensterreihe und manchmal
zur Decke. Die Decke  war noch tadellos, weiX  und glatt, mit einem schmalen
klassizistischen   Stuckrand;  aber   sie  haben   doch  in   allen  Schulen
klassizistische StuckrXnder an den Decken in den ZeichensXlen, wenigstens in
den guten, alten humanistischen Gymnasien. Das ist doch klar.
     Ich  musste  mir  jetzt  zugestehen,  dass  ich  im  Zeichensaal  eines
humanistischen  Gymnasiums in  Bendorf  lag. Bendorf hat drei  humanistische
Gymnasien:  die Schule  "Friedrich  der GroXe", die  Albertus-Schule  und  X
vielleicht brauche ich es  nicht zu  erwXhnen X  aber die letzte, die dritte
war die Adolf-Hitler-Schule. Hing nicht in der Schule  "Friedrich der GroXe"
das Bild des Alten Fritz besonders  bunt, besonders schXn, besonders groX im
Treppenhaus? Ich  war auf dieser Schule gewesen, acht Jahre lang, aber warum
konnte nicht in den anderen Schulen dieses  Bild genauso an derselben Stelle
hXngen, so  deutlich und auffallend, dass es den  Blick fangen  musste, wenn
man  die  erste Treppe hinaufstieg?  DrauXen  hXrte ich  jetzt  die  schwere
Artillerie schieXen. Sonst war es fast ruhig; nur manchmal drang das Fressen
der Flammen durch,  und  im Dunkeln  stXrzte  irgendwo ein  Giebel ein.  Die
Artillerie schoss ruhig und regelmXig, und ich dachte: Gute Artillerie! Ich
weiX, das ist gemein, aber ich dachte es. Mein  Gott, wie beruhigend war die
Artillerie, wie gemXtlich: dunkel und rauh, ein sanftes, fast feines Orgeln.
Irgendwie vornehm. Ich finde, die Artillerie  hat etwas Vornehmes, auch wenn
sie schieXt.  Es  hXrt  sich  so  anstXndig  an, richtig  nach Krieg in  den
BilderbXchern  ... Dann dachte  ich  daran,  wie  viel  Namen  wohl auf  dem
Kriegerdenkmal stehen wXrden, wenn sie es wieder einweihten, mit  einem noch
grXeren goldenen Eisernen Kreuz darauf und einem  noch  grXeren steinernen
Lorbeerkranz, und plXtzlich wusste ich es: wenn ich wirklich in meiner alten
Schule war,  wXrde mein Name auch darauf stehen, eingehauen in Stein, und im
Schulkalender wXrde hinter meinem Namen  stehen X  "zog von  der Schule  ins
Feld und fiel fXr ..."
     Aber ich wusste  noch  nicht wofXr und  wusste noch nicht,  ob  ich  in
meiner alten Schule war.  Ich  wollte  es  jetzt unbedingt herauskriegen. Am
Kriegerdenkmal war auch nichts  Besonderes gewesen, nichts  Auffallendes, es
war  wie Xberall,  es war ein Konfektionskriegerdenkmal, ja sie bekamen  sie
aus irgend einer Zentrale ...
     Ich sah mir  den Zeichensaal  an, aber die Bilder hatten sie abgehXngt,
und was ist schon an ein  paar BXnken zu sehen, die  in einer Ecke gestapelt
sind, und an den Fenstern, schmal und hoch, viele nebeneinander,  damit viel
Licht hereinfXllt, wie es sich fXr einen Zeichensaal gehXrt? Mein Herz sagte
mir nichts. HXtte es  nicht etwas gesagt,  wenn  ich in  dieser Bude gewesen
wXre, wo ich  acht  Jahre  lang  Vasen gezeichnet  und  Schriftzeichen geXbt
hatte, schlanke, feine,  wunderbar nachgemachte rXmische  Glaswasen, die der
Zeichenlehrer vorne  auf  einen  StXnder  setzte, und Schriften  aller  Art,
Rundschrift, Antiqua, RXmisch,  Italienne? Ich  hatte  diese Stunden gehasst
wie  nichts  in  der  ganzen  Schule,  ich  hatte  die Langeweile  gefressen
stundenlang, und niemals hatte ich Vasen zeichnen kXnnen oder Schriftzeichen
malen.  Aber  wo  waren  meine FlXche, wo  war  mein Hass angesichts  dieser
dumpfgetXnten, langweiligen  WXnde? Nichts sprach in mir, und ich schXttelte
stumm den Kopf.
     Immer  wieder hatte  ich radiert, den Bleistift  gespitzt,  radiert ...
nichts ...
     Ich wusste nicht genau, wie ich verwundet war; ich wusste nur, dass ich
meine Arme nicht bewegen konnte und das rechte Bein nicht, nur das linke ein
bisschen;  ich dachte, sie hXtten  mir die Arme an  den  Leib  gewickelt, so
fest, dass ich sie nicht bewegen konnte.
     Ich spuckte  die zweite Zigarette  in den Gang zwischen den StrohsXcken
und versuchte, meine Arme  zu bewegen, aber es tat so weh, dass ich schreien
musste; ich schrie weiter; es war immer wieder schXn, zu schreien; ich hatte
auch Wut, weil ich die Arme nicht bewegen konnte.
     Dann  stand  der  Arzt vor mir;  er  hatte  die Brille  abgenommen  und
blinzelte mich an; er sagte nichts; hinter ihm stand der  Feuerwehrmann, der
mir  das Wasser  gegeben hatte. Er flXsterte dem Arzt etwas ins Ohr, und der
Arzt setzte die Brille auf: deutlich sah  ich seine groXen grauen Augen  mit
den leise  zitternden Pupillen hinter den dicken BrillenglXsern. Er sah mich
lange  an,  so  lange,  dass  ich  wegsehen  musste,  und  er  sagte  leise:
"Augenblick. Sie sind gleich an der Reihe ..."
     Dann hoben sie den auf, der neben  mir  lag,  und trugen ihn hinter die
Tafel; ich blickte ihnen nach: sie  hatten die  Tafel auseinandergezogen und
quer  gestellt  und  die LXcke  zwischen  Wand  und Tafel mit  einem Bettuch
zugehXngt; dahinter brannte grelles Licht ...
     Nichts war  zu hXren, bis das Tuch wieder beiseite geschlagen  und der,
der neben mir gelegen hatte, hinausgetragen wurde: mit mXden, gleichgXltigen
Gesichtern schleppten die TrXger ihn zur TXr.
     Ich schloss wieder  die Augen und  dachte, du musst doch herauskriegen,
was du fXr eine Verwundung hast und ob du in deiner alten Schule bist.
     Mir  kam  das alles so kalt und  gleichgXltig vor, als hXtten  sie mich
durch das Museum  einer Totenstadt getragen, durch eine Welt, die mir ebenso
gleichgXltig wie  fremd war,  obwohl  meine  Augen sie erkannten, nur  meine
Augen; es konnte doch nicht wahr sein, dass  ich vor drei Monaten  noch hier
gesessen,  Vasen  gezeichnet  und Schriften gemalt  hatte,  dass ich in  den
Pausen  hinuntergegangen war  mit  meinem  Marmeladenbutterbrot,  vorbei  an
Nietzsche, Hermes, Togo, CXsar,  Cicero, Marc Aurel, ganz langsam bis an den
Flur unten, wo die Medea hing, dann zum  Hausmeister, zu Birgeler,  um Milch
zu trinken, Milch  in  diesem dXmmerigen kleinen  StXbchen, wo  man  es auch
riskieren konnte, eine Zigarette zu  rauchen, obwohl es verboten war. Sicher
trugen sie den, der neben mir  gelegen hatte, unten hin, wo die Toten lagen,
vielleicht lagen die Toten in Birgelers grauem kleinem StXbchen, wo es  nach
warmer  Milch  roch, nach Staub und  Birgelers schlechtem  Tabak ... Endlich
kamen die TrXger wieder herein, und jetzt hoben sie mich auf und trugen mich
hinter die Tafel.  Ich  schwebte  wieder,  jetzt an der  TXr  vorbei, und im
Vorbeischweben sah ich, dass auch das stimmte: Xber der TXr hatte einmal ein
Kreuz  gehangen,  als  die Schule noch Thomas-Schule hieX, und damals hatten
sie das Kreuz  weggemacht, aber da  blieb ein frischer dunkelgelber Fleck an
der Wand, kreuzfXrmig, hart  und klar, der fast noch deutlicher zu sehen war
als  das  alte, schwache,  kleine Kreuz  selbst,  das  sie abgehXngt hatten;
sauber  und schXn  blieb das Kreuzzeichen auf  der  verschossenen TXnche der
Wand. Damals hatten sie aus Wut die ganze Wand neu gepinselt,  aber es hatte
nichts genXtzt;  der  Anstreicher hatte den Ton nicht richtig getroffen: das
Kreuz blieb da, brXunlich und  deutlich, aber die ganze Wand war  rosa.  Sie
hatten  geschimpft, aber es  hatte nichts genXtzt: das Kreuz blieb da, braun
und deutlich auf dem Rosa  der Wand,  und ich glaube, ihr Etat fXr Farbe war
erschXpft und sie konnten nichts machen. Das Kreuz war noch da, und wenn man
genau  hinsah, konnte  man  sogar  noch  eine deutliche SchrXgspur  Xber dem
rechten Balken sehen, wo  jahrelang der Buchsbaumzweig  gehangen  hatte, den
der Hausmeister BirgeIer dorthinter klemmte, als es noch erlaubt war, Kreuze
in die Schulen zu hXngen ...
     Das alles fiel  mir in der  kleinen Sekunde ein,  als  ich  an der  TXr
vorbeigetragen wurde hinter die Tafel, wo das grelle Licht brannte.
     Ich lag auf dem Operationstisch und sah mich selbst ganz deutlich, aber
sehr  klein, zusammengeschrumpft,  oben in dem  klaren  Glas der  GlXhbirne,
winzig   und   weiX,   ein   schmales,   mullfarbenes   Paketchen  wie   ein
auXergewXhnlich subtiler Embryo: das war also ich da oben.
     Der  Arzt drehte mir den RXcken zu  und stand an einem Tisch, wo  er in
Instrumenten  herumkramte; breit  und  alt  stand der Feuerwehrmann vor  der
Tafel und lXchelte mich an; er lXchelte mXde und traurig, und sein bXrtiges,
schmutziges  Gesicht  war  wie  das  Gesicht  eines  Schlafenden; an  seiner
Schulter vorbei auf der schmierigen RXckseite der Tafel  sah ich etwas,  was
mich zum ersten Male, seitdem ich in diesem Totenhaus war, mein Herz  spXren
machte: irgendwo in einer  geheimen Kammer meines  Herzens erschrak ich tief
und schrecklich, und es fing heftig an zu schlagen: da war meine Handschrift
an  der Tafel. Oben in  der obersten Zeile. Ich  kenne meine Handschrift: es
ist schlimmer, als wenn man sich im Spiegel sieht, viel deutlicher,  und ich
hatte  keine  MXglichkeit, die IdentitXt  meiner Handschrift  zu bezweIfeln.
Alles andere war kein Beweis gewesen,  weder Medea noch Nietzsche, nicht das
dinarische Bergfilmprofil  noch die  Banane aus Togo, und  nicht  einmal das
Kreuzzeichen Xber der TXr: das alles war in allen Schulen dasselbe, aber ich
glaube  nicht,  dass sie in  anderen Schulen mit  meiner Handschrift  an die
Tafeln schreiben.  Da  stand  er  noch,  der Spruch, den  wir  damals hatten
schreiben  mussen, in  diesem verzweifelten  Leben,  das  erst  drei  Monate
zurXcklag: Wanderer, kommst du nach Spa ...
     Oh,  ich weiX,  die  Tafel war zu kurz  gewesen, und  der Zeichenlehrer
hatte  geschimpft,  das  ich nicht richtig eingeteilt hatte, die  Schrift zu
groX gewuhlt, und er  selbst hatte es  kopfschXttelnd in  der gleichen GrXe
darunter geschrieben: Wanderer, kommst du nach Spa ...
     Siebenmal stand es da: in meiner Schrift, in Antiqua, Fraktur,  Kursiv,
RXmisch,  Italienne und  Rundschrift;  siebenmal deutlich und  unerbittlich:
Wanderer, kommst du nach Spa ...
     Der  Feuerwehrmann  war  jetzt  auf einen  leisen  Ruf  des Arztes  hin
beiseite  getreten, so  sah ich den  ganzen Spruch,  der  nur  ein  bisschen
verstXmmelt war, weil ich die Schrift zu groX  gewXhlt hatte,  der Punkte zu
viele.
     Ich zuckte hoch, als ich einen Stich in den linken Oberschenkel spXrte,
ich wollte mich aufstXtzen, aber  ich  konnte es  nicht: ich blickte  an mir
herab, und nun sah ich es: sie hatten mich ausgewickelt, und ich hatte keine
Arme  mehr,  auch  kein rechtes Bein mehr, und ich fiel ganz plXtzlich  nach
hinten, weil ich mich nicht aufstXtzen konnte; ich schrie; der Arzt und  der
Feuerwehrmann  blickten  mich  entsetzt an,  aber der  Arzt  zuckte  nur die
Schultern und drXckte weiter auf den Kolben seiner Spritze,  der langsam und
ruhig  nach unten  sank; ich wollte  wieder auf die  Tafel blicken, aber der
Feuerwehrmann stand nun ganz nah neben mir und  verdeckte sie; er hielt mich
an  den  Schultern fest,  und ich roch  nur noch den brandigen,  schmutzigen
Geruch seiner verschmierten Uniform, sah nur  sein mXdes, trauriges Gesicht,
und nun erkannte ich ihn: es war BirgeIer.
     "Milch", sagte ich leise. ..

     1950






Last-modified: Thu, 27 May 2004 18:37:04 GMT
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