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     German  Gesse.  Siddhartha.  Na  nemeckom yazyke. 1922
     Pechatnyj istochnik: Hermann Hesse. Siddhartha, Frankfurt am Main, 1976
     OCR, Spellcheck: Il'ya Frank, http://frank.deutschesprache.ru
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     Teksty  v originale na anglijskom,  nemeckom i drugih yazykah smotrite v
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     Tekst podgotovil i sveril Il'ya Frank
     SIDDHARTHA
     Eine indische Dichtung
     von Hermann Hesse





     Romain Rolland dem verehrten Freunde gewidmet



     Im Schatten des Hauses, in der  Sonne des Flussufers bei den Booten, im
Schatten des Salwaldes, im Schatten des  Feigenbaumes wuchs Siddhartha  auf,
der schXne Sohn des Brahmanen, der junge Falke, zusammen mit seinem Freunde,
dem Brahmanensohn. Sonne brXunte seine lichten Schultern am Flussufer,  beim
Bade, bei den  heiligen Waschungen, bei den heiligen Opfern. Schatten  floss
in seine schwarzen Augen  im Mangohain,  bei den Knabenspielen,  beim Gesang
der Mutter, bei  den heiligen Opfern, bei  den  Lehren  seines  Vaters,  des
Gelehrten, beim GesprXch der Weisen. Lange schon nahm Siddhartha am GesprXch
der Weisen teil, Xbte sich mit  Govinda  im Redekampf, Xbte sich mit Govinda
in der Kunst  der Betrachtung, im Dienst  der Versenkung. Schon verstand er,
lautlos das Om zu sprechen, das Wort der Worte, es lautlos in sich hinein zu
sprechen mit dem Einhauch, es  lautlos aus sich  heraus zu  sprechen mit dem
Aushauch,   mit   gesammelter  Seele,  die  Stirn   umgeben  vom  Glanz  des
klardenkenden Geistes. Schon verstand er, im  Innern seines  Wesens Atman zu
wissen, unzerstXrbar, eins mit dem Weltall.
     Freude sprang in seines  Vaters Herzen Xber  den Sohn,  den Gelehrigen,
den  Wissensdurstigen, einen  groXen  Weisen  und  Priester  sah  er in  ihm
heranwachsen, einen FXrsten unter den Brahmanen.
     Wonne  sprang in seiner Mutter  Brust, wenn sie ihn sah,  wenn  sie ihn
schreiten,  wenn  sie  ihn  niedersitzen und aufstehen  sah, Siddhartha, den
Starken,  den  SchXnen,  den  auf schlanken  Beinen  Schreitenden,  den  mit
vollkommenem Anstand sie BegrXenden.
     Liebe rXhrte  sich  in  den Herzen  der  jungen BrahmanentXchter,  wenn
Siddhartha durch die Gassen der  Stadt ging, mit  der leuchtenden Stirn, mit
dem KXnigsauge, mit den schmalen HXften.
     Mehr  als  sie   alle  aber   liebte  ihn  Govinda,  sein  Freund,  der
Brahmanensohn. Er liebte Siddharthas Auge und holde Stimme, er liebte seinen
Gang  und den vollkommenen Anstand seiner  Bewegungen, er  liebte alles, was
Siddhartha  tat und  sagte,  und am meisten  liebte  er seinen Geist,  seine
hohen, feurigen  Gedanken,  seinen  glXhenden  Willen, seine hohe  Berufung.
Govinda wusste: dieser wird  kein  gemeiner  Brahmane  werden,  kein  fauler
Opferbeamter,  kein  habgieriger  HXndler mit ZaubersprXchen,  kein  eitler,
leerer  Redner,  kein bXser,  hinterlistiger  Priester, und auch kein gutes,
dummes Schaf in der Herde der Vielen.  Nein, und  auch  er,  Govinda, wollte
kein solcher  werden,  kein Brahmane,  wie es  zehntausend  gibt.  Er wollte
Siddhartha  folgen,  dem Geliebten,  dem  Herrlichen.  Und  wenn  Siddhartha
einstmals  ein  Gott  wXrde,  wenn   er  einstmals  eingehen  wXrde  zu  den
Strahlenden, dann  wollte  Govinda  ihm folgen, als sein  Freund,  als  sein
Begleiter, als sein Diener, als sein SpeertrXger, sein Schatten.
     So liebten den Siddhartha alle. Allen schuf er Freude, allen war er zur
Lust.
     Er aber,  Siddhartha, schuf sich  nicht  Freude, er  war sich nicht zur
Lust.  Wandelnd  auf  den  rosigen  Wegen   des  Feigengartens,  sitzend  im
blXulichen Schatten des  Hains  der Betrachtung,  waschend seine  Glieder im
tXglichen SXhnebad,  opfernd im  tiefschattigen Mangowald, von  vollkommenem
Anstand  der  GebXrden, von allen geliebt, aller Freude,  trug er doch keine
Freude  im Herzen. TrXume kamen ihm und rastlose Gedanken aus dem Wasser des
Flusses geflossen, aus den Sternen der Nacht gefunkelt, aus den Strahlen der
Sonne  geschmolzen, TrXume kamen  ihm und  Ruhelosigkeit der Seele, aus  den
Opfern geraucht, aus den Versen der Rig-Veda gehaucht,  aus den  Lehren  der
alten Brahmanen getrXufelt.
     Siddhartha  hatte begonnen, Unzufriedenheit in sich zu nXhren, Er hatte
begonnen zu  fXhlen,  dass die  Liebe  seines Vaters,  und die Liebe  seiner
Mutter, und auch die  Liebe  seines Freundes, Govindas,  nicht immer und fXr
alle Zeit ihn  beglXcken, ihn stillen, ihn sXttigen,  ihm genXgen werde.  Er
hatte begonnen zu  ahnen,  dass sein  ehrwXrdiger  Vater  und seine  anderen
Lehrer,  dass die  weisen Brahmanen ihm von ihrer  Weisheit  das  meiste und
beste  schon mitgeteilt, dass sie  ihre FXlle schon  in sein wartendes GefX
gegossen hXtten,  und das GefX war nicht voll, der Geist war nicht begnXgt,
die  Seele  war nicht ruhig, das  Herz  nicht gestillt. Die Waschungen waren
gut,  aber sie waren Wasser, sie  wuschen  nicht SXnde ab, sie heilten nicht
Geistesdurst, sie lXsten nicht  Herzensangst.  Vortrefflich waren  die Opfer
und die Anrufung der GXtter aber  war dies alles? Gaben die Opfer GlXck? Und
wie  war das  mit den  GXttern? War  es  wirklich  Prajapati, der  die  Welt
erschaffen hat? War es nicht der Atman, Er, der Einzige, der  Alleine? Waren
nicht die GXtter Gestaltungen, erschaffen wie ich und du, der Zeit untertan,
vergXnglich? War es  also gut, war es  richtig,  war es  ein sinnvolles  und
hXchstes Tun, den GXttern zu opfern? Wem  anders war  zu opfern,  wem anders
war Verehrung darzubringen  als Ihm, dem  Einzigen,  dem  Atman? Und  wo war
Atman zu finden, wo wohnte Er, wo schlug Sein ewiges Herz, wo anders als  im
eigenen  Ich, im Innersten, im UnzerstXrbaren, das ein jeder in  sich  trug?
Aber wo, wo war dies  Ich, dies Innerste, dies Letzte? Es war  nicht Fleisch
und  Bein, es war nicht Denken  noch Bewusstsein,  so lehrten die Weisesten.
Wo, wo also war es? Dorthin zu dringen,  zum Ich, zu  mir, zum Atman, gab es
einen andern Weg,  den zu suchen sich lohnte? Ach, und niemand zeigte diesen
Weg, niemand wusste ihn, nicht der Vater, nicht die Lehrer und Weisen, nicht
die  heiligen  OpfergesXnge!  Alles  wussten sie,  die  Brahmanen  und  ihre
heiligen  BXcher, alles wussten sie,  um alles hatten sie sich gekXmmert und
um  mehr als alles, die Erschaffung  der Welt, das  Entstehen  der Rede, der
Speise, des Einatmens, des Ausatmens, die Ordnungen der Sinne, die Taten der
GXtter unendlich vieles wussten sie X aber war es  wertvoll,  dies  alles zu
wissen,  wenn  man das Eine  und Einzige nicht wusste,  das  Wichtigste, das
allein  Wichtige? Gewiss,  viele  Verse  der heiligen BXcher,  zumal  in den
Upanishaden  des  Samaveda,  sprachen  von  diesem  Innersten  und  Letzten,
herrliche Verse. "Deine Seele ist die ganze Welt", stand da geschrieben, und
geschrieben  stand, dass der  Mensch  im Schlafe, im  Tiefschlaf, zu  seinem
Innersten eingehe  und im Atman wohne.  Wunderbare Weisheit stand in  diesen
Versen, alles Wissen der Weisesten stand hier in magischen Worten gesammelt,
rein wie von Bienen gesammelter Honig. Nein, nicht gering zu  achten war das
Ungeheure an Erkenntnis, das hier  von unzXhlbaren Geschlechterfolgen weiser
Brahmanen gesammelt und bewahrt  lag. X Aber  wo waren die Brahmanen, wo die
Priester, wo  die  Weisen oder BXer, denen es gelungen war,  dieses tiefste
Wissen nicht  bloX zu wissen, sondern zu leben?  Wo war der Kundige, der das
Daheimsein im  Atman aus dem  Schlafe  herXberzauberte ins  Wachsein, in das
Leben, in Schritt und Tritt,  in  Wort und Tat?  Viele  ehrwXrdige Brahmanen
kannte Siddhartha,  seinen Vater vor  allen, den Reinen, den Gelehrten,  den
hXchst  EhrwXrdigen.  Zu bewundern war sein Vater, still und  edel war  sein
Gehaben, rein sein Leben, weise sein Wort, feine und adlige Gedanken wohnten
in seiner Stirn X  aber auch  er, der  so viel  Wissende, lebte  er  denn in
Seligkeit,  hatte er  Frieden,  war er  nicht  auch nur  ein Suchender,  ein
DXrstender? Musste er nicht  immer und immer wieder an heiligen Quellen, ein
Durstender,  trinken,  am  Opfer,  an den BXchern,  an der  Wechselrede  der
Brahmanen? Warum musste er, der Untadelige, jeden Tag SXnde abwaschen, jeden
Tag sich um Reinigung mXhen, jeden Tag von  neuem?  War denn nicht Atman  in
ihm, floss denn  nicht in seinem  eigenen Herzen der Urquell? Ihn musste man
finden, den Urquell  im  eigenen Ich, ihn  musste man zu eigen  haben! Alles
andre war Suchen, war Umweg, war Verirrung.
     So waren Siddharthas Gedanken, dies war sein Durst, dies sein Leiden.
     Oft  sprach  er  aus einem  Chandogya-Upanishad  sich  die  Worte  vor:
"FXrwahr, der Name des Brahman ist Satyam X wahrlich, wer solches  weiX, der
geht  tXglich  ein  in  die  himmlische  Welt."  Oft  schien sie  nahe,  die
himmlische Welt, aber  niemals hatte er  sie ganz  erreicht, nie den letzten
Durst gelXscht. Und von allen Weisen und  Weisesten, die er kannte und deren
Belehrung er genoss,  von  ihnen  allen  war keiner,  der  sie ganz erreicht
hatte, die himmlische Welt, der ihn ganz gelXscht hatte, den,ewigen Durst.
     "Govinda," sprach Siddhartha  zu seinem Freunde, "Govinda, Lieber, komm
mit mir unter den Banyanenbaum, wir wollen der Versenkung pflegen."
     Sie gingen zum Banyanenbaum, sie  setzten sich nieder, hier Siddhartha,
zwanzig Schritte weiter Govinda. Indem er sich niedersetzte, bereit,  das Om
zu sprechen, wiederholte Siddhartha murmelnd den Vers:
     Om ist Bogen, der Pfeil ist Seele,
     Das Brahman ist des Pfeiles Ziel,
     Das soll man unentwegt treffen.
     Als  die gewohnte Zeit der VersenkungsXbung hingegangen war, erhob sich
Govinda. Der Abend war gekommen, Zeit  war es, die Waschung  der Abendstunde
vorzunehmen.  Er rief  Siddharthas  Namen.  Siddhartha  gab  nicht  Antwort.
Siddhartha saX versunken, seine Augen standen starr auf ein sehr fernes Ziel
gerichtet, seine Zungenspitze stand ein wenig zwischen den ZXhnen hervor, er
schien nicht zu atmen. So saX  er, in Versenkung gehXllt,  Om denkend, seine
Seele als Pfeil nach dem Brahman ausgesandt.
     Einst waren Samanas durch Siddharthas Stadt gezogen, pilgernde Asketen,
drei  dXrre,  erloschene MXnner,  nicht  alt noch  jung,  mit  staubigen und
blutigen  Schultern,  nahezu nackt  von der  Sonne versengt, von  Einsamkeit
umgeben, fremd und feind der  Welt, Fremdlinge und hagere  Schakale im Reich
der Menschen. Hinter ihnen her wehte heiX ein Duft von stiller Leidenschaft,
von zerstXrendem Dienst, von mitleidloser Entselbstung.
     Am  Abend,  nach  der  Stunde der  Betrachtung,  sprach  Siddhartha  zu
Govinda: "Morgen  in  der FrXhe, mein Freund, wird Siddhartha zu den Samanas
gehen. Er wird ein Samana werden."
     Govinda  erbleichte,  da er die  Worte hXrte und  im unbewegten Gesicht
seines  Freundes  den  Entschluss   las,   unablenkbar  wie  der  vom  Bogen
losgeschnellte Pfeil.  Alsbald  und  beim ersten Blick erkannte Govinda: Nun
beginnt es, nun  geht Siddhartha seinen Weg, nun  beginnt  sein Schicksal zu
sprossen, und  mit seinem  das meine. Und er wurde bleich wie eine  trockene
Bananenschale.
     "O Siddhartha," rief er, "wird das dein Vater dir erlauben?"
     Siddhartha blickte herXber wie ein Erwachender. Pfeilschnell las er  in
Govindas, Seele, las die Angst, las die Ergebung.
     "O Govinda,"  sprach er leise,  "wir  wollen  nicht Worte verschwenden.
Morgen mit Tagesanbruch werde ich das Leben der Samanas beginnen. Rede nicht
mehr davon."
     Siddhartha trat in  die Kammer, wo sein Vater  auf einer Matte aus Bast
saX, und trat  hinter seinen  Vater  und  blieb  da  stehen, bis  sein Vater
fXhlte,  dass  einer  hinter ihm  stehe.  Sprach der Brahmane:  "Bist du es,
Siddhartha? So sage, was zu sagen du gekommen bist."
     Sprach Siddhartha: "Mit deiner Erlaubnis, mein Vater. Ich bin gekommen,
dir zu sagen, dass mich  verlangt,  morgen dein Haus zu verlassen und zu den
Asketen zu  gehen. Ein Samana  zu werden ist mein Verlangen. MXge mein Vater
dem nicht entgegen sein."
     Der Brahmane schwieg, und schwieg so lange, dass im kleinen Fenster die
Sterne wanderten und ihre Figur verXnderten, ehe das Schweigen in der Kammer
ein  Ende  fand. Stumm und regungslos  stand mit gekreuzten Armen  der Sohn,
stumm und regungslos saX auf der Matte  der Vater, und die Sterne  zogen  am
Himmel.  Da  sprach  der Vater: "Nicht ziemt  es dem Brahmanen,  heftige und
zornige  Worte zu  reden.  Aber  Unwille bewegt mein Herz.  Nicht mXchte ich
diese Bitte zum zweiten Male aus deinem Munde hXren."
     Langsam  erhob sich der Brahmane, Siddhartha stand stumm mit gekreuzten
Armen.
     "Worauf wartest du?" fragte der Vater.
     Sprach Siddhartha: "Du weiXt es."
     Unwillig ging der Vater aus der  Kammer, unwillig suchte  er sein Lager
auf und legte sich nieder.
     Nach  einer  Stunde,  da kein  Schlaf  in seine  Augen  kam,  stand der
Brahmane auf, tat Schritte hin und her, trat aus dem Hause. Durch das kleine
Fenster  der Kammer blickte er hinein,  da  sah  er Siddhartha  stehen,  mit
gekreuzten  Armen,  unverrXckt.  Bleich  schimmerte sein helles  Obergewand.
Unruhe im Herzen, kehrte der Vater zu seinem Lager zurXck.
     Nach  einer  Stunde,  da  kein Schlaf in  seine  Augen  kam,  stand der
Brahmane von neuem auf, tat Schritte hin und her, trat vor das Haus, sah den
Mond aufgegangen. Durch  das Fenster der Kammer blickte  er hinein, da stand
Siddhartha, unverrXckt, mit gekreuzten Armen, an  seinen bloXen Schienbeinen
spiegelte das  Mondlicht.  Besorgnis im Herzen, suchte  der Vater sein Lager
auf.
     Und er  kam  wieder  nach  einer Stunde, und  kam  wieder  nach  zweien
Stunden, blickte durchs kleine Fenster, sah  Siddhartha stehen,  im Mond, im
Sternenschein,  in  der  Finsternis. Und kam wieder  von Stunde  zu  Stunde,
schweigend, blickte in die Kammer, sah den unverrXckt Stehenden, fXllte sein
Herz  mit  Zorn,  fXllte sein Herz mit Unruhe, fXllte sein  Herz  mit Zagen,
fXllte es mit Leid.
     Und in  der letzten Nachtstunde, ehe der Tag  begann, kehrte er wieder,
trat  in  die Kammer, sah den  JXngling stehen,  der ihm groX  und wie fremd
erschien.
     "Siddhartha," sprach er, "worauf wartest du?"
     "Du weiXt es."
     "Wirst  du immer  so stehen und  warten, bis es Tag wird, Mittag  wird,
Abend wird?"
     "Ich werde stehen und warten."
     "Du wirst mXde werden, Siddhartha."
     "Ich werde mXde werden."
     "Du wirst einschlafen, Siddhartha."
     "Ich werde nicht einschlafen."
     "Du wirst sterben, Siddhartha."
     "Ich werde sterben."
     "Und willst lieber sterben, als deinem Vater gehorchen?"
     "Siddhartha hat immer seinem Vater gehorcht."
     "So willst du dein Vorhaben aufgeben?"
     "Siddhartha wird tun, was sein Vater ihm sagen wird."
     Der erste  Schein des Tages fiel in die Kammer.  Der Brahmane sah, dass
Siddhartha in  den Knien leise  zitterte. In Siddharthas Gesicht sah er kein
Zittern, fernhin blickten die Augen.  Da erkannte der Vater, dass Siddhartha
schon jetzt nicht mehr bei  ihm und in der  Heimat weile, dass er ihn  schon
jetzt verlassen habe.
     Der Vater berXhrte Siddharthas Schulter.
     "Du wirst," sprach er, "in den Wald gehen und ein Samana sein.  Hast du
Seligkeit gefunden im Walde, so  komm und lehre mich  Seligkeit.  Findest du
EnttXuschung, dann kehre  wieder und  lass uns wieder  gemeinsam den GXttern
opfern. Nun gehe  und kXsse deine Mutter, sage ihr, wohin du gehst. FXr mich
aber ist es Zeit, an den Fluss zu gehen und die erste Waschung vorzunehmen."
     Er  nahm  die  Hand  von der Schulter seines Sohnes  und  ging  hinaus.
Siddhartha schwankte zur Seite,  als er zu gehen versuchte. Er bezwang seine
Glieder, verneigte sich vor seinem Vater und ging zur Mutter, um zu tun, wie
der Vater gesagt hatte.
     Als  er  im ersten  Tageslicht langsam auf  erstarrten Beinen  die noch
stille  Stadt  verlieX, erhob sich  bei  der letzten HXtte ein Schatten, der
dort gekauert war, und schloss sich an den Pilgernden an X Govinda.
     "Du bist gekommen", sagte Siddhartha und lXchelte.
     "Ich bin gekommen," sagte Govinda.



     Am  Abend dieses Tages holten sie die Asketen ein, die  dXrren Samanas,
und boten ihnen Begleitschaft und Gehorsam an. Sie wurden angenommen.
     Siddhartha schenkte  sein Gewand einem  armen Brahmanen auf der StraXe.
Er trug nur noch die Schambinde und den erdfarbenen ungenXhten Xberwurf.  Er
aX nur einmal am Tage, und niemals Gekochtes.  Er fastete fXnfzehn Tage.  Er
fastete acht und zwanzig Tage. Das  Fleisch  schwand  ihm  von Schenkeln und
Wangen. HeiXe  TrXume flackerten aus  seinen  vergrXerten Augen, an  seinen
dorrenden Fingern wuchsen lang die NXgel und am  Kinn der trockne, struppige
Bart.  Eisig wurde  sein Blick, wenn er  Weibern begegnete; sein Mund zuckte
Verachtung, wenn er durch eine Stadt mit schXn gekleideten Menschen ging. Er
sah  HXndler  handeln,  FXrsten  zur Jagd  gehen,  Leidtragende  ihre  Toten
beweinen, Huren  sich anbieten, Xrzte sich um Kranke mXhen, Priester den Tag
fXr die Aussaat bestimmen, Liebende lieben, MXtter ihre Kinder stillen X und
alles  war nicht den Blick  seines Auges wert, alles log, alles stank, alles
stank  nach LXge, alles tXuschte Sinn und GlXck und SchXnheit vor, und alles
war uneingestandene  Verwesung.  Bitter  schmeckte  die Welt.  Qual war  das
Leben.
     Ein Ziel stand  vor  Siddhartha,  ein einziges:  leer werden,  leer von
Durst, leer  von  Wunsch, leer von Traum, leer von Freude und Leid. Von sich
selbst  wegsterben,  nicht mehr Ich sein, entleerten Herzens Ruhe zu finden,
im entselbsteten Denken dem Wunder offen zu stehen, das war sein Ziel.  Wenn
alles Ich Xberwunden  und gestorben war, wenn jede  Sucht und jeder Trieb im
Herzen schwieg, dann musste das Letzte erwachen, das  Innerste im Wesen, das
nicht mehr Ich ist, das groXe Geheimnis.
     Schweigend  stand  Siddhartha  im senkrechten  Sonnenbrand, glXhend vor
Schmerz, glXhend vor Durst, und stand, bis er nicht  Schmerz noch Durst mehr
fXhlte. Schweigend  stand  er  in der Regenzeit, aus  seinem Haare troff das
Wasser  Xber frierende Schultern, Xber frierende HXften und Beine,  und  der
BXer stand,  bis Schultern  und Beine nicht mehr froren, bis sie schwiegen,
bis sie still waren. Schweigend kauerte er im Dorngerank, aus der brennenden
Haut  tropfte das  Blut,  aus  SchwXren  der Eiter, und Siddhartha verweilte
starr,  verweilte regungslos,  bis  kein  Blut mehr  floss, bis nichts  mehr
stach, bis nichts mehr brannte.
     Siddhartha saX  aufrecht und lernte den Atem  sparen,  lernte mit wenig
Atem  auskommen,  lernte  den  Atem abzustellen.  Er  lernte, mit  dem  Atem
beginnend, seinen  Herzschlag  beruhigen, lernte  die SchlXge seines Herzens
vermindern, bis es wenige und fast keine mehr waren.
     Vom Xltesten  der Samanas belehrt, Xbte Siddhartha  Entselbstung,  Xbte
Versenkung, nach  neuen Samanaregeln. Ein Reiher flog Xberm Bambuswald X und
Siddhartha nahm den Reiher in  seine Seele auf,  flog Xber Wald  und Gebirg,
war Reiher, fraX Fische, hungerte Reiherhunger, sprach ReihergekrXchz, starb
Reihertod.  Ein  toter  Schakal  lag  am  Sandufer,  und  Siddharthas  Seele
schlXpfte in den Leichnam hinein, war  toter Schakal, lag am Strande, blXhte
sich, stank, verweste, ward von HyXnen zerstXckt, ward von Geiern enthXutet,
ward  Gerippe, ward Staub,  wehte  ins Gefild. Und  Siddharthas Seele kehrte
zurXck,  war gestorben, war verwest, war  zerstXubt, hatte den trXben Rausch
des Kreislaufs  geschmeckt,  harrte in neuem Durst  wie  ein JXger  auf  die
LXcke, wo  dem Kreislauf  zu entrinnen wXre, wo  das  Ende der Ursachen,  wo
leidlose  Ewigkeit  begXnne.  Er   tXtete  seine   Sinne,  er  tXtete  seine
Erinnerung, er schlXpfte aus seinem Ich in tausend fremde Gestaltungen,  war
Tier,  war Aas,  war  Stein,  war Holz, war Wasser,  und fand  sich jedesmal
erwachend  wieder,  Sonne  schien oder  Mond, war  wieder  Ich,  schwang  im
Kreislauf, fXhlte Durst, Xberwand den Durst, fXhlte neuen Durst.
     Vieles lernte  Siddhartha bei den  Samanas,  viele Wege vom  Ich hinweg
lernte er gehen. Er ging den Weg der  Entselbstung  durch den Schmerz, durch
das  freiwillige Erleiden  und  Xberwinden des  Schmerzes, des  Hungers, des
Dursts, der MXdigkeit. Er  ging den  Weg der Entselbstung  durch Meditation,
durch  das  Leerdenken des Sinnes von allen Vorstellungen. Diese  und andere
Wege  lernte  er gehen, tausendmal  verlieX  er  sein Ich,  stundenlang  und
tagelang  verharrte  er  im  Nicht-Ich.  Aber  ob  auch  die  Wege  vom  Ich
hinwegfXhrten,  ihr Ende  fXhrte  doch immer zum  Ich zurXck. Ob  Siddhartha
tausendmal  dem  Ich  entfloh,  im  Nichts  verweilte,  im  Tier,  im  Stein
verweilte,  unvermeidlich war die RXckkehr, unentrinnbar  die  Stunde, da er
sich wiederfand,  im  Sonnenschein oder im Mondschein, im  Schatten oder  im
Regen,  und  wieder  Ich  und  Siddhartha  war,  und  wieder  die  Qual  des
auferlegten Kreislaufes empfand.
     Neben ihm lebte  Govinda, sein Schatten, ging dieselben Wege,  unterzog
sich denselben BemXhungen.  Selten sprachen sie anderes miteinander, als der
Dienst und die Xbungen  erforderten. Zuweilen gingen sie zu zweien durch die
DXrfer, um Nahrung fXr sich und ihre Lehrer zu betteln.
     "Wie  denkst   du,   Govinda,"  sprach   einst  auf  diesem  Bettelgang
Siddhartha,  "wie denkst  du,  sind  wir  weiter  gekommen? Haben wir  Ziele
erreicht?"
     Antwortete Govinda: "Wir haben gelernt, und wir lernen weiter. Du wirst
ein groXer Samana sein, Siddhartha. Schnell hast du jede Xbung  gelernt, oft
haben die alten Samanas dich bewundert. Du wirst einst ein Heiliger  sein, o
Siddhartha."
     Sprach Siddhartha: "Mir will es  nicht  so erscheinen, mein Freund. Was
ich  bis zu diesem  Tage bei den Samanas gelernt habe, das, o Govinda, hXtte
ich  schneller   und  einfacher  lernen   kXnnen.   In  jeder  Kneipe  eines
Hurenviertels,  mein  Freund, unter den Fuhrleuten  und WXrfelspielern hXtte
ich es lernen kXnnen."
     Sprach  Govinda:  "Siddhartha  macht  sich  einen Scherz mit  mir.  Wie
hXttest du Versenkung, wie hXttest  du Anhalten  des Atems, wie  hXttest  du
Unempfindsamkeit gegen  Hunger  und  Schmerz  dort  bei jenen Elenden lernen
sollen?"
     Und  Siddhartha sagte leise,  als sprXche er zu sich  selber:  "Was ist
Versenkung?  Was  ist  Verlassen  des  KXrpers?  Was  ist  Fasten?  Was  ist
Anhaltendes  Atems? Es ist  Flucht  vor dem Ich, es ist ein kurzes Entrinnen
aus der Qual des Ichseins, es ist eine kurze BetXubung gegen den Schmerz und
die  Unsinnigkeit des  Lebens.  Dieselbe  Flucht, dieselbe  kurze  BetXubung
findet der Ochsentreiber in der  Herberge,  wenn  er einige Schalen Reiswein
trinkt oder gegorene Kokosmilch. Dann fXhlt er sein Selbst nicht  mehr, dann
fXhlt  er  die  Schmerzen  des Lebens  nicht  mehr,  dann  findet  er  kurze
BetXubung.  Er  findet,  Xber seiner  Schale mit  Reiswein  eingeschlummert,
dasselbe, was Siddhartha und Govinda finden, wenn  sie in langen Xbungen aus
ihrem KXrper entweichen, im Nicht-Ich verweilen. So ist es, o Govinda."
     Sprach Govinda: "So sagst du, o Freund, und weiXt doch, dass Siddhartha
kein  Ochsentreiber ist  und  ein Samana  kein Trunkenbold.  Wohl findet der
Trinker BetXubung,  wohl findet  er  kurze Flucht und  Rast,  aber  er kehrt
zurXck aus dem Wahn und, findet alles beim alten, ist nicht weiser geworden,
hat nicht Erkenntnis gesammelt, X ist nicht um Stufen hXher gestiegen."
     Und Siddhartha sprach mit LXcheln:  "Ich weiX es nicht, ich bin nie ein
Trinker  gewesen.   Aber  dass  ich,  Siddhartha,  in  meinen  Xbungen   und
Versenkungen nur kurze BetXubung finde und ebenso weit von der Weisheit, von
der ErlXsung entfernt  bin wie als Kind  im  Mutterleibe,  das  weiX  ich, o
Govinda, das weiX ich."
     Und wieder ein anderes Mal, da Siddhartha mit Govinda den Wald verlieX,
um im Dorfe etwas  Nahrung  fXr  ihre  BrXder und Lehrer zu betteln,  begann
Siddhartha zu sprechen und sagte: "Wie nun, o Govinda, sind wir wohl auf dem
rechten  Wege? NXhern wir uns wohl der  Erkenntnis? NXhern  wir uns wohl der
ErlXsung? Oder gehen wir nicht vielleicht  im Kreise X wir, die wir doch dem
Kreislauf zu entrinnen dachten?"
     Sprach Govinda: "Viel  haben wir gelernt,  Siddhartha, viel bleibt noch
zu lernen. Wir gehen nicht im Kreise, wir gehen nach  oben,  der  Kreis  ist
eine Spirale, manche Stufe sind wir schon gestiegen."
     Antwortete Siddhartha:  "Wie alt wohl,  meinst  du, ist  unser Xltester
Samana, unser ehrwXrdiger Lehrer?"
     Sprach Govinda: "Vielleicht sechzig Jahre mag unser Xltester zXhlen."
     Und Siddhartha:  "Sechzig  Jahre ist  er  alt  geworden und hat Nirwana
nicht erreicht.  Er wird siebzig werden  und  achtzig, und  du und  ich, wir
werden ebenso alt werden und werden uns Xben, und werden  fasten, und werden
meditieren.  Aber Nirwana werden wir nicht erreichen, er nicht, wir nicht. O
Govinda,  ich glaube,  von allen Samanas, die es gibt, wird vielleicht nicht
einer, nicht  einer  Nirwana  erreichen.  Wir  finden TrXstungen, wir finden
BetXubungen, wir lernen  Kunstfertigkeiten, mit denen wir uns tXuschen.  Das
Wesentliche aber, den Weg der Wege finden wir nicht."
     "MXgest  du  doch,"  sprach  Govinda,  "nicht  so  erschreckende  Worte
aussprechen, Siddhartha!  Wie sollte denn unter so vielen gelehrten MXnnern,
unter  so viel Brahmanen, unter so vielen  strengen und ehrwXrdigen Samanas,
unter so viel suchenden, so viel innig beflissenen, so viel heiligen MXnnern
keiner den Weg der Wege finden?"
     Siddhartha aber sagte mit einer Stimme, welche so viel Trauer wie Spott
enthielt, mit einer leisen, einer etwas traurigen,  einer  etwas spXttischen
Stimme: "Bald, Govinda, wird dein Freund diesen  Pfad der Samanas verlassen,
den er so lang mit  dir gegangen  ist. Ich  leide Durst, o Govinda,  und auf
diesem langen Samanawege  ist  mein Durst  um nichts kleiner geworden. Immer
habe ich nach Erkenntnis gedXrstet, immer bin ich  voll von Fragen  gewesen.
Ich habe die  Brahmanen befragt,  Jahr um Jahr, und habe die  heiligen Vedas
befragt, Jahr um  Jahr, und habe die frommen  Samanas befragt, Jahr um Jahr.
Vielleicht, o  Govinda, wXre es ebenso gut, wXre es ebenso  klug  und ebenso
heilsam  gewesen, wenn  ich  den Nashornvogel oder  den  Schimpansen befragt
hXtte. Lange Zeit  habe ich gebraucht und bin noch  nicht damit  zu Ende, um
dies zu lernen, o Govinda: dass man nichts lernen kann! Es gibt,  so  glaube
ich, in der Tat jenes Ding nicht,  das  wir `Lernen' nennen. Es gibt, o mein
Freund,  nur ein Wissen, das ist  Xberall, das ist Atman, das ist in mir und
in dir und in  jedem Wesen.  Und so beginne ich zu glauben:  dies Wissen hat
keinen Xrgeren Feind als das Wissenwollen, als das Lernen."
     Da blieb  Govinda  auf  dem  Wege stehen, erhob  die  HXnde und sprach:
"MXgest  du,  Siddhartha,  deinen  Freund  doch  nicht   mit  solchen  Reden
beXngstigen! Wahrlich,  Angst  erwecken deine Worte  in  meinem Herzen.  Und
denke doch  nur:  wo  bliebe  die  Heiligkeit  der  Gebete,  wo  bliebe  die
EhrwXrdigkeit des Brahmanenstandes, wo  die Heiligkeit der Samanas, wenn  es
so wXre  wie  du sagst, wenn es kein Lernen  gXbe?! Was,  o  Siddhartha, was
wXrde dann aus  alledem  werden,  was  auf Erden heilig,  was  wertvoll, was
ehrwXrdig ist?!"
     Und Govinda murmelte  einen Vers  vor sich  hin, einen  Vers  aus einer
Upanishad:
     "Wer  nachsinnend,   gelXuterten  Geistes,  in  Atman   sich  versenkt,
Unaussprechlich durch Worte ist seines Herzens Seligkeit."
     Siddhartha aber schwieg. Er dachte der  Worte,  welche  Govinda zu  ihm
gesagt hatte, und dachte die Worte bis an ihr Ende.
     Ja,  dachte er, gesenkten Hauptes stehend,  was  bliebe noch Xbrig  von
allem,  was  uns  heilig  schien?  Was  bleibt?  Was  bewXhrt  sich?  Und er
schXttelte den Kopf.
     Einstmals,  als die  beiden JXnglinge gegen drei Jahre bei den  Samanas
gelebt  und ihre  Xbungen  geteilt hatten, da  erreichte sie  auf mancherlei
Wegen und Umwegen eine Kunde, ein GerXcht, eine  Sage: Einer sei erschienen,
Gotama genannt, der Erhabene, der Buddha, der habe in sich das Leid der Welt
Xberwunden und das Rad der Wiedergeburten zum Stehen gebracht. Lehrend ziehe
er,  von JXngern umgeben, durch das Land, besitzlos,  heimatlos, weiblos, im
gelben  Mantel  eines Asketen, aber  mit  heiterer  Stirn, ein Seliger,  und
Brahmanen und FXrsten beugten sich vor ihm und wXrden seine SchXler.
     Diese Sage,  dies GerXcht, dies MXrchen klang auf,  duftete empor, hier
und dort, in den  StXdten sprachen die Brahmanen davon, im Wald die Samanas,
immer wieder drang der Name Gotamas, des Buddha, zu den Ohren der JXnglinge,
im Guten und im BXsen, in Lobpreisung und in SchmXhung.
     Wie wenn  in  einem  Lande  die Pest herrscht, und es  erhebt  sich die
Kunde, da und dort sei ein Mann, ein  Weiser, ein Kundiger,  dessen Wort und
Anhauch genXge, um jeden  von der Seuche Befallenen zu  heilen, und wie dann
diese Kunde das Land  durchlXuft und jedermann davon spricht, viele glauben,
viele zweifeln, viele aber sich alsbald auf den  Weg  machen, um den Weisen,
den Helfer aufzusuchen, so durchlief das Land jene Sage,  jene duftende Sage
von Gotama, dem Buddha, dem Weisen aus dem Geschlecht der Sakya. Ihm war, so
sprachen  die GlXubigen, hXchste  Erkenntnis  zu  eigen,  er erinnerte  sich
seiner vormaligen Leben, er hatte  Nirwana  erreicht und kehrte  nie mehr in
den Kreislauf zurXck, tauchte nie mehr in den trXben  Strom der Gestaltungen
unter.  Vieles Herrliche und Unglaubliche wurde von ihm berichtet,  er hatte
Wunder getan, hatte den Teufel Xberwunden, hatte mit den GXttern gesprochen.
Seine  Feinde und  UnglXubigen aber  sagten,  dieser  Gotama sei  ein eitler
VerfXhrer, er bringe seine Tage in Wohlleben hin,  verachte die  Opfer,  sei
ohne Gelehrsamkeit und kenne weder Xbung noch Kasteiung.
     SX klang die Sage von Buddha, Zauber duftete aus diesen Berichten.
     Krank war ja die Welt, schwer  zu ertragen  war  das Leben X und siehe,
hier schien eine  Quelle zu  springen,  hier schien  ein Botenruf zu  tXnen,
trostvoll, mild,  edler  Versprechungen voll. Xberall, wohin das GerXcht vom
Buddha  erscholl, Xberall in den LXndern Indiens horchten die JXnglinge auf,
fXhlten  Sehnsucht,  fXhlten  Hoffnung,  und  unter den  BrahmanensXhnen der
StXdte und DXrfer  war jeder Pilger und Fremdling  willkommen, wenn er Kunde
von ihm, dem Erhabenen, dem Sakyamuni, brachte.
     Auch  zu den Samanas im Walde, auch zu Siddhartha, auch  zu Govinda war
die Sage gedrungen, langsam, in  Tropfen, jeder Tropfen schwer von Hoffnung,
jeder Tropfen schwer von Zweifel. Sie sprachen wenig davon, denn der Xlteste
der  Samanas  war  kein Freund dieser Sage. Er  hatte  vernommen, dass jener
angebliche Buddha vormals Asket gewesen und im Walde  gelebt, sich dann aber
zu Wohlleben  und  Weltlust  zurXckgewendet habe,  und er  hielt nichts  von
diesem Gotama.
     "O Siddhartha", sprach einst  Govinda zu seinem Freunde. "Heute war ich
im  Dorf, und ein Brahmane  lud  mich ein,  in  sein Haus zu treten,  und in
seinem  Hause war  ein  Brahmanensohn aus  Magadha,  dieser hat  mit  seinen
eigenen  Augen den Buddha gesehen  und hat  ihn  lehren  hXren. Wahrlich, da
schmerzte  mich der Atem  in  der Brust, und ich dachte bei mir: MXchte doch
auch ich,  mXchten  doch auch wir beide,  Siddhartha  und  ich,  die  Stunde
erleben, da wir die Lehre aus dem Munde jenes Vollendeten vernehmen! Sprich,
Freund, wollen wir nicht auch dorthin gehen und die  Lehre aus dem Munde des
Buddha anhXren?"
     Sprach Siddhartha: "Immer, o Govinda, hatte ich  gedacht, Govinda wXrde
bei  den  Samanas bleiben, immer  hatte ich  geglaubt,  es  wXre sein  Ziel,
sechzig und  siebzig  Jahre alt zu worden  und immer  weiter die  KXnste und
Xbungen zu treiben, welche den  Samana zieren. Aber  sieh, ich hatte Govinda
zu wenig  gekannt,  wenig  wusste ich von seinem Herzen. Nun also willst du,
Teuerster,  einen  neuen Pfad einschlagen und  dorthin gehen,  wo der Buddha
seine Lehre verkXndet."
     Sprach Govinda: "Dir beliebt es zu spotten. MXgest du immerhin spotten,
Siddhartha!  Ist  aber nicht  auch in dir ein Verlangen, eine Lust  erwacht,
diese Lehre  zu hXren? Und  hast du  nicht  einst zu mir gesagt, nicht lange
mehr werdest du den Weg der Samanas gehen?"
     Da lachte Siddhartha,  auf  seine Weise, wobei  der  Ton  seiner Stimme
einen  Schatten von Trauer und einen Schatten von Spott  annahm, und  sagte:
"Wohl, Govinda, wohl  hast  du  gesprochen, richtig hast  du  dich erinnert.
MXgest  du doch auch des andern dich  erinnern, das du von mir gehXrt  hast,
dass ich nXmlich misstrauisch und  mXde gegen Lehre und Lernen geworden bin,
und dass mein Glaube klein ist an Worte, die von Lehrern zu uns kommen. Aber
wohlan, Lieber, ich bin bereit, jene Lehre zu hXren X obschon ich im  Herzen
glaube, dass wir die beste Frucht jener Lehre schon gekostet haben.
     Sprach Govinda: "Deine Bereitschaft  erfreut mein Herz.  Aber sage, wie
sollte das mXglich sein? Wie sollte die Lehre  des  Gotama, noch ehe wir sie
vernommen, uns schon ihre beste Frucht erschlossen haben?"
     Sprach  Siddhartha: "Lass diese Frucht uns  genieXen  und  das  weitere
abwarten, o  Govinda!  Diese Frucht  aber,  die wir schon jetzt  dem  Gotama
verdanken, besteht darin,  dass er uns von den Samanas hinwegruft! Ob er uns
noch anderes  und Besseres zu geben hat, o Freund,  darauf lass uns  ruhigen
Herzens warten."
     An diesem  selben  Tage  gab Siddhartha dem Xltesten der Samanas seinen
Entschluss zu wissen,  dass er ihn verlassen wollte. Er gab ihn dem Xltesten
zu wissen mit der  HXflichkeit  und Bescheidenheit,  welche dem JXngeren und
SchXler ziemt. Der Samana aber geriet in Zorn, dass die beiden JXnglinge ihn
verlassen wollten, und redete laut und brauchte grobe Schimpfworte.
     Govinda erschrak und kam in  Verlegenheit, Siddhartha  aber neigte  den
Mund zu Govindas Ohr  und flXsterte ihm zu: "Nun  will ich dem Alten zeigen,
dass ich etwas bei ihm gelernt habe."
     Indem er sich  nahe vor dem  Samana aufstellte, mit gesammelter  Seele,
fing er den Blick des Alten  mit seinen Blicken ein, bannte  ihn, machte ihn
stumm,  machte ihn  willenlos,  unterwarf  ihn seinem  Willen,  befahl  ihm,
lautlos zu tun,  was er von  ihm verlangte. Der alte Mann wurde  stumm, sein
Auge wurde starr, sein Wille gelXhmt, seine Arme hingen herab,  machtlos war
er Siddharthas  Bezauberung  erlegen. Siddharthas Gedanken aber bemXchtigten
sich des Samana,  er musste vollfXhren,  was sie befahlen. Und so  verneigte
sich der Alte  mehrmals,  vollzog segnende GebXrden,  sprach stammelnd einen
frommen Reisewunsch. Und die JXnglinge  erwiderten dankend die Verneigungen,
erwiderten den Wunsch, zogen grXend von dannen.
     Unterwegs sagte  Govinda: "O Siddhartha, du hast  bei den Samanas  mehr
gelernt,  als ich  wusste. Es ist schwer, es  ist sehr  schwer, einen  alten
Samana  zu bezaubern.  Wahrlich,  wXrest du dort geblieben,  du hXttest bald
gelernt, auf dem Wasser zu gehen."
     "Ich  begehre nicht, auf dem Wasser zu gehen", sagte Siddhartha. "MXgen
alte Samanas mit solchen KXnsten sich zufrieden geben!"



     In der Stadt Savathi kannte jedes Kind den Namen des Erhabenen  Buddha,
und jedes Haus war gerXstet, den JXngern Gotamas, den schweigend  Bittenden,
die Almosenschale  zu  fXllen.  Nahe  bei  der Stadt  lag  Gotamas  liebster
Aufenthalt, der Hain Jetavana, welchen  der  reiche  Kaufherr Anathapindika,
ein  ergebener  Verehrer des  Erhabenen, ihm und  den  Seinen  zum  Geschenk
gemacht hatte.
     Nach  dieser Gegend hatten  alle ErzXhlungen und Antworten hingewiesen,
welche  den  beiden jungen Asketen auf  der  Suche nach  Gotamas  Aufenthalt
zuteil wurden. Und da  sie in Savathi ankamen,  ward ihnen gleich  im ersten
Hause, vor dessen TXr sie bittend stehen  blieben, Speise angeboten, und sie
nahmen Speise an, und Siddhartha fragte die  Frau,  welche  ihnen die Speise
reichte:
     "Gerne, du MildtXtige, gerne mXchten wir erfahren, wo der Buddha weilt,
der EhrwXrdigste,  denn  wir sind  zwei Samanas  aus  dem  Walde,  und  sind
gekommen, um ihn,  den Vollendeten, zu sehen und die Lehre  aus seinem Munde
zu vernehmen."
     Sprach die Frau: "Am richtigen Orte wahrlich seid ihr hier abgestiegen,
ihr Samanas  aus dem Walde. Wisset,  in Jetavana, im  Garten Anathapindikas,
weilt der Erhabene. Dort mXget ihr, Pilger, die Nacht verbringen, denn genug
Raum ist daselbst fXr die UnzXhligen, die herbeistrXmen, um aus seinem Munde
die Lehre zu hXren."
     Da freute  sich Govinda, und  voll Freude  rief er: "Wohl denn,  so ist
unser Ziel erreicht  und unser Weg  zu Ende! Aber sage  uns, du  Mutter  der
Pilgernden,  kennst  du  ihn,  den  Buddha, hast  du  ihn  mit deinen  Augen
gesehen?"
     Sprach die Frau: "Viele Male habe  ich  ihn gesehen,  den Erhabenen. An
vielen Tagen habe ich ihn gesehen, wie er durch die Gassen geht, schweigend,
im gelben  Mantel, wie  er schweigend an den  HaustXren  seine Almosenschale
darreicht, wie er die gefXllte Schale von dannen trXgt."
     EntzXckt lauschte Govinda und wollte noch vieles fragen und hXren. Aber
Siddhartha mahnte zum Weitergehen.  Sie sagten Dank und gingen und brauchten
kaum nach dem Wege zu  fragen,  denn nicht wenige Pilger und auch MXnche aus
Gotamas Gemeinschaft waren nach  dem Jetavana  unterwegs. Und da  sie in der
Nacht dort anlangten, war daselbst ein bestXndiges Ankommen, Rufen und Reden
von solchen, welche Herberge heischten und bekamen. Die  beiden Samanas, des
Lebens im Walde gewohnt, fanden  schnell  und gerXuschlos einen Unterschlupf
und ruhten da bis zum Morgen.
     Beim  Aufgang der  Sonne  sahen  sie  mit Erstaunen, welch groXe Schar,
GlXubige  und  Neugierige,  hier  genXchtigt   hatte.  In  allen  Wegen  des
herrlichen Haines wandelten MXnche im gelben Gewand, unter den  BXumen saXen
sie hier und dort, in Betrachtung versenkt  X oder im geistlichen  GesprXch,
wie eine  Stadt  waren die  schattigen GXrten zu sehen, voll  von  Menschen,
wimmelnd wie Bienen. Die Mehrzahl der MXnche zog mit der AImosenschale  aus,
um in der Stadt Nahrung fXr die  Mittagsmahlzeit, die einzige des  Tages, zu
sammeln.  Auch  der  Buddha selbst, der  Erleuchtete, pflegte am  Morgen den
Bettelgang zu tun.
     Siddhartha sah ihn, und er erkannte ihn alsbald, als hXtte ihm ein Gott
ihn  gezeigt.  Er  sah  ihn, einen  schlichten  Mann in  gelber  Kutte,  die
Almosenschale in der Hand tragend, still dahin gehen.
     "Sieh  hier!" sagte  Siddhartha leise zu Govinda. "Dieser hier ist  der
Buddha."
     Aufmerksam blickte Govinda  den MXnch  in der gelben Kutte an, der sich
in nichts von den Hunderten  der MXnche zu  unterscheiden schien.  Und  bald
erkannte  auch  Govinda:  Dieser  ist es.  Und  sie  folgten  ihm  nach  und
betrachteten ihn.
     Der Buddha ging seines Weges bescheiden und in Gedanken versunken, sein
stilles Gesicht war  weder frXhlich noch traurig, es schien leise nach innen
zu lXcheln.  Mit einem  verborgenen  LXcheln, still, ruhig,  einem  gesunden
Kinde nicht unXhnlich, wandelte  der Buddha, trug das Gewand  und setzte den
FuX gleich wie alle seine MXnche, nach genauer Vorschrift. Aber sein Gesicht
und sein  Schritt,  sein still gesenkter  Blick,  seine still  herabhXngende
Hand, und  noch  jeder Finger  an  seiner still  herabhXngenden  Hand sprach
Friede, sprach Vollkommenheit, suchte nicht, ahmte  nicht nach, atmete sanft
in  einer  unverwelklichen  Ruhe,  in  einem  unverwelklichen  Licht,  einem
unantastbaren Frieden.
     So  wandelte Gotama, der Stadt entgegen, um Almosen zu sammeln, und die
beiden Samanas erkannten ihn  einzig  an der Vollkommenheit  seiner Ruhe, an
der  Stille  seiner Gestalt,  in  welcher  kein  Suchen,  kein Wollen,  kein
Nachahmen,  kein BemXhen  zu  erkennen war,  nur  Licht und  Frieden. "Heute
werden wir die Lehre aus seinem Munde vernehmen," sagte Govinda.
     Siddhartha gab nicht Antwort.  Er war wenig neugierig auf die Lehre, er
glaubte  nicht, dass sie ihn  Neues lehren werde, hatte  er doch, ebenso wie
Govinda, wieder  und wieder  den  Inhalt dieser Buddhalehre  vernommen, wenn
schon aus Berichten von zweiter und dritter Hand. Aber er blickte aufmerksam
auf  Gotamas  Haupt,  auf seine Schultern, auf seine  FXe, auf seine  still
herabhXngende Hand,  und ihm schien, jedes Glied an jedem Finger dieser Hand
war Lehre,  sprach, atmete,  duftete, glXnzte Wahrheit. Dieser  Mann, dieser
Buddha,  war  wahrhaftig bis in die  GebXrde seines  letzten Fingers. Dieser
Mann  war heilig. Nie hatte Siddhartha einen Menschen so verehrt,  nie hatte
er einen Menschen so geliebt wie diesen.
     Die  beiden  folgten  dem Buddha  bis zur Stadt und kehrten  schweigend
zurXck, denn sie selbst gedachten  diesen Tag sich der Speise  zu enthalten.
Sie  sahen  Gotama  wiederkehren,  sahen  ihn  im  Kreise seiner JXnger  die
Mahlzeit einnehmen X was er aX, hXtte keinen Vogel satt gemacht -- und sahen
ihn sich zurXckziehen in den Schatten der MangobXume.
     Am Abend aber, als  die  Hitze  sich legte und alles im Lager  lebendig
ward und  sich versammelte,  hXrten sie den  Buddha lehren. Sie hXrten seine
Stimme, und auch sie war vollkommen, war von vollkommener Ruhe, war voll von
Frieden. Gotama lehrte  die Lehre vom Leiden, von der Herkunft des  Leidens,
vom Weg zur Aufhebung  des Leidens. Ruhig floss und klar seine  stille Rede.
Leiden war das  Leben,  voll Leid war die  Welt, aber ErlXsung vom  Leid war
gefunden: ErlXsung fand,  wer den Weg  des Buddha  ging.  Mit  sanfter, doch
fester  Stimme  sprach der Erhabene, lehrte  die vier HauptsXtze, lehrte den
achtfachen  Pfad,  geduldig  ging  er  den  gewohnten  Weg  der  Lehre,  der
Beispiele, der Wiederholungen, hell und still schwebte seine Stimme Xber den
HXrenden, wie ein Licht, wie ein Sternhimmel.
     Als der  Buddha X  es  war schon Nacht geworden X  seine Rede  schloss,
traten  manche Pilger hervor  und  baten  um  Aufnahme in  die Gemeinschaft,
nahmen ihre  Zuflucht zur Lehre. Und Gotama nahm sie  auf,  indem er sprach:
"Wohl habt ihr die Lehre  vernommen, wohl  ist  sie verkXndigt.  Tretet denn
herzu und wandelt in Heiligkeit, allem Leid ein Ende zu bereiten."
     Siehe, da trat  auch Govinda hervor, der SchXchterne, und sprach: "Auch
ich  nehme  meine  Zuflucht zum  Erhabenen und  zu seiner Lehre," und bat um
Aufnahme in die JXngerschaft, und ward aufgenommen.
     Gleich  darauf, da  sich der Buddha zur Nachtruhe  zurXckgezogen hatte,
wendete  sich Govinda zu  Siddhartha und  sprach  eifrig: "Siddhartha, nicht
steht es mir zu, dir einen Vorwurf zu machen. Beide haben wir den  Erhabenen
gehXrt, beide haben wir die Lehre vernommen.  Govinda hat die  Lehre gehXrt,
er hat seine Zuflucht zu ihr genommen. Du aber, Verehrter, willst denn nicht
auch  du den  Pfad  der  ErlXsung gehen?  Willst  du zXgern,  willst du noch
warten?"
     Siddhartha  erwachte  wie  aus  einem  Schlafe,  als er Govindas  Worte
vernahm.  Lange blickte er in  Govindas  Gesicht.  Dann sprach er leise, mit
einer  Stimme ohne Spott:  "Govinda, mein Freund, nun  hast du  den  Schritt
getan, nun hast du den Weg  erwXhlt. Immer, o Govinda,  bist du mein  Freund
gewesen, immer bist  du einen  Schritt  hinter mir gegangen.  Oft  habe  ich
gedacht: Wird Govinda nicht auch einmal einen Schritt allein tun, ohne mich,
aus  der eigenen  Seele?  Siehe, nun  bist du ein Mann  geworden und  wXhlst
selber deinen  Weg. MXgest du ihn  zu  Ende gehen,  o mein Freund! MXgest du
ErlXsung finden!"
     Govinda, welcher noch nicht vXllig  verstand, wiederholte mit einem Ton
von Ungeduld  seine  Frage: "Sprich doch, ich  bitte dich, mein Lieber! Sage
mir, wie es ja nicht anders sein kann, dass auch du,  mein gelehrter Freund,
deine Zuflucht zum erhabenen Buddha nehmen wirst!"
     Siddhartha legte seine Hand auf die Schulter Govindas: "Du hast  meinen
Segenswunsch XberhXrt, o Govinda. Ich wiederhole ihn:  MXgest du diesen  Weg
zu Ende gehen! MXgest du ErlXsung finden!"
     In diesem Augenblick  erkannte Govinda, dass  sein Freund ihn verlassen
habe, und er begann zu weinen.
     "Siddhartha!" rief er klagend.
     Siddhartha sprach freundlich zu ihm: "Vergiss nicht, Govinda,  dass  du
nun zu den  Samanas  des Buddha gehXrst! Abgesagt hast du Heimat und Eltern,
abgesagt Herkunft und Eigentum, abgesagt deinem eigenen Willen, abgesagt der
Freundschaft.  So will es die  Lehre,  so will es  der  Erhabene. So hast du
selbst es gewollt. Morgen, o Govinda, werde ich dich verlassen."
     Lange noch wandelten die Freunde im GehXlz,  lange lagen sie und fanden
nicht den Schlaf. Und immer  von  neuem  drang Govinda in seinen Freund,  er
mXge ihm sagen, warum er nicht seine Zuflucht zu Gotamas Lehre nehmen wolle,
welchen Fehler  denn  er in dieser  Lehre finde. Siddhartha  aber  wies  ihn
jedesmal zurXck und sagte: "Gib  dich zufrieden,  Govinda! Sehr  gut ist des
Erhabenen Lehre, wie sollte ich einen Fehler an ihr finden?"
     Am frXhesten Morgen ging ein Nachfolger Buddhas, einer  seiner Xltesten
MXnche, durch den Garten und rief  alle jene  zu sich,  welche als  Neulinge
ihre Zuflucht zur Lehre genommen hatten, um ihnen das gelbe Gewand anzulegen
und sie in den ersten Lehren  und Pflichten ihres Standes zu unterweisen. Da
riss  Govinda  sich  los, umarmte  noch einmal den Freund seiner  Jugend und
schloss sich dem Zuge der Novizen an.
     Siddhartha aber wandelte in Gedanken durch den Hain.
     Da begegnete  ihm Gotama,  der Erhabene,  und als er  ihn mit Ehrfurcht
begrXte  und der Blick des Buddha so voll  GXte und  Stille war, fasste der
JXngling  Mut  und bat den EhrwXrdigen  um  Erlaubnis, zu ihm  zu  sprechen.
Schweigend nickte der Erhabene GewXhrung.
     Sprach Siddhartha:  "Gestern, o Erhabener, war  es  mir vergXnnt, deine
wundersame Lehre zu hXren. Zusammen mit meinem Freunde kam ich aus der Ferne
her, um die Lehre zu hXren. Und nun wird mein Freund bei den Deinen bleiben,
zu  dir hat er  seine  Zuflucht genommen. Ich aber  trete meine Pilgerschaft
aufs neue an."
     "Wie es dir beliebt", sprach der EhrwXrdige hXflich.
     "Allzu kXhn ist meine Rede," fuhr Siddhartha fort, "aber ich mXchte den
Erhabenen  nicht  verlassen,  ohne  ihm  meine  Gedanken  in  Aufrichtigkeit
mitgeteilt zu  haben. Will  mir der EhrwXrdige noch  einen Augenblick  GehXr
schenken?"
     Schweigend nickte der Buddha GewXhrung.
     Sprach Siddhartha: "Eines,  o EhrwXrdigster,  habe  ich an deiner Lehre
vor allem  bewundert.  Alles  in  deiner  Lehre  ist  vollkommen  klar,  ist
bewiesen;  als  eine vollkommene,  als eine nie  und  nirgends unterbrochene
Kette  zeigst du  die  Welt als  eine ewige Kette, gefXgt  aus Ursachen  und
Wirkungen.   Niemals  ist  dies  so  klar  gesehen,  nie  so  unwiderleglich
dargestellt worden; hXher wahrlich muss jedem  Brahmanen  das Herz  im Leibe
schlagen,  wenn er,  durch  deine  Lehre  hindurch, die  Welt  erblickt  als
vollkommenen Zusammenhang,  lXckenlos, klar  wie  ein  Kristall,  nicht  vom
Zufall  abhXngig, nicht von  GXttern abhXngig.  Ob sie gut oder bXse, ob das
Leben in  ihr  Leid oder  Freude sei, mXge  dahingestellt  bleiben,  es  mag
vielleicht sein, dass dies nicht wesentlich ist X aber die Einheit der Welt,
der  Zusammenhang  alles Geschehens,  das  Umschlossensein  alles GroXen und
Kleinen  vom selben Strome, vom selben  Gesetz der Ursachen, des Werdens und
des Sterbens, dies leuchtet hell aus deiner erhabenen  Lehre, o Vollendeter.
Nun aber ist, deiner  selben  Lehre nach, diese Einheit und Folgerichtigkeit
aller Dinge  dennoch an einer Stelle unterbrochen, durch eine  kleine  LXcke
strXmt in  diese  Welt  der  Einheit etwas Fremdes, etwas  Neues, etwas, das
vorher nicht  war, und das nicht gezeigt und nicht bewiesen werden kann: das
ist deine Lehre von der Xberwindung der  Welt, von der ErlXsung.  Mit dieser
kleinen LXcke, mit dieser kleinen Durchbrechung aber ist das ganze ewige und
einheitliche  Weltgesetz  wieder  zerbrochen  und aufgehoben. MXgest  du mir
verzeihen, wenn ich diesen Einwand ausspreche."
     Still  hatte Gotama  ihm zugehXrt, unbewegt.  Mit  seiner  gXtigen, mit
seiner hXflichen  und klaren Stimme sprach er nun, der Vollendete: "Du  hast
die Lehre  gehXrt, o Brahmanensohn, und wohl dir, dass  du Xber sie so  tief
nachgedacht hast. Du  hast eine  LXcke in ihr gefunden, einen Fehler. MXgest
du  weiter darXber nachdenken. Lass dich aber warnen, du Wissbegieriger, vor
dem Dickicht der  Meinungen und vor dem Streit um Worte. Es ist an Meinungen
nichts gelegen, sie mXgen schXn oder hXlich, klug  oder tXricht sein, jeder
kann ihnen anhXngen  oder sie  verwerfen. Die  Lehre aber,  die  du  von mir
gehXrt hast,  ist nicht eine Meinung,  und ihr Ziel ist nicht, die  Welt fXr
Wissbegierige zu  erklXren. Ihr  Ziel ist ein anderes; ihr Ziel ist ErlXsung
vom Leiden. Diese ist es, welche Gotama lehrt, nichts anderes."
     "MXgest du mir, o Erhabener, nicht zXrnen",  sagte der JXngling. "Nicht
um Streit mit dir zu suchen, Streit um Worte, habe ich so zu dir gesprochen.
Du hast wahrlich recht, wenig ist an Meinungen gelegen.  Aber lass mich dies
eine noch sagen: Nicht einen Augenblick habe ich an dir gezweifelt. Ich habe
nicht  einen Augenblick gezweifelt, dass du Buddha  bist,  dass du das  Ziel
erreicht  hast,  das hXchste,  nach  welchem  so  viel tausend Brahmanen und
BrahmanensXhne unterwegs sind. Du hast die ErlXsung,vom  Tode  gefunden. Sie
ist dir geworden aus deinem eigenen  Suchen, auf deinem eigenen Wege,  durch
Gedanken,  durch Versenkung, durch Erkenntnis,  durch Erleuchtung. Nicht ist
sie  dir  geworden durch Lehre! Und  X  so ist  mein Gedanke, o  Erhabener X
keinem wird ErlXsung zu teil durch Lehre! Keinem, o EhrwXrdiger, wirst du in
Worten und durch Lehre mitteilen und  sagen kXnnen, was dir geschehen ist in
der  Stunde deiner Erleuchtung! Vieles enthXlt die  Lehre  des  erleuchteten
Buddha, viele lehrt sie, rechtschaffen zu leben, BXses zu meiden. Eines aber
enthXlt  die so klare, die  so ehrwXrdige Lehre nicht: sie enthXlt nicht das
Geheimnis dessen, was der Erhabene selbst erlebt  hat,  er  allein unter den
Hunderttausenden. Dies ist es, was ich gedacht und erkannt habe, als ich die
Lehre  hXrte. Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze X nicht
um eine andere, eine  bessere Lehre zu suchen, denn ich weiX, es gibt keine,
sondern um alle  Lehren und alle Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu
erreichen oder  zu sterben.  Oftmals aber werde ich  dieses Tages denken,  o
Erhabener, und dieser Stunde, da meine Augen einen Heiligen sahen."
     Die  Augen des  Buddha  blickten still zu Boden,  still in vollkommenem
Gleichmut strahlte sein unerforschliches Gesicht.
     "MXgen deine Gedanken,"  sprach der EhrwXrdige langsam, "keine IrrtXmer
sein! MXgest du ans  Ziel kommen!  Aber sage mir: Hast du  die  Schar meiner
Samanas  gesehen, meiner  vielen  BrXder,  welche  ihre  Zuflucht  zur Lehre
genommen haben? Und glaubst du, fremder Samana, glaubst  du,  dass es diesen
allen besser wXre,  die Lehre zu verlassen und in das Leben der Welt und der
LXste zurXckzukehren?"
     "Fern  ist ein solcher  Gedanke  von mir", rief Siddhartha. "MXgen  sie
alle bei der  Lehre bleiben, mXgen  sie ihr Ziel  erreichen! Nicht steht mir
zu, Xber eines andern Leben  zu urteilen. Einzig  fXr mich,  fXr mich allein
muss ich urteilen,  muss ich  wXhlen, muss ich  ablehnen.  ErlXsung vom  Ich
suchen  wir  Samanas, o  Erhabener.  WXre  ich nun  einer  deiner JXnger,  o
EhrwXrdiger,  so  fXrchte ich, es  mXchte mir geschehen, dass nur scheinbar,
nur  trXgerisch mein  Ich  zur Ruhe kXme  und erlXst wXrde,  dass es aber in
Wahrheit weiterlebte und  groX wXrde,  denn ich hXtte dann die  Lehre, hXtte
meine Nachfolge, hXtte meine Liebe zu dir, hXtte die Gemeinschaft der MXnche
zu meinem Ich gemacht!"
     Mit halbem LXcheln, mit  einer unerschXtterten Helle und Freundlichkeit
sah  Gotama  dem Fremdling  ins  Auge und verabschiedete ihn mit  einer kaum
sichtbaren GebXrde.
     "Klug bist du, o  Samana",  sprach  der EhrwXrdige. "Klug weiXt  du  zu
reden, mein Freund. HXte dich vor allzu groXer Klugheit!"
     Hinweg wandelte der Buddha, und sein Blick und halbes LXcheln blieb fXr
immer in Siddharthas GedXchtnis eingegraben.
     So  habe  ich  noch  keinen  Menschen blicken und  lXcheln, sitzen  und
schreiten  sehen,  dachte  er,  so  wahrlich  wXnsche  auch ich blicken  und
lXcheln,  sitzen  und  schreiten  zu  kXnnen,  so  frei,  so  ehrwXrdig,  so
verborgen, so offen, so kindlich und  geheimnisvoll. So wahrlich blickt  und
schreitet nur  der  Mensch,  der  ins Innerste  seines Selbst gedrungen ist.
Wohl, auch ich werde ins Innerste meines Selbst zu dringen suchen.
     Einen Menschen sah ich, dachte Siddhartha, einen einzigen,  vor dem ich
meine Augen  niederschlagen musste.  Vor keinem andern  mehr will ich  meine
Augen niederschlagen, vor keinem mehr. Keine Lehre mehr wird mich verlocken,
da dieses Menschen Lehre mich nicht verlockt hat.
     Beraubt hat  mich  der Buddha, dachte Siddhartha,  beraubt hat er mich,
und mehr noch hat er  mich  beschenkt.  Beraubt hat er mich meines Freundes,
dessen, der an mich glaubte und der nun an ihn glaubt, der mein Schatten war
und nun  Gotamas  Schatten ist. Geschenkt  aber hat  er mir Siddhartha, mich
selbst.



     Als Siddhartha den Hain verlieX, in welchem der Buddha, der Vollendete,
zurXckblieb, in welchem Govinda zurXckblieb,  da fXhlte er,  dass  in diesem
Hain auch  sein bisheriges  Leben  hinter ihm zurXckblieb und sich  von  ihm
trennte.  Dieser Empfindung,  die ihn ganz erfXllte,  sann  er  im langsamen
Dahingehen nach. Tief sann er nach, wie durch ein tiefes Wasser lieX er sich
bis auf den Boden dieser Empfindung hinab, bis dahin, wo die Ursachen ruhen,
denn Ursachen erkennen, so  schien  ihm, das eben  ist Denken,  und  dadurch
allein  werden  Empfindungen  zu  Erkenntnissen  und  gehen  nicht verloren,
sondern werden wesenhaft und beginnen auszustrahlen, was in ihnen ist.
     Im langsamen Dahingehen dachte  Siddhartha nach. Er stellte  fest, dass
er kein JXngling mehr, sondern ein Mann geworden sei. Er  stellte fest, dass
eines  ihn verlassen hatte, wie die Schlange  von ihrer alten Haut verlassen
wird, dass eines  nicht  mehr  in ihm  vorhanden war, das durch  seine ganze
Jugend  ihn begleitet und zu ihm  gehXrt hatte: der Wunsch,  Lehrer zu haben
und Lehren zu hXren.  Den letzten Lehrer, der an seinem Wege ihm  erschienen
war, auch  ihn,  den hXchsten und weisesten Lehrer, den  Heiligsten, Buddha,
hatte er verlassen,  hatte sich von  ihm trennen  mXssen, hatte seine  Lehre
nicht annehmen kXnnen.
     Langsamer ging der Denkende dahin und fragte  sich selbst: "Was nun ist
es aber,  das du  aus Lehren und von Lehrern hattest  lernen wollen, und was
sie,  die  dich viel gelehrt haben, dich doch nicht lehren konnten?"  Und er
fand: "Das Ich war es, dessen Sinn und Wesen ich  lernen wollte. Das Ich war
es, von  dem  ich loskommen, das ich Xberwinden  wollte. Ich konnte  es aber
nicht Xberwinden, konnte es nur tXuschen, konnte  nur vor ihm fliehen,  mich
nur vor  ihm verstecken. Wahrlich,  kein  Ding in der Welt hat so viel meine
Gedanken beschXftigt wie dieses mein Ich,  dies RXtsel,  dass ich lebe, dass
ich  einer und  von  allen andern  getrennt und  abgesondert bin,  dass  ich
Siddhartha bin! Und  Xber kein Ding in der  Welt weiX  ich weniger  als Xber
mich, Xber Siddhartha!"
     Der im langsamen Dahingehen Denkende blieb stehen,  von diesem Gedanken
erfasst,  und alsbald sprang  aus  diesem Gedanken  ein anderer hervor,  ein
neuer Gedanke, der  lautete: "Dass ich  nichts von mir weiX, dass Siddhartha
mir so fremd und unbekannt geblieben ist, das kommt aus einer Ursache, einer
einzigen: Ich hatte  Angst  vor mir, ich war auf  der Flucht vor mir!  Atman
suchte ich,  Brahman suchte ich, ich war gewillt, mein Ich zu zerstXcken und
auseinander  zu  schXlen,  um in seinem unbekannten Innersten den Kern aller
Schalen zu  finden, den  Atman,  das Leben,  das GXttliche, das Letzte.  Ich
selbst aber ging mir dabei verloren."
     Siddhartha schlug die Augen auf und sah  um  sich, ein LXcheln erfXllte
sein  Gesicht,  und  ein tiefes  GefXhl  von  Erwachen  aus  langen  TrXumen
durchstrXmte ihn bis  in die Zehen. Und  alsbald lief er wieder, lief rasch,
wie ein Mann, welcher weiX, was er zu tun hat.
     "Oh", dachte  er aufatmend mit tiefem Atemzug,  "nun  will ich mir  den
Siddhartha nicht mehr  entschlXpfen  lassen! Nicht mehr will ich mein Denken
und mein Leben beginnen  mit  Atman und mit dem Leid der Welt. Ich will mich
nicht  mehr  tXten  und zerstXcken, um  hinter den TrXmmern ein Geheimnis zu
finden. Nicht  Yoga-Veda mehr soll mich  lehren, noch Atharva-Veda, noch die
Asketen, noch irgendwelche Lehre. Bei mir selbst  will  ich lernen, will ich
SchXler sein, will ich mich kennen lernen, das Geheimnis Siddhartha."
     Er blickte um sich, als sXhe er zum ersten Male die Welt. SchXn war die
Welt, bunt war die Welt, seltsam und rXtselhaft war die Welt! Hier war Blau,
hier war Gelb, hier war  GrXn,  Himmel  floss  und  Fluss, Wald starrte  und
Gebirg,  alles  schXn,  alles  rXtselvoll  und  magisch,  und  inmitten  er,
Siddhartha, der Erwachende, auf  dem  Wege zu sich selbst. All  dieses,  all
dies Gelb und  Blau,  Fluss  und  Wald,  ging zum erstenmal  durchs Auge  in
Siddhartha ein, war nicht mehr Zauber Maras, war nicht mehr der Schleier der
Maya, war  nicht mehr sinnlose  und zufXllige Vielfalt der Erscheinungswelt,
verXchtlich  dem tief denkenden  Brahmanen, der die Vielfalt verschmXht, der
die Einheit sucht. Blau war Blau, Fluss war Fluss, und wenn auch im Blau und
Fluss in Siddhartha das Eine  und GXttliche verborgen lebte, so war es  doch
eben  des GXttlichen Art  und Sinn, hier Gelb, hier Blau, dort  Himmel, dort
Wald und hier Siddhartha zu sein.  Sinn und Wesen  war nicht irgendwo hinter
den Dingen, sie waren in ihnen, in allem.
     "Wie  bin  ich  taub  und  stumpf  gewesen!"  dachte  der  rasch  dahin
Wandelnde. "Wenn  einer eine  Schrift liest, deren  Sinn er suchen will,  so
verachtet  er  nicht die  Zeichen und Buchstaben  und nennt  sie  TXuschung,
Zufall und wertlose Schale, sondern er liest sie, er studiert und liebt sie,
Buchstabe  um Buchstabe. Ich aber, der ich das Buch der Welt  und  das  Buch
meines eigenen Wesens  lesen wollte, ich  habe, einem  im  voraus vermuteten
Sinn zuliebe, die Zeichen und Buchstaben verachtet,  ich nannte die Welt der
Erscheinungen  TXuschung, nannte  mein Auge  und  meine Zunge zufXllige  und
wertlose Erscheinungen. Nein, dies ist vorXber, ich bin erwacht, ich bin  in
der Tat erwacht und heute erst geboren."
     Indem  Siddhartha  diesen  Gedanken  dachte, blieb  er abermals stehen,
plXtzlich, als lXge eine Schlange vor ihm auf dem Weg.
     Denn plXtzlich war auch dies ihm klar geworden: Er, der in  der Tat wie
ein Erwachter oder Neugeborener war, er musste sein Leben neu und vXllig von
vorn  beginnen. Als er an diesem selben Morgen den  Hain Jetavana,  den Hain
jenes Erhabenen, verlassen hatte,  schon  erwachend, schon auf  dem Wege  zu
sich selbst,  da war es  seine  Absicht gewesen  und  war  ihm natXrlich und
selbstverstXndlich erschienen,  dass er, nach den Jahren seines Asketentums,
in seine Heimat  und zu seinem Vater zurXckkehre. Jetzt aber, erst in diesem
Augenblick,  da  er  stehen blieb, als  lXge eine Schlange  auf seinem Wege,
erwachte er auch zu dieser  Einsicht: "Ich bin ja  nicht  mehr, der ich war,
ich bin nicht mehr  Asket, ich bin nicht mehr Priester, ich bin  nicht  mehr
Brahmane.  Was denn soll  ich zu Hause und bei meinem  Vater tun? Studieren?
Opfern? Die Versenkung pflegen? Dies alles ist ja vorXber, dies  alles liegt
nicht mehr an meinem Wege."
     Regungslos  blieb  Siddhartha stehen, und einen Augenblick und  Atemzug
lang fror sein Herz, er fXhlte es in der Brust innen frieren wie ein kleines
Tier, einen Vogel oder einen Hasen, als er sah, wie allein er sei. Jahrelang
war er heimatlos gewesen und hatte es nicht gefXhlt. Nun fXhlte er es. Immer
noch, auch in der fernsten  Versenkung,  war er  seines Vaters Sohn gewesen,
war Brahmane gewesen, hohen Standes, ein  Geistiger.  Jetzt war  er nur noch
Siddhartha, der Erwachte,  sonst  nichts mehr. Tief sog er den Atem ein, und
einen Augenblick fror er und schauderte. Niemand war so  allein wie er. Kein
Adliger,  der  nicht zu den  Adligen,  kein  Handwerker, der  nicht  zu  den
Handwerkern  gehXrte  und Zuflucht bei ihnen  fand,  ihr  Leben teilte, ihre
Sprache  sprach.  Kein Brahmane, der nicht  zu den Brahmanen  zXhlte und mit
ihnen lebte, kein  Asket,  der nicht  im  Stande der  Samanas seine Zuflucht
fand,  und auch der  verlorenste  Einsiedler im Walde  war  nicht  einer und
allein, auch  ihn umgab ZugehXrigkeit, auch er gehXrte einem Stande an,  der
ihm Heimat war.  Govinda war MXnch  geworden, und tausend MXnche waren seine
BrXder,  trugen sein Kleid, glaubten seinen Glauben, sprachen seine Sprache.
Er  aber,  Siddhartha, wo  war  er zugehXrig? Wessen Leben wXrde  er teilen?
Wessen Sprache wXrde er sprechen?
     Aus  diesem Augenblick,  wo die Welt rings  von  ihm wegschmolz, wo  er
allein stand wie ein Stern am Himmel, aus diesem Augenblick  einer KXlte und
Verzagtheit tauchte Siddhartha empor, mehr Ich als zuvor, fester geballt. Er
fXhlte:  Dies  war  der  letzte  Schauder  des Erwachens gewesen, der letzte
Krampf  der Geburt.  Und alsbald schritt er  wieder  aus, begann  rasch  und
ungeduldig zu gehen, nicht mehr nach Hause, nicht mehr zum Vater, nicht mehr
zurXck.



     ZWEITER TEILXWilhelm Gundert
     meinem Vetter in Japan gewidmet



     Siddhartha lernte Neues  auf jedem Schritt  seines Weges, denn die Welt
war  verwandelt,  und  sein Herz  war  bezaubert.  Er sah  die  Sonne  Xberm
Waldgebirge  aufgehen und  Xberm fernen  Palmenstrande  untergehen.  Er  sah
nachts am Himmel  die  Sterne geordnet,  und den Sichelmond wie ein  Boot im
Blauen schwimmend. Er sah BXume, Sterne, Tiere,  Wolken, Regenbogen, Felsen,
KrXuter, Blumen,  Bach und Fluss, Taublitz im morgendIichen GestrXuch, ferne
hohe Berge blau und bleich,  VXgel  sangen und Bienen, Wind wehte silbern im
Reisfelde.  Dies alles,  tausendfalt und  bunt,  war immer  dagewesen, immer
hatten Sonne und Mond geschienen, immer FlXsse gerauscht und Bienen gesummt,
aber es war  in den frXheren Zeiten fXr Siddhartha dies alles nichts gewesen
als ein flXchtiger und trXgerischer Schleier vor seinem Auge, mit Misstrauen
betrachtet,  dazu  bestimmt,  vom  Gedanken durchdrungen  und vernichtet  zu
werden, da es nicht Wesen war,  da das Wesen jenseits der  Sichtbarkeit lag.
Nun aber  weilte sein  befreites  Auge diesseits, es sah  und  erkannte  die
Sichtbarkeit,  suchte Heimat in dieser  Welt, suchte nicht das Wesen, zielte
in kein Jenseits. SchXn war die  Welt, wenn man sie so betrachtete,  so ohne
Suchen, so einfach, so  kinderhaft.  SchXn war  Mond und Gestirn, schXn  war
Bach und  Ufer, Wald und Fels, Ziege und GoldkXfer, Blume und Schmetterling.
SchXn  und lieblich  war es,  so durch die Welt  zu gehen,  so kindlich,  so
erwacht, so dem Nahen aufgetan, so ohne Misstrauen. Anders brannte die Sonne
aufs  Haupt,  anders  kXhlte  der Waldschatten,  anders  schmeckte Bach  und
Zisterne,  anders KXrbis und  Banane. Kurz waren  die Tage, kurz die NXchte,
jede Stunde floh schnell  hinweg wie ein Segel auf  dem Meere,  unterm Segel
ein Schiff voll von SchXtzen, voll von Freuden. Siddhartha sah ein Affenvolk
im hohen  WaldgewXlbe wandern,  hoch im  GeXst,  und  hXrte  seinen  wilden,
gierigen  Gesang.  Siddhartha sah einen  Schafbock ein  Schaf verfolgen  und
begatten.  Er sah in einem Schilfsee den Hecht im Abendhunger jagen, vor ihm
her  schnellten  angstvoll,  flatternd  und  blitzend die jungen  Fische  in
Scharen aus  dem  Wasser, Kraft und  Leidenschaft duftete  dringlich aus den
hastigen Wasserwirbeln, die der ungestXm Jagende zog.
     All dieses war immer gewesen,  und er  hatte es nicht  gesehen;  er war
nicht dabei gewesen.  Jetzt war er dabei,  er gehXrte dazu. Durch  sein Auge
lief Licht und Schatten, durch sein Herz lief Stern und Mond.
     Siddhartha erinnerte sich unterwegs auch alles dessen, was er im Garten
Jetavana erlebt hatte, der Lehre, die er dort gehXrt, des gXttlichen Buddha,
des Abschiedes von Govinda, des GesprXches mit dem Erhabenen. Seiner eigenen
Worte,  die  er zum Erhabenen gesprochen  hatte, erinnerte er  sich  wieder,
jedes  Wortes, und  mit Erstaunen wurde  er  dessen  inne, dass er  da Dinge
gesagt hatte,  die er  damals noch gar nicht  eigentlich wusste. Was  er  zu
Gotama gesagt  hatte: sein, des Buddha, Schatz  und Geheimnis sei nicht  die
Lehre, sondern das  Unaussprechliche  und nicht  Lehrbare, das er einst  zur
Stunde seiner Erleuchtung erlebt habe X dies war es ja eben, was  zu erleben
er jetzt auszog, was zu erleben er jetzt begann. Sich selbst musste er jetzt
erleben. Wohl hatte er schon  lange gewusst, dass sein Selbst Atman sei, vom
selben ewigen  Wesen  wie Brahman. Aber  nie hatte  er  dies Selbst wirklich
gefunden, weil er es  mit dem Netz  des  Gedankens hatte  fangen wollen. War
auch gewiss der KXrper nicht  das Selbst,  und nicht das Spiel der Sinne, so
war es  doch auch das Denken nicht, nicht der  Verstand, nicht die  erlernte
Weisheit,  nicht  die  erlernte  Kunst,  SchlXsse  zu ziehen und  aus  schon
Gedachtem neue Gedanken  zu spinnen. Nein,  auch diese Gedankenwelt war noch
diesseits,  und es fXhrte zu keinem Ziele,  wenn man das  zufXllige Ich  der
Sinne tXtete, dafXr aber das zufXllige Ich der Gedanken  und Gelehrsamkeiten
mXstete. Beide,  die Gedanken  wie  die Sinne,  waren  hXbsche Dinge, hinter
beiden lag der letzte Sinn verborgen, beide galt es zu  hXren, mit beiden zu
spielen, beide weder  zu verachten  noch  zu XberschXtzen,  aus  beiden  die
geheimen  Stimmen  des  Innersten  zu  erlauschen.  Nach  nichts  wollte  er
trachten,  als  wonach  die  Stimme  ihm  zu  trachten  befXhle,  bei nichts
verweilen, als wo die Stimme es riete. Warum war Gotama einst, in der Stunde
der Stunden, unter dem Bo-Baume niedergesessen, wo die Erleuchtung ihn traf?
Er hatte eine Stimme gehXrt, eine Stimme  im eigenen Herzen, die ihm befahl,
unter diesem Baume Rast zu  suchen, und er hatte nicht Kasteiung, Opfer, Bad
oder Gebet, nicht Essen noch Trinken, nicht Schlaf noch Traum vorgezogen, er
hatte der  Stimme gehorcht. So  zu gehorchen,  nicht XuXerm  Befehl, nur der
Stimme, so bereit  zu sein, das war  gut, das  war notwendig, nichts anderes
war notwendig.
     In der Nacht, da er  in der strohernen HXtte eines  FXhrmanns am Flusse
schlief,  hatte  Siddhartha  einen  Traum:  Govinda stand vor ihm, in  einem
gelben Asketengewand. Traurig sah Govinda aus, traurig fragte er: Warum hast
du  mich  verlassen? Da umarmte er  Govinda, schlang seine  Arme um ihn, und
indem  er ihn  an  seine  Brust  zog und kXsste, war es nicht  Govinda mehr,
sondern  ein Weib, und aus des Weibes Gewand  quoll eine volle Brust, an der
lag Siddhartha und  trank, sX und stark  schmeckte  die Milch dieser Brust.
Sie schmeckte nach  Weib und Mann, nach Sonne und Wald, nach Tier und Blume,
nach jeder Frucht, nach jeder Lust. Sie machte trunken und bewusstlos. X Als
Siddhartha erwachte, schimmerte der bleiche  Fluss durch die  TXr der HXtte,
und im Walde klang tief und wohllaut ein dunkler Eulenruf.
     Als der Tag begann, bat Siddhartha seinen Gastgeber, den FXhrmann,  ihn
Xber den Fluss zu  setzen.  Der FXhrmann  setzte ihn auf  seinem Bambusfloss
Xber den Fluss, rXtlich schimmerte im Morgenschein das breite Wasser.
     "Das ist ein schXner Fluss," sagte er zu seinem Begleiter.
     "Ja," sagte der FXhrmann, "ein sehr schXner Fluss,  ich liebe  ihn Xber
alles. Oft habe ich ihm zugehXrt, oft in seine Augen gesehen, und immer habe
ich von ihm gelernt. Man kann viel von einem Flusse lernen."
     "Ich  danke dir, mein WohltXter," sprach  Siddhartha,  da er ans andere
Ufer stieg. "Kein  Gastgeschenk habe ich  dir zu geben,  Lieber, und  keinen
Lohn zu geben. Ein Heimatloser bin ich, ein Brahmanensohn und Samana."
     "Ich sah es wohl," sprach der FXhrmann, "und  ich habe keinen  Lohn vor
dir  erwartet, und kein  Gastgeschenk. Du wirst mir das Geschenk ein anderes
Mal geben."
     "Glaubst du?" sagte Siddhartha lustig.
     "Gewiss. Auch das habe ich vom Flusse gelernt: alles kommt wieder! Auch
du, Samana, wirst wieder kommen. Nun lebe wohl! MXge deine Freundschaft mein
Lohn sein. MXgest du meiner gedenken, wenn du den GXttern opferst."
     LXchelnd schieden sie voneinander. LXchelnd freute sich Siddhartha Xber
die  Freundschaft  und Freundlichkeit des FXhrmanns.  "Wie  Govinda ist er,"
dachte  er  lXchelnd, "alle,  die ich auf  meinem  Wege  antreffe, sind  wie
Govinda. Alle sind dankbar, obwohl sie selbst Anspruch auf Dank hXtten. Alle
sind unterwXrfig, alle mXgen gern Freund sein, gern gehorchen, wenig denken.
Kinder sind die Menschen."
     Um  die  Mittagszeit kam er  durch ein Dorf. Vor den LehmhXtten wXlzten
sich Kinder  auf  der Gasse, spielten mit KXrbiskernen und Muscheln, schrien
und balgten sich, flohen aber alle scheu vor dem fremden Samana. Am Ende des
Dorfes fXhrte der  Weg durch einen Bach,  und am Rande des Baches kniete ein
junges Weib und wusch Kleider. Als Siddhartha sie  grXte, hob sie den Kopf,
und blickte mit LXcheln zu ihm auf, dass er das WeiXe in  ihrem Auge blitzen
sah. Er  rief einen Segensspruch hinXber, wie er unter Reisenden Xblich ist,
und fragte, wie weit der Weg bis zur groXen Stadt noch sei. Da stand sie auf
und trat  zu ihm  her, schXn schimmerte ihr feuchter Mund im jungen Gesicht.
Sie tauschte Scherzreden mit ihm, fragte, ob er  schon gegessen habe, und ob
es wahr sei, dass die  Samanas nachts  allein  im Walde schliefen  und keine
Frauen  bei sich haben dXrfen. Dabei setzte sie ihren  linken FuX auf seinen
rechten und machte eine Bewegung,  wie die Frau sie macht, wenn sie den Mann
zu  jener  Art des  Liebesgenusses auffordert, welchen die  LehrbXcher  "das
Baumbesteigen" nennen.  Siddhartha fXhlte sein  Blut  erwarmen,  und da sein
Traum ihm in  diesem  Augenblick wieder einfiel, bXckte er sich ein wenig zu
dem Weibe herab  und kXsste mit den Lippen  die  braune  Spitze ihrer Brust.
Aufschauend sah er ihr Gesicht  voll Verlangen lXcheln und die verkleinerten
Augen in Sehnsucht flehen.

     Auch Siddhartha fXhlte Sehnsucht und  den  Quell  des Geschlechts  sich
bewegen; da  er aber noch  nie  ein  Weib  berXhrt  hatte, zXgerte  er einen
Augenblick, wXhrend seine HXnde schon bereit waren, nach ihr zu greifen. Und
in diesem  Augenblick hXrte er, erschauernd, die Stimme  seines Innern,  und
die Stimme sagte Nein. Da wich vom lXchelnden Gesicht der jungen  Frau aller
Zauber,  er  sah  nichts  mehr  als  den  feuchten  Blick  eines  brXnstigen
Tierweibchens. Freundlich streichelte er ihre Wange, wandte sich von ihr und
verschwand vor der EnttXuschten leichtfXig in das BambusgehXlze.
     An  diesem Tage erreichte  er vor  Abend  eine groXe Stadt, und  freute
sich, denn er begehrte nach Menschen. Lange  hatte er in den WXldern gelebt,
und die stroherne HXtte des FXhrmanns, in welcher er diese Nacht  geschlafen
hatte, war seit langer Zeit das erste Dach, das er Xber sich gehabt hatte.
     Vor  der  Stadt,  bei  einem  schXnen umzXunten  Haine,  begegnete  dem
Wandernden  ein  kleiner  Tross  von  Dienern und  Dienerinnen,  mit  KXrben
beladen. Inmitten in einer geschmXckten SXnfte, von Vieren getragen, saX auf
roten Kissen unter einem bunten Sonnendach eine Frau, die Herrin. Siddhartha
blieb  beim  Eingang des Lusthaines stehen  und sah dem Aufzuge zu, sah  die
Diener, die  MXgde, die KXrbe,  sah die  SXnfte, und sah in der  SXnfte  die
Dame. Unter hochgetXrmten  schwarzen  Haaren sah  er  ein  sehr helles, sehr
zartes,  sehr kluges Gesicht,  hellroten Mund wie  eine frisch aufgebrochene
Feige, Augenbrauen gepflegt und gemalt in hohen Bogen, dunkle Augen klug und
wachsam, lichten  hohen  Hals  aus grXn  und  goldenem Oberkleide  steigend,
ruhende  helle  HXnde  lang  und  schmal  mit  breiten  Goldreifen Xber  den
Gelenken.
     Siddhartha sah, wie schXn sie war, und sein Herz lachte. Tief verneigte
er sich,  als die SXnfte nahe kam, und sich wieder aufrichtend blickte er in
das helle holde Gesicht,  las einen Augenblick in den klugen hochXberwXlbten
Augen, atmete einen Hauch von Duft, den er nicht kannte. LXchelnd nickte die
schXne Frau, einen Augenblick,  und verschwand im Hain,  und hinter  ihr die
Diener.
     So  betrete  ich  diese  Stadt,  dachte Siddhartha,  unter einem holden
Zeichen. Es zog ihn, sogleich in den  Hain zu treten, doch bedachte er sich,
und  nun  erst ward  ihm  bewusst, wie  ihn die  Diener und MXgde am Eingang
betrachtet hatten, wie verXchtlich, wie misstrauisch, wie abweisend.
     Noch bin ich ein Samana, dachte er, noch immer,  ein Asket und Bettler.
Nicht  so werde ich  bleiben dXrfen, nicht so  in den  Hain  treten. Und  er
lachte.
     Den nXchsten Menschen, der des Weges kam, fragte  er  nach dem Hain und
nach dem Namen dieser  Frau, und erfuhr, dass dies  der Hain der Kamala war,
der berXhmten Kurtisane, und dass sie auXer dem Haine  ein Haus in der Stadt
besaX.
     Dann betrat er die Stadt. Er hatte nun ein Ziel.
     Sein Ziel verfolgend, lieX er sich von der Stadt einschlXrfen, trieb im
Strom der Gassen,  stand auf PlXtzen still, ruhte auf Steintreppen am Flusse
aus. Gegen den Abend befreundete er sich mit einem  Barbiergehilfen, den  er
im Schatten eines  GewXlbes  hatte  arbeiten sehen, den  er betend  in einem
Tempel  Vishnus  wiederfand, dem  er  von den  Geschichten Vishnu's  und der
Lakschmi erzXhlte. Bei  den Booten am Flusse schlief er die Nacht, und  frXh
am Morgen, ehe die ersten Kunden in seinen Laden kamen, lieX er sich von dem
Barbiergehilfen den Bart rasieren  und das Haar beschneiden, das Haar kXmmen
und mit feinem le salben. Dann ging er im Flusse baden.
     Als am SpXtnachmittag die schXne Kamala in  der SXnfte sich ihrem Haine
nXherte, stand  am Eingang Siddhartha,  verbeugte  sich und empfing den GruX
der Kurtisane. Demjenigen Diener aber,  der  zuletzt im Zuge ging, winkte er
und bat  ihn, der  Herrin  zu melden, dass ein junger  Brahmane  mit ihr  zu
sprechen  begehre.  Nach  einer  Weile  kam der Diener zurXck, forderte  den
Wartenden auf, ihm zu folgen, fXhrte den ihm  Folgenden  schweigend in einen
Pavillon, wo Kamala auf einem Ruhebette lag, und lieX ihn bei ihr allein.
     "Bist  du  nicht gestern  schon  da  drauXen  gestanden und  hast  mich
begrXt?" fragte Kamala.
     "Wohl habe ich gestern schon dich gesehen und begrXt."
     "Aber trugst du nicht gestern einen Bart, und lange Haare, und Staub in
den Haaren?"
     "Wohl  hast  du beobachtet, alles hast  du  gesehen. Du hast Siddhartha
gesehen,  den  Brahmanensohn, welcher seine  Heimat verlassen  hat,  um  ein
Samana zu werden, und drei Jahre lang  ein Samana gewesen ist. Nun aber habe
ich jenen Pfad  verlassen, und kam in diese Stadt, und  die  erste, die  mir
noch vor dem Betreten der  Stadt begegnete, warst du. Dies zu sagen, bin ich
zu  dir gekommen,  o Kamala! Du bist  die erste Frau,  zu welcher Siddhartha
anders als mit niedergeschlagenen Augen redet. Nie mehr will ich meine Augen
niederschlagen, wenn eine schXne Frau mir begegnet."
     Kamala  lXchelte  und spielte  mit ihrem FXcher aus  Pfauenfedern.  Und
fragte: "Und nur um mir dies zu sagen, ist Siddhartha zu mir gekommen?"
     "Um dir dies zu sagen, und um dir zu danken, dass du so schXn bist. Und
wenn es dir nicht missfXllt,  Kamala, mXchte ich dich bitten, meine Freundin
und Lehrerin zu sein, denn ich weiX noch nichts von der Kunst, in welcher du
Meisterin bist."
     Da lachte Kamala laut.
     "Nie ist mir  das geschehen, Freund, dass ein  Samana aus dem Walde  zu
mir  kam und  von  mir lernen  wollte! Nie  ist mir das  geschehen, dass ein
Samana  mit  langen Haaren  und in einem alten zerrissenen Schamtuche zu mir
kam! Viele JXnglinge  kommen  zu mir, und auch BrahmanensXhne sind darunter,
aber sie kommen in schXnen Kleidern, sie kommen in feinen Schuhen, sie haben
Wohlgeruch  im  Haar  und  Geld in den  Beuteln. So,  du  Samana,  sind  die
JXnglinge beschaffen, welche zu mir kommen."
     Sprach Siddhartha: "Schon fange ich an, von dir zu lernen. Auch gestern
schon  habe ich  gelernt. Schon habe ich den  Bart  abgelegt,  habe das Haar
gekXmmt,   habe   Xl  im   Haare.  Weniges  ist,  das  mir  noch  fehlt,  du
Vortreffliche:   feine  Kleider,  feine   Schuhe,  Geld  im  Beutel.  Wisse,
Schwereres hat Siddhartha sich  vorgenommen, als solche Kleinigkeiten  sind,
und hat es erreicht.  Wie  sollte  ich nicht erreichen, was ich gestern  mir
vorgenommen habe: dein Freund zu sein und  die Freuden  der Liebe von dir zu
lernen! Du  wirst mich  gelehrig sehen, Kamala, Schwereres habe ich gelernt,
als was du mich lehren sollst. Und nun also: Siddhartha genXgt dir nicht, so
wie er ist, mit Xl im Haar, aber ohne Kleider, ohne Schuhe, ohne Geld?"
     Lachend rief  Kamala: "Nein, Werter, er genXgt noch nicht. Kleider muss
er haben, hXbsche Kleider,  und Schuhe,  hXbsche Schuhe, und  viel  Geld  im
Beutel, und Geschenke  fXr  Kamala. WeiXt du es  nun, Samana  aus dem Walde?
Hast du es dir gemerkt?"
     "Wohl habe  ich es mir gemerkt," rief Siddhartha.  "Wie  sollte ich mir
nicht  merken, was aus einem  solchen Munde  kommt! Dein  Mund  ist wie eine
frisch  aufgebrochene Feige, Kamala. Auch mein Mund ist rot und  frisch,  er
wird zu deinem passen, du wirst sehen. X Aber sage,  schXne Kamala,  hast du
gar keine Furcht vor dem Samana aus dem Walde, der gekommen ist, um Liebe zu
lernen?"
     "Warum sollte  ich denn  Furcht vor  einem  Samana  haben, einem dummen
Samana aus dem Walde, der von den Schakalen  kommt und noch gar  nicht weiX,
was Frauen sind?"
     "Oh, er ist stark,  der Samana, und er  fXrchtet nichts. Er kXnnte dich
zwingen, schXnes MXdchen. Er kXnnte dich rauben. Er kXnnte dir weh tun."
     "Nein,  Samana,  das  fXrchte ich  nicht. Hat je ein  Samana  oder  ein
Brahmane gefXrchtet,  einer  kXnnte kommen  und  ihn packen  und  ihm  seine
Gelehrsamkeit, und seine FrXmmigkeit, und seinen Tiefsinn rauben? Nein, denn
die gehXren ihm zu eigen und er gibt davon nur, was er geben will und wem er
geben will. So ist es,  genau ebenso ist es  auch mit  Kamala,  und  mit den
Freuden der Liebe. SchXn und rot ist  Kamalas Mund, aber versuche, ihn gegen
Kamalas Willen zu kXssen, und nicht einen Tropfen SXigkeit wirst du von ihm
haben, der so viel SXes zu geben versteht! Du bist gelehrig, Siddhartha, so
lerne auch dies: Liebe kann man erbetteln, erkaufen, geschenkt bekommen, auf
der  Gasse  finden, aber  rauben kann man sie  nicht. Da hast  du dir  einen
falschen  Weg  ausgedacht. Nein, schade wXre es, wenn ein hXbscher  JXngling
wie du es so falsch angreifen wollte."
     Siddhartha verneigte sich lXchelnd. "Schade wXre es,  Kamala, wie, sehr
hast du Recht! Xberaus schade  wXre es. Nein, von deinem Munde soll mir kein
Tropfen SXigkeit  verloren  gehen, noch dir  von dem meinen! Es bleibt also
dabei: Siddhartha  wird  wiederkommen,  wenn  er hat,  was  ihm  noch fehlt:
Kleider, Schuhe, Geld. Aber sprich,  holde  Kamala, kannst du mir nicht noch
einen kleinen Rat geben?"
     "Einen  Rat?  Warum  nicht?  Wer  wollte   nicht  gerne  einem   armen,
unwissenden Samana,  der von den Schakalen  aus dem Walde  kommt, einen  Rat
geben?"
     "Liebe Kamala, so rate mir wohin soll ich gehen, dass ich am raschesten
jene drei Dinge finde?"
     "Freund, das  mXchten viele wissen. Du  musst tun, was du gelernt hast,
und dir dafXr  Geld geben lassen, und  Kleider, und Schuhe. Anders kommt ein
Armer nicht zu Geld. Was kannst du denn?"
     "Ich kann denken. Ich kann warten. Ich kann fasten."
     "Nichts sonst?"
     "Nichts.  Doch, ich  kann  auch dichten.  Willst du mir fXr ein Gedicht
einen Kuss geben?"
     "Das will ich tun, wenn dein Gedicht mir gefXllt. Wie heiXt es denn?"
     Siddhartha  sprach, nachdem  er  sich einen  Augenblick besonnen hatte,
diese Verse:
     In ihren schattigen Hain trat die schXne Kamala,
     An Haines Eingang stand der braune Samana.
     Tief, da er die LotusblXte erblickte,
     Beugte sich jener, lXchelnd dankte Kamala.
     Lieblicher, dachte der JXngling, als GXttern zu opfern,
     Lieblicher ist es zu opfern der schXnen Kamala.
     Laut klatschte Kamala in die HXnde, dass die goldenen Armringe klangen.
     "SchXn  sind deine  Verse, brauner Samana,  und wahrlich, ich  verliere
nichts, wenn ich dir einen Kuss fXr sie gebe."
     Sie zog ihn mit den  Augen zu sich,  er  beugte sein Gesicht auf ihres,
und legte seinen Mund auf den Mund, der wie eine frisch aufgebrochene  Feige
war. Lange kXsste ihn Kamala,  und  mit  tiefem Erstaunen fXhlte Siddhartha,
wie  sie  ihn  lehrte, wie sie  weise war,  wie  sie  ihn  beherrschte,  ihn
zurXckwies,  ihn  lockte,  und wie  hinter diesem ersten  eine  lange,  eine
wohlgeordnete,  wohlerprobte  Reihe  von  KXssen  stand,  jeder  vom  andern
verschieden, die ihn noch erwarteten. Tief atmend  blieb  er stehen, und war
in  diesem  Augenblick wie ein Kind  erstaunt Xber die FXlle des Wissens und
Lernenswerten, die sich vor seinen Augen erschloss.
     "Sehr schXn sind deine Verse," rief Kamala, "wenn ich reich wXre,  gXbe
ich dir GoldstXcke dafXr. Aber schwer wird es dir werden, mit Versen so viel
Geld zu erwerben,  wie du brauchst.  Denn  du  brauchst viel Geld,  wenn  du
Kamalas Freund sein willst."
     "Wie kannst du kXssen, Kamala!" stammelte Siddhartha.
     "Ja, das kann ich schon, darum  fehlt es  mir  auch nicht an  Kleidern,
Schuhen, ArmbXndern und allen  schXnen Dingen. Aber was wird aus dir werden?
Kannst du nichts als denken, fasten, dichten?"
     "Ich kann  auch die  Opferlieder," sagte Siddhartha, "aber ich will sie
nicht mehr singen. Ich kann auch ZaubersprXche, aber ich will sie nicht mehr
sprechen. Ich habe die Schriften gelesen X"
     "Halt," unterbrach ihn Kamala. "Du kannst lesen? Und schreiben?"
     "Gewiss kann ich das. Manche kXnnen das."
     "Die meisten  kXnnen es nicht. Auch ich kann es nicht. Es ist sehr gut,
dass du lesen und schreiben  kannst, sehr gut. Auch  die ZaubersprXche wirst
du noch brauchen kXnnen."
     In  diesem  Augenblick kam eine  Dienerin  gelaufen  und flXsterte  der
Herrin eine Nachricht ins Ohr.
     "Ich bekomme Besuch," rief Kamala.  "Eile und verschwinde,  Siddhartha,
niemand darf dich hier sehen, das merke dir! Morgen sehe ich dich wieder."
     Der Magd aber befahl sie, dem frommen  Brahmanen ein weiXes  Obergewand
zu geben. Ohne zu wissen, wie ihm  geschah, sah sich Siddhartha von der Magd
hinweggezogen, auf  Umwegen in ein Gartenhaus gebracht, mit einem  Oberkleid
beschenkt, ins GebXsch gefXhrt und dringlich ermahnt, sich alsbald ungesehen
aus dem Hain zu verlieren.
     Zufrieden tat er, wie  ihm geheiXen war. Des Waldes gewohnt, brachte er
sich  lautlos aus  dem Hain und Xber die  Hecke. Zufrieden kehrte er in  die
Stadt  zurXck,  das  zusammengerollte Kleid  unterm  Arme tragend.  In einer
Herberge, wo Reisende einkehrten, stellte er sich an die TXr, bat schweigend
um Essen, nahm schweigend ein StXck Reiskuchen an. Vielleicht schon  morgen,
dachte er, werde ich niemand mehr um Essen bitten.
     Stolz flammte plXtzlich in ihm auf. Er war kein Samana mehr, nicht mehr
stand  es ihm  an, zu betteln.  Er gab den  Reiskuchen einem Hunde und blieb
ohne Speise.
     "Einfach  ist das  Leben,  das  man in  der  Welt hier  fXhrt,"  dachte
Siddhartha. "Es hat keine Schwierigkeiten. Schwer war alles, mXhsam  und  am
Ende hoffnungslos, als ich noch Samana war. Nun ist alles leicht, leicht wie
der Unterricht im KXssen, den mir Kamala gibt. Ich brauche Kleider und Geld,
sonst  nichts,  das  sind  kleine  nahe  Ziele,  sie stXren einem  nicht den
Schlaf."
     LXngst hatte  er  das Stadthaus Kamalas erkundet, dort fand er  sich am
andern Tage ein.
     "Es geht gut," rief sie ihm entgegen. "Du wirst bei Kamaswami erwartet,
er ist der  reichste  Kaufmann dieser Stadt. Wenn  du ihm gefXllst,  wird er
dich  in Dienst  nehmen. Sei klug,  brauner Samana. Ich habe ihm durch andre
von dir erzXhlen lassen. Sei freundlich gegen ihn, er ist sehr mXchtig. Aber
sei  nicht zu  bescheiden!  Ich will nicht,  dass  du sein Diener  wirst, du
sollst  seinesgleichen  werden,  sonst  bin  ich nicht  mit  dir  zufrieden.
Kamaswami fXngt an,  alt und bequem zu  werden. GefXllst du ihm, so  wird er
dir viel anvertrauen."
     Siddhartha dankte  ihr  und lachte, und da sie  erfuhr, er habe gestern
und heute  nichts gegessen, lieX sie  Brot und FrXchte bringen und bewirtete
ihn.
     "Du hast GlXck gehabt," sagte sie beim Abschied, "eine TXr um die andre
tut sich dir auf. Wie kommt das wohl? Hast du einen Zauber?"
     Siddhartha sagte: "Gestern erzXhlte  ich dir, ich verstXnde zu  denken,
zu warten und zu fasten, du  aber  fandest, das sei zu nichts nXtze. Es  ist
aber zu vielem  nXtze, Kamala, du wirst es sehen. Du wirst  sehen, dass  die
dummen Samanas  im  Walde viel HXbsches lernen  und  kXnnen, das  ihr  nicht
kXnnt. Vorgestern  war  ich noch  ein struppiger Bettler, gestern  habe  ich
schon Kamala gekXsst, und  bald  werde ich  ein Kaufmann sein und Geld haben
und all diese Dinge, auf die du Wert legst."
     "Nun ja," gab sie zu. "Aber wie stXnde es mit dir ohne mich? Was wXrest
du, wenn Kamala dir nicht hXlfe?"
     "Liebe Kamala," sagte Siddhartha und richtete sich hoch  auf, "als  ich
zu dir in deinen Hain kam,  tat ich den ersten Schritt. Es war mein Vorsatz,
bei dieser schXnsten Frau die  Liebe zu  lernen. Von jenem Augenblick an, da
ich den Vorsatz fasste,  wusste ich auch, dass ich ihn ausfXhren  werde. Ich
wusste, dass du mir  helfen wXrdest, bei deinem ersten Blick am Eingang  des
Haines wusste ich es schon."
     "Wenn ich aber nicht gewollt hXtte?"
     "Du hast gewollt. Sieh, Kamala: Wenn du einen  Stein ins Wasser wirfst,
so eilt er auf dem schnellsten Wege zum  Grunde des Wassers. So ist es, wenn
Siddhartha ein Ziel, einen Vorsatz hat. Siddhartha tut nichts, er wartet, er
denkt, er fastet, aber  er geht durch die Dinge der  Welt  hindurch  wie der
Stein  durchs Wasser,  ohne  etwas  zu  tun, ohne  sich zu  rXhren; er  wird
gezogen, er lXsst  sich fallen. Sein Ziel zieht ihn  an  sich, denn er lXsst
nichts in seine Seele ein, was dem Ziel widerstreben kXnnte. Das ist es, was
Siddhartha bei  den Samanas  gelernt hat. Es ist das,  was die Toren  Zauber
nennen und wovon sie meinen, es werde durch die DXmonen bewirkt. Nichts wird
von DXmonen bewirkt, es  gibt keine DXmonen. Jeder  kann zaubern, jeder kann
seine  Ziele  erreichen,  wenn er denken kann, wenn  er warten kann, wenn er
fasten kann."
     Kamala hXrte  ihm  zu. Sie liebte seine  Stimme,  sie liebte den  Blick
seiner Augen.
     "Vielleicht ist es so," sagte  sie  leise,  "wie  du sprichst,  Freund.
Vielleicht ist es aber auch so,  dass Siddhartha ein hXbscher Mann ist, dass
sein Blick den Frauen gefXllt, dass darum das GlXck ihm entgegenkommt."
     Mit  einem  Kuss  nahm Siddhartha  Abschied.  "MXge  es so sein,  meine
Lehrerin. MXge immer mein Blick dir gefallen, mXge  immer von dir  mir GlXck
entgegenkommen!"


     Siddhartha ging  zum Kaufmann Kamaswami,  in ein reiches Haus  ward  er
gewiesen, Diener fXhrten ihn zwischen kostbaren Teppichen  in ein Gemach, wo
er den Hausherrn erwartete.
     Kamaswami   trat   ein,  ein  rascher,  geschmeidiger  Mann  mit  stark
ergrauendem   Haar,   mit  sehr  klugen,   vorsichtigen   Augen,  mit  einem
begehrlichen Mund. Freundlich begrXten sich Herr und Gast.
     "Man  hat mir gesagt," begann der Kaufmann, "dass du ein Brahmane bist,
ein Gelehrter, dass du aber Dienste bei einem Kaufmann  suchst. Bist du denn
in Not geraten, Brahmane, dass du Dienste suchst?"
     "Nein," sagte Siddhartha,  "ich bin nicht in Not geraten und bin nie in
Not gewesen. Wisse, dass  ich von den Samanas komme,  bei welchen ich  lange
Zeit gelebt habe."
     "Wenn du von den  Samanas kommst, wie solltest du da nicht in Not sein?
Sind nicht die Samanas vXllig besitzlos?"
     "Besitzlos bin ich," sagte Siddhartha, "wenn es das ist, was du meinst.
Gewiss bin ich besitzlos. Doch  bin ich  es  freiwillig, bin also  nicht  in
Not."
     "Wovon aber willst du leben, wenn du besitzlos bist?"
     "Ich  habe  daran  noch  nie gedacht, Herr. Ich bin mehr als drei Jahre
besitzlos gewesen, und habe niemals daran gedacht, wovon ich leben solle."
     "So hast du vom Besitz anderer gelebt."
     "Vermutlich ist es so. Auch der Kaufmann lebt ja von der Habe anderer."
     "Wohl gesprochen.  Doch  nimmt er von den  andern du nicht umsonst;  er
gibt ihnen seine Waren dafXr."
     "So scheint es sich in der Tat zu verhalten. Jeder nimmt,  jeder  gibt,
so ist das Leben."
     "Aber erlaube: wenn du besitzlos bist, was willst du da geben?"
     "Jeder gibt, was  er hat.  Der Krieger  gibt  Kraft, der  Kaufmann gibt
Ware, der Lehrer Lehre, der Bauer Reis, der Fischer Fische."
     "Sehr wohl. Und was ist es  nun, was du zu geben hast? Was  ist es, das
du gelernt hast, das du kannst?"
     "Ich kann denken. Ich kann warten. Ich kann fasten."
     "Das ist alles?"
     "Ich glaube, es ist alles!"
     "Und wozu nXtzt es? Zum Beispiel das Fasten X wozu ist es gut?"
     "Es ist  sehr gut, Herr. Wenn ein Mensch nichts  zu essen  hat,  so ist
Fasten das  AllerklXgste, was  er tun  kann. Wenn,  zum Beispiel, Siddhartha
nicht  fasten  gelernt hXtte, so  mXsste  er  heute noch irgendeinen  Dienst
annehmen,  sei es bei dir  oder  wo immer,  denn der Hunger wXrde  ihn  dazu
zwingen.  So  aber kann Siddhartha ruhig warten, er kennt keine Ungeduld, er
kennt keine Notlage,  lange kann er sich vom Hunger belagern lassen und kann
dazu lachen. Dazu, Herr, ist Fasten gut."
     "Du hast Recht, Samana. Warte einen Augenblick."
     Kamaswami ging hinaus und  kehrte mit einer Rolle wieder, die er seinem
Gaste hinreichte, indem er fragte: "Kannst du dies lesen?"
     Siddhartha   betrachtete   die   Rolle,   in  welcher  ein  Kaufvertrag
niedergeschrieben war, und begann ihren Inhalt vorzulesen.
     "Vortrefflich",  sagte Kamaswami. "Und willst du  mir etwas  auf dieses
Blatt schreiben?"
     Er gab ihm  ein Blatt und einen Griffel, und Siddhartha schrieb und gab
das Blatt zurXck.
     Kamaswami las: "Schreiben ist gut, Denken ist besser. Klugheit ist gut,
Geduld ist besser."
     "VorzXglich  verstehst du zu  schreiben," lobte der Kaufmann.  "Manches
werden wir noch miteinander zu sprechen haben. FXr heute bitte ich dich, sei
mein Gast und nimm in diesem Hause Wohnung."

     Siddhartha  dankte  und nahm an,  und wohnte nun im Hause des HXndlers.
Kleider  wurden  ihm gebracht, und  Schuhe,  und ein  Diener  bereitete  ihm
tXglich das Bad. Zweimal am Tage wurde eine reichliche Mahlzeit aufgetragen,
Siddhartha aber aX nur einmal  am Tage,  und aX weder Fleisch noch  trank er
Wein.  Kamaswami  erzXhlte  ihm von  seinem  Handel, zeigte  ihm  Waren  und
Magazine,  zeigte ihm Berechnungen. Vieles Neue lernte Siddhartha kennen, er
hXrte viel und  sprach wenig.  Und  der Worte Kamalas  eingedenk, ordnete er
sich niemals dem Kaufmanne unter, zwang ihn, dass er ihn als seinesgleichen,
ja als mehr denn seinesgleichen behandle. Kamaswami betrieb  seine GeschXfte
mit Sorglichkeit und oft  mit Leidenschaft, Siddhartha aber betrachtete dies
alles wie  ein Spiel, dessen  Regeln genau zu  lernen er bemXht war,  dessen
Inhalt aber sein Herz nicht berXhrte.
     Nicht lange war  er  in  Kamaswamis  Hause, da nahm er schon  an seines
Hausherrn  Handel teil. TXglich  aber  zu  der  Stunde, die sie ihm  nannte,
besuchte er die schXne Kamala, in hXbschen Kleidern,  in feinen Schuhen, und
bald brachte er ihr auch Geschenke  mit. Vieles lehrte ihn ihr roter, kluger
Mund. Vieles lehrte ihn ihre zarte, geschmeidige Hand. Ihm, der in der Liebe
noch ein Knabe war und dazu neigte,  sich blindlings und unersXttlich in die
Lust zu stXrzen wie ins  Bodenlose, lehrte sie von Grund auf die Lehre, dass
man Lust nicht nehmen kann, ohne Lust zu geben, und dass jede GebXrde, jedes
Streicheln, jede BerXhrung, jeder  Anblick, jede kleinste Stelle des KXrpers
ihr Geheimnis hat,  das zu wecken  dem Wissenden GlXck  bereitet. Sie lehrte
ihn, dass Liebende  nach einer  Liebesfeier  nicht voneinander gehen dXrfen,
ohne eins das andere  zu bewundern, ohne ebenso besiegt zu sein, wie gesiegt
zu haben, so  dass  bei keinem von beiden XbersXttigung und Xde entstehe und
das  bXse GefXhl,  missbraucht  zu  haben oder  missbraucht worden zu  sein.
Wunderbare Stunden brachte  er bei der  schXnen  und klugen  KXnstlerin  zu,
wurde  ihr SchXler, ihr Liebhaber, ihr Freund. Hier bei Kamala  lag der Wert
und Sinn seines jetzigen Lebens, nicht im Handel des Kamaswami.
     Der  Kaufmann Xbertrug ihm das Schreiben wichtiger Briefe und VertrXge,
und gewXhnte  sich daran, alle wichtigen Angelegenheiten mit ihm zu beraten.
Er sah bald, dass Siddhartha  von Reis  und Wolle, von Schiffahrt und Handel
wenig  verstand,  dass  aber  seine  Hand  eine  glXckliche  war,  und  dass
Siddhartha ihn, den  Kaufmann, Xbertraf  an  Ruhe und Gleichmut, und  in der
Kunst  des  ZuhXrenkXnnens  und  Eindringens  in  fremde  Menschen.  "Dieser
Brahmane," sagte er zu einem  Freunde, "ist kein richtiger Kaufmann und wird
nie einer werden,  nie  ist seine Seele mit Leidenschaft bei den GeschXften.
Aber er  hat das Geheimnis jener Menschen,  zu welchen der Erfolg von selber
kommt, sei das nun ein angeborener guter Stern, sei es Zauber, sei es etwas,
das er bei den Samanas gelernt hat. Immer scheint er mit  den GeschXften nur
zu spielen,  nie  gehen sie ganz in ihn  ein, nie beherrschen  sie ihn,  nie
fXrchtet er Misserfolg, nie bekXmmert ihn ein Verlust."
     Der Freund  riet  dem HXndler: "Gib ihm  von den GeschXften, die er fXr
dich treibt, einen Drittel  vom Gewinn, lass ihn aber auch denselben  Anteil
des Verlustes treffen, wenn Verlust entsteht. So wird er eifriger werden."
     Kamaswami folgte dem  Rat. Siddhartha  aber kXmmerte  sich wenig darum.
Traf ihn Gewinn, so nahm er ihn gleichmXtig hin; traf ihn Verlust, so lachte
er und sagte: "Ei sieh, dies ist also schlecht gegangen!"
     Es schien in der Tat, als seien die GeschXfte ihm  gleichgXltig. Einmal
reiste er in ein Dorf, um dort eine groXe Reisernte aufzukaufen.
     Als er ankam, war aber der Reis schon an einen andern HXndler verkauft.
Dennoch blieb Siddhartha  manche Tage in  jenem Dorf,  bewirtete die Bauern,
schenkte  ihren  Kindern  KupfermXnzen, feierte eine Hochzeit  mit  und  kam
Xberaus zufrieden von der Reise zurXck.  Kamaswami machte ihm VorwXrfe, dass
er nicht sogleich umgekehrt  sei, dass er  Zeit  und  Geld  vergeudet  habe.
Siddhartha  antwortete: "Lass das  Schelten, lieber Freund! Noch nie ist mit
Schelten  etwas erreicht  worden. Ist Verlust entstanden, so lass  mich  den
Verlust tragen. Ich bin  sehr zufrieden mit dieser Reise. Ich habe vielerlei
Menschen  kennen gelernt, ein Brahmane ist mein Freund geworden, Kinder sind
auf meinen Knien geritten, Bauern haben mir ihre Felder gezeigt, niemand hat
mich fXr einen HXndler gehalten."
     "Sehr  hXbsch  ist   dies  alles,"   rief   Kamaswami  unwillig,  "aber
tatsXchlich bist du  doch ein HXndler, sollte ich meinen! Oder bist  du denn
nur zu deinem VergnXgen gereist?"
     "Gewiss,"  lachte  Siddhartha,  "Gewiss  bin ich  zu  meinem  VergnXgen
gereist. Wozu denn sonst? Ich habe Menschen und Gegenden kennen gelernt, ich
habe Freundlichkeit und Vertrauen genossen, ich habe Freundschaft  gefunden.
Sieh,  Lieber, wenn ich Kamaswami gewesen wXre, so wXre ich sofort,  als ich
meinen Kauf vereitelt sah,  voll Xrger und in Eile wieder zurXckgereist, und
Zeit und Geld wXre  in der Tat  verloren gewesen. So aber habe ich gute Tage
gehabt, habe gelernt, habe Freude genossen, habe weder mich noch andre durch
Xrger und durch Eilfertigkeit geschXdigt. Und wenn ich jemals wieder dorthin
komme, vielleicht um eine spXtere Ernte zu kaufen, oder zu welchem Zwecke es
sei, so werden freundliche  Menschen  mich  freundlich und heiter empfangen,
und ich werde mich dafXr loben, dass ich damals nicht Eile und Unmut gezeigt
habe.  Also lass gut sein, Freund, und schade dir nicht durch Schelten! Wenn
der Tag kommt,  an dem du sehen wirst: Schaden bringt mir dieser Siddhartha,
dann sprich ein Wort, und Siddhartha wird seiner  Wege gehen. Bis dahin aber
lass uns einer mit dem andern zufrieden sein."
     Vergeblich  waren  auch  die  Versuche  des  Kaufmanns,  Siddhartha  zu
Xberzeugen,  dass er  sein, Kamaswamis, Brot esse. Siddhartha aX sein eignes
Brot,  vielmehr  sie beide aXen das  Brot anderer,  das Brot  aller. Niemals
hatte Siddhartha ein Ohr  fXr Kamaswamis  Sorgen, und Kamaswami machte  sich
viele Sorgen. \War ein GeschXft im Gange, welchem Misserfolg drohte,  schien
eine Warensendung verloren, schien ein Schuldner nicht zahlen zu kXnnen, nie
konnte Kamaswami seinen  Mitarbeiter Xberzeugen, dass es nXtzlich sei, Worte
des Kummers oder  des Zornes zu  verlieren, Falten  auf der  Stirn zu haben,
schlecht zu  schlafen. Als ihm Kamaswami einstmals  vorhielt, er habe alles,
was er verstehe, von ihm gelernt, gab er zur Antwort: "Wolle mich doch nicht
mit solchen SpXen  zum Besten haben! Von dir habe ich gelernt, wie viel ein
Korb voll Fische kostet, und  wie viel Zins man fXr geliehenes  Geld fordern
kann.  Das sind deine Wissenschaften. Denken habe ich nicht bei dir gelernt,
teurer Kamaswami, suche lieber du es von mir zu lernen."
     In der Tat war seine Seele nicht beim Handel.  Die GeschXfte waren gut,
um ihm Geld fXr Kamala einzubringen, und sie  brachten weit mehr ein, als er
brauchte.  Im  Xbrigen war Siddharthas Teilnahme und  Neugierde nur  bei den
Menschen, deren GeschXfte, Handwerke,  Sorgen,  Lustbarkeiten und  Torheiten
ihm  frXher fremd  und fern gewesen  waren wie  der Mond.  So  leicht es ihm
gelang, mit allen zu sprechen, mit allen zu leben,  von allen zu lernen,  so
sehr ward ihm dennoch bewusst, dass etwas sei, was ihn von ihnen trenne, und
dies Trennende war sein  Samanatum. Er sah die  Menschen  auf eine kindliche
oder  tierhafte   Art  dahinleben,   welche  er  zugleich  liebte  und  auch
verachtete. Er sah sie sich mXhen, sah sie leiden und  grau werden um Dinge,
die  ihm  dieses Preises ganz  unwert schienen, um  Geld, um kleine Lust, um
kleine Ehren,  er sah sie  einander schelten und beleidigen,  er sah  sie um
Schmerzen wehklagen, Xber  die der Samana  lXchelt,  und  unter Entbehrungen
leiden, die ein Samana nicht fXhlt.
     Allem stand er offen, was diese Menschen ihm zubrachten. Willkommen war
ihm   der  HXndler,   der  ihm  Leinwand  zum  Kauf  anbot,  willkommen  der
Verschuldete, der ein Darlehen suchte, willkommen  der Bettler, der ihm eine
Stunde lang  die Geschichte seiner Armut erzXhlte, und welcher nicht halb so
arm war als ein jeder Samana.  Den  reichen auslXndischen HXndler behandelte
er nicht anders als den Diener, der ihn  rasierte, und den StraXenverkXufer,
von  dem er  sich  beim  Bananenkauf  um  kleine  MXnze betrXgen lieX.  Wenn
Kamaswami zu ihm kam, um Xber seine  Sorgen zu klagen  oder ihm  wegen eines
GeschXftes VorwXrfe zu machen, so hXrte er neugierig und heiter zu, wunderte
sich Xber ihn, suchte ihn zu verstehen, lieX ihn ein wenig Recht haben, eben
so  viel  als  ihm unentbehrlich schien,  und wandte  sich von  ihm  ab, dem
NXchsten zu,  der ihn  begehrte. Und es kamen viele zu ihm, viele um mit ihm
zu handeln, viele um  ihn zu  betrXgen, viele um ihn auszuhorchen, viele  um
sein Mitleid  anzurufen,  viele um  seinen  Rat  zu  hXren. Er  gab  Rat, er
bemitleidete, er schenkte, er lieX sich ein wenig betrXgen, und dieses ganze
Spiel und die Leidenschaft, mit  welcher alle Menschen dies Spiel betrieben,
beschXftigte seine Gedanken ebensosehr, wie einst die GXtter und das Brahman
sie beschXftigt hatten.
     Zuzeiten  spXrte er,  tief in der  Brust, eine sterbende, leise Stimme,
die  mahnte leise,  klagte leise,  kaum dass er sie vernahm. Alsdann kam ihm
fXr eine Stunde zum Bewusstsein, dass er ein seltsames Leben fXhre, dass  er
da lauter Dinge  tue, die bloX ein Spiel waren, dass er wohl heiter sei  und
zuweilen Freude  fXhle,  dass  aber das eigentliche  Leben  dennoch  an  ihm
vorbeiflieXe  und ihn nicht  berXhre. Wie ein Ballspieler  mit seinen BXllen
spielt, so  spielte  er  mit  seinen  GeschXften,  mit  den Menschen  seiner
Umgebung, sah ihnen  zu,  fand seinen SpaX an ihnen; mit dem Herzen, mit der
Quelle seines Wesens war er nicht dabei.  Die Quelle lief irgendwo, wie fern
von  ihm, lief und  lief unsichtbar,  hatte  nichts mehr mit seinem Leben zu
tun.  Und einigemal erschrak  er ob  solchen Gedanken und  wXnschte sich, es
mXge doch auch  ihm gegeben  sein, bei all dem kindlichen Tun  des Tages mit
Leidenschaft  und mit  dem Herzen  beteiligt  zu  sein,  wirklich  zu leben,
wirklich  zu tun, wirklich  zu  genieXen und zu leben, statt nur so als  ein
Zuschauer  daneben zu stehen. Immer aber kam er wieder zur  schXnen  Kamala,
lernte Liebeskunst,  Xbte den Kult der Lust, bei  welchem mehr als  irgendwo
geben  und nehmen zu einem wird, plauderte mit ihr, lernte von ihr,  gab ihr
Rat, empfing Rat.  Sie verstand ihn besser, als Govinda ihn einst verstanden
hatte, sie war ihm Xhnlicher.
     Einmal  sagte  er zu ihr:  "Du  bist  wie  ich, du  bist anders als die
meisten  Menschen. Du bist Kamala, nichts andres, und in dir innen ist  eine
Stille und Zuflucht,  in  welche  du zu jeder  Stunde  eingehen und bei  dir
daheim sein kannst, so wie auch ich es kann.  Wenige Menschen haben das, und
doch kXnnten alle es haben."
     "Nicht alle Menschen sind klug," sagte Kamala.
     "Nein," sagte Siddhartha,  "nicht daran  liegt es. Kamaswami ist ebenso
klug wie ich, und hat doch keine Zuflucht  in sich. Andre  haben sie, die an
Verstand kleine  Kinder sind.  Die meisten  Menschen,  Kamala,  sind wie ein
fallendes Blatt, das weht und dreht sich  durch die  Luft, und schwankt, und
taumelt zu Boden. Andre aber, wenige, sind wie Sterne,  die gehen eine feste
Bahn, kein  Wind erreicht sie, in sich selber haben sie ihr  Gesetz und ihre
Bahn. Unter allen Gelehrten und Samanas,  deren  ich viele kannte, war einer
von dieser Art, ein Vollkommener, nie kann  ich ihn  vergessen. Es ist jener
Gotama,  der Erhabene, der  VerkXndiger jener  Lehre.  Tausend JXnger  hXren
jeden Tag  seine Lehre, folgen  jede Stunde seiner Vorschrift, aber sie alle
sind fallendes Laub, nicht in sich selbst haben sie Lehre und Gesetz."
     Kamala betrachtete ihn mit LXcheln. "Wieder  redest du  von ihm," sagte
sie, "wieder hast du Samana-Gedanken."
     Siddhartha schwieg, und sie spielten das Spiel der Liebe, eines von den
dreiXig oder vierzig verschiedenen  Spielen, welche  Kamala wusste. Ihr Leib
war  biegsam wie der eines Jaguars,  und wie der Bogen eines JXgers; wer von
ihr  die Liebe gelernt  hatte,  war vieler LXste, vieler Geheimnisse kundig.
Lange spielte sie mit  Siddhartha  lockte  ihn, wies ihn zurXck, zwang  ihn,
umspannte ihn: freute sich  seiner  Meisterschaft,  bis  er besiegt  war und
erschXpft an ihrer Seite ruhte.
     Die HetXre beugte sich  Xber ihn, sah  lang in  sein Gesicht, in  seine
mXdgewordenen Augen.
     "Du bist der beste Liebende,"  sagte sie nachdenklich, "den ich gesehen
habe.  Du bist  stXrker als  andre, biegsamer,  williger.  Gut hast du meine
Kunst gelernt, Siddhartha.  Einst, wenn ich Xlter bin, will  ich von dir ein
Kind haben.  Und  dennoch,  Lieber, bist du ein  Samana  geblieben,  dennoch
liebst du mich nicht, du liebst keinen Menschen. Ist es nicht so?"
     "Es mag wohl so sein", sagte Siddhartha mXde. "Ich  bin wie du. Auch du
liebst nicht X wie kXnntest  du sonst 'die  Liebe als eine  Kunst betreiben?
Die   Menschen  von  unserer   Art  kXnnen   vielleicht  nicht  lieben.  Die
Kindermenschen kXnnen es; das ist ihr Geheimnis."



     Lange Zeit  hatte  Siddhartha das Leben der Welt  und der LXste gelebt,
ohne ihm  doch anzugehXren. Seine  Sinne,  die er  in  heiXen  Samana-Jahren
ertXtet  hatte,  waren wieder erwacht,  er  hatte  Reichtum  gekostet, hatte
Wollust gekostet,  hatte Macht gekostet; dennoch war er lange Zeit im Herzen
noch  ein Samana geblieben, dies hatte Kamala,  die Kluge, richtig  erkannt.
Immer  noch war es  die  Kunst  des  Denkens, des Wartens, des Fastens,  von
welcher sein Leben  gelenkt  wurde,  immer noch waren die Menschen der Welt,
die Kindermenschen, ihm fremd geblieben, wie er ihnen fremd war.
     Die Jahre liefen dahin, in Wohlergehen eingehXllt fXhlte Siddhartha ihr
Schwinden kaum. Er war reich geworden, er besaX  lXngst ein eigenes Haus und
eigene Dienerschaft, und einen Garten vor der Stadt am Flusse. Die  Menschen
hatten  ihn  gerne,  sie kamen zu  ihm, wenn  sie  Geld oder Rat  brauchten,
niemand aber stand ihm nahe, auXer Kamala.
     Jenes hohe,  helle Wachsein, welches  er  einst, auf  der  HXhe  seiner
Jugend, erlebt hatte, in den Tagen  nach Gotamas Predigt, nach der  Trennung
von Govinda, jene gespannte Erwartung, jenes stolze Alleinstehen ohne Lehren
und ohne Lehrer,  jene  geschmeidige Bereitschaft,  die  gXttliche Stimme im
eigenen Herzen zu hXren, war allmXhlich Erinnerung geworden, war vergXnglich
gewesen; fern und leise rauschte die heilige Quelle, die einst nahe  gewesen
war, die  einst  in ihm selber gerauscht  hatte. Vieles zwar, das er von den
Samanas gelernt, das  er  von Gotama gelernt,  das er  von seinem Vater, dem
Brahmanen, gelernt  hatte, war  noch  lange  Zeit in  ihm geblieben: mXiges
Leben, Freude  am  Denken,  Stunden  der  Versenkung,  heimliches Wissen vom
Selbst, vom ewigen Ich, das nicht KXrper noch Bewusstsein ist. Manches davon
war in ihm geblieben, eines ums andre  aber war untergesunken und hatte sich
mit  Staub bedeckt. Wie die  Scheibe des  TXpfers,  einmal angetrieben, sich
noch  lange dreht  und  nur langsam ermXdet  und  ausschwingt,  so  hatte in
Siddharthas Seele das  Rad  der Askese, das  Rad des Denkens,  das  Rad  der
Unterscheidung lange weiter geschwungen, schwang immer noch, aber es schwang
langsam und zXgernd und war dem  Stillstand  nahe. Langsam, wie Feuchtigkeit
in den absterbenden Baumstrunk dringt, ihn langsam fXllt und  faulen  macht,
war Welt und  TrXgheit in Siddharthas  Seele gedrungen, langsam  fXllte  sie
seine Seele, machte sie schwer, machte sie  mXde, schlXferte sie  ein. DafXr
waren seine Sinne lebendig geworden, viel hatten sie gelernt, viel erfahren.
     Siddhartha  hatte  gelernt,  Handel  zu treiben,  Macht  Xber  Menschen
auszuXben, sich mit dem Weibe zu vergnXgen, er hatte gelernt, schXne Kleider
zu tragen, Dienern zu befehlen, sich in wohlriechenden Wassern zu baden.  Er
hatte  gelernt, zart  und sorgfXltig  bereitete  Speisen zu essen,  auch den
Fisch, auch  Fleisch  und  Vogel, GewXrze und SXigkeiten,  und  den Wein zu
trinken,  der trXge  und vergessen macht. Er hatte  gelernt, mit WXrfeln und
auf dem Schachbrette zu spielen,  TXnzerinnen zuzusehen,  sich in der SXnfte
tragen zu lassen, auf einem weichen Bett zu schlafen. Aber immer  noch hatte
er sich von den andern verschieden  und ihnen Xberlegen gefXhlt, immer hatte
er  ihnen  mit  ein  wenig  Spott  zugesehen,  mit   ein  wenig  spXttischer
Verachtung,  mit  eben  jener  Verachtung,  wie  sie  ein Samana  stets  fXr
Weltleute fXhlt. Wenn  Kamaswami krXnklich  war, wenn er Xrgerlich war, wenn
er sich  beleidigt fXhlte, wenn er von seinen Kaufmannssorgen geplagt wurde,
immer hatte Siddhartha es  mit Spott angesehen. Langsam  und unmerklich nur,
mit den  dahingehenden Erntezeiten  und  Regenzeiten, war  sein  Spott mXder
geworden, war  seine Xberlegenheit  stiller geworden. Langsam nur,  zwischen
seinen wachsenden ReichtXmern, hatte Siddhartha selbst etwas von der Art der
Kindermenschen  angenommen,  etwas von  ihrer  Kindlichkeit  und  von  ihrer
Xngstlichkeit.  Und  doch  beneidete  er  sie,  beneidete sie desto mehr, je
Xhnlicher  er ihnen wurde. Er beneidete sie um das Eine, was ihm fehlte  und
was  sie hatten,  um  die  Wichtigkeit, welche  sie  ihrem  Leben beizulegen
vermochten,  um die Leidenschaftlichkeit  ihrer  Freuden und  Xngste, um das
bange, aber sXe GlXck ihrer ewigen Verliebtheit. In sich selbst, in Frauen,
in ihre Kinder, in Ehre oder Geld,  in PlXne oder  Hoffnungen verliebt waren
diese Menschen immerzu. Er  aber lernte  dies nicht von ihnen,  gerade  dies
nicht, diese  Kinderfreude und Kindertorheit; er lernte von ihnen gerade das
Unangenehme, was  er  selbst verachtete. Es  geschah immer Xfter, dass er am
Morgen  nach einem geselligen Abend lange  liegen  blieb und  sich dumpf und
mXde  fXhlte.  Es  geschah,  dass  er Xrgerlich und  ungeduldig wurde,  wenn
Kamaswami ihn mit  seinen Sorgen lang weilte. Es geschah, dass er allzu laut
lachte, wenn  er im WXrfelspiel verlor.  Sein Gesicht  war noch immer klXger
und geistiger als andre, aber es lachte selten, und nahm einen um den andern
jene ZXge an, die man im Gesicht reicher  Leute  so hXufig findet, jene ZXge
der Unzufriedenheit,  der KrXnklichkeit,  des  Missmutes, der TrXgheit,  der
Lieblosigkeit. Langsam ergriff ihn die Seelenkrankheit der Reichen.
     Wie  ein Schleier, wie ein  dXnner  Nebel  senkte  sich  MXdigkeit Xber
Siddhartha,  langsam, jeden  Tag  ein wenig  dichter, jeden Monat ein  wenig
trXber, jedes  Jahr ein wenig schwerer. Wie ein neues Kleid mit der Zeit alt
wird, mit  der Zeit  seine schXne  Farbe  verliert, Flecken bekommt,  Falten
bekommt,  an  den SXumen  abgestoXen wird und  hier  und dort  blXde, fXdige
Stellen  zu  zeigen beginnt, so  war  Siddharthas neues Leben,  das er  nach
seiner Trennung von Govinda begonnen hatte,  alt geworden,  so verlor es mit
den  hinrinnenden  Jahren  Farbe  und  Glanz, so  sammelten sich Falten  und
Flecken  auf  ihm,  und  im Grunde  verborgen, hier und dort  schon  hXlich
hervorblickend, wartete  EnttXuschung und Ekel.  Siddhartha merkte es nicht.
Er merkte nur, das jene helle und sichere Stimme seines Innern, die einst in
ihm erwacht war  und ihn  in seinen  glXnzenden  Zeiten  je  und je geleitet
hatte, schweigsam geworden war.
     Die  Welt hatte ihn  eingefangen,  die Lust,  die  Begehrlichkeit,  die
TrXgheit, und zuletzt  auch noch jenes  Laster,  das er  als das tXrichteste
stets  am  meisten  verachtet  und  gehXhnt  hatte:  die  Habgier. Auch  das
Eigentum, der Besitz und Reichtum hatte ihn schlieXlich eingefangen, war ihm
kein Spiel und Tand mehr, war Kette und  Last geworden.  Auf einem seltsamen
und listigen Wege war Siddhartha in diese letzte und schnXdeste AbhXngigkeit
geraten,  durch  das  WXrfelspiel. Seit  der Zeit nXmlich,  da er  im Herzen
aufgehXrt hatte, ein Samana zu sein, begann Siddhartha das Spiel um Geld und
Kostbarkeiten,  das  er  sonst  lXchelnd  und  lXssig  als  eine  Sitte  der
Kindermenschen mitgemacht hatte,  mit einer zunehmenden Wut und Leidenschaft
zu  treiben. Er war ein gefXrchteter Spieler,  wenige  wagten es mit ihm, so
hoch  und frech waren seine EinsXtze. Er trieb das Spiel aus  der Not seines
Herzens, das Verspielen und Verschleudern  des elenden Geldes schuf ihm eine
zornige  Freude,  auf  keine  andre  Weise  konnte  er seine Verachtung  des
Reichtums, des  GXtzen der Kaufleute, deutlicher und hXhnischer  zeigen.  So
spielte  er  hoch  und  schonungslos,  sich   selbst  hassend,  sich  selbst
verhXhnend,  strich  Tausende  ein,  warf  Tausende  weg,  verspielte  Geld,
verspielte  Schmuck,  verspielte  ein  Landhaus, gewann  wieder,  verspielte
wieder. Jene Angst, jene furchtbare und beklemmende Angst, welche er wXhrend
des  WXrfelns,  wXhrend  des Bangens  um  hohe EinsXtze  empfand, jene Angst
liebte er und  suchte sie immer zu erneuern, immer zu steigern,  immer hXher
zu  kitzeln,  denn in  diesem GefXhl  allein noch fXhlte er etwas wie GlXck,
etwas  wie Rausch,  etwas wie  erhXhtes Leben inmitten  seines  gesXttigten,
lauen, faden  Lebens.  Und  nach  jedem groXen  Verluste sann  er auf  neuen
Reichtum, ging eifriger dem Handel nach, zwang strenger  seine Schuldner zum
Zahlen, denn er wollte  weiter spielen, er wollte  weiter vergeuden,  weiter
dem Reichtum seine Verachtung zeigen. Siddhartha verlor die Gelassenheit bei
Verlusten,   er  verlor  die  Geduld  gegen   sXumige  Zahler,   verlor  die
GutmXtigkeit gegen Bettler, verlor die Lust am Verschenken und Wegleihen des
Geldes an  Bittende. Er, der zehntausend auf einen Wurf verspielte  und dazu
lachte,  wurde im Handel strenger und kleinlicher,  trXumte  nachts zuweilen
von Geld! Und so oft er aus dieser hXlichen Bezauberung erwachte, so oft er
sein  Gesicht  im Spiegel  an  der  Schlafzimmerwand gealtert  und hXlicher
geworden  sah, so  oft Scham und Ekel ihn Xberfiel,  floh er weiter, floh in
neues  GlXcksspiel, floh in BetXubungen der Wollust, des  Weines, und von da
zurXck in den Trieb des HXufens und Erwerbens. In diesem sinnlosen Kreislauf
lief er sich mXde, lief er sich alt, lief sich krank.
     Da  mahnte  ihn einst  ein Traum. Er  war die Abendstunden  bei  Kamala
gewesen, in ihrem schXnen Lustgarten. Sie waren unter den  BXumen  gesessen,
im  GesprXch, und  Kamala hatte nachdenkliche  Worte  gesagt,  Worte, hinter
welchen  sich  eine Trauer und MXdigkeit verbarg.  Von Gotama  hatte sie ihn
gebeten zu erzXhlen,  und konnte  nicht genug von ihm  hXren, wie rein  sein
Auge, wie still und schXn sein Mund, wie gXtig sein  LXcheln, wie friedevoll
sein Gang gewesen. Lange hatte er  ihr vom erhabenen Buddha erzXhlen mXssen,
und Kamala hatte geseufzt, und hatte gesagt:  Einst,  vielleicht bald, werde
auch ich diesem Buddha folgen. Ich werde ihm meinen Lustgarten schenken, und
werde meine  Zuflucht zu seiner Lehre nehmen."  Darauf  aber hatte  sie  ihn
gereizt,  und  ihn   im  Liebesspiel  mit  schmerzlicher  Inbrunst  an  sich
gefesselt, unter  Bissen  und  unter TrXnen, als wolle sie noch  einmal  aus
dieser eiteln, vergXnglichen Lust den letzten sXen Tropfen pressen. Nie war
es  Siddhartha  so seltsam klar  geworden,  wie nahe die  Wollust  dem  Tode
verwandt ist.  Dann war  er an ihrer Seite gelegen,  und Kamalas Antlitz war
ihm  nahe gewesen, und unter ihren Augen und neben  ihren  Mundwinkeln hatte
er, deutlich wie noch niemals, eine  bange Schrift gelesen, eine Schrift von
feinen Linien, von leisen Furchen,  eine Schrift, die  an den Herbst und  an
das Alter  erinnerte,  wie denn auch  Siddhartha selbst,  der  erst  in  den
Vierzigern  stand,  schon  hier  und  dort  ergraute  Haare zwischen  seinen
schwarzen  bemerkt  hatte.  MXdigkeit  stand  auf  Kamalas  schXnem  Gesicht
geschrieben,  MXdigkeit  vom  Gehen eines langen Weges, der kein frohes Ziel
hat, MXdigkeit und beginnende Welke,  und verheimlichte, noch nicht gesagte,
vielleicht noch  nicht einmal  gewusste Bangigkeit:  Furcht vor  dem  Alter,
Furcht vor dem Herbste, Furcht vor  dem SterbenmXssen. Seufzend hatte er von
ihr  Abschied genommen, die  Seele  voll  Unlust,  und  voll  verheimlichter
Bangigkeit.
     Dann  hatte Siddhartha die Nacht in seinem  Hause mit  TXnzerinnen beim
Weine  zugebracht,  hatte  gegen  seine  Standesgenossen   den   Xberlegenen
gespielt, welcher er nicht mehr war, hatte viel Wein getrunken und spXt nach
Mitternacht  sein Lager aufgesucht, mXde und dennoch erregt, dem Weinen  und
der Verzweiflung  nahe, und  hatte lang vergeblich  den  Schlaf gesucht, das
Herz voll eines  Elendes, das er  nicht mehr ertragen zu kXnnen meinte, voll
eines Ekels, von dem er sich  durchdrungen fXhlte wie vom lauen, widerlichen
Geschmack des Weines, der allzu sXen, Xden Musik, dem allzu weichen LXcheln
der TXnzerinnen, dem allzu sXen Duft ihrer Haare und BrXste. Mehr  aber als
vor allem anderen ekelte ihm vor sich  selbst, vor  seinen duftenden Haaren,
vor dem  Weingeruch  seines Mundes,  vor der schlaffen  MXdigkeit und Unlust
seiner Haut. Wie  wenn einer, der allzuviel gegessen oder  getrunken hat, es
unter Qualen  wieder  erbricht  und  doch  der  Erleichterung  froh  ist, so
wXnschte  sich der  Schlaflose, in einem ungeheuren Schwall  von  Ekel  sich
dieser  GenXsse,  dieser  Gewohnheiten, dieses ganzen sinnlosen  Lebens  und
seiner selbst zu  entledigen. Erst beim Schein des Morgens und  dem Erwachen
der  ersten GeschXftigkeit  auf  der  StraXe vor seinem  Stadthause  war  er
eingeschlummert, hatte  fXr wenige Augenblicke  eine halbe  BetXubung,  eine
Ahnung von Schlaf gefunden. In diesen Augenblicken hatte er einen Traum:
     Kamala besaX in einem goldenen KXfig einen  kleinen seltenen Singvogel.
Von diesem Vogel trXumte  er.  Er trXumte:  dieser Vogel war stumm geworden,
der sonst stets in der  Morgenstunde sang, und da dies ihm auffiel,  trat er
vor den KXfig  und blickte hinein, da war der kleine Vogel tot und lag steif
am Boden. Er nahm ihn heraus,  wog ihn einen Augenblick in der Hand und warf
ihn  dann weg, auf die Gasse hinaus, und im  gleichen Augenblick erschrak er
furchtbar,  und das Herz tat ihm weh, so, als habe er mit diesem toten Vogel
allen Wert und alles Gute von sich geworfen.
     Aus  diesem  Traum auffahrend, fXhlte  er  sich von  tiefer Traurigkeit
umfangen. Wertlos, so schien  ihm,  wertlos  und sinnlos hatte er sein Leben
dahingefXhrt;   nichts  Lebendiges,   nichts   irgendwie   KXstliches   oder
Behaltenswertes war ihm in HXnden geblieben.  Allein stand er und leer,  wie
ein SchiffbrXchiger am Ufer.
     Finster begab  sich Siddhartha in  einen  Lustgarten,  der ihm gehXrte,
verschloss die Pforte, setzte sich unter einem Mangobaum nieder, fXhlte  den
Tod im  Herzen  und das Grauen in der Brust, saX und  spXrte, wie es in  ihm
starb, in ihm welkte,  in  ihm zu  Ende ging.  AllmXhlich  sammelte er seine
Gedanken, und ging im Geiste nochmals den ganzen  Weg seines Lebens, von den
ersten Tagen an, auf welche  er sich besinnen konnte. Wann denn hatte er ein
GlXck erlebt, eine wahre Wonne gefXhlt? O ja, mehrere  Male hatte er solches
erlebt.  In den Knabenjahren hatte er es gekostet, wenn er von den Brahmanen
Lob errungen hatte  er es in  seinem Herzen gefXhlt: "Ein  Weg liegt vor dem
Hersagen der heiligen Verse, im Disput  mit den Gelehrten,  als Gehilfe beim
Opfer ausgezeichnet hatte. Da hatte er es in seinem Herzen gefXhlt: "Ein Weg
liegt  vor dir, zu dem  du berufen  bist, auf dich  warten die  GXtter." Und
wieder  als  JXngling,  da ihn  das immer hXher  emporfliehende  Ziel  alles
Nachdenkens aus der Schar Gleichstrebender heraus- und hinangerissen  hatte,
da er in Schmerzen um den Sinn  des Brahman  rang, da jedes erreichte Wissen
nur  neuen  Durst in  ihm entfachte, da  wieder hatte er,  mitten im  Durst,
mitten im Schmerze dieses selbe gefXhlt: "Weiter!  Weiter! Du bist berufen!"
Diese Stimme hatte er vernommen, als er seine Heimat verlassen und das Leben
des Samana gewXhlt hatte, und wieder, als er von den Samanas hinweg zu jenem
Vollendeten, und auch  von ihm hinweg ins  Ungewisse gegangen war. Wie lange
hatte er diese Stimme nicht mehr gehXrt, wie lange keine HXhe mehr erreicht,
wie eben und Xde  war sein Weg dahingegangen, viele lange Jahre, ohne  hohes
Ziel,  ohne Durst, ohne  Erhebung,  mit kleinen LXsten zufrieden und dennoch
nie  begnXgt! Alle  diese  Jahre  hatte  er,  ohne es selbst zu wissen, sich
bemXht und danach gesehnt, ein Mensch wie diese vielen zu werden,  wie diese
Kinder,  und  dabei war sein  Leben viel elender und  Xrmer  gewesen als das
ihre, denn ihre Ziele waren nicht die seinen,  noch ihre Sorgen, diese ganze
Welt der Kamaswami-Menschen war ihm  ja nur ein Spiel gewesen, ein Tanz, dem
man zusieht,  eine KomXdie.  Einzig Kamala war  ihm  lieb, war ihm  wertvoll
gewesen X aber war sie es noch? Brauchte er sie noch, oder sie ihn? Spielten
sie  nicht ein Spiel ohne Ende?  War es notwendig, dafXr  zu leben? Nein, es
war  nicht notwendig!  Dieses Spiel hieX Sansara,  ein Spiel fXr Kinder, ein
Spiel, vielleicht hold zu spielen, einmal, zweimal, zehnmal X aber immer und
immer wieder?
     Da wusste Siddhartha, dass das Spiel zu Ende war, dass er es nicht mehr
spielen kXnne.  Ein Schauder  lief ihm  Xber den  Leib, in seinem Innern, so
fXhlte er, war etwas gestorben.
     Jenen ganzen Tag saX er unter dem  Mangobaume, seines Vaters gedenkend,
Govindas gedenkend, Gotamas  gedenkend. Hatte er diese verlassen  mXssen, um
ein Kamaswami zu werden? Er  saX noch, als die Nacht angebrochen war. Als er
aufschauend  die  Sterne erblickte,  dachte er: "Hier sitze ich unter meinem
Mangobaume,  in  meinem  Lustgarten."  Er lXchelte  ein  wenig X war es denn
notwendig, war es  richtig, war  es nicht ein tXrichtes Spiel, dass er einen
Mangobaum, dass er einen Garten besaX?
     Auch  damit schloss er ab, auch das starb in  ihm. Er erhob  sich, nahm
Abschied vom Mangobaum, Abschied vom Lustgarten.  Da er  den Tag ohne Speise
geblieben war, fXhlte  er heftigen Hunger, und gedachte an sein  Haus in der
Stadt, an  sein Gemach  und Bett, an den Tisch mit  den Speisen. Er lXchelte
mXde, schXttelte sich und nahm Abschied von diesen Dingen.
     In derselben Nachtstunde verlieX  Siddhartha seinen Garten, verlieX die
Stadt und kam niemals wieder. Lange lieX Kamaswami nach ihm  suchen, der ihn
in  RXuberhand  gefallen glaubte. Kamala lieX nicht nach ihm suchen. Als sie
erfuhr, dass Siddhartha verschwunden sei, wunderte sie sich nicht. Hatte sie
es nicht immer erwartet? War er nicht ein Samana, ein Heimloser, ein Pilger?
Und am  meisten hatte  sie  dies beim letzten Zusammensein  gefXhlt, und sie
freute sich mitten  im Schmerz des Verlustes, dass sie ihn dieses letzte Mal
noch  so innig  an ihr  Herz  gezogen,  sich noch  einmal so ganz  von  ihm,
besessen und durchdrungen gefXhlt hatte.
     Als sie die  erste Nachricht von  Siddharthas Verschwinden bekam,  trat
sie ans Fenster,  wo sie  in  einem goldenen KXfig  einen seltenen Singvogel
gefangen  hielt.  Sie Xffnete die TXr des KXfigs,  nahm den Vogel heraus und
lieX  ihn fliegen. Lange sah sie ihm nach, dem fliegenden Vogel. Sie empfing
von diesem Tage  an keine  Besucher  mehr, und hielt  ihr Haus verschlossen.
Nach einiger Zeit aber ward sie inne, dass sie von dem letzten  Zusammensein
mit Siddhartha schwanger sei.



     Siddhartha  wanderte  im Walde,  schon fern von  der Stadt, und  wusste
nichts als das  eine, dass er nicht mehr zurXck konnte, dass dies Leben, wie
er  es nun  viele  Jahre lang gefXhrt, vorXber und  dahin  und bis zum  Ekel
ausgekostet  und ausgesogen war. Tot war der Singvogel, von dem er getrXumt.
Tot war der Vogel in seinem Herzen.  Tief war er in Sansara verstrickt, Ekel
und Tod hatte er von allen Seiten in sich eingesogen, wie ein Schwamm Wasser
einsaugt, bis er voll ist. Voll war  er von Xberdruss, voll von Elend,  voll
von Tod, nichts mehr gab es in der Welt, das ihn locken, das ihn freuen, das
ihn trXsten konnte.
     Sehnlich wXnschte er,  nichts mehr von  sich zu wissen, Ruhe zu  haben,
tot zu sein. KXme  doch ein Blitz und erschlXge ihn! KXme doch ein Tiger und
frXe ihn!  GXbe es  doch einen Wein,  ein Gift, das ihm BetXubung  brXchte,
Vergessen und Schlaf, und  kein Erwachen mehr! Gab  es denn noch irgendeinen
Schmutz, mit dem er sich nicht beschmutzt hatte, eine SXnde und Torheit, die
er nicht begangen, eine SeelenXde, die er nicht  auf sich geladen hatte? War
es denn noch mXglich, zu leben? War es mXglich, nochmals und nochmals wieder
Atem zu ziehen,  Atem auszustoXen, Hunger zu fXhlen, wieder zu essen, wieder
zu schlafen, wieder beim Weibe zu liegen? War dieser Kreislauf nicht fXr ihn
erschXpft und abgeschlossen?
     Siddhartha gelangte  an den  groXen Fluss im Walde, an denselben Fluss,
Xber  welchen ihn einst,  als er noch ein junger Mann  war und von der Stadt
des Gotama kam, ein FXhrmann gefXhrt hatte. An diesem Flusse machte er Halt,
blieb zXgernd beim  Ufer stehen. MXdigkeit und Hunger hatten ihn geschwXcht,
und wozu  auch sollte er weitergehen,  wohin denn, zu welchem Ziel? Nein, es
gab keine Ziele mehr, es gab nichts mehr als die tiefe, leidvolle Sehnsucht,
diesen ganzen wXsten  Traum von sich zu  schXtteln,  diesen schalen Wein von
sich  zu  speien, diesem jXmmerlichen und schmachvollen  Leben  ein  Ende zu
machen.
     Xber das  Flussufer hing  ein Baum gebeugt, ein  Kokosbaum,  an  dessen
Stamm lehnte sich Siddhartha mit  der Schulter,  legte den Arm  um den Stamm
und blickte  in das grXne Wasser hinab,  das unter ihm zog und  zog, blickte
hinab und fand sich ganz  und gar von dem Wunsche erfXllt, sich  loszulassen
und in diesem Wasser unterzugehen. Eine schauerliche Leere spiegelte ihm aus
dem Wasser entgegen, welcher die  furchtbare Leere  in seiner Seele  Antwort
gab. Ja, er war am Ende. Nichts mehr gab es fXr ihn, als  sich auszulXschen,
als  das misslungene Gebilde seines Lebens  zu zerschlagen,  es wegzuwerfen,
hohnlachenden GXttern vor die FXe. Dies  war das groXe Erbrechen,  nach dem
er sich gesehnt  hatte:  der  Tod, das Zerschlagen  der Form, die er hasste!
Mochten  ihn  die   Fische  fressen,  diesen  Hund  von  Siddhartha,  diesen
Irrsinnigen, diesen verdorbenen und  verfaulten  Leib, diese erschlaffte und
missbrauchte Seele!  Mochten die Fische und Krokodile  ihn fressen,  mochten
die DXmonen ihn zerstXcken!
     Mit  verzerrtem  Gesichte  starrte  er  ins Wasser,  sah  sein  Gesicht
gespiegelt  und  spie danach.  In  tiefer  MXdigkeit  lXste er  den Arm  vom
Baumstamme  und drehte  sich  ein  wenig,  um sich senkrecht hinabfallen  zu
lassen, um  endlich unterzugehen. Er sank, mit geschlossenen Augen,  dem Tod
entgegen.
     Da  zuckte aus entlegenen  Bezirken seiner  Seele, aus  Vergangenheiten
seines  ermXdeten  Lebens her ein Klang. Es war ein Wort, eine Silbe, die er
ohne Gedanken mit lallender Stimme vor sich hinsprach, das alte  Anfangswort
und  Schlusswort  aller brahmanischen Gebete, das heilige "Om", das so  viel
bedeutet wie "das Vollkommene" oder "die Vollendung".  Und im Augenblick, da
der Klang "Om" Siddharthas Ohr berXhrte, erwachte sein entschlummerter Geist
plXtzlich, und erkannte die Torheit seines Tuns.
     Siddhartha erschrak tief. So also stand es um ihn, so verloren war  er,
so verirrt und von  allem Wissen verlassen,  dass  er den Tod  hatte  suchen
kXnnen,  dass dieser Wunsch,  dieser  Kinderwunsch in ihm hatte groX  werden
kXnnen:  Ruhe zu  finden, indem  er  seinen Leib auslXschte!  Was alle  Qual
dieser letzten  Zeiten, alle ErnXchterung, alle  Verzweiflung nicht  bewirkt
hatte, das bewirkte dieser Augenblick, da das  Om in sein Bewusstsein drang:
dass er sich in seinem Elend und in seiner Irrsal erkannte.
     Om!  sprach er vor sich hin: Om! Und wusste um Brahman, wusste  um  die
UnzerstXrbarkeit  des Lebens,  wusste  um alles  GXttliche  wieder,  das  er
vergessen hatte.
     Doch  war  dies nur ein Augenblick, ein Blitz. Am FuX  des  Kokosbaumes
sank Siddhartha nieder, von der ErmXdung  hingestreckt,  Om  murmelnd, legte
sein Haupt auf die Wurzel des Baumes und sank in tiefen Schlaf.
     Tief war  sein Schlaf  und frei von  TrXumen, seit langer Zeit hatte er
einen  solchen  Schlaf  nicht  mehr gekannt. Als  er  nach  manchen  Stunden
erwachte,  war  ihm,  als  seien zehn Jahre  vergangen,  er  hXrte das leise
StrXmen  des Wassers,  wusste nicht, wo er sei und wer  ihn hierher gebracht
habe, schlug die Augen auf, sah mit Verwunderung BXume und Himmel Xber sich,
und  erinnerte sich,  wo  er  wXre  und  wie er hierher  gekommen  sei. Doch
bedurfte er hierzu einer langen Weile, und  das Vergangene erschien ihm  wie
von einem Schleier Xberzogen, unendlich  fern,  unendlich  weit weg gelegen,
unendlich gleichgXltig.  Er wusste  nur, dass  er  sein  frXheres Leben  (im
ersten Augenblick der  Besinnung erschien ihm dies  frXhere Leben  wie  eine
weit zurXckliegende, einstige VerkXrperung, wie eine frXhe  Vorgeburt seines
jetzigen Ich)  X dass er sein frXheres  Leben verlassen habe,  dass er  voll
Ekel und Elend sogar sein Leben habe wegwerfen wollen, dass er aber an einem
Flusse, unter einem Kokosbaume, zu  sich  gekommen sei, das  heilige Wort Om
auf den Lippen, dann entschlummert sei, und nun erwacht als ein neuer Mensch
in die Welt blicke. Leise sprach  er das Wort Om  vor sich hin, Xber welchem
er eingeschlafen war, und ihm  schien sein  ganzer langer  Schlaf sei nichts
als   ein  langes,  versunkenes  Om-Sprechen  gewesen,  ein  Om-Denken,  ein
Untertauchen und vXlliges Eingehen in Om, in das Namenlose, Vollendete.
     Was fXr ein wunderbarer Schlaf war dies doch gewesen! Niemals hatte ein
Schlaf ihn so  erfrischt, so erneut, so verjXngt! Vielleicht war er wirklich
gestorben, war untergegangen und in  einer neuen Gestalt wiedergeboren? Aber
nein, er  kannte sich,  er kannte seine Hand und seine FXe, kannte den Ort,
an dem  er  lag, kannte dies  Ich in  seiner Brust, diesen  Siddhartha,  den
Eigenwilligen, den Seltsamen, aber dieser Siddhartha war dennoch verwandelt,
war erneut,  war merkwXrdig  ausgeschlafen,  merkwXrdig  wach,  freudig  und
neugierig.
     Siddhartha richtete sich empor, da sah er sich gegenXber einen Menschen
sitzen,  einen  fremden Mann, einen  MXnch in gelbem  Gewande mit  rasiertem
Kopfe,  in der Stellung des  Nachdenkens. Er betrachtete den Mann, der weder
Haupthaar noch Bart an  sich hatte, und nicht lange hatte er ihn betrachtet,
da erkannte er in diesem MXnche Govinda, den Freund seiner Jugend,  Govinda,
der  seine  Zuflucht  zum  erhabenen  Buddha  genommen  hatte.  Govinda  war
gealtert, auch er, aber noch immer  trug sein Gesicht die alten ZXge, sprach
von Eifer, von  Treue, von Suchen,  von Xngstlichkeit. Als nun aber Govinda,
seinen Blick fXhlend, das Auge aufschlug und ihn  anschaute, sah Siddhartha,
dass  Govinda ihn nicht erkenne. Govinda freute sich, ihn  wach  zu  finden,
offenbar hatte er lange hier gesessen und auf sein Erwachen gewartet, obwohl
er ihn nicht kannte.
     "Ich  habe  geschlafen," sagte  Siddhartha. "Wie  bist  denn du hierher
gekommen?"
     "Du hast geschlafen," antwortete Govinda. "Es ist nicht gut, an solchen
Orten  zu  schlafen, wo hXufig Schlangen sind und die  Tiere des Waldes ihre
Wege haben. Ich, o Herr,  bin  ein  JXnger des erhabenen Gotama, des Buddha,
des Sakyamuni, und bin mit einer Zahl der  Unsrigen diesen Weg gepilgert, da
sah ich  dich liegen und schlafen  an einem  Orte, wo  es gefXhrlich ist  zu
schlafen. Darum suchte ich dich zu wecken, o Herr, und da ich sah, dass dein
Schlaf sehr tief war, blieb  ich hinter den Meinigen zurXck und saX bei dir.
Und dann, so scheint es, bin ich selbst eingeschlafen, der ich deinen Schlaf
bewachen wollte.  Schlecht  habe ich  meinen Dienst versehen, MXdigkeit  hat
mich  Xbermannt. Aber nun, da  du ja wach bist,  lass  mich gehen, damit ich
meine BrXder einhole."
     "Ich  danke dir, Samana,  dass  du meinen Schlaf behXtet hast,"  sprach
Siddhartha. "Freundlich  seid Ihr JXnger des  Erhabenen. Nun magst  du  denn
gehen."
     "Ich gehe, Herr. MXge der Herr sich immer wohl befinden."
     "Ich danke dir, Samana."
     Govinda machte das Zeichen des GruXes und sagte: "Lebe wohl."
     "Lebe wohl, Govinda," sagte Siddhartha.
     Der MXnch blieb stehen.
     "Erlaube, Herr, woher kennst du meinen Namen?"
     Da lXchelte Siddhartha.
     "Ich kenne dich,  o  Govinda, aus der  HXtte deines Vaters, und aus der
Brahmanenschule, und von den Opfern, und von unsrem Gang zu den Samanas, und
von  jener  Stunde,  da  du  im Hain Jetavana deine Zuflucht  zum  Erhabenen
nahmest."
     "Du bist Siddharthal" rief Govinda  laut.  Jetzt  erkenne ich dich, und
begreife  nicht  mehr,  wie  ich dich  nicht sogleich  erkennen konnte.  Sei
willkommen, Siddhartha, groX ist meine Freude, dich wiederzusehen"
     "Auch  mich  erfreut es, dich wiederzusehen. Du bist der WXchter meines
Schlafes gewesen,  nochmals danke ich dir dafXr, obwohl  ich keines WXchters
bedurft hXtte. Wohin gehst du, o Freund?"
     "Nirgendshin gehe ich. Immer sind  wir MXnche  unterwegs, solange nicht
Regenzeit  ist, immer  ziehen wir  von  Ort zu Ort,  leben  nach der  Regel,
verkXndigen  die Lehre,  nehmen Almosen, ziehen weiter. Immer ist es so.  Du
aber, Siddhartha, wo gehst du hin?"
     Sprach Siddhartha: "Auch mit  mir steht es so, Freund, wie mit dir. Ich
gehe nirgendhin. Ich bin nur unterwegs. Ich pilgere."
     Govinda sprach: "Du  sagst,  du  pilgerst,  und  ich  glaube dir.  Doch
verzeih,  o Siddhartha,  nicht wie  ein Pilger siehst du aus.  Du trXgst das
Kleid eines Reichen, du trXgst die Schuhe  eines Vornehmen,  und  dein Haar,
das nach wohlriechendem  Wasser  duftet, ist  nicht das  Haar eines Pilgers,
nicht das Haar eines Samanas."
     "Wohl, Lieber, gut hast du beobachtet, alles sieht dein scharfes  Auge.
Doch habe ich  nicht  zu dir gesagt, dass ich ein Samana sei. Ich sagte: ich
pilgere. Und so ist es: ich pilgere."
     "Du  pilgerst," sagte Govinda. "Aber wenige  pilgern in solchem Kleide,
wenige  in solchen Schuhen, wenige mit solchen Haaren. Nie habe ich, der ich
schon viele Jahre pilgere, solch einen Pilger angetroffen."
     "Ich  glaube es dir, mein  Govinda. Aber nun, heute, hast du eben einen
solchen  Pilger  angetroffen,  in  solchen  Schuhen,  mit  solchem  Gewande.
Erinnere  dich,  Lieber:   VergXnglich  ist  die  Welt   der   Gestaltungen,
vergXnglich, hXchst vergXnglich sind unsere GewXnder, und die Tracht unserer
Haare, und  unsere  Haare und  KXrper  selbst.  Ich trage  die Kleider eines
Reichen, da hast du recht  gesehen. Ich trage sie,  denn ich bin ein Reicher
gewesen, und trage das  Haar wie die Weltleute und LXstlinge, denn einer von
ihnen bin ich gewesen. "
     "Und jetzt, Siddhartha, was bist du jetzt?"
     "Ich weiX es nicht, ich weiX es so wenig wie du. Ich bin unterwegs. Ich
war ein Reicher, und bin es nicht mehr; und was ich morgen sein werde,  weiX
ich nicht."
     "Du hast deinen Reichtum verloren?"
     "Ich habe ihn verloren, oder  er  mich. Er ist mir  abhanden  gekommen.
Schnell dreht sich  das Rad der Gestaltungen, Govinda.  Wo ist der  Brahmane
Siddhartha? Wo  ist  der Samana  Siddhartha?  Wo ist  der Reiche Siddhartha?
Schnell wechselt das VergXngliche, Govinda, du weiXt es.
     Govinda  blickte den Freund  seiner  Jugend lange an,  Zweifel im Auge.
Darauf grXte er ihn, wie man Vornehme grXt, und ging seines Weges.
     Mit lXchelndem Gesicht schaute Siddhartha ihm nach, er liebte  ihn noch
immer, diesen  Treuen,  diesen  Xngstlichen. Und  wie  hXtte  er,  in diesem
Augenblick,  in dieser  herrlichen Stunde nach  seinem wunderbaren  Schlafe,
durchdrungen von  Om,  irgend jemand und  irgend  etwas nicht lieben sollen!
Eben darin bestand die Verzauberung, welche im Schlafe  und durch  das Om in
ihm  geschehen war,  dass er alles liebte, dass er voll  froher Liebe war zu
allem, was er sah. Und eben daran, so schien es ihm jetzt, war er vorher  so
sehr krank gewesen, dass er nichts und niemand hatte lieben kXnnen.
     Mit lXchelndem  Gesichte schaute Siddhartha dem  hinweggehenden  MXnche
nach. Der Schlaf  hatte ihn sehr gestXrkt,  sehr aber quXlte ihn der Hunger,
denn er hatte nun zwei Tage nichts gegessen, und lange war die Zeit vorXber,
da  er  hart gegen den Hunger  gewesen war.  Mit Kummer,  und doch auch  mit
Lachen, gedachte er jener  Zeit. Damals, so erinnerte er sich, hatte er sich
vor Kamala dreier Dinge gerXhmt, hatte drei  edle und unXberwindliche KXnste
gekonnt: Fasten X Warten X Denken. Dies war sein Besitz gewesen, seine Macht
und  Kraft, sein  fester  Stab, in den fleiXigen,  mXhseligen Jahren  seiner
Jugend hatte er diese drei KXnste  gelernt, nichts anderes. Und  nun  hatten
sie  ihn  verlassen, keine von  ihnen  war  mehr sein,  nicht  Fasten, nicht
Warten, nicht  Denken.  Um das  Elendeste  hatte er  sie hingegeben,  um das
VergXnglichste, um SinnenIust, um Wohlleben, um Reichtum! Seltsam war es ihm
in der  Tat ergangen. Und jetzt,  so schien es,  jetzt  war er  wirklich ein
Kindermensch geworden.
     Siddhartha dachte Xber seine Lage nach. Schwer fiel ihm  das Denken, er
hatte im Grunde keine Lust dazu, doch zwang er sich.
     Nun,  dachte  er,  da  alle  diese  vergXnglichsten  Dinge  mir  wieder
entglitten sind,  nun  stehe ich wieder unter  der Sonne, wie ich einst  als
kleines Kind gestanden bin, nichts ist mein,  nichts kann ich, nichts vermag
ich, nichts habe ich gelernt. Wie  ist dies wunderlich! Jetzt, wo ich  nicht
mehr  jung  bin,  wo  meine  Haare  schon  halb  grau  sind,  wo  die KrXfte
nachlassen, jetzt fange ich wieder von vorn und beim Kinde an! Wieder musste
er lXcheln. Ja, seltsam war  sein Geschick! Es ging abwXrts mit ihm, und nun
stand er  wieder  leer und nackt  und dumm in  der Welt. Aber Kummer darXber
konnte er  nicht empfinden, nein, er  fXhlte sogar groXen Anreiz zum Lachen,
zum Lachen Xber sich, zum Lachen Xber diese seltsame, tXrichte Welt.
     "AbwXrts geht  es mit dir!" sagte  er zu  sich selber, und lachte dazu,
und wie er es  sagte, fiel sein Blick auf  den Fluss, und auch den Fluss sah
er abwXrts gehen, immer abwXrts wandern, und dabei singen und frXhlich sein.
Das  gefiel ihm wohl, freundlich lXchelte  er dem  Flusse zu. War dies nicht
der  Fluss, in  welchem er  sich hatte ertrXnken wollen,  einst, vor hundert
Jahren, oder hatte er das getrXumt?
     Wunderlich in der Tat war  mein Leben, so dachte er, wunderliche Umwege
hat  es genommen.  Als Knabe habe ich nur  mit GXttern  und  Opfern  zu  tun
gehabt.  Als JXngling habe  ich nur mit Askese, mit Denken und Versenkung zu
tun gehabt, war auf der Suche nach Brahman, verehrte das Ewige im Atman. Als
junger Mann aber zog  ich den  BXern nach, lebte im Walde, litt  Hitze  und
Frost, lernte  hungern, lehrte  meinen Leib  absterben.  Wunderbar  kam  mir
alsdann  in  der  Lehre  des groXen Buddha  Erkenntnis entgegen, ich  fXhlte
Wissen  um die Einheit der  Welt in  mir kreisen wie mein eigenes Blut. Aber
auch von Buddha und von dem groXen Wissen  musste  ich wieder fort. Ich ging
und  lernte bei  Kamala  die Liebeslust,  lernte  bei  Kamaswami den Handel,
hXufte Geld, vertat Geld, lernte meinen Magen lieben,  lernte  meinen Sinnen
schmeicheln.  Viele  Jahre  musste  ich   damit  hinbringen,  den  Geist  zu
verlieren,  das Denken wieder zu verlernen, die Einheit zu vergessen. Ist es
nicht so, als sei ich langsam und auf groXen Umwegen aus einem Mann ein Kind
geworden,  aus einem Denker ein Kindermensch? Und  doch ist dieser  Weg sehr
gut gewesen, und doch ist der Vogel  in meiner Brust nicht  gestorben.  Aber
welch ein  Weg war das!  Ich  habe durch  so  viel Dummheit,  durch so  viel
Laster, durch so viel Irrtum, durch so viel Ekel und EnttXuschung und Jammer
hindurchgehen mXssen, bloX um wieder ein Kind zu werden  und neu anfangen zu
kXnnen. Aber  es war richtig so, mein  Herz sagt Ja dazu, meine Augen lachen
dazu. Ich habe  Verzweiflung erleben mXssen, ich habe hinabsinken mXssen bis
zum  tXrichtesten aller Gedanken,  zum Gedanken  des Selbstmordes,  um Gnade
erleben zu kXnnen, um wieder Om zu vernehmen, um wieder richtig schlafen und
richtig erwachen zu kXnnen. Ich habe  ein Tor werden mXssen, um Atman wieder
in mir zu finden. Ich habe sXndigen mXssen, um wieder leben zu kXnnen. Wohin
noch  mag  mein  Weg mich  fXhren? NXrrisch  ist er, dieser Weg,  er geht in
Schleifen, er geht vielleicht im Kreise. Mag er gehen, wie er will, ich will
ihn gehen.
     Wunderbar fXhlte er in seiner Brust die Freude wallen.
     Woher denn,  fragte  er  sein Herz, woher hast  du diese  FrXhlichkeit?
Kommt  sie  wohl  aus  diesem  langen, guten Schlafe  her,  der  mir so sehr
wohlgetan hat? Oder von dem Worte Om, das  ich aussprach?  Oder  davon, dass
ich entronnen bin, dass meine Flucht vollzogen ist, dass ich endlich  wieder
frei  bin und  wie ein  Kind unter dem Himmel  stehe?  O  wie  gut  ist dies
Geflohensein, dies Freigewordensein! Wie  rein und  schXn ist hier die Luft,
wie gut zu atmen! Dort, von wo ich entlief, dort roch alles nach Salbe, nach
GewXrzen,  nach Wein, nach Xberfluss, nach  TrXgheit. Wie hasste  ich  diese
Welt der Reichen, der  Schlemmer,  der  Spieler!  Wie habe  ich mich  selbst
gehasst,  dass ich so lang in  dieser schrecklichen Welt  geblieben bin! Wie
habe  ich mich gehasst,  habe mich beraubt, vergiftet, gepeinigt,  habe mich
alt und bXse  gemacht! Nein, nie  mehr werde ich, wie ich es einst so  gerne
tat,  mir  einbilden,  dass  Siddhartha  weise sei!  Dies aber  habe ich gut
gemacht, dies gefXllt mir, dies muss ich loben, dass es nun ein Ende hat mit
jenem Hass  gegen mich  selber, mit jenem tXrichten und Xden Leben! Ich lobe
dich, Siddharta, nach so viel Jahren der Torheit hast du wieder einmal einen
Einfall gehabt, hast  etwas getan, hast  den  Vogel  in deiner Brust  singen
hXren und bist ihm gefolgt!
     So lobte  er  sich, hatte Freude an sich, hXrte  neugierig seinem Magen
zu, der vor Hunger knurrte. Ein StXck Leid, ein StXck Elend hatte er nun, so
fXhlte er, in diesen letzten Zeiten und Tagen ganz und gar durchgekostet und
ausgespien,  bis zur Verzweiflung und bis zum Tode ausgefressen.  So  war es
gut. Lange noch  hXtte er bei Kamaswami bleiben  kXnnen, Geld erwerben, Geld
vergeuden, seinen Bauch mXsten und seine Seele verdursten lassen, lange noch
hXtte er in dieser sanften, wohlgepolsterten HXlle wohnen kXnnen,  wXre dies
nicht   gekommen:   der  Augenblick  der  vollkommenen  Trostlosigkeit   und
Verzweiflung, jener  XuXerste Augenblick, da er Xber  dem  strXmenden Wasser
hing und bereit war, sich zu vernichten. Dass er  diese Verzweiflung, diesen
tiefsten  Ekel gefXhlt hatte, und dass er  ihm nicht  erlegen  war, dass der
Vogel, die frohe Quelle  und Stimme in ihm  doch noch lebendig war,  darXber
fXhlte er  diese  Freude, darXber lachte  er, darXber strahlte sein  Gesicht
unter den ergrauten Haaren.
     "Es  ist gut," dachte er, "alles selber zu kosten, was  man  zu  wissen
nXtig hat. Dass  Weltlust und Reichtum nicht vom  Guten sind, habe ich schon
als Kind gelernt. Gewusst habe  ich es lange, erlebt habe ich es erst jetzt.
Und nun  weiX  ich  es, weiX es  nicht nur mit  dem GedXchtnis,  sondern mit
meinen Augen,  mit meinem  Herzen, mit meinem Magen. Wohl mir,  dass ich  es
weiX!"
     Lange  sann er nach Xber  seine Verwandlung, lauschte dem Vogel, wie er
vor  Freude sang.  War nicht dieser Vogel  in ihm gestorben,  hatte er nicht
seinen  Tod gefXhlt? Nein, etwas  anderes in  ihm  war gestorben, etwas, das
schon, lange sich nach Sterben gesehnt hatte. War es nicht das, was er einst
in seinen glXhenden BXerjahren hatte abtXten wollen? War es nicht sein Ich,
sein kleines,  banges und stolzes Ich, mit  dem er so  viele Jahre  gekXmpft
hatte, das ihn immer wieder besiegt hatte, das nach jeder AbtXtung wieder da
war, Freude verbot, Furcht empfand? War  es nicht  dies,  was heute  endlich
seinen Tod gefunden hatte, hier im Walde an diesem lieblichen Flusse? War es
nicht dieses Todes wegen, dass er jetzt wie ein Kind war, so voll Vertrauen,
so ohne Furcht, so voll Freude?
     Nun auch ahnte Siddhartha, warum er als Brahmane, als  BXer vergeblich
mit diesem  Ich gekXmpft hatte. Zu viel Wissen hatte ihn  gehindert, zu viel
heilige  Verse,  zu viel  Opferregeln,  zu viel Kasteiung, zu viel  Tun  und
Streben!  Voll  Hochmut  war  er  gewesen,  immer  der  KlXgste,  immer  der
Eifrigste,  immer  allen  um  einen Schritt  voran,  immer der Wissende  und
Geistige, immer  der  Priester  oder  Weise.  In dies Priestertum, in diesen
Hochmut, in diese Geistigkeit  hinein hatte sein Ich  sich verkrochen,  dort
saX es fest und wuchs, wXhrend  er es  mit Fasten und BuXe zu tXten  meinte.
Nun sah er es,  und sah, dass die  heimliche Stimme Recht gehabt hatte, dass
kein Lehrer ihn  je  hXtte erlXsen kXnnen. Darum hatte er in  die Welt gehen
mXssen, sich an Lust und Macht, an Weib und Geld verlieren mXssen, hatte ein
HXndler, ein  WXrfelspieler, Trinker und Habgieriger werden mXssen, bis  der
Priester und  Samana in ihm  tot war.  Darum hatte er weiter diese hXlichen
Jahre ertragen mXssen, den Ekel ertragen, die Lehre, die Sinnlosigkeit eines
Xden und verlorenen Lebens, bis zum Ende, bis zur bittern  Verzweiflung, bis
auch der LXstling  Siddhartha, der  Habgierige Siddhartha sterben konnte. Er
war gestorben,  ein neuer  Siddhartha  war  aus dem Schlaf erwacht.  Auch er
wXrde  alt  werden,  auch er wXrde  einst  sterben  mXssen, vergXnglich  war
Siddhartha, vergXnglich war jede Gestaltung. Heute aber war er jung, war ein
Kind, der neue Siddhartha, und war voll Freude.
     Diese  Gedanken dachte  er,  lauschte  lXchelnd auf seinen Magen, hXrte
dankbar einer summenden Biene zu. Heiter blickte er in den strXmenden Fluss,
nie hatte ihm ein Wasser so wohl  gefallen wie dieses, nie  hatte  er Stimme
und  Gleichnis  des  ziehenden  Wassers so  stark  und schXn  vernommen. Ihm
schien, es habe der Fluss ihm etwas Besonderes zu sagen,  etwas, das er noch
nicht wisse, das noch auf ihn  warte. In diesem  Fluss hatte sich Siddhartha
ertrXnken wollen, in ihm war  der alte, mXde, verzweifelte Siddhartha  heute
ertrunken.  Der  neue Siddhartha aber fXhlte  eine  tiefe  Liebe  zu  diesem
strXmenden  Wasser,  und  beschloss  bei  sich, es nicht  so  bald wieder zu
verlassen.



     An diesem  Fluss will ich bleiben, dachte Siddhartha, es ist der selbe,
Xber den ich einstmals auf dem  Wege zu den Kindermenschen gekommen bin, ein
freundlicher  FXhrmann hat mich damals gefXhrt, zu ihm will ich  gehen,  von
seiner  HXtte aus fXhrte mich einst mein  Wegin ein neues Leben, das nun alt
geworden  und tot  ist X mXge auch  mein jetziger  Weg, mein jetziges  neues
Leben dort seinen Ausgang nehmen!
     ZXrtlich blickte er in das strXmende Wasser, in das durchsichtige GrXn,
in die kristallenen Linien seiner geheimnisreichen Zeichnung. Lichte  Perlen
sah er aus der Tiefe steigen, stille Luftblasen auf  dem Spiegel  schwimmen,
HimmelsblXue darin abgebildet. Mit tausend  Augen blickte  der Fluss ihn an,
mit  grXnen, mit  weiXen, mit kristallnen, mit himmelblauen. Wie  liebte  er
dies Wasser, wie entzXckte es ihn, wie war er ihm dankbar!  Im  Herzen hXrte
er die Stimme sprechen,  die neu  erwachte, und sie sagte  ihm:  Liebe  dies
Wasser!  Bleibe bei ihm! Lerne von ihm! O  ja,  er wollte von ihm lernen, er
wollte  ihm zuhXren.  Wer dies  Wasser  und seine Geheimnisse  verstXnde, so
schien ihm, der  wXrde auch viel anderes verstehen, viele  Geheimnisse, alle
Geheimnisse.
     Von  den  Geheimnissen des Flusses  aber  sah er heute  nur eines,  das
ergriff seine Seele. Er sah: dies Wasser lief und lief, immerzu lief es, und
war doch immer da, war immer und allezeit dasselbe und doch jeden Augenblick
neu! O wer  dies  fasste,  dies verstXnde! Er verstand und fasste  es nicht,
fXhlte nur Ahnung sich regen, ferne Erinnerung, gXttliche Stimmen.
     Siddhartha  erhob sich, unertrXglich wurde das Treiben  des  Hungers in
seinem Leibe. Hingenommen wanderte er weiter, den Uferpfad hinan,  dem Strom
entgegen, lauschte auf die StrXmung,  lauschte  auf den knurrenden Hunger in
seinem Leibe.
     Als er  die FXhre  erreichte, lag eben  das Boot  bereit, und  derselbe
FXhrmann,  welcher  einst den jungen Samana Xber  den  Fluss gesetzt  hatte,
stand im Boot, Siddhartha erkannte ihn wieder, auch er war stark gealtert.
     "Willst du mich Xbersetzen?" fragte er.
     Der  FXhrmann,  erstaunt, einen so  vornehmen Mann allein  und zu  FuXe
wandern zu sehen, nahm ihn ins Boot und stieX ab.
     "Ein schXnes Leben hast du dir erwXhlt,"  sprach  der Gast. "SchXn muss
es sein, jeden Tag an diesem Wasser zu leben und auf ihm zu fahren."
     LXchelnd wiegte sich der Ruderer: "Es ist schXn, Herr, es ist,  wie  du
sagst. Aber ist nicht jedes Leben, ist nicht jede Arbeit schXn?"
     "Es mag wohl sein. Dich aber beneide ich um die Deine."
     "Ach, du mXchtest bald die Lust an  ihr verlieren. Das  ist  nichts fXr
Leute in feinen Kleidern."
     Siddhartha lachte. "Schon einmal bin ich heute um meiner Kleider willen
betrachtet worden, mit  Misstrauen betrachtet. Willst  du  nicht,  FXhrmann,
diese Kleider, die  mir lXstig sind, von mir annehmen? Denn du musst wissen,
ich habe kein Geld, dir einen FXhrlohn zu zahlen."
     "Der Herr scherzt," lachte der FXhrmann.
     "Ich scherze nicht, Freund. Sieh,  schon einmal hast du  mich in deinem
Boot Xber dies Wasser gefahren, um Gotteslohn. So  tue  es auch  heute,  und
nimm meine Kleider dafXr an."
     "Und will der Herr ohne Kleider weiterreisen?"
     "Ach, am liebsten wollte ich gar nicht weiterreisen.  Am  liebsten wXre
es mir,  FXhrmann, wenn du mir  eine alte SchXrze gXbest und behieltest mich
als  deinen Gehilfen  bei dir, vielmehr als  deinen Lehrling, denn erst muss
ich lernen, mit dem Boot umzugehen."
     Lange blickte der FXhrmann den Fremden an, suchend.
     "Jetzt erkenne ich dich,"  sagte er endlich. "Einst hast du  in  meiner
HXtte geschlafen, lange ist es her, wohl mehr als zwanzig Jahre  mag das her
sein,  und  bist  von  mir  Xber  den Fluss gebracht  worden, und wir nahmen
Abschied voneinander  wie gute  Freunde. Warst  du nicht  ein Samana? Deines
Namens kann ich mich nicht mehr entsinnen."
     "Ich  heiXe Siddhartha,  und  ich war ein  Samana,  als du mich zuletzt
gesehen hast."
     "So sei willkommen, Siddhartha. Ich heiXe Vasudeva. Du wirst,  so hoffe
ich,  auch heute mein  Gast sein  und  in meiner  HXtte  schlafen,  und  mir
erzXhlen,  woher  du kommst, und warum deine schXnen Kleider  dir so  lXstig
sind."
     Sie waren  in die  Mitte  des  Flusses gelangt, und Vasudeva legte sich
stXrker ins Ruder, um gegen die StrXmung anzukommen. Ruhig arbeitete er, den
Blick auf  der  Bootspitze, mit krXftigen Armen. Siddhartha  saX und und sah
ihm  zu,  und erinnerte  sich,  wie schon einstmals, an jenem  letzten  Tage
seiner Samana-Zeit,  Liebe zu diesem  Manne sich  in  seinem  Herzen  geregt
hatte. Dankbar  nahm er  Vasudevas Einladung an. Als  sie am  Ufer anlegten,
half  er  ihm das  Boot  an den  PflXcken  festbinden, darauf  bat  ihn  der
FXhrmann, in die HXtte zu treten, bot ihm Brot und Wasser, und Siddhartha aX
mit Lust,  und aX mit Lust  auch  von  den  MangofrXchten, die ihm  Vasudeva
anbot.
     Danach  setzten  sie  sich, es  ging  gegen  Sonnenuntergang, auf einem
Baumstamm am Ufer, und  Siddhartha  erzXhlte dem FXhrmann seine Herkunft und
sein  Leben, wie er es heute,  in jener Stunde  der Verzweiflung, vor seinen
Augen gesehen hatte. Bis tief in die Nacht wXhrte sein ErzXhlen.
     Vasudeva hXrte mit groXer Aufmerksamkeit zu. Alles nahm er lauschend in
sich auf,  Herkunft  und Kindheit,  all  das Lernen, all  das  Suchen,  alle
Freude, alle Not. Dies war unter des FXhrmanns Tugenden eine der grXten: er
verstand wie wenige das ZuhXren. Ohne dass  er  ein  Wort  gesprochen hXtte,
empfand  der  Sprechende, wie Vasudeva seine Worte in  sich  einlieX, still,
offen, wartend, wie  er keines  verlor, keines mit Ungeduld erwartete, nicht
Lob  noch  Tadel daneben stellte, nur  zuhXrte. Siddhartha empfand,  welches
GlXck  es ist, einem solchen  ZuhXrer sich  zu bekennen,  in  sein Herz  das
eigene Leben zu versenken, das eigene Suchen, das eigene Leiden.
     Gegen das Ende von Siddharthas ErzXhlung  aber, als er von dem  Baum am
Flusse  sprach, und von seinem tiefen Fall, vom heiligen Om, und wie er nach
seinem Schlummer  eine solche Liebe zu dem Flusse gefXhlt hatte, da lauschte
der  FXhrmann  mit verdoppelter  Aufmerksamkeit, ganz und vXllig hingegeben,
mit geschlossnem Auge.
     Als  aber  Siddhartha  schwieg,  und eine lange Stille gewesen war,  da
sagte Vasudeva: "Es ist so, wie ich dachte. Der Fluss hat zu dir gesprochen.
Auch  dir ist er Freund,  auch zu dir spricht er. Das  ist gut, das ist sehr
gut. Bleibe bei mir, Siddhartha, mein Freund. Ich hatte einst eine Frau, ihr
Lager war  neben dem meinen, doch ist sie schon lange  gestorben, lange habe
ich  allein  gelebt. Lebe nun du mit  mir,  es ist Raum und Essen  fXr beide
vorhanden."
     "Ich  danke dir,"  sagte Siddhartha, "ich danke  dir und  nehme an. Und
auch dafXr danke ich dir, Vasudeva, dass du mir so gut zugehXrt hast! Selten
sind die Menschen, welche das ZuhXren verstehen, und keinen traf ich, der es
verstand wie du. Auch hierin werde ich von dir lernen."
     "Du wirst es lernen," sprach Vasudeva, "aber nicht von mir. Das ZuhXren
hat mich  der Fluss gelehrt, von ihm wirst auch du es lernen. Er weiX alles,
der Fluss, alles kann man von ihm lernen. Sieh, auch  das hast du, schon vom
Wasser gelernt, dass es gut ist, nach unten zu streben, zu sinken, die Tiefe
zu  suchen. Der reiche und  vornehme  Siddhartha  wird ein  Ruderknecht, der
gelehrte Brahmane Siddhartha wird ein FXhrmann:  auch dies ist dir vom Fluss
gesagt worden. Du wirst auch das andere von ihm lernen."
     Sprach Siddhartha, nach einer langen Pause: "Welches andere, Vasudeva?"
     Vasudeva erhob sich.  "SpXt  ist es  geworden,"  sagte  er,  "lass  uns
schlafen gehen. Ich kann dir das  andere nicht sagen, o Freund. Du  wirst es
lernen, vielleicht auch weiXt du es schon. Sieh, ich bin kein Gelehrter, ich
verstehe nicht zu sprechen, ich verstehe auch nicht  zu denken. Ich verstehe
nur zuzuhXren  und fromm zu sein, sonst habe ich  nichts gelernt. KXnnte ich
es sagen und lehren, so wXre ich vielleicht ein Weiser, so aber  bin ich nur
ein  FXhrmann, und  meine  Aufgabe  ist es,  Menschen Xber  diesen Fluss  zu
setzen. Viele habe ich Xbergesetzt, Tausende, und ihnen allen ist mein Fluss
nichts anderes gewesen als ein Hindernis  auf ihren Reisen. Sie reisten nach
Geld und GeschXften,  und zu Hochzeiten,  und zu  Wallfahrten, und der Fluss
war ihnen  im Wege,  und  der  FXhrmann  war  dazu da, sie schnell Xber  das
Hindernis hinweg zubringen.  Einige unter den Tausenden aber, einige wenige,
vier oder fXnf, denen hat der  Fluss aufgehXrt, ein  Hindernis zu  sein, sie
haben seine Stimme gehXrt, sie haben  ihm  zugehXrt, und der Fluss ist ihnen
heilig  geworden, wie er es mir geworden ist. Lass  uns  nun zur Ruhe gehen,
Siddhartha."
     Siddhartha  blieb bei dem FXhrmann und lernte  das  Boot  bedienen, und
wenn nichts an der FXhre zu tun war, arbeitete er mit Vasudeva im Reisfelde,
sammelte  Holz, pflXckte  die FrXchte der PisangbXume.  Er lernte ein  Ruder
zimmern,  und  lernte  das  Boot  ausbessern,  und KXrbe  flechten, und  war
frXhlich Xber alles, was erlernte,  und  die  Tage und Monate liefen schnell
hinweg. Mehr aber, als Vasudeva ihn lehren konnte, lehrte ihn der Fluss. Von
ihm lernte  er  unaufhXrlich. Vor allem lernte er von ihm  das ZuhXren,  das
Lauschen  mit  stillem  Herzen,  mit  wartender,   geXffneter   Seele,  ohne
Leidenschaft, ohne,Wunsch, ohne Urteil, ohne Meinung.
     Freundlich lebte er neben Vasudeva,  und  zuweilen tauschten  sie Worte
miteinander,  wenige und  lang bedachte Worte. Vasudeva war kein Freund  der
Worte, selten gelang es Siddhartha, ihn zum Sprechen zu bewegen.
     "Hast  du," so fragte er ihn  einst,  "hast auch  du  vom Flusse  jenes
Geheime gelernt: dass es keine Zeit gibt?"
     Vasudevas Gesicht Xberzog sich mit hellem LXcheln.
     "Ja, Siddhartha," sprach er. "Es  ist  doch dieses, was du meinst: dass
der  Fluss  Xberall  zugleich ist,  am  Ursprung  und  an  der  MXndung,  am
Wasserfall, an der FXhre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, Xberall
zugleich,  und dass es fXr  ihn  nur  Gegenwart  gibt,  nicht  den  Schatten
Vergangenheit, nicht den Schatten Zukunft?"
     "Dies ist es," sagte Siddhartha. "Und als ich es gelernt hatte, da  sah
ich mein  Leben  an,  und es  war  auch  ein Fluss,  und  es war  der  Knabe
Siddhartha vom Manne Siddhartha und vom Greis Siddhartha nur  durch Schatten
getrennt, nicht durch Wirkliches. Es waren auch Siddharthas frXhere Geburten
keine Vergangenheit,  und  sein  Tod  und  seine  RXckkehr  zu Brahma  keine
Zukunft. Nichts  war, nichts  wird  sein;  alles  ist, alles  hat Wesen  und
Gegenwart."
     Siddhartha  sprach  mit EntzXcken,  tief  hatte  diese  Erleuchtung ihn
beglXckt.  Oh, war denn nicht alles  Leiden Zeit, war nicht alles SichquXlen
und SichfXrchten Zeit, war nicht alles Schwere, alles Feindliche in der Welt
weg  und Xberwunden, sobald man  die  Zeit Xberwunden hatte,  sobald man die
Zeit wegdenken konnte?  EntzXckt hatte er gesprochen, Vasudeva aber lXchelte
ihn  strahlend  an und  nickte BestXtigung, schweigend nickte er, strich mit
der Hand Xber Siddharthas Schulter, wandte sich zu seiner Arbeit zurXck.
     Und wieder einmal,  als eben der Fluss in der Regenzeit geschwollen war
und mXchtig rauschte, da sagte Siddhartha:  "Nicht wahr, o Freund, der Fluss
hat viele Stimmen, sehr viele Stimmen? Hat er nicht die Stimme eines KXnigs,
und eines  Kriegers, und eines Stieres,  und  eines NachtvogeIs,  und  einer
GebXrenden, und eines Seufzenden, und noch tausend andere Stimmen?"
     "Es  ist  so,"  nickte Vasudeva, "alle  Stimmen der GeschXpfe  sind  in
seiner Stimme."
     "Und weiXt du," fuhr Siddhartha fort, "welches Wort er spricht, wenn es
dir gelingt, alle seine zehntausend Stimmen zugleich zu hXren?"
     GlXcklich lachte Vasudevas Gesicht, er neigte sich gegen Siddhartha und
sprach ihm das heilige Om ins Ohr. Und eben dies war es, was auch Siddhartha
gehXrt hatte.
     Und von Mal zu  Mal ward sein LXcheln dem des FXhrmanns Xhnlicher, ward
beinahe ebenso strahlend,  beinahe ebenso von  GlXck durchglXnzt, ebenso aus
tausend kleinen Falten leuchtend, ebenso kindlich, ebenso greisenhaft. Viele
Reisende,  wenn sie die beiden FXhrmXnner sahen, hielten sie fXr BrXder. Oft
saXen sie  am Abend  gemeinsam  beim Ufer auf dem  Baumstamm, schwiegen  und
hXrten beide dem Wasser  zu,  welches fXr sie  kein Wasser  war, sondern die
Stimme des  Lebens,  die  Stimme  des Seienden,  des ewig Werdenden. Und  es
geschah zuweilen,  dass  beide beim AnhXren des  Flusses  an dieselben Dinge
dachten,  an ein GesprXch von  vorgestern,  an einen ihrer Reisenden, dessen
Gesicht und  Schicksal sie beschXftigte, an den Tod, an  ihre  Kindheit, und
dass sie beide im selben Augenblick, wenn der Fluss ihnen etwas Gutes gesagt
hatte,  einander  anblickten, beide genau  dasselbe  denkend, beide beglXckt
Xber dieselbe Antwort auf dieselbe Frage.
     Es ging  von  der  FXhre und von den beiden  FXhrleuten etwas  aus, das
manche von den Reisenden spXrten. Es  geschah  zuweilen, dass ein Reisender,
nachdem er in das Gesicht eines der FXhrmXnner geblickt hatte, sein Leben zu
erzXhlen begann,  Leid erzXhlte, BXses  bekannte, Trost und  Rat  erbat.  Es
geschah  zuweilen, dass  einer  um Erlaubnis  bat, einen Abend  bei ihnen zu
verweilen, um dem Flusse zuzuhXren. Es geschah  auch, dass Neugierige kamen,
welchen  erzXhlt  worden  war,  an dieser  FXhre  lebten  zwei  Weise,  oder
Zauberer,  oder  Heilige.  Die  Neugierigen stellten viele Fragen, aber  sie
bekamen  keine Antworten,  und sie fanden  weder Zauberer  noch  Weise,  sie
fanden nur  zwei alte freundliche MXnnlein, welche stumm  zu sein  und etwas
sonderbar  und  verblXdet   schienen.  Und  die   Neugierigen  lachten,  und
unterhielten sich  darXber, wie  tXricht  und  leichtglXubig  doch das  Volk
solche leere GerXchte verbreite.
     Die  Jahre  gingen hin und  keiner  zXhlte  sie. Da  kamen einst MXnche
gepilgert, AnhXnger des Gotama, des Buddha, welche baten, sie Xber den Fluss
zu setzen, und  von ihnen erfuhren die FXhrmXnner, dass sie eiligst zu ihrem
groXen Lehrer zurXck wanderten, denn es habe sich  die Nachricht verbreitet,
der Erhabene sei todkrank und werde bald seinen letzten Menschentod sterben,
um zur  ErlXsung einzugehen.  Nicht  lange,  so kam eine  neue  Schar MXnche
gepilgert,  und wieder eine,  und  sowohl  die MXnche  wie die  meisten  der
Xbrigen Reisenden und Wanderer sprachen von  nichts anderem als  von  Gotama
und  seinem nahen Tode. Und wie  zu  einem  Kriegszug oder zur KrXnung eines
KXnigs von Xberall und allen Seiten her die Menschen strXmen und sich gleich
Ameisen in Scharen sammeln, so strXmten sie,  wie von einem Zauber  gezogen,
dahin, wo der groXe Buddha seinen Tod erwartete, wo das  Ungeheure geschehen
und der groXe Vollendete eines Weltalters zur Herrlichkeit eingehen sollte.
     Viel gedachte Siddhartha  in  dieser  Zeit des sterbenden  Weisen,  des
groXen  Lehrers,  dessen Stimme  VXlker ermahnt und Hunderttausende  erweckt
hatte, dessen Stimme  auch er einst vernommen,  dessen heiliges Antlitz auch
er einst mit Ehrfurcht  geschaut hatte.  Freundlich  gedachte er seiner, sah
seinen Weg der  Vollendung vor  Augen, und erinnerte  sich mit  LXcheln  der
Worte,  welche er  einst als  junger Mann an ihn, den  Erhabenen,  gerichtet
hatte. Es waren, so schien ihm, stolze und altkluge Worte gewesen,  lXchelnd
erinnerte er  sich  ihrer.  LXngst  wusste  er  sich  nicht  mehr von Gotama
getrennt,  dessen  Lehre  er  doch nicht hatte annehmen kXnnen. Nein,  keine
Lehre konnte ein  wahrhaft Suchender  annehmen, einer,  der wahrhaft  finden
wollte. Der aber, der gefunden hat,  der konnte jede,  jede Lehre gutheiXen,
jeden Weg, jedes Ziel, ihn trennte  nichts mehr von all den tausend anderen,
welche im Ewigen lebten, welche das GXttliche atmeten.
     An einem dieser  Tage, da  so viele  zum  sterbenden Buddha  pilgerten,
pilgerte zu ihm auch Kamala, einst die schXnste der Kurtisanen. LXngst hatte
sie  sich aus  ihrem  vorigen  Leben zurXckgezogen, hatte  ihren  Garten den
MXnchen  Gotamas geschenkt, hatte ihre Zuflucht zur Lehre  genommen, gehXrte
zu  den  Freundinnen  und  WohltXterinnen der  Pilgernden.  Zusammen mit dem
Knaben Siddhartha, ihrem  Sohne, hatte sie  auf die Nachricht vom nahen Tode
Gotamas  hin  sich auf den Weg gemacht, in einfachem  Kleide, zu  Fuss.  Mit
ihrem SXhnlein war sie am Flusse unterwegs; der Knabe aber war bald ermXdet,
begehrte nach  Hause zurXck, begehrte zu  rasten,  begehrte zu essen,  wurde
trotzig und weinerlich.
     Kamala musste hXufig  mit ihm  rasten,  er  war gewohnt,  seinen Willen
gegen sie  zu behaupten, sie musste  ihn fXttern, musste ihn trXsten, musste
ihn schelten. Er begriff nicht, warum er mit seiner Mutter diese mXhsame und
traurige  Pilgerschaft  habe antreten mXssen,  an  einen unbekannten Ort, zu
einem fremden Manne, welcher heilig war und  welcher im Sterben lag.  Mochte
er sterben, was ging dies den Knaben an?
     Die  Pilgernden  waren  nicht  mehr  ferne von Vasudevas FXhre, als der
kleine  Siddhartha  abermals  seine Mutter zu  einer Rast  nXtigte. Auch sie
selbst, Kamala,  war ermXdet, und wXhrend der Knabe  an einer Banane  kaute,
kauerte  sie sich  am Boden  nieder, schloss ein  wenig die Augen und ruhte.
PlXtzlich aber  stieX  sie  einen  klagenden  Schrei aus, der Knabe  sah sie
erschrocken an und sah ihr Gesicht von Entsetzen gebleicht, und  unter ihrem
Kleide hervor  entwich eine  kleine  schwarze Schlange,  von  welcher Kamala
gebissen war.
     Eilig liefen  sie nun beide des Weges,  um zu  Menschen zu  kommen, und
kamen  bis in  die NXhe der FXhre, dort sank Kamala  zusammen, und vermochte
nicht weiter zu  gehen.  Der  Knabe  aber  erhob  ein  klXgliches  Geschrei,
dazwischen kXsste  und  umhalste  er  seine Mutter, und auch sie stimmte  in
seine lauten Hilferufe ein, bis die TXne Vasudevas  Ohr erreichten,  der bei
der FXhre stand. Schnell kam er gegangen, nahm die Frau auf  die  Arme, trug
sie  ins Boot,  der Knabe lief mit, und bald kamen sie alle in der HXtte an,
wo Siddhartha  am Herde stand und eben Feuer machte. Er  blickte auf und sah
zuerst das  Gesicht des Knaben, das ihn wunderlich erinnerte, an Vergessenes
mahnte.  Dann   sah   er   Kamala,  die  er  alsbald  erkannte,  obwohl  sie
besinnungslos im  Arm des FXhrmanns  lag, und nun  wusste er, dass  es  sein
eigner Sohn sei,  dessen  Gesicht ihn so  sehr  gemahnt hatte,  und das Herz
bewegte sich in seiner Brust.
     Kamalas Wunde  wurde  gewaschen, war  aber  schon schwarz und  ihr Leib
angeschwollen, ein Heiltrank wurde ihr eingeflXsst.  Ihr  Bewusstsein kehrte
zurXck, sie  lag auf Siddharthas  Lager in  der HXtte, und Xber  sie gebeugt
stand  Siddhartha,  der  sie  einst so sehr geliebt hatte. Es schien ihr ein
Traum  zu sein, lXchelnd blickte sie  in ihres Freundes Gesicht, nur langsam
erkannte sie ihre Lage, erinnerte sich  des Bisses,  rief Xngstlich nach dem
Knaben.
     "Er ist bei dir, sei ohne Sorge," sagte Siddhartha.
     Kamala blickte in seine Augen. Sie sprach mit schwerer Zunge,  vom Gift
gelXhmt. "Du bist alt geworden, Lieber," sagte sie, "grau  bist du geworden.
Aber  du gleichst dem jungen Samana, der  einst  ohne Kleider mit  staubigen
FXen zu mir in den Garten kam. Du gleichst ihm viel mehr, als du ihm damals
glichest, da du  mich und Kamaswami verlassen hast. In den Augen gleichst du
ihm, Siddhartha. Ach, auch ich bin alt geworden, alt X kanntest du mich denn
noch?"
     Siddhartha lXchelte: "Sogleich kannte ich dich, Kamala, Liebe."
     Kamala  deutete  auf ihren Knaben  und sagte: "Kanntest du auch ihn? Er
ist dein Sohn."
     Ihre Augen wurden irr  und fielen zu. Der Knabe weinte, Siddhartha nahm
ihn auf seine Knie, lieX ihn weinen, streichelte sein Haar, und beim Anblick
des Kindergesichtes  fiel  ein  brahmanisches Gebet  ihm  ein, das  er einst
gelernt hatte, als er selbst ein kleiner  Knabe war. Langsam, mit  singender
Stimme, begann  er  es zu sprechen,  aus der Vergangenheit und  Kindheit her
kamen ihm die Worte geflossen. Und unter  seinem  Singsang  wurde der  Knabe
ruhig, schluchzte noch  hin und wieder auf und schlief ein. Siddhartha legte
ihn auf Vasudevas Lager. Vasudeva stand am Herd und kochte  Reis. Siddhartha
warf ihm einen Blick zu, den er lXchelnd erwiderte.
     "Sie wird sterben," sagte Siddhartha leise.
     Vasudeva nickte,  Xber sein  freundliches Gesicht lief  der Feuerschein
vom Herde.
     Nochmals erwachte  Kamala zum Bewusstsein. Schmerz verzog ihr  Gesicht,
Siddharthas  Auge las das  Leiden  auf  ihrem  Munde, auf  ihren  erblassten
Wangen. Stille  las  er  es,  aufmerksam, wartend, in  ihr  Leiden versenkt.
Kamala fXhlte es, ihr Blick suchte sein Auge.
     Ihn anblickend,  sagte sie:  "Nun sehe ich, dass  auch deine Augen sich
verXndert haben. Ganz anders sind sie geworden. Woran doch erkenne ich noch,
dass du Siddhartha bist? Du bist es, und bist es nicht."
     Siddhartha sprach nicht, still blickten seine Augen in die ihren.
     "Du hast es erreicht?" fragte sie. "Du hast Friede gefunden?"
     Er lXchelte, und legte seine Hand auf ihre.
     "Ich sehe es," sagte sie, "ich sehe es. Auch ich werde Friede finden."
     "Du hast ihn gefunden," sprach Siddhartha flXsternd.
     Kamala blickte  ihm unverwandt in die Augen. Sie dachte daran, dass sie
zu Gotama hatte pilgern wollen, um das Gesicht  eines Vollendeten zu  sehen,
um seinen Frieden zu atmen, und dass sie statt seiner nun  ihn gefunden, und
dass es gut war, ebenso gut, als wenn sie jenen gesehen hXtte. Sie wollte es
ihm sagen,  aber die Zunge gehorchte ihrem Willen nicht mehr. Schweigend sah
sie ihn an, und er  sah in ihren  Augen das Leben erlXschen. Als der  letzte
Schmerz  ihr  Auge erfXllte  und brach,  als der letzte  Schauder Xber  ihre
Glieder lief, schloss sein Finger ihre Lider.
     Lange   saX  er  und  blickte   auf  ihr  entschlafnes  Gesicht.  Lange
betrachtete er ihren Mund, ihren alten, mXden Mund mit den schmal gewordenen
Lippen, und erinnerte sich, dass er einst, im FrXhling seiner Jahre,  diesen
Mund einer  frisch aufgebrochenen Feige verglichen hatte. Lange saX  er, las
in dem  bleichen Gesicht, in den mXden Falten, fXllte sich mit  dem Anblick,
sah  sein  eigenes Gesicht ebenso liegen, ebenso weiX, ebenso erloschen, und
sah zugleich sein  Gesicht und das ihre jung, mit den roten Lippen, mit  dem
brennenden  Auge,   und  das  GefXhl  der  Gegenwart  und   Gleichzeitigkeit
durchdrang ihn vXllig, das GefXhl der Ewigkeit.  Tief empfand er, tiefer als
jemals,  in dieser Stunde die  UnzerstXrbarkeit jedes Lebens,  die  Ewigkeit
jedes Augenblicks.
     Da  er  sich  erhob, hatte  Vasudeva  Reis  fXr ihn bereitet.  Doch  aX
Siddhartha  nicht. Im Stall, wo ihre Ziege  stand, machten sich  die  beiden
Alten eine Streu zurecht, und Vasudeva legte sich schlafen.  Siddhartha aber
ging  hinaus und saX die  Nacht vor  der  HXtte,  dem Flusse lauschend,  von
Vergangenheit umspXlt, von allen Zeiten  seines Lebens zugleich  berXhrt und
umfangen.  Zuweilen aber erhob er sich, trat an die HXttentXr und  lauschte,
ob der Knabe schlafe.
     FrXh am Morgen, noch  ehe die Sonne sichtbar ward, kam Vasudeva aus dem
Stalle und trat zu seinem Freunde.
     "Du hast nicht geschlafen, " sagte er.
     "Nein, Vasudeva. Ich saX hier, ich hXrte dem Flusse zu. Viel hat er mir
gesagt,  tief  hat  er  mich mit  dem  heilsamen Gedanken erfXllt,  mit  dem
Gedanken der Einheit."
     "Du  hast  Leid  erfahren,  Siddhartha,  doch ich  sehe,  es  ist keine
Traurigkeit in dein Herz gekommen."
     "Nein, Lieber, wie sollte ich denn traurig sein? Ich, der ich reich und
glXcklich war,  bin  jetzt noch  reicher und glXcklicher geworden. Mein Sohn
ist mir geschenkt worden."
     "Willkommen sei dein Sohn  auch mir. Nun  aber, Siddhartha, lass uns an
die Arbeit gehen, viel ist zu tun. Auf demselben Lager ist Kamala gestorben,
auf welchem einst mein  Weib gestorben ist. Auf  demselben HXgel auch wollen
wir Kamalas Scheiterhaufen  bauen,  auf  welchem  ich  einst  meines  Weibes
Scheiterhaufen gebaut habe."
     WXhrend der Knabe noch schlief, bauten sie den Scheiterhaufen.



     Scheu  und  weinend  hatte  der  Knabe  der  Bestattung  seiner  Mutter
beigewohnt,  finster  und scheu hatte er  Siddhartha angehXrt, der  ihn  als
seinen Sohn begrXte  und ihn bei sich  in Vasudevas HXtte  willkommen hieX.
Bleich  saX er tagelang am HXgel der Toten, mochte nicht  essen,  verschloss
seinen Blick, verschloss  sein  Herz,  wehrte und strXubte  sich  gegen  das
Schicksal.
     Siddhartha  schonte ihn und  lieX ihn gewXhren, er ehrte seine  Trauer.
Siddhartha verstand,  dass sein  Sohn  ihn nicht  kenne, dass  er ihn  nicht
lieben  kXnne  wie einen Vater.  Langsam  sah und verstand er auch, dass der
ElfjXhrige ein verwXhnter Knabe war, ein Mutterkind, und in Gewohnheiten des
Reichtums  aufgewachsen, gewohnt  an  feinere Speisen,  an ein weiches Bett,
gewohnt,  Dienern zu befehlen.  Siddhartha verstand, dass  der Trauernde und
VerwXhnte  nicht plXtzlich  und  gutwillig  in  der  Fremde und  Armut  sich
zufrieden  geben kXnne. Er  zwang  ihn nicht,  er tat manche Arbeit fXr ihn,
suchte  stets  den besten Bissen  fXr  ihn aus.  Langsam  hoffte  er ihn  zu
gewinnen, durch freundliche Geduld.
     Reich  und  glXcklich  hatte er  sich genannt,  als der  Knabe  zu  ihm
gekommen war. Da indessen die Zeit hinfloss, und der Knabe fremd und finster
blieb, da er ein stolzes und trotziges Herz zeigte, keine Arbeit tun wollte,
den Alten keine  Ehrfurcht erwies, Vasudevas FruchtbXume beraubte, da begann
Siddhartha zu verstehen, dass mit seinem Sohne nicht GlXck und Friede zu ihm
gekommen war, sondern Leid und Sorge. Aber er liebte ihn, und lieber war ihm
Leid und Sorge  der Liebe, als ihm  GlXck und Freude ohne den Knaben gewesen
war. Seit der  junge Siddhartha in der HXtte  war,  hatten die Alten sich in
die  Arbeit  geteilt. Vasudeva hatte  das Amt  des FXhrmanns  wieder  allein
Xbernommen, und Siddhartha, um bei  dem Sohne zu  sein, die Arbeit in  HXtte
und Feld.
     Lange Zeit, lange Monate wartete Siddhartha darauf, dass  sein Sohn ihn
verstehe, dass  er seine Liebe annehme,  dass  er sie  vielleicht  erwidere.
Lange Monate  wartete Vasudeva, zusehend, wartete und schwieg. Eines  Tages,
als Siddhartha der  Junge  seinen Vater  wieder  sehr  mit  Trotz und Launen
gequXlt und ihm beide ReisschXsseln zerbrochen  hatte, nahm  Vasudeva seinen
Freund am Abend beiseite und sprach mit ihm.
     "Entschuldige  mich," sagte  er, "aus  freundlichem Herzen rede  ich zu
dir.  Ich  sehe,  dass du dich quXlst, ich sehe,  dass du Kummer  hast. Dein
Sohn, Lieber, macht dir Sorge, und auch  mir  macht er Sorge. An ein anderes
Leben, an ein  anderes Nest ist der junge Vogel gewXhnt. Nicht wie du ist er
dem  Reichtum und der  Stadt entlaufen aus  Ekel und Xberdruss, er hat wider
seinen Willen dies  alles  dahinten lassen mXssen. Ich fragte  den Fluss,  o
Freund, vielemale habe ich ihn gefragt. Der  Fluss aber lacht, er lacht mich
aus,  mich  und dich lacht  er aus, und schXttelt  sich  Xber unsre Torheit.
Wasser will zu Wasser,  Jugend  will zu Jugend, dein Sohn ist  nicht an  dem
Orte, wo er gedeihen kann. Frage auch du den Fluss, hXre auch du auf ihn!"
     BekXmmert blickte Siddhartha  ihm in das freundliche Gesicht, in dessen
vielen Runzeln bestXndige Heiterkeit wohnte.
     "Kann ich  mich denn von ihm trennen?" sagte  er leise, beschXmt. "Lass
mir  noch Zeit, Lieber! Sieh, ich kXmpfe um ihn, ich werbe um sein Herz, mit
Liebe und mit freundlicher Geduld will ich es fangen. Auch zu ihm soll einst
der Fluss reden, auch er ist berufen."
     Vasudevas LXcheln blXhte wXrmer.  "O  ja, auch  er ist berufen, auch er
ist vom ewigen Leben. Aber wissen wir denn, du und ich, wozu er berufen ist,
zu welchem Wege, zu  welchen Taten, zu welchen Leiden? Nicht klein wird sein
Leiden  sein, stolz  und  hart ist ja sein Herz, viel mXssen  solche leiden,
viel irren,  viel  Unrecht  tun,  sich viel SXnde aufladen.  Sage  mir, mein
Lieber: du erziehst deinen Sohn nicht?  Du  zwingst  ihn nicht? SchlXgst ihn
nicht? Strafst ihn nicht?"
     "Nein, Vasudeva, das tue ich alles nicht."
     "Ich wusste es. Du zwingst ihn nicht, schlXgst ihn nicht, befiehlst ihm
nicht,  weil du weiXt,  dass Weich  stXrker ist als Hart, Wasser stXrker als
Fels, Liebe  stXrker als Gewalt. Sehr gut, ich  lobe dich. Aber ist es nicht
ein Irrtum von dir, zu meinen, dass  du ihn nicht zwingest,  nicht strafest?
Bindest  du  ihn  nicht in Bande  mit deiner Liebe?  BeschXmst du  ihn nicht
tXglich,  und  machst  es  ihm noch  schwerer,  mit deiner GXte und  Geduld?
Zwingst du ihn nicht, den hochmXtigen  und verwXhnten Knaben, in einer HXtte
bei zwei alten Bananenessern zu leben,  welchen schon Reis  ein Leckerbissen
ist, deren Gedanken nicht seine sein kXnnen,  deren Herz alt und  still  ist
und anderen Gang hat  als  das  seine? Ist er  mit alledem  nicht gezwungen,
nicht gestraft?"
     Betroffen blickte Siddhartha zur  Erde. Leise fragte er:  "Was,  meinst
du, soll ich tun?"
     Sprach  Vasudeva: "Bring  ihn zur  Stadt, bringe ihn in  seiner  Mutter
Haus, es werden noch Diener dort sein, denen gib ihn. Und wenn keine mehr da
sind,  so bringe ihn  einem  Lehrer, nicht der Lehre wegen, aber dass  er zu
anderen Knaben komme, und zu MXdchen, und in die Welt, welche die seine ist.
Hast du daran nie gedacht?"
     "Du siehst in  mein Herz," sprach  Siddhartha traurig.  "Oft  habe  ich
daran  gedacht. Aber sieh, wie  soll ich ihn, der  ohnehin kein sanftes Herz
hat, in diese Welt geben? Wird er nicht Xppig werden, wird er  nicht sich an
Lust  und  Macht  verlieren,  wird  er  nicht alle  IrrtXmer  seines  Vaters
wiederholen,  wird  er nicht  vielleicht ganz und  gar  in  Sansara verloren
gehen?"
     Hell  strahlte des FXhrmanns LXcheln  auf; er berXhrte zart Siddharthas
Arm  und sagte:  "Frage den  Fluss darXber, Freund! HXre ihn darXber lachen!
Glaubst du  denn wirklich, dass du deine Torheiten begangen habest,  um  sie
dem  Sohn zu ersparen? Und kannst du denn  deinen Sohn vor Sansara schXtzen?
Wie denn?  Durch  Lehre, durch Gebet, durch Ermahnung? Lieber,  hast du jene
Geschichte denn ganz vergessen, jene lehrreiche Geschichte vom Brahmanensohn
Siddhartha, die du mir einst hier an dieser Stelle erzXhlt hast? Wer hat den
Samana Siddhartha vor Sansara bewahrt, vor SXnde, vor Habsucht, vor Torheit?
Hat seines  Vaters  FrXmmigkeit, seiner Lehrer  Ermahnung, hat sein  eigenes
Wissen,  sein  eigenes Suchen  ihn bewahren kXnnen? Welcher  Vater,  welcher
Lehrer hat ihn davor schXtzen kXnnen, selbst das Leben zu leben, selbst sich
mit  dem Leben zu beschmutzen, selbst  Schuld auf sich  zu laden, selbst den
bitteren Trank zu trinken, selber seinen Weg zu finden?
     Glaubst  du denn, Lieber,  dieser Weg bleibe irgend jemandem vielleicht
erspart? Vielleicht deinem SXhnchen, weil du  es  liebst, weil  du ihm  gern
Leid  und  Schmerz  und EnttXuschung  ersparen mXchtest? Aber  auch wenn  du
zehnmal fXr  ihn stXrbest, wXrdest  du ihm  nicht den kleinsten  Teil seines
Schicksals damit abnehmen kXnnen."
     Noch niemals  hatte  Vasudeva  so  viele  Worte gesprochen.  Freundlich
dankte  ihm  Siddhartha, ging bekXmmert in  die  HXtte,  fand  lange  keinen
Schlaf. Vasudeva hatte ihm nichts gesagt, das er nicht  selbst schon gedacht
und gewusst  hXtte. Aber es war ein Wissen, das er nicht tun konnte, stXrker
als das Wissen  war seine Liebe zu dem Knaben, stXrker  seine  ZXrtlichkeit,
seine Angst, ihn zu verlieren. Hatte er denn jemals an  irgend etwas so sehr
sein Herz verloren,  hatte er je  irgendeinen Menschen so geliebt, so blind,
so leidend, so erfolglos, und doch so glXcklich?
     Siddhartha konnte  seines Freundes Rat  nicht befolgen,  er  konnte den
Sohn nicht hergeben. Er lieX sich von dem  Knaben befehlen, er lieX sich von
ihm missachten. Er schwieg und wartete, begann tXglich den stummen Kampf der
Freundlichkeit, den  lautlosen  Krieg  der Geduld. Auch Vasudeva schwieg und
wartete,  freundlich,  wissend,  langmXtig. In  der  Geduld waren sie  beide
Meister.
     Einst, als des Knaben  Gesicht  ihn  sehr  an Kamala erinnerte,  musste
Siddhartha plXtzlich  eines  Wortes gedenken, das Kamala vor Zeiten, in  den
Tagen der  Jugend,  einmal zu  ihm gesagt hatte.  "Du kannst nicht  lieben,"
hatte sie  ihm gesagt, und er hatte  ihr Recht  gegeben  und hatte  sich mit
einem  Stern,  die Kindermenschen aber  mit fallendem  Laub  verglichen, und
dennoch hatte er in jenem Wort auch  einen Vorwurf gespXrt. In der Tat hatte
er  niemals  sich  an  einen  anderen  Menschen ganz verlieren und  hingeben
kXnnen, sich  selbst  vergessen,  Torheiten  der Liebe  eines  anderen wegen
begehen; nie hatte er das gekonnt, und  dies war, wie ihm damals schien, der
groXe Unterschied gewesen, der ihn von den Kindermenschen trennte. Nun aber,
seit  sein  Sohn  da  war,  nun  war  auch  er,  Siddhartha,  vollends   ein
Kindermensch geworden, eines Menschen wegen leidend, einen Menschen liebend,
an eine  Liebe verloren, einer Liebe wegen ein Tor geworden. Nun fXhlte auch
er, spXt, einmal im  Leben diese stXrkste und  seltsamste Leidenschaft, litt
an ihr, litt klXglich, und war doch beseligt, war doch um etwas erneuert, um
etwas reicher.
     Wohl  spXrte  er, dass  diese  Liebe, diese blinde Liebe zu seinem Sohn
eine Leidenschaft, etwas sehr Menschliches, dass sie Sansara sei, eine trXbe
Quelle,  ein  dunkles  Wasser. Dennoch, so  fXhlte er gleichzeitig,  war sie
nicht wertlos, war sie notwendig,  kam aus seinem eigenen Wesen. Auch  diese
Lust wollte  gebXt, auch diese Schmerzen wollten  gekostet sein, auch diese
Torheiten begangen.
     Der Sohn indessen  lieX  ihn seine  Torheiten begehen, lieX ihn werben,
lieX  ihn tXglich  sich  vor seinen  Launen  demXtigen. Dieser  Vater  hatte
nichts, was  ihn entzckt,  und nichts, was er  gefrchtet htte. Er war ein
guter Mann, dieser Vater, ein guter, gtiger, sanfter  Mann, vielleicht  ein
sehr  frommer  Mann,  vielleicht ein  Heiliger  %  dies  alles  waren  nicht
Eigenschaften, welche den Knaben gewinnen konnten. Langweilig war ihm dieser
Vater, der ihn  da in seiner elenden Hatte gefangen hielt, langweilig war er
ihm, und dass er jede Unart mit LXcheln, jeden  Schimpf mit  Freundlichkeit,
jede Bosheit mit GXte  beantwortete,  das  eben  war  die  verhassteste List
dieses alten  Schleichers. Viel lieber  wXre der Knabe von  ihm bedroht, von
ihm misshandelt worden.
     Es kam ein Tag,  an welchem des jungen Siddhartha Sinn zum Ausbruch kam
und  sich offen  gegen seinen  Vater wandte.  Der hatte  ihm  einen  Auftrag
erteilt, er hatte ihn Reisig sammeln geheiXen. Der Knabe ging aber nicht aus
der  HXtte, er blieb trotzig und  wXtend stehen, stampfte den  Boden, ballte
die FXuste,  und  schrie  in  gewaltigem  Ausbruch  seinem  Vater  Hass  und
Verachtung ins Gesicht.
     "Hole  du  selber dein Reisig!" rief  er schXumend, "ich bin nicht dein
Knecht.  Ich weiX ja, dass du mich nicht schlXgst, du wagst es ja nicht; ich
weiX ja, dass du mich mit deiner FrXmmigkeit und  deiner Nachsicht bestXndig
strafen und  klein machen willst.  Du willst, dass ich werden soll  wie  du,
auch so fromm, auch so sanft, auch  so weise! Ich aber, hXre,  ich will, dir
zu Leide, lieber ein  StraXenrXuber und MXrder werden und zur HXlle  fahren,
als so werden wie du! Ich hasse dich, du bist nicht mein Vater,  und wenn du
zehnmal meiner Mutter Buhle gewesen bist!"
     Zorn und Gram liefen in ihm Xber, schXumten in hundert wXsten und bXsen
Worten dem  Vater entgegen. Dann lief der Knabe davon  und kam  erst spXt am
Abend wieder.
     Am  andern Morgen aber  war er verschwunden. Verschwunden war  auch ein
kleiner, aus zweifarbigem Bast  geflochtener  Korb, in welchem die FXhrleute
jene  Kupfer-  und  SilbermXnzen  aufbewahrten,   welche  sie  als  FXhrlohn
erhielten. Verschwunden war auch das Boot, Siddhartha  sah es am jenseitigen
Ufer liegen. Der Knabe war entlaufen.
     "Ich  muss  ihm  folgen," sagte Siddhartha,  der seit  jenen  gestrigen
Schimpfreden des Knaben  vor Jammer zitterte. "Ein  Kind  kann  nicht allein
durch  den  Wald gehen.  Er  wird  umkommen.  Wir  mXssen  ein Floss  bauen,
Vasudeva, um Xbers Wasser zu kommen."
     "Wir werden ein  Floss bauen," sagte Vasudeva, "um unser Boot wieder zu
holen,  das der Junge  entfXhrt  hat.  Ihn aber solltest  du laufen  lassen,
Freund, er ist kein Kind mehr, er weiX sich zu helfen. Er sucht den Weg nach
der Stadt, und er hat Recht, vergiss das nicht. Er tut das, was du selbst zu
tun  versXumt hast. Er sorgt fXr sich, er geht seine  Bahn. Ach, Siddhartha,
ich sehe dich leiden, aber du leidest Schmerzen, Xber die man lachen mXchte,
Xber die du selbst bald lachen wirst."
     Siddhartha antwortete  nicht. Er  hielt schon  das Beil in HXnden,  und
begann ein Floss aus Bambus zu machen, und Vasudeva half ihm, die StXmme mit
Grasseilen  zuzammen  zu  binden.  Dann  fuhren  sie  hinXber,  wurden  weit
abgetrieben, zogen das Floss am jenseitigen Ufer flussauf.
     "Warum hast du das Beil mitgenommen?" fragte Siddhartha.
     Vasudeva sagte: "Es kXnnte sein, dass das Ruder unsres  Bootes verloren
gegangen wXre."
     Siddhartha aber  wusste, was  sein Freund dachte.  Er dachte, der Knabe
werde das Ruder  weggeworfen oder zerbrochen haben, um sich zu rXchen und um
sie an der Verfolgung zu hindern. Und wirklich war kein Ruder mehr im Boote.
Vasudeva wies auf den Boden  des Bootes, und sah den Freund mit LXcheln  an,
als wollte er sagen; "Siehst du nicht, was  dein Sohn dir sagen will? Siehst
du nicht, dass er  nicht verfolgt sein  will?" Doch sagte er  dies nicht mit
Worten. Er  machte sich daran, ein neues Ruder  zu zimmern. Siddhartha  aber
nahm  Abschied,  um nach dem  Entflohenen zu suchen. Vasudeva  hinderte  ihn
nicht.
     Als Siddhartha schon lange im Walde unterwegs war, kam ihm der Gedanke,
dass sein Suchen  nutzlos sei. Entweder, so dachte er,  war der Knabe lXngst
voraus  und schon in der Stadt angelangt, oder, wenn er noch  unterwegs sein
sollte,  wXrde er  vor  ihm, dem Verfolgenden, sich  verborgen halten. Da er
weiter dachte, fand er  auch,  dass er selbst  nicht in Sorge um seinen Sohn
war, dass er im Innersten wusste, er sei weder umgekommen, noch drohe ihm im
Walde Gefahr. Dennoch lief  er ohne Rast, nicht mehr, um ihn  zu retten, nur
aus Verlangen, nur um ihn vielleicht nochmals zu  sehen. Und er lief bis vor
die Stadt.
     Als  er nahe  bei der Stadt auf die  breite StraXe  gelangte,  blieb er
stehen,  am Eingang des schXnen Lustgartens, der einst  Kamala gehXrt hatte,
wo er sie einst, in der SXnfte,  zum erstenmal  gesehen  hatte. Das Damalige
stand  in  seiner  Seele  auf, wieder  sah er  sich  dort stehen,  jung, ein
bXrtiger nackter  Samana, das  Haar voll Staub. Lange  stand  Siddhartha und
blickte durch das offne Tor in den  Garten,  MXnche in gelben  Kutten sah er
unter den schXnen BXumen gehen.
     Lange stand er,  nachdenkend,  Bilder  sehend,  der  Geschichte  seines
Lebens lauschend. Lange stand er, blickte nach den MXnchen,  sah statt ihrer
den  jungen Siddhartha,  sah die junge  Kamala unter den hohen BXumen gehen.
Deutlich  sah er sich, wie er von  Kamala bewirtet ward, wie er ihren ersten
Kuss  empfing,  wie   er  stolz  und  verXchtlich  auf   sein   Brahmanentum
zurXckblickte, stolz und verlangend sein Weltleben begann. Er sah Kamaswami,
sah die Diener, die Gelage, die WXrfelspieler,  die  Musikanten, sah Kamalas
Singvogel im KXfig,  lebte dies alles nochmals, atmete Sansara, war nochmals
alt  und mXde, fXhlte nochmals den  Ekel, fXhlte nochmals den  Wunsch,  sich
auszulXschen, genas nochmals am heiligen Om.
     Nachdem  er  lange beim Tor des Gartens  gestanden war,  sah Siddhartha
ein,  dass das Verlangen tXricht war, das ihn bis zu dieser StXtte getrieben
hatte, dass er seinem Sohne nicht helfen konnte, dass  er  sich nicht an ihn
hXngen durfte. Tief fXhlte  er die  Liebe zu dem  Entflohenen im Herzen, wie
eine Wunde, und fXhlte zugleich, dass ihm die Wunde nicht gegeben war, um in
ihr zu wXhlen, dass sie zur BlXte werden und strahlen mXsse.
     Dass die Wunde zu dieser Stunde noch nicht blXhte, noch nicht strahlte,
machte ihn traurig. An der Stelle des Wunschzieles, das ihn hierher  und dem
entflohenen Sohne nachgezogen hatte, stand nun Leere. Traurig setzte er sich
nieder, fXhlte etwas  in  seinem  Herzen sterben, empfand Leere,  sah  keine
Freude mehr,  kein  Ziel. Er  saX versunken,  und  wartete. Dies hatte er am
Flusse gelernt,  dies eine:  warten,  Geduld haben, lauschen. Und er saX und
lauschte,  im  Staub  der  StraXe,  lauschte  seinem Herzen, wie  es mXd und
traurig  ging, wartete auf eine Stimme. Manche Stunde  kauerte er lauschend,
sah  keine Bilder mehr, sank in die Leere, lieX  sich sinken, ohne einen Weg
zu sehen. Und wenn er  die Wunde brennen fXhlte, sprach  er lautlos  das Om,
fXllte sich mit Om. Die MXnche im Garten  sahen ihn, und da er viele Stunden
kauerte,  und auf seinen grauen Haaren  der Staub sich  sammelte,  kam einer
gegangen  und legte  zwei PisangfrXchte  vor ihm nieder.  Der Alte  sah  ihn
nicht.
     Aus  dieser  Erstarrung  weckte ihn  eine Hand,  welche  seine Schulter
berXhrte.  Alsbald erkannte er  diese  BerXhrung, die zarte, schamhafte, und
kam zu sich. Er erhob sich und begrXte Vasudeva,  welcher ihm  nachgegangen
war. Und  da er in Vasudevas freundliches  Gesicht  schaute, in die kleinen,
wie mit lauter  LXcheln  ausgefXllten  Falten, in  die  heiteren  Augen,  da
lXchelte auch er. Er sah nun die PisangfrXchte vor sich liegen, hob sie auf,
gab eine dem FXhrmann, aX  selbst die andere.  Darauf ging er schweigend mit
Vasudeva in den Wald zurXck, kehrte zur FXhre heim.  Keiner sprach von  dem,
was heute geschehen war,  keiner nannte den Namen des  Knaben, keiner sprach
von  seiner  Flucht,  keiner  sprach von der Wunde. In der  HXtte legte sich
Siddhartha auf sein Lager,  und da nach einer Weile Vasudeva zu Ihm trat, um
ihm eine Schale Kokosmilch anzubieten, fand er ihn schon schlafend.


     Om
     Lange noch brannte die Wunde. Manchen Reisenden musste  Siddhartha Xber
den Fluss  setzen, der  einen  Sohn oder eine  Tochter  bei sich  hatte, und
keinen von ihnen sah er, ohne  dass er  ihn  beneidete, ohne dass er dachte:
"So viele, so  viel Tausende besitzen dies holdeste GlXck X warum ich nicht?
Auch bXse Menschen, auch Diebe, und RXuber haben Kinder, und lieben sie, und
werden von ihnen  geliebt, nur ich  nicht."  So  einfach, so  ohne  Verstand
dachte er nun, so Xhnlich war er den Kindermenschen geworden.
     Anders sah  er jetzt die Menschen  an als frXher, weniger klug, weniger
stolz, dafXr  wXrmer, dafXr neugieriger, beteiligter. Wenn er  Reisende  der
gewXhnlichen   Art  Xbersetzte,  Kindermenschen,  GeschXftsleute,   Krieger,
Weibervolk, so erschienen diese Leute ihm nicht fremd wie einst: er verstand
sie,  er verstand und teilte ihr nicht von Gedanken und  Einsichten, sondern
einzig  von Trieben und  WXnschen geleitetes Leben, er fXhlte  sich wie sie.
Obwohl er nahe der Vollendung  war, und an seiner letzten Wunde trug, schien
ihm  doch,  diese  Kindermenschen  seien  seine  BrXder,  ihre  Eitelkeiten,
Begehrlichkeiten  und LXcherlichkeiten  verloren  das  LXcherliche  fXr ihn,
wurden  begreiflich, wurden liebenswert, wurden  ihm sogar verehrungswXrdig.
Die blinde Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, den dummen, blinden Stolz eines
eingebildeten  Vaters auf sein einziges SXhnlein,  das blinde, wilde Streben
nach Schmuck  und nach bewundernden  MXnneraugen  bei  einem jungen,  eitlen
Weibe, alle diese Triebe,  alle  diese  Kindereien,  alle  diese  einfachen,
tXrichten, aber ungeheuer starken, stark lebenden, stark sich durchsetzenden
Triebe  und Begehrlichkeiten  waren  fXr Siddhartha  jetzt  keine Kindereien
mehr, er sah um  ihretwillen  die  Menschen  leben, sah  sie um  ihretwillen
Unendliches  leisten,  Reisen  tun,  Kriege   fXhren,  Unendliches   leiden,
Unendliches ertragen, und er konnte sie dafXr  lieben, er sah das Leben, das
Lebendige,  das UnzerstXrbare,  das  Brahman in jeder  ihrer Leidenschaften,
jeder  ihrer Taten. Liebenswert und  bewundernswert  waren diese Menschen in
ihrer  blinden Treue,  ihrer  blinden  StXrke und ZXhigkeit.  Nichts  fehlte
ihnen,  nichts  hatte der  Wissende  und Denker vor  ihnen voraus  als  eine
einzige Kleinigkeit, eine einzige winzig  kleine Sache: das Bewusstsein, den
bewussten Gedanken der Einheit alles Lebens. Und Siddhartha zweifelte  sogar
zu mancher Stunde, ob dies Wissen, dieser Gedanke so sehr hoch zu werten, ob
nicht   auch   er   vielleicht   eine   Kinderei   der   Denkmenschen,   der
Denk-Kindermenschen sein  mXchte. In allem andern waren die Weltmenschen dem
Weisen ebenbXrtig, waren ihm oft weit Xberlegen, wie ja auch  Tiere in ihrem
zXhen, unbeirrten Tun  des Notwendigen in manchen  Augenblicken den Menschen
Xberlegen scheinen kXnnen.
     Langsam blXhte, langsam reifte in Siddhartha die Erkenntnis, das Wissen
darum,  was eigentlich Weisheit sei, was  seines langen Suchens Ziel sei. Es
war nichts  als eine Bereitschaft  der Seele,  eine FXhigkeit,  eine geheime
Kunst, jeden Augenblick, mitten im Leben,  den Gedanken  der Einheit denken,
die Einheit fXhlen und einatmen  zu  kXnnen. Langsam blXhte dies in ihm auf,
strahlte ihm aus  Vasudevas altem Kindergesicht wider:  Harmonie,  Wissen um
die ewige Vollkommenheit der Welt, LXcheln, Einheit.
     Die Wunde aber brannte noch,  sehnlich  und bitter gedachte  Siddhartha
seines  Sohnes, pflegte  seine Liebe  und ZXrtlichkeit  im  Herzen, lieX den
Schmerz an sich  fressen, beging alle  Torheiten der Liebe. Nicht von selbst
erlosch diese Flamme.
     Und eines Tages, als die Wunde heftig brannte, fuhr Siddhartha Xber den
Fluss,  gejagt von Sehnsucht, stieg aus und  war  Willens, nach der Stadt zu
gehen und seinen Sohn  zu suchen. Der Fluss floss sanft und leise, es war in
der trockenen Jahreszeit, aber seine Stimme klang sonderbar: sie lachte! Sie
lachte  deutlich.  Der  Fluss  lachte,  er lachte hell und  klar  den  alten
FXhrmann aus. Siddhartha blieb stehen, er  beugte sich Xbers Wasser, um noch
besser  zu  hXren,  und  im  still  ziehenden Wasser  sah  er  sein  Gesicht
gespiegelt, und in diesem gespiegelten Gesicht war etwas, das ihn erinnerte,
etwas Vergessenes, und  da er sich besann,  fand  er es:  dies Gesicht glich
einem andern, das er einst gekannt und geliebt und auch gefXrchtet hatte. Es
glich dem Gesicht seines  Vaters, des Brahmanen.  Und er erinnerte sich, wie
er vor Zeiten, ein JXngling, seinen Vater gezwungen hatte, ihn zu den BXern
gehen zu lassen, wie er Abschied von ihm genommen hatte, wie er gegangen und
nie mehr wiedergekommen  war. Hatte nicht auch sein Vater  um  ihn  dasselbe
Leid  gelitten,  wie er es nun um  seinen  Sohn  litt? War nicht sein  Vater
lXngst gestorben, allein, ohne seinen Sohn wiedergesehen zu haben? Musste er
selbst nicht dies  selbe Schicksal erwarten? War es nicht eine KomXdie, eine
seltsame  und  dumme  Sache,  diese Wiederholung,  dieses  Laufen  in  einem
verhXngnisvollen Kreise?
     Der Fluss lachte. Ja, es war so, es kam alles  wieder, was nicht bis zu
Ende  gelitten  und gelXst  ward,  es  wurden immer wieder  dieselben Leiden
gelitten. Siddhartha  aber  stieg  wieder in das Boot  und fuhr zu der HXtte
zurXck,  seines  Vaters  gedenkend,  seines  Sohnes  gedenkend,  vom  Flusse
verlacht,  mit  sich selbst im  Streit,  geneigt zur Verzweiflung, und nicht
minder  geneigt,  aber sich und die ganze Welt laut  mitzulachen. Ach,  noch
blXhte die Wunde nicht, noch wehrte sein Herz sich wider das Schicksal, noch
strahlte  nicht  Heiterkeit  und  Sieg  aus  seinem  Leide. Doch  fXhlte  er
Hoffnung, und da er zur HXtte zurXckgekehrt war, spXrte er ein unbesiegbares
Verlangen,  sich  vor  Vasudeva  zu Xffnen, ihm  alles zu  zeigen,  ihm, dem
Meister des ZuhXrens, alles zu sagen.
     Vasudeva saX in der HXtte und flocht an einem Korbe. Er fuhr nicht mehr
mit  dem FXhrboot, seine Augen  begannen  schwach zu  werden, und nicht  nur
seine Augen; auch seine Arme  und HXnde. UnverXndert und blXhend war nur die
Freude und das heitere Wohlwollen seines Gesichtes.
     Siddhartha  setzte sich zu dem  Greise, langsam begann er  zu sprechen.
WorXber sie niemals gesprochen hatten, davon erzXhlte  er  jetzt, von seinem
Gange zur Stadt,  damals,  von  der  brennenden Wunde, von seinem  Neid beim
Anblick glXcklicher VXter, von seinem Wissen um die Torheit solcher WXnsche,
von seinem vergeblichen  Kampf wider sie. Alles berichtete  er, alles konnte
er  sagen, auch das  Peinlichste, alles lieX sich sagen,  alles sich zeigen,
alles  konnte er  erzXhlen. Er zeigte  seine Wunde  dar, erzXhlte auch seine
heutige Flucht, wie  er  Xbers Wasser gefahren sei,  kindischer  FlXchtling,
willens nach der Stadt zu wandern, wie der Fluss gelacht habe.
     WXhrend er sprach, lange sprach,  wXhrend Vasudeva mit stillem  Gesicht
lauschte, empfand Siddhartha  dies  ZuhXren  Vasudevas stXrker,  als  er  es
jemals gefXhlt hatte,  er spXrte, wie seine Schmerzen,  seine BeXngstigungen
hinXberflossen, wie seine heimliche  Hoffnung hinXberfloss, ihm  von  drXben
wieder entgegenkam. Diesem ZuhXrer seine Wunde  zu zeigen, war dasselbe, wie
sie im Flusse baden, bis sie kXhl und mit dem Flusse eins wurde.  WXhrend er
immer noch sprach, immer noch bekannte und beichtete, fXhlte Siddhartha mehr
und mehr, dass dies nicht  mehr Vasudeva, nicht mehr ein Mensch war, der ihm
zuhXrte, dass dieser regungslos Lauschende seine  Beichte in sich einsog wie
ein  Baum den Regen, dass dieser Regungslose  der Fluss selbst, dass er Gott
selbst, dass er  das  Ewige selbst  war. Und wXhrend Siddhartha aufhXrte, an
sich und an seine Wunde zu  denken,  nahm diese Erkenntnis  vom  verXnderten
Wesen des  Vasudeva  von ihm Besitz, und je mehr er  es  empfand und  darein
eindrang, desto  weniger  wunderlich wurde es, desto mehr  sah  er ein, dass
alles in Ordnung und natXrlich war, dass Vasudeva schon lange, beinahe schon
immer so  gewesen  sei, dass nur er selbst es nicht  ganz  erkannt hatte, ja
dass er selbst von jenem kaum noch verschieden sei. Er empfand,  dass er den
alten Vasudeva  nun so sehe, wie das Volk  die  GXtter sieht,  und dass dies
nicht  von Dauer sein kXnne; er begann  im Herzen von  Vasudeva  Abschied zu
nehmen. Dabei sprach er immer fort.
     Als er zu Ende gesprochen hatte, richtete Vasudeva seinen freundlichen,
etwas  schwach  gewordenen   Blick  auf  ihn,  sprach  nicht,  strahlte  ihm
schweigend  Liebe  und Heiterkeit entgegen,  VerstXndnis und Wissen. Er nahm
Siddharthas Hand, fXhrte ihn zum Sitz am Ufer, setzte sich  mit ihm  nieder,
lXchelte dem Flusse zu.
     "Du hast ihn lachen hXren," sagte er. "Aber du hast nicht alles gehXrt.
Lass uns lauschen, du wirst mehr hXren."
     Sie  lauschten.  Sanft  klang  der  vielstimmige  Gesang  des  Flusses.
Siddhartha  schaute ins  Wasser,  und im  ziehenden  Wasser  erschienen  ihm
Bilder:  sein  Vater  erschien, einsam,  um  den Sohn  trauernd;  er  selbst
erschien, einsam, auch er  mit den Banden der Sehnsucht  an den  fernen Sohn
gebunden; es erschien sein Sohn,  einsam auch er, der Knabe, begehrlich  auf
der brennenden Bahn  seiner  jungen  WXnsche  stXrmend, jeder  auf sein Ziel
gerichtet, jeder vom Ziel besessen, jeder leidend. Der Fluss sang  mit einer
Stimme  des Leidens,  sehnlich sang er,  sehnlich floss  er seinem Ziele zu,
klagend klang seine Stimme.
     "HXrst du?" fragte Vasudevas stummer Blick. Siddhartha nickte.
     "HXre besser!" flXsterte Vasudeva.
     Siddhartha bemXhte  sich, besser  zu  hXren. Das Bild des  Vaters, sein
eigenes  Bild,  das  Bild des Sohnes flossen  ineinander, auch  Kamalas Bild
erschien und zerfloss, und das Bild Govindas, und  andre Bilder, und flossen
ineinander Xber,  wurden alle zum Fluss,  strebten alle  als Fluss dem Ziele
zu,  sehnlich,  begehrend,  leidend,  und  des  Flusses  Stimme  klang  voll
Sehnsucht, voll  von brennendem Weh,  voll von unstillbarem  Verlangen.  Zum
Ziele strebte der  Fluss, Siddhartha sah  ihn eilen, den Fluss,  der aus ihm
und den Seinen und aus allen Menschen bestand, die er je gesehen hatte, alle
die  Wellen  und  Wasser  eilten, leidend,  Zielen zu,  vielen  Zielen,  dem
Wasserfall,  dem See, der Stromschnelle, dem  Meere, und  alle Ziele  wurden
erreicht,  und jedem folgte  ein  neues,  und aus dem Wasser ward  Dampf und
stieg in  den  Himmel,  ward Regen  und stXrzte aus dem  Himmel  herab, ward
Quelle, ward Bach, ward Fluss, strebte aufs Neue, floss aufs Neue.  Aber die
sehnliche Stimme hatte sich  verXndert.  Noch  tXnte sie, leidvoll, suchend,
aber andre Stimmen gesellten sich zu ihr, Stimmen der Freude und des Leides,
gute und  bXse  Stimmen,  lachende  und trauernde, hundert  Stimmen, tausend
Stimmen.
     Siddhartha  lauschte.  Er  war  nun  ganz Lauscher,  ganz  ins  ZuhXren
vertieft, ganz leer, ganz einsaugend, er fXhlte, dass er nun das Lauschen zu
Ende  gelernt habe. Oft schon hatte er all dies gehXrt, diese vielen Stimmen
im Fluss, heute klang es neu. Schon konnte  er die vielen Stimmen nicht mehr
unterscheiden, nicht frohe von  weinenden,  nicht  kindliche von mXnnlichen,
sie  gehXrten alle zusammen, Klage  der Sehnsucht und  Lachen des Wissenden,
Schrei des  Zorns  und StXhnen  der Sterbenden, alles  war eins,  alles  war
ineinander  verwoben  und verknXpft,  tausendfach  verschlungen.  Und  alles
zusammen,  alle Stimmen,  alle Ziele,  alles Sehnen, alle Leiden, alle Lust,
alles Gute  und BXse,  alles zusammen war  die Welt.  Alles zusammen war der
Fluss  des  Geschehens,  war  die  Musik  des  Lebens. Und  wenn  Siddhartha
aufmerksam  diesem  Fluss, diesem tausendstimmigen  Liede lauschte, wenn  er
nicht  auf das Leid noch auf  das Lachen hXrte, wenn er seine Seele nicht an
irgendeine  Stimme band und  mit  seinem Ich  in sie einging,  sondern  alle
hXrte, das  Ganze,  die Einheit vernahm,  dann  bestand  das  groXe Lied der
tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das hieX OM: die Vollendung.
     "HXrst du," fragte wieder Vasudevas Blick.
     Hell  glXnzte  Vasudevas LXcheln,  Xber  all  den Runzeln  seines alten
Antlitzes schwebte es leuchtend, wie Xber all den Stimmen des Flusses das Om
schwebte.  Hell glXnzte sein LXcheln, als er  den Freund anblickte, und hell
glXnzte nun auch  auf Siddharthas  Gesicht dasselbe LXcheln auf. Seine Wunde
blXhte, sein Leid strahlte, sein Ich war in die Einheit geflossen.
     In dieser Stunde  hXrte Siddhartha auf,  mit dem  Schicksal zu kXmpfen,
hXrte auf zu leiden. Auf  seinem Gesicht blXhte die Heiterkeit des  Wissens,
dem   kein  Wille  mehr  entgegensteht,  das  die   Vollendung  kennt,   das
einverstanden ist mit dem  Fluss des Geschehens, mit dem  Strom  des Lebens,
voll Mitleid, voll Mitlust, dem StrXmen hingegeben, der Einheit zugehXrig.
     Als Vasudeva  sich von dem Sitz am  Ufer erhob, als  er in  Siddharthas
Augen blickte und die Heiterkeit des Wissens darin strahlen sah, berXhrte er
dessen Schulter leise mit der Hand, in seiner behutsamen  und zarten  Weise,
und  sagte:  "Ich habe auf  diese Stunde gewartet,  Lieber. Nun sie gekommen
ist,  lass mich gehen. Lange habe ich, auf diese  Stunde gewartet, lange bin
ich der FXhrmann  Vasudeva gewesen. Nun ist es genug. Lebe wohl, HXtte, lebe
wohl, Fluss, lebe wohl, Siddhartha!"
     Siddhartha verneigte sich tief vor dem Abschiednehmenden.
     "Ich habe es gewusst," sagte er leise. "Du wirst in die WXlder gehen?"
     "Ich  gehe in  die WXlder, ich gehe  in  die Einheit," sprach  Vasudeva
strahlend.
     Strahlend ging  er hinweg;  Siddhartha blickte  ihm  nach.  Mit  tiefer
Freude, mit  tiefem  Ernst  blickte  er  ihm  nach, sah seine Schritte  voll
Frieden, sah sein Haupt voll Glanz, sah seine Gestalt voll Licht.



     Mit anderen MXnchen weilte Govinda  einst wXhrend einer Rastzeit in dem
Lusthain,  welchen  die Kurtisane Kamala  den JXngern  des Gotama  geschenkt
hatte. Er hXrte  von  einem alten FXhrmanne sprechen, welcher eine Tagereise
entfernt vom  Flusse  wohne,  und der  von  vielen fXr einen Weisen gehalten
werde. Als  Govinda  des  Weges  weiterzog, wXhlte  er  den Weg  zur  FXhre,
begierig diesen FXhrmann zu sehen. Denn ob er wohl  sein Leben lang nach der
Regel gelebt hatte, auch von den jngeren MXnchen  seines Alters  und seiner
Bescheidenheit  wegen  mit Ehrfurcht  angesehen wurde, war  doch  in  seinem
Herzen die Unruhe und das Suchen nicht erloschen.
     Er kam zum FlXsse, er bat den Alten um berfahrt, und da sie drXben aus
dem Boot stiegen,  sagte er zum Alten: "Viel Gutes erweisest du  uns MXnchen
und Pilgern, viele  von uns hast du  schon Xbergesetzt. Bist nicht  auch du,
FXhrmann, ein Sucher nach dem rechten Pfade?"
     Sprach Siddhartha, aus den  alten Augen lXchelnd: "Nennst du dich einen
Sucher, o EhrwXrdiger, und bist doch  schon  hoch in den Jahren, und  trXgst
das Gewand der MXnche Gotamas?"
     "Wohl bin ich  alt," sprach Govinda,  "zu suchen  aber habe  ich  nicht
aufgehXrt. Nie werde ich aufhXren zu suchen, dies  scheint meine Bestimmung.
Auch du,  so scheint es mir, hast  gesucht.  Willst  du mir  ein Wort sagen,
Verehrter?"
     Sprach Siddhartha:  "Was  sollte ich dir,  EhrwXrdiger,  wohl zu  sagen
haben?  Vielleicht das, dass du allzu viel suchst? Dass  du vor Suchen nicht
zum Finden kommst?"
     "Wie denn?" fragte Govinda.
     "Wenn jemand sucht,"  sagte Siddhartha, "dann geschieht es leicht, dass
sein Auge nur noch das Ding sieht, das er sucht, dass  er nichts  zu finden,
nichts in sich einzulassen vermag, weil er nur immer an das  Gesuchte denkt,
weil er ein  Ziel hat, weil er vom Ziel besessen ist. Suchen heiXt: ein Ziel
haben.  Finden aber  heiXt: frei sein, offen  stehen,  kein Ziel  haben. Du,
EhrwXrdiger,  bist  vielleicht  in  der  Tat ein  Sucher, denn, deinem  Ziel
nachstrebend, siehst du manches nicht, was nah vor deinen Augen steht."
     "Noch verstehe ich nicht ganz," bat Govinda, "wie meinst du das?"
     Sprach Siddhartha: "Einst, o  EhrwXrdiger, vor manchen Jahren, bist  du
schon einmal an diesem Flusse gewesen,  und hast am  Fluss einen Schlafenden
gefunden, und hast dich zu ihm gesetzt, um seinen Schlaf zu behXten. Erkannt
aber, o Govinda, hast du den Schlafenden nicht."
     Staunend, wie ein  Bezauberter,  blickte  der MXnch  in  des  FXhrmanns
Augen.
     "Bist  du Siddhartha?" fragte er  mit  scheuer Stimme. "Ich  hXtte dich
auch diesesmal nicht erkannt!  Herzlich grXe ich dich, Siddhartha, herzlich
freue ich mich, dich nochmals zu sehen! Du hast dich sehr verXndert, Freund.
X Und nun bist du also ein FXhrmann geworden?"
     Freundlich  lachte  Siddhartha.  "Ein FXhrmann,  ja.  Manche,  Govinda,
mXssen sich viel  verXndern, mXssen  allerlei Gewand tragen, ihrer einer bin
ich, Lieber. Sei willkommen, Govinda, und bleibe die Nacht in meiner HXtte."
     Govinda blieb die Nacht  in der HXtte  und schlief auf  dem Lager,  das
einst Vasudevas Lager gewesen war.  Viele Fragen richtete er  an den  Freund
seiner Jugend, vieles musste ihm Siddhartha aus seinem Leben erzXhlen.
     Als  es am andern Morgen  Zeit  war, die  Tageswanderung anzutreten, da
sagte Govinda, nicht ohne ZXgern, die Worte: "Ehe ich  meinen Weg fortsetze,
Siddhartha,  erlaube mir noch  eine Frage. Hast du eine Lehre? Hast du einen
Glauben, oder ein Wissen, dem du folgst, das dir leben und rechttun hilft?"
     Sprach  Siddhartha: "Du weiXt, Lieber, dass ich  schon als junger Mann,
damals,  als wir bei den  BXern im Walde  lebten, dazu kam, den  Lehren und
Lehrern  zu misstrauen  und  ihnen  den  RXcken  zu  wenden.  Ich bin  dabei
geblieben.  Dennoch  habe  ich  seither  viele  Lehrer  gehabt.  Eine schXne
Kurtisane  ist lange  Zeit  meine Lehrerin gewesen, und ein reicher Kaufmann
war mein Lehrer,  und einige WXrfeIspieler. Einmal  ist auch  ein wandernder
JXnger Buddhas mein  Lehrer  gewesen;  er saX  bei  mir, als  ich  im  Walde
eingeschlafen war, auf der Pilgerschaft. Auch von ihm habe ich gelernt, auch
ihm bin ich dankbar, sehr dankbar. Am meisten aber habe ich  hier von diesem
Flusse gelernt, und  von meinem VorgXnger, dem FXhrmann Vasudeva. Es war ein
sehr einfacher  Mensch, Vasudeva, er  war kein  Denker,  aber  er wusste das
Notwendige so gut wie Gotama, er war ein Vollkommener, ein Heiliger."
     Govinda  sagte: "Noch immer, o  Siddhartha,  liebst  du  ein wenig  den
Spott,  wie mir  scheint. Ich glaube dir  und weiX es,  dass  du nicht einem
Lehrer gefolgt bist. Aber hast nicht du selbst,  wenn auch nicht eine Lehre,
so doch gewisse  Gedanken, gewisse Erkenntnisse  gefunden, welche dein eigen
sind und die dir leben helfen? Wenn du  mir von diesen etwas sagen mXchtest,
wXrdest du mir das Herz erfreuen."
     Sprach Siddhartha: "Ich  habe Gedanken gehabt, ja, und Erkenntnisse, je
und je. Ich habe manchmal, fXr eine Stunde oder fXr einen Tag, Wissen in mir
gefXhlt, so wie  man Leben in seinem Herzen fXhlt. Manche Gedanken waren es,
aber schwer wXre es fXr mich, sie dir mitzuteilen. Sieh, mein  Govinda, dies
ist einer  meiner  Gedanken,  die  ich  gefunden habe:  Weisheit  ist  nicht
mitteilbar. Weisheit, welche  ein  Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer
wie Narrheit."
     "Scherzest du?" fragte Govinda.
     "Ich scherze nicht.  Ich  sage, was  ich gefunden habe. Wissen kann man
mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man
kann von ihr getragen werden, man kann  mit ihr Wunder  tun,  aber sagen und
lehren kann man sie nicht.  Dies war es, was ich schon als JXngfing manchmal
ahnte, was mich  von  den Lehrern fortgetrieben hat. Ich habe einen Gedanken
gefunden,  Govinda, den du wieder fXr Scherz oder fXr Narrheit halten wirst,
der aber mein, bester  Gedanke ist.  Er heiXt:  Von jeder  Wahrheit  ist das
Gegenteil  ebenso wahr!  NXmlich  so:  eine Wahrheit  lXsst  sich  immer nur
aussprechen  und  in  Worte  hXllen,  wenn sie  einseitig ist. Einseitig ist
alles,  was mit Gedanken  gedacht und mit  Worten gesagt werden  kann, alles
einseitig, alles halb, alles entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit.
Wenn  der erhabene Gotama lehrend  von  der Welt  sprach, so  musste  er sie
teilen  in Sansara und  Nirvana,  in  TXuschung  und Wahrheit,  in Leid  und
ErlXsung. Man  kann  nicht  anders, es gibt  keinen andern Weg  fXr den, der
lehren will. Die Welt selbst aber, das Seiende um  uns her und in uns innen,
ist nie einseitig. Nie ist ein Mensch, oder eine Tat, ganz Sansara oder ganz
Nirvana, nie  ist ein Mensch ganz heilig oder ganz sXndig. Es scheint ja so,
weil  wir der TXuschung unterworfen  sind, dass  Zeit etwas Wirkliches  sei.
Zeit ist nicht  wirklich, Govinda, ich habe dies  oft  und oft erfahren. Und
wenn  Zeit nicht wirklich  ist, so ist  die Spanne,  die zwischen  Welt  und
Ewigkeit, zwischen  Leid und Seligkeit,  zwischen  BXse  und  Gut zu  liegen
scheint, auch eine TXuschung."
     "Wie das?" fragte Govinda Xngstlich.
     "HXre gut, Lieber, hXre gut! Der  SXnder,  der ich bin und der du bist,
der ist SXnder, aber er wird einst wieder Brahma sein, er wird einst Nirvana
erreichen, wird Buddha sein X und nun siehe: dies "Einst" ist TXuschung, ist
nur Gleichnis!  Der SXnder ist nicht auf dem Weg zur Buddhaschaft unterwegs,
er ist nicht in einer  Entwickelung begriffen,  obwohl unser Denken sich die
Dinge nicht anders vorzustellen weiX. Nein, in dem SXnder ist, ist jetzt und
heute schon der kXnftige Buddha, seine Zukunft ist alle schon da, du hast in
ihm, in dir, in  jedem den  werdenden, den mXglichen, den verborgenen Buddha
zu  verehren.  Die  Welt, Freund Govinda, ist nicht  unvollkommen, oder  auf
einem langsamen Wege  zur  Vollkommenheit begriffen:  nein, sie ist in jedem
Augenblick  vollkommen,  alle  SXnde  trXgt  schon die  Gnade in  sich, alle
kleinen  Kinder  haben schon den Greis in sich, alle SXuglinge den Tod, alle
Sterbenden das ewige Leben. Es  ist keinem Menschen mXglich,  vom anderen zu
sehen, wie  weit er auf seinem Wege sei, im  RXuber und WXrfelspieler wartet
Buddha, im  Brahmanenwartet der  RXuber.  Es gibt, in der tiefen Meditation,
die MXglichkeit,  die  Zeit  aufzuheben,  alles gewesene, seiende  und  sein
werdende Leben  als  gleichzeitig  zu  sehen,  und  da ist alles  gut, alles
vollkommen,  alles ist Brahm an. Darum  scheint mir  das,  was  ist, gut, es
scheint mir Tod wie Leben, SXnde wie Heiligkeit, Klugheit wie Torheit, alles
muss so sein, alles bedarf nur  meiner Zustimmung,  nur  meiner  Willigkeit,
meines  liebenden EinverstXndnisses, so ist es  fXr mich  gut, kann mich nur
fXrdern, kann mir nie schaden. Ich habe an meinem Leibe und  an meiner Seele
erfahren, dass  ich der SXnde  sehr bedurfte, ich bedurfte  der Wollust, des
Strebens  nach  GXtern,  der  Eitelkeit,  und  bedurfte  der  schmXhlichsten
Verzweiflung, um das Widerstreben aufgeben zu lernen, um die Welt  lieben zu
lernen, um  sie nicht  mehr mit  irgendeiner  von mir gewXnschten,  von  mir
eingebildeten  Welt  zu  vergleichen,  einer von  mir ausgedachten  Art  der
Vollkommenkeit, sondern sie  zu lassen, wie sie  ist, und sie zu lieben, und
ihr gerne anzugehXren.  X Dies, o Govinda, sind einige,von den Gedanken, die
mir in den Sinn gekommen sind."
     Siddhartha  bXckte sich, hob einen Stein vom Erdbodene auf  und wog ihn
in der Hand.
     "Dies  hier," sagte  er spielend, "ist ein  Stein, und er wird in einer
bestimmten Zeit vielleicht Erde sein, und wird aus Erde Pflanze werden, oder
Tier  oder Mensch.  FrXher nun  hXtte ich gesagt: Dieser Stein ist  bloX ein
Stein,  er  ist  wertlos,  er gehXrt  der Welt  der Maja an;  aber  weil  er
vielleicht im Kreislauf der Verwandlungen auch Mensch und Geist werden kann,
darum schenke ich auch ihm Geltung. So hXtte ich frXher  vielleicht gedacht.
Heute aber denke ich: dieser Stein ist Stein, er ist auch Tier, er  ist auch
Gott, er ist auch Buddha, ich verehre und liebe ihn nicht, weil er einstmals
dies oder jenes werden kXnnte, sondern weil er alles lXngst und  immer ist X
und gerade  dies, dass er Stein ist, dass er mir jetzt und  heute als  Stein
erscheint, gerade darum liebe ich ihn,  und sehe  Wert und Sinn in jeder von
seinen Adern  und  HXhlungen, in dem Gelb, in dem  Grau,  in  der HXrte,  im
Klang, den er von sich  gibt, wenn ich ihn beklopfe, in der Trockenheit oder
Feuchtigkeit seiner OberflXche. Es gibt Steine, die fXhlen sich wie Xl  oder
wie Seife an, und andre wie BlXtter, andre wie Sand, und jeder ist besonders
und betet das Om  auf  seine  Weise, jeder ist Brahman,  zugleich  aber  und
ebensosehr ist er  Stein, ist Xlig oder saftig, und  gerade das  gefXllt mir
und  scheint mir  wunderbar und der Anbetung  wXrdig. X Aber  mehr lass mich
davon nicht sagen. Die Worte tun dem geheimen Sifin nicht gut, es wird immer
alles gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht, ein wenig verfXlscht,
ein  wenig nXrrisch X ja,  und auch  das ist sehr gut und gefXllt  mir sehr,
auch damit bin ich sehr einverstanden, dass  das, was eines  Menschen Schatz
und Weisheit ist, dem andern immer wie Narrheit klingt."
     Schweigend lauschte Govinda.
     "Warum hast  du  mir das von  dem  Steine gesagt?" fragte er nach einer
Pause zXgernd.
     "Es geschah ohne Absicht.  Oder vielleicht  war es so gemeint, dass ich
eben den  Stein, und den Fluss, und alle diese Dinge, die wir betrachten und
von denen wir  lernen kXnnen, liebe. Einen  Stein kann ich lieben,  Govinda,
und auch einen Baum oder ein StXck Rinde. Das sind Dinge, und Dinge kann man
lieben. Worte aber kann ich nicht lieben. Darum sind Lehren nichts fXr mich,
sie haben  keine  HXrte,  keine  Weiche, keine  Farben, keine Kanten, keinen
Geruch,  keinen Geschmack,  sie haben  nichts  als Worte. Vielleicht ist  es
dies, was dich hindert, den Frieden zu finden, vielleicht sind es die vielen
Worte. Denn auch ErlXsung und  Tugend, auch  Sansara  und Nirvana sind bloXe
Worte, Govinda.  Es  gibt kein Ding, das Nirvana wXre; es gibt nur  das Wort
Nirvana."
     Sprach Govinda: "Nicht nur ein Wort,  Freund,  ist Nirvana. Es  ist ein
Gedanke."
     Siddhartha fuhr  fort:  "Ein  Gedanke, es  mag  so  sein. Ich muss  dir
gestehen, Lieber:  ich unterscheide zwischen Gedanken und Worten nicht sehr.
Offen gesagt, halte  ich auch von Gedanken nicht viel.  Ich halte von Dingen
mehr. Hier auf diesem FXhrboot zum Beispiel war ein Mann mein  VorgXnger und
Lehrer, ein heiliger Mann, der hat manche Jahre  lang einfach  an  den Fluss
geglaubt, sonst an nichts. Er hatte gemerkt,  dass des Flusses Stimme zu ihm
sprach,  von ihr lernte er, sie erzog und lehrte  ihn,  der Fluss schien ihm
ein Gott, viele Jahre lang wusste  er nicht,  dass  jeder Wind, jede  Wolke,
jeder  Vogel, jeder  KXfer  genau  so gXttlich ist und  ebensoviel weiX  und
lehren  kann  wie der verehrte Fluss. Als  dieser Heilige aber in die WXlder
ging,  da wusste er alles, wusste  mehr  als du  und ich,  ohne Lehrer, ohne
BXcher, nur weil er an den Fluss geglaubt hatte."
     Govinda  sagte: "Aber  ist das,  was  du  `Dinge'  nennst,  denn  etwas
Wirkliches, etwas Wesenhaftes? Ist das nicht nur Trug der Maja, nur Bild und
Schein? Dein Stein, dein Baum, dein Fluss X sind sie denn Wirklichkeiten?"
     "Auch dies," sprach Siddhartha,  "bekXmmert mich nicht sehr.  MXgen die
Dinge Schein sein  oder nicht,  auch ich bin alsdann ja Schein,  und so sind
sie stets meinesgleichen. Das ist es, was sie  mir so lieb und verehrenswert
macht: sie  sind meinesgleichen. Darum kann ich sie lieben. Und dies ist nun
eine Lehre, Xber  welche du lachen wirst: die Liebe, o Govinda,  scheint mir
von allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklXren,
sie zu verachten, mag groXer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran,
die  Welt lieben zu  kXnnen,  sie nicht zu verachten, sie und mich  nicht zu
hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe  und Bewunderung und Ehrfurcht
betrachten zu kXnnen."
     "Dies  verstehe ich,"  sprach  Govinda.  "Aber eben dies  hat  er,  der
Erhabene,  als  Trug  erkannt.  Er  gebietet Wohlwollen, Schonung,  Mitleid,
Duldung, nicht aber Liebe; er verbot  uns, unser Herz in Liebe an  Irdisches
zu fesseln."
     "Ich  weiX es",  sagte  Siddhartha; sein  LXcheln strahlte golden. "Ich
weiX  es,  Govinda. Und siehe,  da sind wir mitten im Dickicht der Meinungen
drin,  im Streit um Worte. Denn ich kann nicht leugnen,  meine Worte von der
Liebe stehen im  Widerspruch,  im scheinbaren Widerspruch zu Gotamas Worten.
Eben  darum  misstraue  ich  den  Worten  so  sehr,  denn ich  weiX,  dieser
Widerspruch ist  TXuschung.  Ich weiX,  dass ich mit  Gotama  einig bin. Wie
sollte denn  auch Er die  Liebe nicht kennen, Er, der alles  Menschensein in
seiner  VergXnglichkeit, in seiner Nichtigkeit erkannt  hat, und dennoch die
Menschen so sehr liebte, dass er ein langes,  mXhevolles Leben einzig darauf
verwendet hat, ihnen zu helfen, sie zu lehren! Auch bei ihm, auch bei deinem
groXen Lehrer, ist  mir das  Ding lieber  als  die Worte, sein Tun und Leben
wichtiger  als sein  Reden,  die  GebXrde seiner  Hand  wichtiger  als seine
Meinungen. Nicht im Reden, nicht im Denken sehe ich seine GrXe, nur im Tun,
im Leben."
     Lange schwiegen die beiden alten MXnner. Dann sprach Govinda,  indem er
sich zum Abschied  verneigte: "Ich danke dir,  Siddhartha, dass du mir etwas
von  deinen Gedanken gesagt hast. Es sind zum Teil  seltsame Gedanken, nicht
alle sind mir  sofort  verstXndlich geworden. Dies mXge sein,  wie es wolle,
ich danke dir, und ich wXnsche dir ruhige Tage."
     (Heimlich  bei   sich  aber  dachte   er:  Dieser  Siddhartha  ist  ein
wunderlicher Mensch,  wunderliche  Gedanken spricht er  aus, nXrrisch klingt
seine Lehre.  Anders  klingt  des Erhabenen  reine  Lehre,  klarer,  reiner,
verstXndlicher,  nichts Seltsames,  NXrrisches  oder LXcherliches ist in ihr
enthalten. Aber anders als seine Gedanken scheinen mir Siddharthas HXnde und
FXe, seine Augen, seine Stirn,  sein  Atmen, sein LXcheln, sein GruX,  sein
Gang.  Nie  mehr,  seit unser  erhabener Gotama in Nirvana einging, nie mehr
habe  ich  einen Menschen  angetroffen, von  dem  ich  fXhlte:  dies ist ein
Heiliger!  Einzig  ihn, diesen Siddhartha,  habe  ich so gefunden. Mag seine
Lehre seltsam sein, mXgen seine Worte nXrrisch klingen, sein Blick und seine
Hand, seine Haut und sein Haar, alles an ihm strahlt  eine Reinheit, strahlt
eine Ruhe,  strahlt eine Heiterkeit und Milde und Heiligkeit aus, welche ich
an keinem anderen  Menschen seit  dem letzten Tode unseres erhabenen Lehrers
gesehen habe.)
     Indem Govinda also  dachte,  und ein  Widerstreit in seinem Herzen war,
neigte er sich nochmals zu Siddhartha, von Liebe gezogen. Tief verneigte  er
sich vor dem ruhig Sitzenden.
     "Siddhartha, sprach er, "wir sind alte MXnner geworden. Schwerlich wird
einer von uns den andern in dieser Gestalt wiedersehen. Ich sehe, Geliebter,
dass du den Frieden gefunden hast. Ich bekenne, ihn nicht gefunden zu haben.
Sage mir, Verehrter, noch ein Wort, gib mir etwas  mit, das  ich fassen, das
ich  verstehen  kann!  Gib  mir  etwas  mit  auf  meinen  Weg.  Er  ist  oft
beschwerlich, mein Weg, oft finster, Siddhartha."
     Siddhartha  schwieg  und blickte  ihn mit  dem immer gleichen,  stillen
LXcheln an. Starr blickte ihm Govinda ins Gesicht, mit Angst, mit Sehnsucht,
Leid   und   ewiges   Suchen  stand  in  seinem  Blick  geschrieben,  ewiges
Nichtfinden.
     Siddhartha sah es, und lXchelte.
     "Neige dich zu mir!" flXsterte er leise in Govindas Ohr. "Neige dich zu
mir her! So, noch nXher! Ganz nahe! KXsse mich auf die Stirn, Govindal"
     WXhrend aber Govinda verwundert,  und  dennoch  von  groXer  Liebe  und
Ahnung gezogen, seinen Worten gehorchte, sich  nahe zu  ihm neigte und seine
Stirn  mit den Lippen berXhrte, geschah ihm etwas Wunderbares. WXhrend seine
Gedanken noch  bei  Siddharthas wunderlichen Worten  verweilten,  wXhrend er
sich  noch  vergeblich   und  mit  Widerstreben  bemXhte,   sich   die  Zeit
hinwegzudenken, sich  Nirvana  und Sansara  als  Eines vorzustellen, wXhrend
sogar eine gewisse Verachtung fXr  die Worte des Freundes  in  ihm mit einer
ungeheuren Liebe und Ehrfurcht stritt, geschah ihm dieses:
     Er  sah  seines  Freundes Siddhartha Gesicht nicht  mehr, er sah  statt
dessen  andre Gesichter, viele, eine lange Reihe, einen strXmenden Fluss von
Gesichtern, von hunderten,  von tausenden,  welche alle kamen und vergingen,
und  doch  alle  zugleich  dazusein  schienen, welche  alle  sich  bestXndig
verXnderten  und erneuerten, und  welche doch alle Siddhartha  waren. Er sah
das  Gesicht  eines  Fisches,  eines  Karpfens,  mit  unendlich  schmerzvoll
geXffnetem  Maule, eines sterbenden Fisches, mit  brechenden Augen X er  sah
das  Gesicht  eines neugeborenen  Kindes,  rot  und voll Falten,  zum Weinen
verzogen X  er sah das Gesicht eines MXrders, sah ihn ein Messer in den Leib
eines  Menschen  stechen X er sah,  zur  selben  Sekunde, diesen  Verbrecher
gefesselt  knien  und  sein  Haupt  vom   Henker   mit  einem  Schwertschlag
abgeschlagen werden  X  er  sah die KXrper  von MXnnern und Frauen  nackt in
Stellungen und  KXmpfen rasender Liebe X er sah Leichen ausgestreckt, still,
kalt, leer X er sah TierkXpfe, von Ebern, von Krokodilen, von Elefanten, von
Stieren, von  VXgeln X er sah GXtter, sah  Krischna, sah Agni  X er sah alle
diese Gestalten  und  Gesichter in tausend Beziehungen  zueinander, jede der
andern helfend, sie liebend, sie hassend, sie vernichtend, sie neu gebXrend,
jede  war ein  Sterbenwollen, ein  leidenschaftlich schmerzliches Bekenntnis
der VergXnglichkeit, und keine  starb doch, jede verwandelte sich nur, wurde
stets neu geboren, bekam  stets ein neues Gesicht,  ohne dass doch  zwischen
einem  und dem anderen Gesicht Zeit  gelegen wXre X und alle diese Gestalten
und Gesichter ruhten, flossen, erzeugten sich, schwammen dahin  und strXmten
ineinander, und Xber alle  war  bestXndig etwas DXnnes,  Wesenloses, dennoch
Seiendes, wie ein dXnnes Glas oder Eis gezogen, wie eine durchsichtige Haut,
eine Schale oder Form oder Maske  von Wasser, und diese Maske  lXchelte, und
diese  Maske war Siddharthas lXchelndes  Gesicht, das er,  Govinda,  in eben
diesem selben Augenblick mit den Lippen berXhrte. Und,  so sah Govinda, dies
LXcheln   der   Maske,  dies  LXcheln   der  Einheit  Xber   den  strXmenden
Gestaltungen,  dies LXcheln der  Gleichzeitigkeit Xber den tausend  Geburten
und  Toten,  dies  LXcheln  Siddharthas  war  genau dasselbe,  war genau das
gleiche,  stille, feine,  undurchdringliche, vielleicht  gXtige,  vielleicht
spXttische, weise, tausendfXltige LXcheln Gotamas, des Buddha, wie er selbst
es hundertmal mit Ehrfurcht gesehen hatte. So, das wusste Govinda, lXchelten
die Vollendeten.
     Nicht mehr wissend ob es Zeit gebe, ob diese Schauung eine Sekunde oder
hundert Jahre gewXhrt habe, nicht  mehr wissend, ob  es einen Siddhartha, ob
es  einen  Gotama,  ob  es Ich  und  Du  gebe,  im Innersten  wie  von einem
gXttlichen  Pfeile verwundet, dessen Verwundung  sX schmeckt,  im Innersten
verzaubert  und  aufgelXst,  stand  Govinda  noch  eine  kleine Weile,  Xber
Siddharthas stilles Gesicht gebeugt, das er soeben gekXsst hatte, das soeben
Schauplatz  aller Gestaltungen, alles Werdens, alles  Seins gewesen war. Das
Antlitz  war  unverXndert, nachdem unter  seiner OberflXche  die  Tiefe  der
TausendfXltigkeit sich wieder geschlossen hatte, er lXchelte still, lXchelte
leise  und sanft, vielleicht sehr gXtig,  vielleicht sehr  spXttisch, genau,
wie er gelXchelt hatte, der Erhabene.
     Tief  verneigte sich  Govinda,  TrXnen  liefen,  von  welchen er nichts
wusste,  Xber  sein  altes Gesicht,  wie  ein Feuer  brannte  das GefXhl der
innigsten Liebe, der demXtigsten Verehrung in seinem Herzen.  Tief verneigte
er sich, bis zur Erde, vor dem regungslos Sitzenden, dessen  LXcheln  ihn an
alles erinnerte, was er in seinem Leben jemals geliebt hatte,  was jemals in
seinem Leben ihm wert und heilig gewesen war.

     Tekst podgotovil i sveril Il'ya Frank

     Teksty v originale  na anglijskom, nemeckom i drugih  yazykah smotrite v
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     http://frank.deutschesprache.ru/




Last-modified: Tue, 07 Jan 2003 17:13:47 GMT
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