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     ¥ç â­ë© ¨áâ®ç­¨ª: Gustav Meyrink. Der Golem, Leipzig, 1916
     OCR, Spellcheck: Serge Winitzki
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         Leipzig
         Kurt Wolff Verlag
         1916
         Vierter Abdruck. Dezember 1915
         Copyright 1915 by Kurt Wolff Verlag Leipzig
         Kapitelverzeichnis
     Schlaf
     Tag
     I
     Prag
     Punsch
     Nacht
     Wach
     Schnee
     Spuk
     Licht
     Not
     Angst
     Trieb
     Weib
     List
     Qual
     Mai
     Mond
     Frei
     SchluŸ
         Schlaf
     Das Mondlicht  f¤llt  auf das  FuŸende meines Bettes und liegt dort wie
ein groŸer, heller, flacher Stein.
     Wenn der  Vollmond in seiner Gestalt  zu schrumpfen  beginnt  und seine
rechte Seite  f¤ngt an  zu verfallen,  -  wie  ein  Gesicht,  das dem  Alter
entgegengeht,  zuerst  an  einer  Wange  Falten  zeigt und abmagert,  - dann
bem¤chtigt  sich meiner um solche  Zeit des  Nachts  eine  trìbe,  qualvolle
Unruhe.
     Ich schlafe nicht und wache nicht, und im  Halbtraum vermischt  sich in
meiner   Seele  Erlebtes  mit   Gelesenem   und  Gehærtem,  wie  Stræme  von
verschiedener Farbe und Klarheit zusammenflieŸen.
     Ich  hatte  ìber  das Leben  des  Buddha  Gotama gelesen, ehe ich  mich
niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz immer wieder  von vorne
beginnend durch meinen Sinn:
     "Eine Kr¤he flog zu einem Stein hin, der wie ein Stìck Fett aussah, und
dachte: vielleicht ist  hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die  Kr¤he  dort
nichts  Wohlschmeckendes  fand, flog sie fort. Wie die Kr¤he,  die sich  dem
Stein gen¤hert, so verlassen wir - wir, die Versucher, - den Asketen Gotama,
da wir den Gefallen an ihm verloren haben."
     Und  das Bild von dem Stein, der  aussah wie ein Stìck Fett, w¤chst ins
Ungeheuerliche in meinem Hirn:
     Ich schreite durch ein ausgetrocknetes FluŸbett  und hebe glatte Kiesel
auf.
     Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, ìber die ich nachgrìble
und nachgrìble  und doch mit  ihnen nichts anzufangen weiŸ, -  dann schwarze
mit  schwefelgelben Flecken wie  die steingewordenen Versuche  eines Kindes,
plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.
     Und  ich will sie weit  von mir werfen, diese Kiesel, doch immer fallen
sie mir  aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich  meiner Augen  nicht
bannen.
     Alle jene Steine, die je in meinem  Leben eine Rolle  gespielt, tauchen
auf rings um mich her.
     Manche  qu¤len sich  schwerf¤llig  ab,  sich  aus dem  Sande  ans Licht
emporzuarbeiten  -  wie groŸe  schieferfarbene Taschenkrebse, wenn  die Flut
zurìckkommt, - und als wollten sie alles daransetzen, meine Blicke auf  sich
zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu sagen.
     Andere - erschæpft - fallen kraftlos zurìck in ihre Læcher und geben es
auf, je zu Worte zu kommen.
     Zuweilen  fahre ich empor aus dem D¤mmer  dieser halben Tr¤ume und sehe
fìr einen  Augenblick  wiederum  den Mondschein  auf dem gebauschten FuŸende
meiner Decke liegen wie  einen  groŸen, hellen, flachen  Stein, um blind von
neuem hinter meinem schwindenden BewuŸtsein  herzutappen, ruhelos nach jenem
Stein suchend,  der mich qu¤lt - der  irgendwo verborgen  im  Schutte meiner
Erinnerung liegen muŸ und aussieht wie ein Stìck Fett.
     Eine Regenræhre muŸ einst neben ihm auf  der  Erde gemìndet haben, male
ich mir aus - stumpfwinklig abgebogen, die R¤nder von Rost zerfressen, - und
trotzig  will  ich  mir  im  Geiste  ein  solches Bild  erzwingen, um  meine
aufgescheuchten Gedanken zu belìgen und in Schlaf zu lullen.
     Es gelingt mir nicht.
     Immer  wieder und immer  wieder mit alberner  Beharrlichkeit  behauptet
eine   eigensinnige   Stimme  in  meinem  Innern   -   unermìdlich  wie  ein
Fensterladen,  den  der  Wind in regelm¤Ÿigen  Zwischenr¤umen an  die  Mauer
schlagen l¤Ÿt: es sei das ganz anders, das sei gar nicht der Stein, der  wie
Fett aussehe.
     Und es ist von der Stimme nicht loszukommen.
     Wenn ich hundertmal einwende, alles das sei doch ganz nebens¤chlich, so
schweigt  sie  wohl eine kleine Weile, wacht aber dann unvermerkt wieder auf
und beginnt  hartn¤ckig von neuem: gut, gut, schon  recht, es ist  aber doch
nicht der Stein, der wie ein Stìck Fett aussieht. -
     Langsam beginnt sich meiner ein unertr¤gliches Gefìhl von Hilflosigkeit
zu bem¤chtigen.
     Wie es weiter gekommen ist, weiŸ  ich  nicht. Habe ich freiwillig jeden
Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich  ìberw¤ltigt und geknebelt, meine
Gedanken?
     Ich weiŸ nur, mein Kærper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind
losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden. -
     Wer ist  jetzt  "ich", will ich plætzlich fragen;  da besinne ich mich,
daŸ  ich doch  kein  Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen  kænnte;
dann fìrchte ich, die dumme Stimme werde  wieder aufwachen und von neuem das
endlose Verhær ìber den Stein und das Fett beginnen.
     Und so wende ich mich ab.

     Da  stand ich  plætzlich in  einem dìsteren  Hofe  und  sah durch einen
rætlichen Torbogen  gegenìber - jenseits  der  engen,  schmutzigen  StraŸe -
einen jìdischen Trædler an einem Gewælbe lehnen, das an den Mauerr¤ndern mit
altem Eisengerìmpel, zerbrochenen  Werkzeugen,  verrosteten  Steigbìgeln und
Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war.
     Und  dieses  Bild trug  das qu¤lend Eintænige  an sich,  das  alle jene
Eindrìcke  kennzeichnet,  die  tagt¤glich so und so oft  wie  Hausierer  die
Schwelle unserer Wahrnehmung  ìberschreiten, und rief in mir weder Neugierde
noch œberraschung hervor.
     Ich wurde mir bewuŸt, daŸ ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung
zu Hause war.
     Auch  diese Empfindung hinterlieŸ mir trotz ihres  Gegensatzes zu  dem,
was ich doch  vor  kurzem  noch wahrgenommen und  wie ich  hierher  gelangt,
keinerlei tieferen Eindruck. - -
     Ich muŸ einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und
einem  Stìck Fett gehært  oder gelesen haben, dr¤ngte sich mir plætzlich der
Einfall auf, als  ich die ausgetretenen  Stufen zu  meiner Kammer emporstieg
und mir ìber  das  speckige Aussehen  der  Steinschwellen flìchtige Gedanken
machte.
     Da hærte ich Schritte die oberen Treppen ìber mir vorauslaufen, und als
ich zu meiner  Tìr  kam, sah  ich,  daŸ  es die  vierzehnj¤hrige, rothaarige
Rosina des Trædlers Aaron Wassertrum gewesen war.
     Ich muŸte dicht an ihr vorbei,  und sie stand mit dem Rìcken gegen  das
Stiegengel¤nder und bog sich lìstern zurìck.
     Ihre  schmutzigen H¤nde hatte sie um die Eisenstange gelegt, - zum Halt
-  und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem trìben  Halbdunkel
hervorleuchteten.
     Ich wich ihren Blicken aus.
     Mich ekelte  vor ihrem  zudringlichen  L¤cheln  und  diesem  w¤chsernen
Schaukelpferdgesicht.
     Sie  muŸ  schwammiges,  weiŸes Fleisch haben  wie der Axolotl, den  ich
vorhin im Salamanderk¤fig bei dem Vogelh¤ndler gesehen habe, fìhlte ich.
     Die Wimpern Rothaariger sind mir widerw¤rtig wie die eines Kaninchens.
     Und ich sperrte auf und schlug rasch die Tìr hinter mir zu. - -
     Von meinem  Fenster  aus  konnte ich den Trædler Aaron  Wassertrum  vor
seinem Gewælbe stehen sehen.
     Er lehnte  am  Eingang  der  dunklen  Wælbung  und  zwickte  mit  einer
BeiŸzange an seinen Fingern¤geln herum.
     War  die  rothaarige Rosina  seine Tochter  oder seine Nichte? Er hatte
keine „hnlichkeit mit ihr.
     Unter  den Judengesichtern,  die ich Tag  fìr  Tag  in der HahnpaŸgasse
auftauchen sehe,  kann ich  deutlich verschiedene St¤mme unterscheiden,  die
sich  so  wenig  durch  die  nahe Verwandtschaft  der  einzelnen  Individuen
verwischen lassen, wie sich æl und Wasser vermengen wird. Da darf man  nicht
sagen: die dort sind Brìder oder Vater und Sohn.
     Der gehært zu  jenem Stamm und dieser  zu einem andern,  das ist alles,
was sich aus den Gesichtszìgen lesen l¤Ÿt.
     Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem Trædler ¤hnlich s¤he!
     Diese St¤mme hegen  einen heimlichen Ekel und  Abscheu voreinander, der
sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft  durchbricht,  - aber  sie
verstehen  ihn  geheimzuhalten vor der AuŸenwelt, wie  man  ein gef¤hrliches
Geheimnis hìtet.
     Kein  einziges l¤Ÿt ihn  durchblicken,  und  in dieser  œbereinstimmung
gleichen  sie haŸerfìllten Blinden, die  sich  an ein schmutzgetr¤nktes Seil
klammern: der eine mit beiden F¤usten, ein anderer nur widerwillig mit einem
Finger, alle aber von abergl¤ubischer Furcht besessen, daŸ sie dem Untergang
verfallen mìssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben und sich von  den
ìbrigen trennen.
     Rosina ist von jenem Stamme, dessen  rothaariger Typus noch abstoŸender
ist, als der der andern. Dessen M¤nner engbrìstig sind und lange Hìhnerh¤lse
haben mit vorstehendem Adamsapfel.
     Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr  ganzes Leben leiden sie
unter  brìnstigen Qualen,  diese M¤nner, - und k¤mpfen  heimlich  gegen ihre
Gelìste  einen  ununterbrochenen,  erfolglosen  Kampf,  von   immerw¤hrender
widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert.
     Ich   war   mir   nicht   klar,   wieso   ich   Rosina   ìberhaupt   in
verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Trædler Wassertrum bringen konnte.
     Nie habe  ich sie doch in der N¤he des Alten gesehen  oder bemerkt, daŸ
sie jemals einander etwas zugerufen h¤tten.
     Auch  war sie  fast  immer in unserem  Hofe  oder drìckte sich  in  den
dunklen Winkeln und G¤ngen unseres Hauses umher.
     Sicherlich  halten sie alle  meine Mitbewohner fìr  eine nahe Verwandte
oder zumindest Schutzbefohlene des Trædlers, und doch bin ich ìberzeugt, daŸ
kein einziger einen Grund fìr solche Vermutungen anzugeben vermæchte.
     Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreiŸen und sah von  dem offenen
Fenster meiner Stube hinab auf die HahnpaŸgasse.
     Als  habe  Aaron Wassertrum meinen Blick  gefìhlt, wandte er  plætzlich
sein Gesicht zu mir empor.
     Sein  starres, gr¤Ÿliches  Gesicht  mit  den runden Fischaugen  und der
klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist.
     Wie eine menschliche Spinne kam er  mir  vor, die die feinste Berìhrung
ihres Netzes spìrt, so teilnahmslos sie sich auch stellt.
     Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben?
     Ich wuŸte es nicht.
     An  den  Mauerr¤ndern seines Gewælbes h¤ngen unver¤ndert  Tag fìr  Tag,
jahraus jahrein dieselben toten wertlosen Dinge.
     Mit geschlossenen  Augen  h¤tte  ich  sie hinzeichnen kænnen:  hier die
verbogene  Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier gemalt,
mit  den  so  sonderbar  zusammengestellten  Soldaten.  Dann  eine  Girlande
verrosteter  Sporen  an  einem  schimmligen  Lederriemen  und  anderes  halb
vermodertes Gerìmpel.
     Und  vorne  auf  dem  Boden,  dicht nebeneinander  geschichtet, so  daŸ
niemand  die  Schwelle  des Gewælbes ìberschreiten kann,  eine Reihe  runder
eiserner Herdplatten. -
     Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier
und da einmal ein Vorìbergehender stehen und fragte nach dem Preis des einen
oder andern, geriet der Trædler in heftige Erregung.
     In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippen mit der Hasenscharte
empor  und  sprudelte  gereizt   irgend  etwas  Unverst¤ndliches  in   einem
gurgelnden, stolpernden BaŸ hervor, daŸ dem K¤ufer die Lust weiter zu fragen
verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte.
     Der Blick  des  Aaron  Wassertrum war  blitzschnell  von  meinen  Augen
abgeglitten und  ruhte jetzt mit  gespanntem Interesse an den kahlen Mauern,
die vom Nebenhause an mein Fenster stoŸen.
     Was konnte er dort nur sehen?
     Das Haus steht doch mit dem Rìcken  gegen  die  HahnpaŸgasse, und seine
Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die StraŸe gekehrt.
     Zuf¤llig schienen die R¤ume, die nebenan in derselben Stockhæhe wie die
meinigen liegen - ich  glaube, sie gehæren zu  einem winkligen Atelier -  in
diesem  Moment betreten  worden zu sein,  denn  durch  die Mauern hærte  ich
plætzlich eine m¤nnliche und eine weibliche Stimme miteinander reden.
     Unmæglich konnte das aber der Trædler von unten aus wahrgenommen haben!
- -
     Vor  meiner  Tìr bewegte sich jemand, und ich erriet: es ist immer noch
Rosina,  die drauŸen im  Dunkeln steht in begehrlichem Warten,  daŸ ich  sie
doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle.
     Und  unten, ein halbes  Stockwerk  tiefer,  lauert  der blatternarbige,
halbwìchsige Loisa  auf  den Stiegen mit  angehaltenem Atem, ob  ich die Tìr
æffnen  werde, und  ich  spìre  færmlich den  Hauch seines Hasses und  seine
sch¤umende Eifersucht bis herauf zu mir.
     Er fìrchtet sich n¤her zu  kommen und von Rosina bemerkt zu werden.  Er
weiŸ  sich von ihr  abh¤ngig  wie  ein hungriger Wolf  von seinem W¤rter und
mæchte doch am liebsten  aufspringen und besinnungslos seiner Wut  die Zìgel
schieŸen lassen! - - -
     Ich  setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten  und
Stichel hervor.
     Aber ich konnte  nichts fertigbringen und  meine  Hand war  nicht ruhig
genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern.
     Das  trìbe, dìstere Leben, das an diesem Hause  h¤ngt, l¤Ÿt mein  Gemìt
nicht stillwerden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf.
     Loisa  und sein Zwillingsbruder Jaromir  sind wohl kaum ein  Jahr ¤lter
als Rosina.
     An ihren Vater, der Hostienb¤cker  gewesen,  konnte  ich mich kaum mehr
erinnern, und jetzt sorgt fìr sie, glaube ich, ein altes Weib.
     Ich  wuŸte nur nicht, welche es  war unter den vielen, die versteckt im
Hause wohnen wie Kræten in ihrem Schlupfwinkel.
     Sie  sorgt  fìr  die  beiden  Jungen,  das  heiŸt:  sie  gew¤hrt  ihnen
Unterkunft; dafìr mìssen sie ihr  abliefern,  was  sie gelegentlich  stehlen
oder erbetteln. -
     Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich  konnte  es mir nicht denken,
denn erst sp¤t abends kommt die Alte heim.
     Leichenw¤scherin soll sie sein.
     Loisa, Jaromir und  Rosina  sah ich, als  sie  noch Kinder  waren,  oft
harmlos im Hof zu dritt spielen.
     Die Zeit aber ist lang vorbei.
     Den ganzen Tag ist Loisa jetzt hinter dem rothaarigen Judenm¤del her.
     Zuweilen sucht er sie lange  umsonst, und  wenn er  sie nirgends finden
kann,  dann schleicht  er  sich  vor  meine Tìr  und  wartet  mit verzerrtem
Gesicht, daŸ sie heimlich hierher komme.
     Da sehe ich ihn, wenn ich bei meiner Arbeit sitze, im Geiste drauŸen in
dem winkligen Gange lauern,  den Kopf mit dem ausgemergelten Genick horchend
vorgebeugt.
     Manchmal bricht dann durch die Stille plætzlich ein wilder L¤rm.
     Jaromir,  der  taubstumm   ist,   und   dessen   ganzes   Denken   eine
ununterbrochene wahnsinnige Gier nach  Rosina erfìllt,  irrt wie  ein wildes
Tier im Hause umher, und sein unartikuliertes heulendes Gebell,  das er, vor
Eifersucht und Argwohn halb von Sinnen, ausstæŸt, klingt so schauerlich, daŸ
einem das Blut in den Adern stockt.
     Er sucht die beiden, die er stets  beieinander vermutet -  irgendwo  in
einem der tausend schmutzigen Schlupfwinkel  versteckt - in blinder Raserei,
immer  von dem  Gedanken gepeitscht,  seinem  Bruder  auf den Fersen sein zu
mìssen, daŸ nichts mit Rosina vorgehe, von dem er nicht wisse.
     Und gerade  diese unaufhærliche Qual  des Krìppels ist, ahnte  ich, das
Reizmittel,  das  Rosina  antreibt,  sich  stets  von neuem mit  dem  andern
einzulassen.
     Wird  ihre  Neigung oder Bereitwilligkeit  schw¤cher,  so ersinnt Loisa
immer  wieder  besondere  ScheuŸlichkeiten, um Rosinas  Gier  von  neuem  zu
entfachen.
     Da lassen sie sich scheinbar oder wirklich von dem Taubstummen ertappen
und locken den Rasenden heimtìckisch hinter sich her in dunkle G¤nge, wo sie
aus  rostigen FaŸreifen, die in die Hæhe  schnellen, wenn man auf sie tritt,
und eisernen Rechen  - mit den Spitzen nach oben  gekehrt - bæsartige Fallen
errichtet haben, in die er stìrzen muŸ und sich blutig f¤llt.
     Von  Zeit  zu  Zeit  denkt  sich  Rosina, um  die Folter  aufs ¤uŸerste
anzuspannen, auf eigene Faust etwas Hællisches aus.
     Dann ¤ndert sie mit einem Schlage  ihr Benehmen zu Jaromir und tut, als
f¤nde sie plætzlich Gefallen an ihm.
     Mit ihrer ewig l¤chelnden Miene teilt sie dem Krìppel hastig Dinge mit,
die ihn  in eine fast irrsinnige  Erregung  versetzen, und sie hat sich dazu
eine   geheimnisvoll   scheinende,  nur   halbverst¤ndliche   Zeichensprache
ersonnen,  die  den Taubstummen rettungslos  in ein unentwirrbares Netz  von
UngewiŸheit und verzehrenden Hoffnungen verstricken muŸ. -
     Einmal  sah ich ihn im  Hofe  vor  ihr stehen,  und sie  sprach mit  so
heftigen Lippenbewegungen und Gestikulationen  auf ihn ein, daŸ ich glaubte,
jeden Augenblick wìrde er in wilder Aufregung zusammenbrechen.
     Der SchweiŸ lief  ihm  ìbers Gesicht vor ìbermenschlicher  Anstrengung,
den Sinn der absichtlich so unklaren, hastigen Mitteilungen zu erfassen.
     Und den ganzen folgenden Tag lauerte er dann fiebernd in  Erwartung auf
den finsteren Stiegen eines  halb versunkenen Hauses, das in der Fortsetzung
der engen, schmutzigen HahnpaŸgasse liegt, - bis er die Zeit vers¤umt hatte,
sich an den Ecken ein paar Kreuzer zu erbetteln.
     Und als er sp¤t  abends halbtot vor Hunger und Aufregung  heim  wollte,
hatte ihn die Pflegemutter l¤ngst ausgesperrt. - - -
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     Ein fræhliches Frauenlachen drang aus dem anstoŸenden Atelier durch die
Mauern herìber zu mir.
     Ein Lachen! - In diesen H¤usern ein fræhliches Lachen?  Im ganzen Getto
wohnt niemand, der fræhlich lachen kænnte.
     Da fiel mir ein, daŸ mir vor einigen Tagen  der alte Marionettenspieler
Zwakh  anvertraute, ein junger,  vornehmer Herr h¤tte ihm  das Atelier teuer
abgemietet  - offenbar,  um  mit der  Erw¤hlten  seines  Herzens unbelauscht
zusammenkommen zu kænnen.
     Nach  und  nach, jede Nacht, mìŸten nun,  damit niemand im Hause  etwas
merke,  die  kostbaren  Mæbel des neuen  Mieters  heimlich  Stìck  fìr Stìck
hinaufgeschafft werden.
     Der gutmìtige Alte hatte sich vor Vergnìgen die H¤nde gerieben,  als er
es  mir erz¤hlte,  und sich kindlich  gefreut,  wie  er  alles so  geschickt
angefangen habe:  keiner der  Mitbewohner kænne auch nur eine Ahnung von dem
romantischen Liebespaar haben.
     Und von drei H¤usern aus  sei es mæglich, unauff¤llig in das Atelier zu
gelangen. - Sogar durch eine Falltìre g¤be es einen Zugang!
     Ja, wenn man die eiserne  Tìr des Bodenraumes aufklinke, - und das  sei
von  drìben aus sehr  leicht, - kænne man  an  meiner Kammer, vorbei zu  den
Stiegen unseres Hauses gelangen und diese als Ausgang benìtzen ...
     Wieder  klingt  das  fræhliche  Lachen  herìber und  l¤Ÿt  in  mir  die
undeutliche Erinnerung an  eine luxuriæse Wohnung und an eine adlige Familie
auftauchen, zu der ich oft gerufen wurde, um an kostbaren Altertìmern kleine
Ausbesserungen vorzunehmen. -
     Plætzlich  hære  ich   nebenan  einen  gellenden  Schrei.   Ich  horche
erschreckt.
     Die eiserne Bodentìr  klirrt heftig, und  im n¤chsten Augenblick stìrzt
eine Dame in mein Zimmer.
     Mit aufgelæstem Haar, weiŸ wie  die Wand,  einen  goldenen  Brokatstoff
ìber die bloŸen Schultern geworfen.
     "Meister  Pernath,  verbergen Sie mich, - um  Gottes Christi willen!  -
fragen Sie nicht, verbergen Sie mich hier!"
     Ehe ich noch antworten konnte, wurde meine Tìr abermals aufgerissen und
sofort wieder zugeschlagen. -
     Eine Sekunde lang hatte  das Gesicht des Trædlers Aaron  Wassertrum wie
eine scheuŸliche Maske hereingegrinst. -
     0x01 graphic

     Ein runder, leuchtender Fleck taucht vor  mir auf,  und  im  Schein des
Mondlichtes erkenne ich wiederum das  FuŸende meines Bettes. Noch liegt  der
Schlaf auf mir wie ein schwerer, wolliger Mantel und der Name  Pernath steht
in goldenen Buchstaben vor meiner Erinnerung.
     Wo nur habe ich diesen Namen gelesen? - Athanasius Pernath?
     Ich glaube, ich glaube vor langer, langer Zeit habe ich einmal irgendwo
meinen  Hut verwechselt, und ich wunderte  mich damals, daŸ  er mir so genau
passe, wo ich doch eine hæchst eigentìmliche Kopfform habe.
     Und ich sah  in den fremden  Hut hinein -  damals und - - ja,  ja, dort
hatte es gestanden in goldenen Papierbuchstaben auf dem weiŸen Futter:
     ATHANASIUS PERNATH.
     Ich hatte mich  vor dem Hut  gescheut und gefìrchtet,  ich  wuŸte nicht
warum.
     Da f¤hrt plætzlich  die  Stimme, die ich vergessen hatte, und die immer
von mir wissen wollte, wo der Stein ist, der wie  Fett  ausgesehen habe, auf
mich los, gleich einem Pfeil.
     Schnell male ich mir  das  scharfe, sìŸlich grinsende  Profil der roten
Rosina aus, und es  gelingt mir auf diese Weise, dem Pfeil auszuweichen, der
sich sogleich in der Finsternis verliert.
     Ja,  das  Gesicht  der  Rosina!  Das  ist  doch  noch st¤rker  als  die
stumpfsinnige  plappernde  Stimme;  und gar,  wo ich jetzt gleich  wieder in
meinem Zimmer in  der HahnpaŸgasse geborgen  sein werde, kann ich ganz ruhig
sein.

     Wenn  ich  mich  nicht get¤uscht habe in der Empfindung, daŸ  jemand in
einem gewissen,  gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt,
in der Absicht, mich zu  besuchen, so  muŸ er jetzt ungef¤hr auf dem letzten
Stiegenabsatz stehen.
     Jetzt  biegt er um  die Ecke,  wo  der Archivar Schemajah Hillel  seine
Wohnung  hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen  auf den Flur des
oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
     Nun tastet er sich an der  Wand entlang,  und jetzt, gerade jetzt,  muŸ
er, mìhsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem Tìrschild lesen.
     Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und  blickte zum
Eingang.
     Da æffnete sich die Tìre, und er trat ein.
     Nur wenige Schritte  machte er  auf mich  zu und nahm weder den Hut ab,
noch sagte er ein Wort der BegrìŸung.
     So benimmt er sich, wenn  er zu Hause ist, fìhlte ich,  und ich fand es
ganz selbstverst¤ndlich, daŸ er so und nicht anders handelte.
     Er griff in die Tasche und nahm ein Buch heraus.
     Dann bl¤tterte er lange drin herum.
     Der Umschlag des  Buches war  aus Metall, und die Vertiefungen  in Form
von Rosetten und Siegeln waren mit Farbe und kleinen Steinen ausgefìllt.
     Endlich  hatte  er  die Stelle  gefunden,  die er  suchte, und  deutete
darauf.
     Das Kapitel hieŸ "Ibbur", "die Seelenschw¤ngerung", entzifferte ich.
     Das groŸe, in Gold und Rot ausgefìhrte Initial "I" nahm fast die H¤lfte
der  ganzen Seite ein,  die ich  unwillkìrlich  ìberflog, und  war am  Rande
verletzt.
     Ich sollte es ausbessern.
     Das Initial war nicht  auf das Pergament geklebt, wie ich es  bisher in
alten  Bìchern gesehen,  schien  vielmehr aus zwei  Platten dìnnen Goldes zu
bestehen, die im Mittelpunkte zusammengelætet waren und mit den Enden um die
R¤nder des Pergaments griffen.
     Also muŸte,  wo der Buchstabe stand, ein Loch in  das Blatt geschnitten
sein?
     Wenn  das der Fall war, muŸte  auf der n¤chsten Seite  das "I" verkehrt
stehen?
     Ich bl¤tterte um und fand meine Annahme best¤tigt.
     Unwillkìrlich las ich auch diese Seite durch und die gegenìberliegende.
     Und ich las weiter und weiter.
     Das Buch sprach  zu mir, wie  der Traum  spricht,  klarer  nur und viel
deutlicher. Und es rìhrte mein Herz an wie eine Frage.
     Worte stræmten aus einem unsichtbaren  Munde, wurden lebendig und kamen
auf mich zu. Sie  drehten sich und  wandten sich vor mir wie  buntgekleidete
Sklavinnen,  sanken dann in den  Boden  oder verschwanden  wie  schillernder
Dunst in  der  Luft und gaben der n¤chsten  Raum.  Jede  hoffte eine  kleine
Weile, daŸ  ich sie  erw¤hlen  wìrde  und  auf  den  Anblick  der  Kommenden
verzichten.
     Manche  waren unter  ihnen, die gingen  prunkend einher  wie Pfauen, in
schimmernden Gew¤ndern, und ihre Schritte waren langsam und gemessen.
     Manche  wie  Kæniginnen,  doch gealtert  und  verlebt,  die  Augenlider
gef¤rbt, -  mit  dirnenhaftem Zug um den Mund  und die Runzeln mit h¤Ÿlicher
Schminke verdeckt.
     Ich sah an ihnen vorbei und  nach den  kommenden, und mein  Blick glitt
ìber  lange   Zìge  grauer  Gestalten  mit  Gesichtern,  so  gewæhnlich  und
ausdrucksarm, daŸ es unmæglich schien, sie dem Ged¤chtnis einzupr¤gen.
     Dann  brachten  sie  ein  Weib  geschleppt, das war  splitternackt  und
riesenhaft wie ein ErzkoloŸ.
     Eine Sekunde blieb das Weib  vor mir stehen und beugte  sich  nieder zu
mir.
     Ihre Wimpern waren  so lang wie  mein  ganzer Kærper,  und sie  deutete
stumm auf den Puls ihrer linken Hand.
     Der  schlug wie ein  Erdbeben, und ich fìhlte, es war  das Leben  einer
ganzen Welt in ihr.
     Aus der Ferne raste ein Korybantenzug heran.
     Ein Mann und  ein Weib umschlangen sich. Ich sah sie von weitem kommen,
und immer n¤her brauste der Zug.
     Jetzt hærte  ich den hallenden Gesang der Verzìckten dicht vor mir, und
meine Augen suchten das verschlungene Paar.
     Das aber hatte sich verwandelt  in  eine einzige Gestalt und  saŸ, halb
m¤nnlich,  halb  weiblich,  -  ein  Hermaphrodit  -  auf  einem  Throne  von
Perlmutter.
     Und die Krone des Hermaphroditen  endete in einem Brett aus rotem Holz;
darein hatte der Wurm der Zerstærung geheimnisvolle Runen genagt.
     In einer Staubwolke kam eilig hinterdreingetrappelt eine Herde kleiner,
blinder Schafe: die  Futtertiere,  die der  gigantische  Zwitter  in  seinem
Gefolge fìhrte, seine Korybantenschar am Leben zu erhalten.
     Zuweilen waren unter  den  Gestalten,  die  aus  dem unsichtbaren Munde
stræmten, etliche, die kamen aus Gr¤bern, - Tìcher vor dem Gesicht.
     Und blieben sie vor mir stehen, lieŸen sie plætzlich ihre Hìllen fallen
und  starrten  mit  Raubtieraugen hungrig  auf mein Herz,  daŸ  ein  eisiger
Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zurìckstaute  wie ein Strom, in
den  Felsblæcke vom Himmel herniedergefallen  sind - plætzlich und mitten in
sein Bette. -
     Eine Frau schwebte an mir vorbei. Ich sah ihr Antlitz nicht, sie wandte
es ab, und sie trug einen Mantel aus flieŸenden Tr¤nen. -
     Maskenzìge tanzten vorìber, lachten und kìmmerten sich nicht um mich.
     Nur ein Pierrot  sieht sich  nachdenklich um nach mir und kehrt zurìck.
Pflanzt sich vor mich hin  und blickt in mein Gesicht hinein, als sei es ein
Spiegel.
     Er schneidet  so  seltsame  Grimassen, hebt und bewegt seine Arme, bald
zægernd,   bald  blitzschnell,  daŸ  sich  meiner  ein  gespenstiger   Trieb
bem¤chtigt ihn nachzuahmen, mit den  Augen zu zwinkern,  mit den  Achseln zu
zucken und die Mundwinkel zu verziehen.
     Da stoŸen ihn  ungeduldig  nachdr¤ngende Gestalten  zur Seite, die alle
vor meine Blicke wollen.
     Doch keines der Wesen hat Bestand.
     Gleitende Perlen sind sie, auf eine Seidenschnur gereiht, die einzelnen
Tæne nur einer Melodie, die dem unsichtbaren Mund entstræmen.
     Das war kein Buch mehr, das zu  mir sprach.  Das war  eine Stimme. Eine
Stimme, die etwas von mir wollte, was  ich nicht begriff; wie  sehr ich mich
auch abmìhte. Die mich qu¤lte mit brennenden, unverst¤ndlichen Fragen.
     Die Stimme aber, die diese sichtbaren Worte redete, war abgestorben und
ohne Widerhall.
     Jeder Laut, der in  der Welt der Gegenwart erklingt,  hat  viele Echos,
wie jegliches Ding einen groŸen Schatten hat und viele kleine Schatten, doch
diese  Stimme  hatte  keine Echos mehr,  - lange, lange schon sind  sie wohl
verweht und verklungen. - - -
     Und bis zu Ende  hatte ich das  Buch gelesen  und  hielt es noch in den
H¤nden,  da war mir, als h¤tte ich suchend in  meinem Gehirn  gebl¤ttert und
nicht in einem Buche! - -
     Alles, was  mir  die  Stimme gesagt, hatte ich, seit  ich lebte, in mir
getragen, nur  verdeckt war es gewesen und  vergessen  und  hatte  sich  vor
meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag. -
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     Ich blickte auf.
     Wo war der Mann, der mir das Buch gebracht hatte?
     Fortgegangen!?
     Wird er es holen, wenn es fertig ist?
     Oder sollte ich es ihm bringen? -
     Aber ich konnte mich nicht erinnern, daŸ er gesagt h¤tte, wo er wohne.
     Ich wollte mir seine  Erscheinung  ins Ged¤chtnis zurìckrufen,  doch es
miŸlang.
     Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? - Und welche
Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?
     Nichts, gar nichts  mehr konnte ich mir vorstellen. -  Alle Bilder, die
ich  mir von  ihm  schuf,  zerrannen haltlos, noch  ehe ich  sie  im  Geiste
zusammenzusetzen vermochte.
     Ich  schloŸ die  Augen  und  preŸte die Hand auf die  Lider,  um  einen
winzigen Teil nur seines Bildnisses zu erhaschen.
     Nichts, nichts.
     Ich stellte  mich hin,  mitten ins Zimmer, und blickte auf die Tìr, wie
ich es getan - vorhin, als er gekommen war,  und malte mir aus:  jetzt biegt
er um  die Ecke,  jetzt schreitet er ìber den Ziegelsteinboden, liest  jetzt
drauŸen mein Tìrschild "Athanasius Pernath" und jetzt tritt er herein.
     Vergebens.
     Nicht die leiseste Spur einer Erinnerung, wie seine Gestalt ausgesehen,
wollte in mir erwachen.
     Ich  sah das Buch auf dem Tische liegen und wìnschte mir im Geiste  die
Hand dazu, die es aus der Tasche gezogen und mir gereicht hatte.
     Nicht einmal, ob sie einen Handschuh getragen, ob sie entblæŸt gewesen,
ob jung  oder runzlig,  mit Ringen  geschmìckt oder nicht,  konnte  ich mich
entsinnen.
     Da kam mir ein seltsamer Einfall.
     Wie eine Eingebung war es, der man nicht widerstehen darf.
     Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den
Gang  und die  Treppen  hinab. Dann  kam ich  langsam wieder  zurìck in mein
Zimmer.
     Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. Und als  ich die
Tìr æffnete, da sah  ich, daŸ meine Kammer voll  D¤mmerung lag.  War es denn
nicht heller Tag noch gewesen, als ich soeben hinausging?
     Wie lange muŸte ich  da gegrìbelt haben,  daŸ ich  nicht bemerkte,  wie
sp¤t es ist!
     Und  ich versuchte den Unbekannten  nachzuahmen in Gang und  Mienen und
konnte mich an sie doch gar nicht erinnern. -
     Wie  sollte es  mir  auch  glìcken, ihn  nachzuahmen, wenn  ich  keinen
Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte.
     Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte.
     Meine Haut, meine  Muskeln, mein Kærper erinnerten sich plætzlich, ohne
es dem Gehirn zu  verraten. Sie machten Bewegungen,  die ich  nicht wìnschte
und nicht beabsichtigte.
     Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehærten!
     Mit einem  Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, als  ich
ein paar Schritte im Zimmer machte.
     Das ist  der  Gang  eines  Menschen, der  best¤ndig  im  Begriffe  ist,
vornìber zu fallen, sagte ich mir.
     Ja, ja, ja, so war sein Gang!
     Ganz deutlich wuŸte ich: so ist er.
     Ich   trug   ein   fremdes,  bartloses   Gesicht   mit  hervorstehenden
Backenknochen und schaute aus schr¤gstehenden Augen.
     Ich fìhlte es und konnte mich doch nicht sehen.
     Das ist nicht mein  Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien, wollte es
betasten, doch meine Hand folgte meinem Willen nicht und senkte sich  in die
Tasche und holte ein Buch hervor.
     Ganz so, wie er es vorhin getan hatte. -
     Da plætzlich sitze ich wieder ohne  Hut, ohne Mantel, am Tische und bin
ich. Ich, ich.
     Athanasius Pernath.
     Grausen   und  Entsetzen   schìttelten  mich,  mein  Herz   raste   zum
Zerspringen, und ich fìhlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem
Gehirn herumgetastet, haben von mir abgelassen.
     Noch spìrte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer Berìhrung. -
     Nun  wuŸte ich, wie der  Fremde war, und  ich  h¤tte  ihn wieder in mir
fìhlen kænnen, - jeden Augenblick -  wenn ich  nur gewollt h¤tte;  aber sein
Bild  mir vorzustellen, daŸ  ich  es vor mir sehen  wìrde Auge in Auge - das
vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie kænnen.
     Es ist  wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren
Linien ich nicht erfassen kann - in die ich selber hineinschlìpfen muŸ, wenn
ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich  bewuŸt werden will
- -
     In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; - in diese
wollte  ich  das  Buch sperren und erst,  wenn  der  Zustand  der  geistigen
Krankheit  von mir gewichen sein wìrde, wollte ich es wieder hervorholen und
an die Ausbesserung des zerbrochenen Initialen "I" gehen.
     Und ich nahm das Buch vom Tisch.
     Da war mir, als h¤tte ich es gar nicht angefaŸt; ich griff die Kassette
an: dasselbe  Gefìhl. Als mìŸte das Tastempfinden  eine lange, lange Strecke
voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem BewuŸtsein mìndete, als
seien  die  Dinge  durch eine jahresgroŸe  Zeitschicht  von mir entfernt und
gehærten einer Vergangenheit an, die l¤ngst an mir vorìbergezogen!
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     Die Stimme,  die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit
dem fettigen Stein zu qu¤len,  ist  an mir vorbeigekommen und hat mich nicht
gesehen. Und ich weiŸ, daŸ sie  aus dem Reiche des Schlafes stammt. Aber was
ich erlebt, das war  wirkliches Leben, -  darum konnte sie mich  nicht sehen
und sucht vergeblich nach mir, fìhle ich.

     Neben  mir  stand der  Student Charousek,  den  Kragen  seines  dìnnen,
fadenscheinigen œberziehers aufgeschlagen, und ich  hærte, wie ihm vor K¤lte
die Z¤hne aufeinanderschlugen.
     Er kann sich  den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen,  sagte
ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinìber in meine Wohnung zu kommen.
     Er aber lehnte ab.
     "Ich danke Ihnen, Meister Pernath," murmelte er fræstelnd, "leider habe
ich nicht mehr so viel Zeit ìbrig;  - ich muŸ  eilends in die Stadt. -  Auch
wìrden wir bis auf die Haut naŸ, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten
- schon  nach wenigen  Schritten!  - -  Der Platzregen will nicht  schw¤cher
werden!"
     Die  Wasserschauer  fegten  ìber  die  D¤cher hin  und  liefen  an  den
Gesichtern der H¤user herunter wie ein Tr¤nenstrom.
     Wenn ich  den Kopf ein wenig vorbog, konnte  ich da  drìben im  vierten
Stock  mein  Fenster  sehen, das, vom Regen  ìberrieselt,  aussah, als seien
seine  Scheiben  aufgeweicht, -  undurchsichtig  und  hæckerig  geworden wie
Hausenblase.
     Ein  gelber  Schmutzbach floŸ die Gasse herab, und  der Torbogen fìllte
sich mit  Vorìbergehenden,  die alle  das Nachlassen  des Unwetters abwarten
wollten.
     "Dort schwimmt ein  Brautbukett", sagte plætzlich Charousek und deutete
auf einen StrauŸ aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser vorbeigetrieben
kam.
     Darìber lachte jemand hinter uns laut auf.
     Als ich  mich umdrehte, sah ich, daŸ es  ein alter, vornehm gekleideter
Herr mit weiŸem Haar und einem aufgedunsenen,  krætenartigen Gesicht gewesen
war.
     Charousek  blickte  ebenfalls einen Augenblick zurìck und brummte etwas
vor sich hin.
     Unangenehmes ging von dem Alten aus; - ich wandte  meine Aufmerksamkeit
von ihm ab und musterte  die miŸfarbigen H¤user, die da vor meinen Augen wie
verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten.
     Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!
     Ohne  œberlegung hingebaut standen  sie  da,  wie Unkraut, das aus  dem
Boden dringt.
     An  eine   niedrige,  gelbe  Steinmauer,  den  einzigen  standhaltenden
œberrest  eines frìheren, langgestreckten  Geb¤udes, hat man sie angelehnt -
vor zwei,  drei  Jahrhunderten, wie es  eben  kam,  ohne  Rìcksicht  auf die
ìbrigen   zu   nehmen.   Dort   ein   halbes,   schiefwinkliges   Haus   mit
zurìckspringender Stirn; - ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.
     Unter dem trìben Himmel sahen sie aus, als l¤gen sie im Schlaf, und man
spìlte nichts von dem tìckischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen
ausstrahlt,  wenn  der Nebel der  Herbstabende in den  Gassen liegt und  ihr
leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.
     In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck  in
mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des
Nachts  und im frìhesten Morgengrauen  fìr  sie  g¤be,  wo  sie  erregt eine
lautlose,  geheimnisvolle  Beratung  pflegen.  Und  manchmal  f¤hrt  da  ein
schwaches Beben durch  ihre Mauern, das sich  nicht erkl¤ren l¤Ÿt, Ger¤usche
laufen ìber  ihre D¤cher  und fallen  in den Regenrinnen  nieder, - und  wir
nehmen  sie mit stumpfen  Sinnen  achtlos hin,  ohne nach ihrer  Ursache  zu
forschen.
     Oft tr¤umte mir, ich h¤tte diese  H¤user  belauscht in ihrem spukhaften
Treiben  und  mit angstvollem  Staunen  erfahren,  daŸ  sie die  heimlichen,
eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fìhlens ent¤uŸern
und es wieder an sich ziehen kænnen,  - es  tagsìber den Bewohnern, die hier
hausen,  borgen,  um  es  in   kommender  Nacht   mit  Wucherzinsen   wieder
zurìckzufordern.
     Und lasse ich die seltsamen Menschen, die  in ihnen wohnen wie Schemen,
wie Wesen - nicht von Mìttern geboren, - die in ihrem Denken und Tun wie aus
Stìcken wahllos zusammengefìgt scheinen, im Geiste an mir vorìberziehen,  so
bin ich mehr denn  je  geneigt zu glauben, daŸ solche Tr¤ume  in sich dunkle
Wahrheiten bergen, die  mir im Wachsein nur noch wie Eindrìcke  von farbigen
M¤rchen in der Seele fortglimmen.
     Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem
kìnstlichen   Menschen,   wieder   auf,  den   einst  hier  im   Getto   ein
kabbalakundiger  Rabbiner  aus   dem  Elemente  formte  und  ihn   zu  einem
gedankenlosen  automatischen  Dasein  berief,  indem  er  ihm ein  magisches
Zahlenwort hinter die Z¤hne schob.
     Und wie jener Golem zu einem Lehmbild  in derselben Sekunde  erstarrte,
in der die geheime  Silbe des  Lebens  aus seinem  Munde  genommen ward,  so
mìŸten auch, dìnkt mich,  alle  diese Menschen entseelt  in einem Augenblick
zusammenfallen,    læschte    man   irgendeinen    winzigen   Begriff,   ein
nebens¤chliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen,
bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas g¤nzlich Unbestimmtes,
Haltloses - in ihrem Hirn aus.
     Was  ist dabei fìr  ein immerw¤hrendes, schreckhaftes  Lauern in diesen
Geschæpfen!
     Niemals  sieht  man sie arbeiten, diese  Menschen, und dennoch sind sie
frìh beim ersten Leuchten  des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem
- wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.
     Und hat  es wirklich  einmal den Anschein,  als  tr¤te jemand in  ihren
Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern kænnten, dann f¤llt
plætzlich eine l¤hmende  Angst  ìber sie  her,  scheucht  sie in ihre Winkel
zurìck und l¤Ÿt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.
     Niemand scheint schwach genug, daŸ ihnen noch  so viel Mut bliebe, sich
seiner zu bem¤chtigen.
     "Entartete,  zahnlose  Raubtiere,  von  denen die Kraft und  die  Waffe
genommen ist", sagte Charousek zægernd und sah mich an. -
     Wie konnte er wissen, woran ich dachte? -
     So  stark  facht man zuweilen seine Gedanken an, daŸ sie imstande sind,
auf  das  Gehirn  des  Nebenstehenden ìberzuspringen wie  sprìhende  Funken,
fìhlte ich.
     "- - - wovon sie nur leben mægen?" sagte ich nach einer Weile.
     "Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein Million¤r!"
     Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen!
     Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.
     Fìr  einen   Augenblick  hatte  das  Stimmengemurmel  in  dem  Torbogen
gestockt, und man hærte bloŸ das Zischen des Regens.
     Was er nur damit sagen will: "Mancher unter ihnen ist ein Million¤r!?"
     Wieder war es, als h¤tte Charousek meine Gedanken erraten. Er wies nach
dem Trædlerladen neben uns, an dem das Wasser den Rost des Eisengerìmpels in
flieŸenden, braunroten Pfìtzen vorbeispìlte.
     "Aaron  Wassertrum! Er zum  Beispiel ist  Million¤r, - fast ein Drittel
der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen Sie es denn nicht, Herr Pernath?!"
     Mir blieb  færmlich der  Atem im Mund  stecken. "Aaron Wassertrum!  Der
Trædler Aaron Wassertrum Million¤r?!"
     "Oh, ich kenne ihn genau", fuhr Charousek verbissen fort, und als h¤tte
er nur darauf gewartet, daŸ ich ihn frage. "Ich kannte auch seinen Sohn, den
Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm  gehært? Von Dr. Wassory, dem - berìhmten
- Augenarzt?  -  Vor einem Jahr noch hat  die ganze Stadt begeistert von ihm
gesprochen,  - von dem groŸen - -  Gelehrten.  Niemand wuŸte damals,  daŸ er
seinen  Namen  abgelegt und  frìher Wassertrum geheiŸen. -  Er spielte  sich
gerne auf den weitabgewandten Mann der Wissenschaft  hinaus, und wenn einmal
auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tiefbewegt  so  mit halben
Worten hin,  daŸ  sein  Vater  noch aus dem  Getto  stamme,  - sich aus  den
niedrigsten Anf¤ngen  heraus unter  Kummer aller  Art und uns¤glichen Sorgen
empor ans Licht habe arbeiten mìssen.
     Ja! Unter Kummer und Sorgen!
     Unter  wessen  Kummer  und  uns¤glichen  Sorgen  aber  und mit  welchen
Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt!
     Ich aber weiŸ, was es mit dem Getto fìr eine Bewandtnis hat!" Charousek
faŸte meinen Arm und schìttelte ihn heftig.
     "Meister Pernath, ich bin so arm, daŸ ich es selbst kaum mehr begreife;
ich  muŸ halbnackt gehen wie ein Vagabund,  sehen Sie  her, und ich bin doch
Student der Medizin, - bin doch ein gebildeter Mensch!"
     Er riŸ seinen  œberzieher  auf und ich sah zu meinem Entsetzen, daŸ  er
weder Hemd noch Rock anhatte und den Mantel ìber der nackten Haut trug.
     "Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allm¤chtigen,
angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte,  - und noch heute  ahnt keiner, daŸ
ich, ich der eigentliche Urheber war.
     Man meint in  der  Stadt, ein gewisser  Dr. Savioli sei es gewesen, der
seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbstmord getrieben
hat. - Dr. Savioli war nichts als  mein Werkzeug, sage ich Ihnen. Ich allein
habe den Plan  erdacht  und das Material  zusammengetragen, habe die Beweise
geliefert und  leise  und unmerklich  Stein  um  Stein  in dem  Geb¤ude  Dr.
Wassorys  gelockert, bis  der Zustand erreicht war, wo kein Geld  der  Erde,
keine List des Gettos mehr vermocht h¤tten, den Zusammenbruch, zu dem es nur
noch eines unmerklichen AnstoŸes bedurfte, abzuwenden.
     Wissen Sie, so - so wie man Schach spielt.
     Gerade so wie man Schach spielt.
     Und niemand weiŸ, daŸ ich es war!
     Den  Trædler Aaron Wassertrum, den l¤Ÿt wohl manchmal  eine  furchtbare
Ahnung nicht schlafen, daŸ  einer,  den er  nicht kennt, der immer in seiner
N¤he ist  und den er doch nicht fassen kann, - ein anderer als Dr. Savioli -
die Hand im Spiele gehabt haben mìsse.
     Wiewohl  Wassertrum einer von  jenen ist, deren  Augen  durch Mauern zu
schauen  vermægen, so  faŸt  er  es  doch nicht,  daŸ  es Gehirne  gibt, die
auszurechnen imstande sind,  wie man mit  langen, unsichtbaren,  vergifteten
Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an Gold und Edelsteinen
vorbei, um die verborgene Lebensader zu treffen."
     Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wild.
     "Aaron Wassertrum wird es  bald  erfahren; genau an dem Tage, an dem er
Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage!
     Auch  diese Schachpartie  habe ich ausgerechnet  bis zum letzten Zug. -
Diesmal wird es ein Kænigsl¤ufergambit sein.  Da gibt es keinen einzigen Zug
bis  zum  bittern  Ende,  gegen den ich  nicht eine  verderbliche Entgegnung
wìŸte.
     Wer sich mit mir in ein solches Kænigsl¤ufergambit einl¤Ÿt,  der  h¤ngt
in der Luft, sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an feinen F¤den, -
an F¤den,  die ich zupfe, - hæren Sie  wohl,  die ich zupfe,  und mit dessen
freiem Willen ist's dahin."
     Der Student redete wie im Fieber, und ich sah ihm entsetzt ins Gesicht.
     "Was haben Ihnen  Wassertrum  und sein Sohn denn getan, daŸ Sie so voll
HaŸ sind?"
     Charousek wehrte heftig ab:
     "Lassen wir das - fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals gebrochen
hat! -  Oder wìnschen  Sie, daŸ  wir ein andres  Mal darìber sprechen? - Der
Regen hat nachgelassen. Vielleicht wollen Sie nach Hause gehen?"
     Er senkte seine Stimme, wie jemand,  der plætzlich ganz ruhig wird. Ich
schìttelte den Kopf.
     "Haben  Sie jemals  gehært, wie man heutzutage den grìnen Star heilt? -
Nicht?  - So muŸ  ich  Ihnen  das  deutlich  machen, damit  Sie alles  genau
verstehen, Meister Pernath!
     Hæren  Sie zu: Der ›grìne Star‹  also ist eine bæsartige Erkrankung des
Augeninnern,  die  mit  Erblinden  endet,  und  es gibt nur ein  Mittel, dem
Fortschreiten des œbels Einhalt  zu tun, n¤mlich die sogenannte Iridektomie,
die darin besteht, daŸ man aus der Regenbogenhaut des Auges ein keilfærmiges
Stìckchen herauszwickt.
     Die    unvermeidlichen    Folgen    davon    sind    wohl     greuliche
Blendungserscheinungen,  die  fìrs  ganze  Leben  bleiben;  der  ProzeŸ  des
Erblindens jedoch ist meistens aufgehalten.
     Mit der Diagnose des grìnen Stars hat es aber eine eigene Bewandtnis.
     Es gibt  n¤mlich Zeiten,  besonders bei Beginn  der  Krankheit, wo  die
deutlichsten  Symptome  scheinbar ganz zurìcktreten, und  in  solchen F¤llen
darf  ein Arzt, obwohl er keine Spur einer  Krankheit  finden  kann, dennoch
niemals  mit Bestimmtheit  sagen, daŸ  sein Vorg¤nger,  der  andrer  Meinung
gewesen, sich notwendigerweise geirrt haben mìsse.
     Hat aber einmal die erw¤hnte Iridektomie, die sich natìrlich genauso an
einem gesunden Auge wie an  einem  kranken ausfìhren l¤Ÿt, stattgefunden, so
kann  man  unmæglich  mehr  feststellen,  ob  frìher  wirklich  grìner  Star
vorgelegen hat oder nicht.
     Und  auf  diese  und  noch  andere  Umst¤nde  hatte Dr.  Wassory  einen
scheuŸlichen Plan aufgebaut.
     Unz¤hlige Male - besonders an  Frauen - konstatierte er grìnen Star, wo
harmlose Sehstærungen vorlagen, nur um zu einer Operation zu kommen, die ihm
keine Mìhe machte und viel Geld eintrug.
     Da endlich  hatte er vollkommen Wehrlose in der  Hand; da  gehærte  zum
Ausplìndern auch keine Spur von Mut mehr!
     Sehen Sie, Meister Pernath,  da  war das degenerierte  Raubtier in jene
Lebensbedingungen  versetzt,  wo es auch  ohne Waffe  und Kraft  seine Opfer
zerfleischen konnte.
     Ohne etwas aufs Spiel  zu setzen! - Begreifen Sie?! Ohne das  geringste
wagen zu mìssen!
     Durch eine Menge fauler  Veræffentlichungen  in Fachbl¤ttern hatte sich
Dr.  Wassory  in  den  Ruf  eines  hervorragenden  Spezialisten  zu   setzen
verstanden und  sogar  seinen  Kollegen,  die  viel zu arglos und  anst¤ndig
waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu streuen gewuŸt.
     Ein  Strom  von  Patienten,  die  alle bei ihm  Hilfe  suchten, war die
natìrliche Folge.
     Kam  nun  jemand mit geringfìgigen Sehstærungen  zu ihm und  lieŸ  sich
untersuchen, so ging  Dr.  Wassory  sofort mit  tìckischer Planm¤Ÿigkeit  zu
Werke.
     Zuerst stellte er das ìbliche Krankenverhær an, notierte aber geschickt
immer nur, um fìr  alle  F¤lle gedeckt  zu  sein, jene  Antworten, die  eine
Deutung auf grìnen Star zulieŸen.
     Und  vorsichtig  sondierte er, ob  nicht  schon  eine frìhere  Diagnose
vorl¤ge.
     Gespr¤chsweise  lieŸ er  einflieŸen, daŸ  ein  dringender  Ruf aus  dem
Auslande behufs wichtiger wissenschaftlicher MaŸnahmen an ihn  ergangen  sei
und er daher schon morgen verreisen mìsse. -
     Bei  der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die  er sodann
vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich so viel Schmerzen wie mæglich.
     Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht!
     Wenn das Verhær  vorìber und die  ìbliche bange Frage des Patienten, ob
Grund  zur Befìrchtung vorhanden  sei,  erfolgt war,  da tat  Wassory seinen
ersten Schachzug.
     Er setzte sich dem Kranken gegenìber, lieŸ eine Minute verstreichen und
sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz:
     "Erblindung  beider Augen  ist bereits in  der allern¤chsten Zeit  wohl
unvermeidlich!"
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     Die Szene, die naturgem¤Ÿ folgte, war entsetzlich.
     Oft fielen  die Leute in Ohnmacht, weinten und  schrien und warfen sich
in wilder Verzweiflung zu Boden.
     Das Augenlicht verlieren, heiŸt alles verlieren.
     Und  wenn der wiederum ìbliche  Moment eintrat,  wo  das arme Opfer die
Knie Dr. Wassorys umklammerte und flehte, ob  es  denn auf Gottes  Erde  gar
keine  Hilfe  mehr  g¤be,  da  tat  die  Bestie den  zweiten  Schachzug  und
verwandelte sich selbst in jenen - Gott, der helfen konnte!
     Alles, alles in der Welt ist wie ein Schachzug, Meister Pernath! -
     Schleunigste  Operation,  sagte Dr. Wassory dann  nachdenklich, sei das
einzige,  was vielleicht  Rettung  bringen  kænne,  und  mit  einer  wilden,
gierigen Eitelkeit, die plætzlich  ìber ihn  kam,  erging er  sich mit einem
Redeschwall  in  weitschweifigem  Ausmalen dieses und jenes Falles, die alle
mit dem  vorliegenden eine ungemein groŸe  „hnlichkeit  gehabt h¤tten, - wie
unz¤hlige  Kranke  ihm  allein die Erhaltung des Augenlichts verdankten  und
dergleichen mehr.
     Er  schwelgte færmlich  in  dem  Gefìhl,  fìr  eine  Art hæheren Wesens
gehalten  zu werden,  in dessen H¤nde das Wohl  und Wehe seines  Mitmenschen
gelegt ist.
     Das hilflose Opfer aber saŸ, das Herz voll brennender Fragen, gebrochen
vor ihm, AngstschweiŸ auf der Stirne, und wagte ihm nicht einmal in die Rede
zu  fallen, aus Furcht: ihn -  den einzigen, der noch Hilfe bringen konnte -
zu erzìrnen.
     Und mit den Worten, daŸ er zur Operation leider erst in einigen Monaten
schreiten  kænne, wenn er  von seiner  Reise wieder  zurìck sei, schloŸ  Dr.
Wassory seine Rede.
     Hoffentlich - man solle in solchen F¤llen immer das Beste hoffen  - sei
es dann nicht zu sp¤t, sagte er.
     Natìrlich  sprangen dann die  Kranken entsetzt auf, erkl¤rten,  daŸ sie
unter gar  keinen Umst¤nden  auch  nur einen Tag l¤nger warten  wollten, und
baten flehentlich  um Rat, wer von den andern Augen¤rzten in der Stadt sonst
wohl als Operateur in Betracht kommen kænnte.
     Da war  der Augenblick  gekommen,  wo  Dr. Wassory  den  entscheidenden
Schlag fìhrte.
     Er ging in tiefem Nachdenken auf und  ab, legte  seine  Stirn in Falten
des  Grams  und  lispelte schlieŸlich bekìmmert,  ein Eingriff seitens eines
andern Arztes bedinge  leider  eine  abermalige  Bespiegelung des Auges  mit
elektrischem Licht,  und  das  mìsse  - der  Patient  wisse  ja  selbst, wie
schmerzhaft es sei -  wegen der blendenden Strahlen geradezu  verh¤ngnisvoll
wirken.
     Ein  andrer  Arzt also, ganz abgesehen davon, daŸ  so manchem von ihnen
gerade  in der  Iridektomie die  nætige  œbung  fehle -  dìrfe, eben weil er
wiederum von neuem  untersuchen mìsse,  gar nicht vor Ablauf  l¤ngerer Zeit,
bis sich die Sehnerven wieder erholt h¤tten, zu einem chirurgischen Eingriff
schreiten."
     Charousek ballte die F¤uste.
     "Das  nennen  wir  in  der  Schachsprache  ›Zugzwang‹,  lieber  Meister
Pernath! - - Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, - ein erzwungener Zug
nach dem andern.
     Halb  wahnsinnig  vor Verzweiflung  beschwor  nun der  Patient den  Dr.
Wassory,  er  mæge  doch  Erbarmen  haben,  einen  Tag  nur   seine  Abreise
verschieben und die  Operation selber  vornehmen.  - Es  handle sich doch um
mehr  als  um  schnellen   Tod,  die  grauenhafte,  folternde  Angst,  jeden
Augenblick erblinden zu  mìssen,  sei  ja  das  Schrecklichste, was es geben
kænne.
     Und  je  mehr  das  Scheusal sich str¤ubte und jammerte:  ein  Aufschub
seiner Reise kænne  ihm unabsehbaren  Schaden bringen,  desto  hæhere Summen
boten freiwillig die Kranken.
     Schien schlieŸlich  die  Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er  nach und
fìgte bereits am selben Tage,  ehe noch ein  Zufall  seinen  Plan  aufdecken
konnte,  den  Bedauernswerten  an beiden gesunden  Augen  jenen  unheilbaren
Schaden  zu, jenes immerw¤hrende Gefìhl des Geblendetseins, das das Leben zu
stetiger Qual gestalten muŸte, die Spuren des Schurkenstreiches aber ein fìr
allemal verwischte.
     Durch  solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr. Wassory nicht
nur seinen Ruhm  und seinen Ruf  als  unvergleichlicher  Arzt,  dem es  noch
jedesmal gelungen sei, die drohende Erblindung aufzuhalten, - es befriedigte
gleichzeitig seine maŸlose  Geldgier und frænte  seiner Eitelkeit, wenn  die
ahnungslosen, an Kærper  und Vermægen gesch¤digten Opfer zu ihm wie zu einem
Helfer aufsahen und ihn als Retter priesen.
     Nur  ein Mensch, der  mit  allen  Fasern im Getto und seinen zahllosen,
unscheinbaren,  jedoch   unìberwindlichen  Hilfsquellen   wurzelte  und  von
Kindheit an gelernt hat, auf  der Lauer zu liegen wie eine Spinne, der jeden
Menschen in  der Stadt kannte  und  bis  ins kleinste  seine Beziehungen und
Vermægensverh¤ltnisse   erriet  und  durchschaute,  -  nur   ein  solcher  -
"Halbhellseher" mæchte man es beinahe  nennen, - konnte jahrelang  derartige
ScheuŸlichkeiten verìben.
     Und  w¤re  ich nicht  gewesen, bis heute triebe  er sein Handwerk noch,
wìrde es  bis  ins  hohe  Alter  weiterbetrieben haben, um  schlieŸlich  als
ehrwìrdiger  Patriarch im  Kreise seiner  Lieben, angetan  mit hohen  Ehren,
kìnftigen  Geschlechtern  ein  leuchtendes  Vorbild,  seinen  Lebensabend zu
genieŸen, bis  - bis endlich auch ìber ihn das groŸe Verrecken hinweggezogen
w¤re.
     Ich aber wuchs ebenfalls im Getto auf, und auch mein Blut ist mit jener
Atmosph¤re hællischer List ges¤ttigt,  und so vermochte  ich ihn  zu Fall zu
bringen, - so wie die Unsichtbaren einen Menschen zu Fall bringen, - wie aus
heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft.
     Dr.  Savioli,  ein  junger  deutscher  Arzt,   hat  das  Verdienst  der
Entlarvung, -  ihn  schob ich vor  und h¤ufte Beweis auf Beweis, bis der Tag
anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory ausstreckte.
     Da beging die Bestie Selbstmord! - Gesegnet sei die Stunde!
     Als  h¤tte  mein  Doppelg¤nger  neben  ihm  gestanden und ihm  die Hand
gefìhrt, nahm  er  sich  das  Leben  mit  jener Phiole  Amylnitrit, die  ich
absichtlich  in  seinem   Ordinationszimmer   bei   der   Gelegenheit  hatte
stehenlassen, als ich selbst ihn einmal  verleitet, auch an mir  die falsche
Diagnose des grìnen Stars  zu stellen, - absichtlich und  mit dem  glìhenden
Wunsche, daŸ es  dieses  Amylnitrit sein mæchte,  das  ihm  den letzten StoŸ
geben sollte.
     Der Gehirnschlag h¤tte ihn getroffen, hieŸ es in der Stadt.
     Amylnitrit tætet, eingeatmet, wie Gehirnschlag.  Aber  lange konnte das
Gerìcht nicht aufrechterhalten werden."
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     Charousek  starrte plætzlich geistesabwesend, als habe er  sich in  ein
tiefes  Problem verloren,  vor sich hin, dann  zuckte er mit der Achsel nach
der Richtung, wo Aaron Wassertrums Trædlerladen lag.
     "Jetzt ist er allein,"  murmelte er, "ganz allein mit seiner Gier und -
und - und mit der Wachspuppe!"
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     Mir schlug das Herz bis zum Hals.
     Ich sah Charousek voll Entsetzen an.
     War er wahnsinnig? Es muŸten Fieberphantasien sein, die ihn diese Dinge
erfinden lieŸen.
     GewiŸ, gewiŸ! Er hat alles erfunden, getr¤umt!
     Es  kann nicht wahr  sein,  was  er da  ìber den Augenarzt Grauenhaftes
erz¤hlt  hat.  Er  ist schwindsìchtig, und die Fieber  des Todes  kreisen in
seinem Hirn.
     Und  ich  wollte ihn mit ein paar scherzenden  Worten beruhigen,  seine
Gedanken in eine freundliche Richtung lenken.
     Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine Erinnerung
das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe, wie es damals in mein
Zimmer  mit  runden  Fischaugen  durch  die aufgerissene Tìr  hereingeschaut
hatte.
     Dr.  Savioli!  Dr.  Savioli! - ja, ja, so war auch  der Name des jungen
Mannes gewesen, den mir  der Marionettenspieler  Zwakh  flìsternd anvertraut
als den des vornehmen Zimmerherrn, der von ihm das Atelier gemietet hatte.
     Dr. Savioli! -  Wie  ein Schrei tauchte es in meinem  Innern auf.  Eine
Reihe  nebelhafter   Bilder  zuckte  durch  meinen  Geist,  jagte  sich  mit
schreckhaften Vermutungen, die auf mich einstìrmten.
     Ich wollte Charousek fragen,  ihm  voll Angst rasch alles erz¤hlen, was
ich  damals  erlebt, da sah ich, daŸ ein heftiger  Hustenanfall  sich seiner
bem¤chtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch unterscheiden, wie
er  sich  mìhsam  mit  den  H¤nden  an  der  Mauer  stìtzend  in  den  Regen
hinaustappte und mir einen flìchtigen GruŸ zunickte.
     Ja,  ja,  er hat  recht, er sprach nicht im Fieber, - fìhlte ich, - das
unfaŸbare Gespenst des Verbrechens ist  es, das durch diese Gassen schleicht
Tag und Nacht und sich zu verkærpern sucht.
     Es liegt in der Luft, und wir sehen es nicht. Plætzlich schl¤gt es sich
nieder in einer Menschenseele, - wir ahnen es nicht, - da, dort, und ehe wir
es fassen kænnen, ist es gestaltlos geworden und alles l¤ngst vorìber.
     Und  nur  noch  dunkle Worte  ìber irgendein  entsetzliches  Geschehnis
kommen an uns heran.
     Mit einem  Schlage begriff ich diese  r¤tselhaften Geschæpfe, die rings
um  mich  wohnten, in  ihrem innersten  Wesen: sie treiben  willenlos durchs
Dasein  von einem unsichtbaren magnetischen Strom  belebt - - so, wie vorhin
das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vorìberschwamm.
     Mir war, als  starrten die H¤user alle mit  tìckischen  Gesichtern voll
namenloser  Bosheit  auf  mich herìber, -  die  Tore:  aufgerissene schwarze
M¤uler,  aus  denen  die  Zungen  ausgefault  waren,  -  Rachen,  die  jeden
Augenblick   einen  gellenden  Schrei  ausstoŸen  konnten,  so  gellend  und
haŸerfìllt, daŸ es uns bis ins Innerste erschrecken mìŸte.
     Was hatte zum SchluŸ noch  der Student  ìber den  Trædler gesagt? - Ich
flìsterte  mir  seine  Worte vor: -  Aaron  Wassertrum sei  jetzt allein mit
seiner Gier und - - seiner Wachspuppe.
     Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben?
     Es muŸ  ein Gleichnis gewesen  sein, beschwichtigte ich  mich,  - eines
jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen  zu ìberfallen pflegt, die
man nicht versteht,  und  die einen,  wenn sie  sp¤ter  unerwartet  sichtbar
werden, so tieferschrecken kænnen wie die  Dinge  von ungewohnter  Form, auf
die plætzlich ein greller Lichtstreif f¤llt.
     Ich holte tief Atem, um mich zu beruhigen und den furchtbaren Eindruck,
den mir Charouseks Erz¤hlung verursacht hatte, abzuschìtteln.
     Ich sah die  Leute genauer  an, die mit  mir in dem Hausflur  warteten:
Neben  mir  stand jetzt  der dicke  Alte. Derselbe, der vorhin  so widerlich
gelacht hatte.
     Er  hatte einen  schwarzen  Gehrock an  und  Handschuhe und starrte mit
vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses gegenìber.
     Sein  glattrasiertes Gesicht mit den breiten, gemeinen Zìgen zuckte vor
Erregung.
     Unwillkìrlich  folgte ich  seinen  Blicken und bemerkte,  daŸ  sie  wie
gebannt  an der rothaarigen Rosina hingen,  die drìben  jenseits  der  Gasse
stand, ihr immerw¤hrendes L¤cheln um die Lippen.
     Der Alte war bemìht, ihr Zeichen zu geben, und ich sah, daŸ sie es wohl
wuŸte, aber sich benahm, als verstìnde sie nicht.
     Endlich hielt es der Alte nicht l¤nger aus, watete  auf den  FuŸspitzen
hinìber  und hìpfte  mit l¤cherlicher Elastizit¤t  wie ein  groŸer schwarzer
Gummiball ìber die Pfìtzen.
     Man schien ihn zu kennen, denn ich hærte allerhand Glossen fallen,  die
darauf hinzielten. Ein  Strolch  hinter mir, ein rotes, gestricktes  Tuch um
den Hals, mit  blauer Milit¤rmìtze, die Virginia hinter dem Ohr,  machte mit
grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht verstand.
     Ich  begriff nur, daŸ sie den Alten in der  Judenstadt den "Freimaurer"
nannten  und  in  ihrer  Sprache mit  diesem  Spitznamen  jemand  bezeichnen
wollten, der sich an halbwìchsigen M¤dchen  zu vergehen  pflegt, aber  durch
intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe sicher ist. - - -
     Dann  waren  das Gesicht  Rosinas und  der  Alte drìben  im  Dunkel des
Hausflures verschwunden.

     Wir  hatten das Fenster geæffnet, um den Tabakrauch aus meinem  kleinen
Zimmer stræmen zu lassen.
     Der kalte Nachtwind blies herein und  wehte an die zottigen M¤ntel, die
an der Tìre hingen, daŸ sie leise hin und her schwankten.
     "Prokops wìrdige Haupteszierde mæchte am liebsten  davonfliegen", sagte
Zwakh und deutete auf des Musikers  groŸen Schlapphut, der die breite Krempe
bewegte wie schwarze Flìgel.
     Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern.
     "Er will," sagte er, "er will wahrscheinlich - - -"
     "Er will zum  ›Loisitschek‹ zur Tanzmusik",  nahm  ihm Vrieslander  das
Wort vorweg.
     Prokop lachte und schlug mit  der Hand den Takt zu den Kl¤ngen, die die
dìnne Winterluft her ìber die D¤cher trug.
     Dann  nahm  er meine alte, zerbrochene  Gitarre von der Wand, tat,  als
zupfe  er  die  zerbrochenen Saiten  und sang  mit  kreischendem Falsett und
gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied:
     "An Bein-del von Ei-sen
     recht alt
     "An Stran-zen net gar
     a so kalt
     "Messinung, a' R¤ucherl
     und Rohn
     "und immerrr nurr putz-en - - -
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     "Wie  groŸartig er mit einem  Mal  die  Gaunersprache  beherrscht!" und
Vrieslander lachte laut auf und brummte mit:
     "Und stok-en sich Aufzug
     und Pfiff
     "Und schmallern an eisernes
     G'sìff.
     "Juch, -
     "Und Handschuhkren, Harom net san - -
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     "Dieses  kuriose  Lied  schnarrt  jeden  Abend beim  ›Loisitschek‹  der
meschuggene  Nephtali  Schaffranek  mit  dem  grìnen  Augenschirm,  und  ein
geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und grælt den  Text dazu",  erkl¤rte
mir Zwakh. "Sie sollten auch einmal mit uns in diese Schenke gehen,  Meister
Pernath. Sp¤ter vielleicht,  wenn  wir  mit dem Punsch zu Ende  sind,  - was
meinen Sie? Zur Feier Ihres heutigen Geburtstages?"
     "Ja, ja, kommen Sie nachher  mit  uns", sagte  Prokop  und  klinkte das
Fenster zu, - "man muŸ so etwas gesehen haben."
     Dann tranken wir den heiŸen Punsch und hingen unsern Gedanken nach.
     Vrieslander schnitzte an einer Marionette.
     "Sie  haben  uns  færmlich  von  der AuŸenwelt  abgeschnitten,  Josua,"
unterbrach  Zwakh die Stille,  "seit Sie das Fenster geschlossen haben,  hat
niemand mehr ein Wort gesprochen."
     "Ich  dachte nur  darìber  nach, als  vorhin die  M¤ntel so flogen, wie
seltsam  es  ist,  wenn der Wind  leblose  Dinge  bewegt," antwortete Prokop
schnell, wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen: "Es sieht gar
so wunderlich aus, wenn Gegenst¤nde plætzlich zu flattern anheben, die sonst
immer tot daliegen. Nicht? - Ich  sah einmal auf einem menschenleeren  Platz
zu, wie groŸe Papierfetzen, - ohne daŸ  ich vom Winde etwas spìrte, denn ich
stand durch  ein Haus gedeckt, - in  toller Wut  im Kreise  herumjagten  und
einander  verfolgten,  als  h¤tten  sie  sich  den  Tod  geschworen.   Einen
Augenblick sp¤ter schienen  sie sich beruhigt  zu haben, aber plætzlich  kam
wieder eine wahnwitzige Erbitterung ìber sie, und in sinnlosem Grimm  rasten
sie umher,  dr¤ngten  sich in einen Winkel  zusammen,  um von neuem besessen
auseinander zu stieben und schlieŸlich hinter einer Ecke zu verschwinden.
     Nur eine  dicke  Zeitung  konnte nicht mitkommen;  sie  blieb  auf  dem
Pflaster liegen und klappte haŸerfìllt  auf und  zu,  als sei  ihr  der Atem
ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.
     Ein dunkler  Verdacht stieg damals in mir auf:  was,  wenn am  Ende wir
Lebewesen auch so etwas „hnliches w¤ren wie solche Papierfetzen? -  Ob nicht
vielleicht  ein  unsichtbarer, unbegreiflicher  "Wind"  auch uns hin und her
treibt und unsre Handlungen bestimmt, w¤hrend wir in unserer Einfalt glauben
unter eigenem, freiem Willen zu stehen?
     Wie,  wenn das Leben in uns nichts  anderes  w¤re als  ein r¤tselhafter
Wirbelwind? Jener  Wind,  von dem  die  Bibel  sagt: WeiŸt du, von wannen er
kommt und wohin er geht? - - - Tr¤umen wir nicht auch zuweilen, wir  griffen
in  tiefes  Wasser  und fingen  silberne  Fische,  und  nichts  anderes  ist
geschehen, als daŸ ein kalter Luftzug unsere H¤nde traf?"
     "Prokop, Sie  sprechen in  Worten  wie Pernath, was ist's  mit  Ihnen?"
sagte Zwakh und sah den Musiker miŸtrauisch an.
     "Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erz¤hlt wurde, - schade, daŸ
Sie so  sp¤t kamen und  sie nicht  mit anhærten,  - hat ihn  so nachdenklich
gestimmt", meinte Vrieslander.
     "Eine Geschichte von einem Buche?"
     "Eigentlich von  einem  Menschen,  der  ein Buch  brachte  und  seltsam
aussah. - Pernath weiŸ nicht, wie er heiŸt, wo  er wohnt, was er wollte, und
obwohl sein Aussehen sehr auffallend gewesen  sein soll,  lasse es sich doch
nicht recht schildern."
     Zwakh horchte auf.
     *"Das ist sehr merkwìrdig," sagte er  nach einer Pause, "war der Fremde
vielleicht bartlos, und hatte er schr¤gstehende Augen?"
     "Ich  glaube," antwortete ich, "das heiŸt, ich -  ich  - weiŸ  es  ganz
bestimmt. Kennen Sie ihn denn?"
     Der Marionettenspieler schìttelte  den Kopf. "Er erinnerte mich nur  an
den ›Golem‹."
     Der Maler Vrieslander lieŸ sein Schnitzmesser sinken:
     "Golem? - Ich habe  schon so viel davon reden  hæren. Wissen Sie  etwas
ìber den Golem, Zwakh?"
     "Wer kann sagen, daŸ  er ìber den Golem etwas wisse?", antwortete Zwakh
und zuckte die Achseln. "Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines
Tages in  den  Gassen  ein  Ereignis  vollzieht,  das ihn  plætzlich  wieder
aufleben  l¤Ÿt. Und  eine  Zeitlang spricht  dann  jeder  von  ihm,  und die
Gerìchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so ìbertrieben und aufgebauscht,
daŸ  sie schlieŸlich an der  eigenen Unglaubwìrdigkeit zugrunde  gehen.  Der
Ursprung der  Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurìck, sagt
man. Nach verlorengegangenen  Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner  da
einen kìnstlichen Menschen - den sogenannten Golem - verfertigt haben, damit
er  ihm  als Diener helfe  die Glocken in der Synagoge l¤uten, und allerhand
grobe Arbeit tue.
     Es  sei  aber doch kein  richtiger Mensch daraus  geworden  und nur ein
dumpfes, halbbewuŸtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heiŸt, auch das nur
tagsìber und kraft des  Einflusses eines  magischen Zettels, der ihm  hinter
den Z¤hnen stak und die freien siderischen Kr¤fte des Weltalls herabzog.
     Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem
Munde des Golem zu nehmen vers¤umt, da w¤re dieser in Tobsucht verfallen, in
der Dunkelheit durch die Gassen gerast und h¤tte zerschlagen, was ihm in den
Weg gekommen.
     Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
     Und da  sei das Geschæpf leblos  niedergestìrzt.  Nichts blieb  von ihm
ìbrig   als   die  zwerghafte  Lehmfigur,  die  heute  noch  drìben  in  der
Altneusynagoge gezeigt wird."
     "Derselbe  Rabbiner soll einmal  auch  zum Kaiser  auf die Burg berufen
worden  sein  und  die Schemen  der  Toten  beschworen und  sichtbar gemacht
haben,"  warf Prokop ein,  "moderne  Forscher behaupten, er habe  sich  dazu
einer Laterna magica bedient."
     "Jawohl,  keine Erkl¤rung ist  abgeschmackt  genug,  daŸ  sie  bei  den
Heutigen  nicht Beifall f¤nde,"  fuhr Zwakh  unbeirrt fort. - "Eine  Laterna
magica!!  Als  ob  Kaiser  Rudolf,  der  sein  ganzes Leben  solchen  Dingen
nachging, einen  so  plumpen  Schwindel  nicht auf  den  ersten  Blick h¤tte
durchschauen mìssen!
     Ich kann  freilich nicht wissen, worauf sich die Golemsage zurìckfìhren
l¤Ÿt, daŸ  aber irgend etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel
sein  Wesen  treibt  und  damit  zusammenh¤ngt, dessen  bin  ich sicher. Von
Geschlecht  zu  Geschlecht haben meine Vorfahren hier  gewohnt,  und niemand
kann wohl  auf  mehr  erlebte und ererbte Erinnerungen  an  das  periodische
Auftauchen des Golem zurìckblicken als gerade ich!"
     Zwakh hatte  plætzlich  aufgehært zu reden, und man fìhlte mit ihm, wie
seine Gedanken in vergangene Zeiten zurìckwanderten.
     Wie er, den Kopf aufgestìtzt,  dort am  Tische saŸ und beim Scheine der
Lampe  seine  roten, jugendlichen  B¤ckchen fremdartig von  dem  weiŸen Haar
abstachen,  verglich  ich  unwillkìrlich  im  Geiste  seine  Zìge   mit  den
maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er mir so oft gezeigt.
     Seltsam, wie ¤hnlich ihnen der alte Mann doch sah!
     Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!
     Manche Dinge  der Erde kænnen nicht loskommen voneinander,  fìhlte ich,
und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorìberziehen lieŸ,  da schien
es mir mit  einemmal gespenstisch und  ungeheuerlich, daŸ ein Mensch wie er,
obschon er  eine  bessere Erziehung als seine Vorfahren  genossen hatte  und
Schauspieler  h¤tte  werden   sollen,  plætzlich  wieder  zu  dem  sch¤bigen
Marionettenkasten zurìckkehren konnte, um nun abermals auf die Jahrm¤rkte zu
ziehen  und  dieselben  Puppen,  die   schon  seiner  Vorv¤ter  kìmmerliches
Erwerbsmittel gewesen, von  neuem  ihre ungelenken  Verbeugungen machen  und
schl¤frigen Erlebnisse vorfìhren zu lassen.
     Er vermag es  nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich;  sie leben
mit von seinem  Leben, und als  er fern von ihnen war, da haben sie  sich in
Gedanken verwandelt, haben  in seinem Hirn gewohnt und ihn rast- und ruhelos
gemacht, bis er wieder heimkehrte. Darum h¤lt  er sie jetzt so liebevoll und
kleidet sie stolz in Flitter.
     "Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererz¤hlen?" forderte Prokop den Alten
auf und  sah fragend  nach Vrieslander und mir  hin, ob  auch  wir  gleichen
Wunsches seien.
     "Ich weiŸ nicht, wo ich anfangen soll,"  meinte  der Alte zægernd, "die
Geschichte mit dem  Golem  l¤Ÿt sich schwer fassen.  So  wie Pernath  vorhin
sagte:  er wisse genau, wie jener Unbekannte ausgesehen habe, und doch kænne
er ihn nicht  schildern. Ungef¤hr alle  dreiunddreiŸig Jahre wiederholt sich
ein  Ereignis in unsern Gassen, das gar nichts besonders Aufregendes an sich
tr¤gt  und  dennoch ein Entsetzen  verbreitet, fìr  das weder eine Erkl¤rung
noch eine Rechtfertigung ausreicht:
     Immer wieder begibt es sich n¤mlich, daŸ ein vollkommen fremder Mensch,
bartlos,  von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus,  aus der Richtung
der  Altschulgasse   her,  in  altmodische,  verschossene  Kleider  gehìllt,
gleichm¤Ÿigen und  eigentìmlich stolpernden Ganges, so, als wolle  er  jeden
Augenblick  vornìber fallen, durch  die Judenstadt schreitet und plætzlich -
unsichtbar wird.
     Gewæhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.
     Ein andermal heiŸt es,  er habe auf seinem Wege einen Kreis beschrieben
und  sei zu dem Punkte  zurìckgekehrt, von dem er ausgegangen: einem uralten
Hause in der N¤he der Synagoge.
     Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie  h¤tten  ihn um eine Ecke auf
sich    zukommen   sehen.   Wiewohl    er   ihnen   aber    ganz    deutlich
entgegengeschritten, sei er dennoch, genau wie  jemand,  dessen Gestalt sich
in  weiter  Ferne  verliert,  immer  kleiner  und  kleiner  geworden  und  -
schlieŸlich ganz verschwunden.
     Vor Sechsundsechzig Jahren nun muŸ der Eindruck, den er hervorgebracht,
besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich - ich war noch ein ganz
kleiner Junge -, daŸ  man das Geb¤ude in der Altschulgasse damals  von  oben
bis unten durchsuchte.
     Es wurde auch festgestellt, daŸ wirklich in diesem Hause ein Zimmer mit
Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.
     Aus allen Fenstern hatte man W¤sche geh¤ngt, um von der Gasse aus einen
Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der Tatsache  auf  die Spur
gekommen.
     Da es  anders nicht zu  erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an einem
Strick vom  Dache herabgelassen,  um hineinzusehen. Kaum aber  war er in die
N¤he  des  Fensters  gelangt,  da   riŸ  das  Seil,  und   der  Unglìckliche
zerschmetterte sich auf dem Pflaster den Sch¤del. Und als sp¤ter der Versuch
nochmals wiederholt werden sollte,  gingen die Ansichten  ìber die  Lage des
Fensters derart auseinander, daŸ man davon abstand.
     Ich  selber begegnete dem  ›Golem‹ das erste  Mal  in  meinem Leben vor
ungef¤hr dreiunddreiŸig Jahren.
     Er kam in einem sogenannten Durchhause  auf mich zu,  und  wir  rannten
fast aneinander.
     Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorgegangen sein
muŸ. Man  tr¤gt doch  um Gottes willen nicht immerw¤hrend, tagaus tagein die
Erwartung mit sich herum, man werde dem Golem begegnen.
     In jenem Augenblick aber, bestimmt - ganz bestimmt, noch ehe ich seiner
ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: der  Golem! Und im
selben  Moment stolperte  jemand aus dem Dunkel  des  Torflures  hervor, und
jener  Unbekannte ging  an mir  vorìber. Eine Sekunde sp¤ter drang eine Flut
bleicher,  aufgeregter   Gesichter  mir  entgegen,  die   mich  mit   Fragen
bestìrmten, ob ich ihn gesehen h¤tte.
     Und  als ich  antwortete, da fìhlte ich, daŸ sich meine  Zunge wie  aus
einem Krampfe læste, von dem ich vorher nichts gespìrt hatte.
     Ich war færmlich ìberrascht, daŸ ich mich  bewegen konnte, und deutlich
kam  mir  zum BewuŸtsein, daŸ ich mich,  wenn auch  nur  den Bruchteil eines
Herzschlags lang - in einer Art Starrkrampf befunden haben muŸte.
     œber all das habe  ich oft und  lange  nachgedacht, und mich dìnkt, ich
komme  der  Wahrheit  am n¤chsten,  wenn ich sage: Immer einmal  in der Zeit
eines  Menschenalters geht  blitzschnell  eine  geistige  Epidemie durch die
Judenstadt,  bef¤llt  die Seelen  der Lebenden zu irgendeinem Zweck, der uns
verhìllt  bleibt,  und  l¤Ÿt  wie  eine  Luftspiegelung  die  Umrisse  eines
charakteristischen  Wesens  erstehen, das  vielleicht  vorjahrhunderten hier
gelebt hat und nach Form und Gestaltung dìrstet.
     Vielleicht ist es  mitten unter uns,  Stunde fìr Stunde, und wir nehmen
es nicht wahr.  Hæren  wir  doch  auch den Ton einer schwirrenden Stimmgabel
nicht, bevor sie das Holz berìhrt und es mitschwingen macht.
     Vielleicht  ist  es nur so  etwas  wie  ein seelisches  Kunstwerk, ohne
innewohnendes  BewuŸtsein, - ein Kunstwerk, das entsteht,  wie  ein Kristall
nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen herausw¤chst.
     Wer weiŸ das?
     Wie  in   schwìlen  Tagen  die  elektrische  Spannung   sich   bis  zur
Unertr¤glichkeit steigert und endlich  den Blitz gebiert, kænnte es da nicht
sein, daŸ auch auf die stetige Anh¤ufung jener niemals wechselnden Gedanken,
die hier  im Getto die Luft  vergiften, eine plætzliche, ruckweise Entladung
folgen  muŸ? -  eine  seelische Explosion,  die  unser  TraumbewuŸtsein  ans
Tageslicht peitscht, um -  dort den  Blitz  der Natur - hier ein Gespenst zu
schaffen, das in Mienen, Gang und Gehaben, in allem und jedem das Symbol der
Massenseele  unfehlbar  offenbaren  mìŸte, wenn man die geheime  Sprache der
Formen nur richtig zu deuten verstìnde?
     Und wie mancherlei  Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes ankìnden,
so  verraten   auch  hier   gewisse   grauenhafte  Vorzeichen  das  drohende
Hereinbrechen jenes Phantoms ins  Reich der  Tat.  Der  abbl¤tternde  Bewurf
einer  alten  Mauer nimmt eine Gestalt an, die  einem  schreitenden Menschen
gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich Zìge starrer Gesichter. Der
Sand  vom  Dache   scheint  anders  zu  fallen  als  sonst  und  dr¤ngt  dem
argwæhnischen Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die
sich lichtscheu verborgen h¤lt, werfe ihn herab  und ìbe  sich in heimlichen
Versuchen,  allerlei  seltsame Umrisse hervorzubringen. - Ruht  das Auge auf
eintænigem Geflecht oder den Unebenheiten der  Haut, bem¤chtigt  sich  unser
die unerfreuliche Gabe, ìberall mahnende, bedeutsame Formen zu sehen, die in
unsern Tr¤umen ins RiesengroŸe auswachsen. Und immer zieht sich durch solche
schemenhaften  Versuche der  angesammelten  Gedankenherden,  die  W¤lle  der
Allt¤glichkeit  zu durchnagen,  fìr uns  wie ein  roter  Faden die qualvolle
GewiŸheit, daŸ  unser  eigenstes  Inneres  mit Vorbedacht  und gegen  unsern
Willen ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms  plastisch werden
kænne.
     Wie  ich  nun  vorhin  Pernath  best¤tigen  hærte, daŸ  ihm  ein Mensch
begegnet sei, bartlos, mit schiefgestellten Augen, da stand der "Golem"  vor
mir, wie ich ihn damals gesehen.
     Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir.
     Und eine gewisse dumpfe Furcht, es  stehe  wieder  etwas Unerkl¤rliches
nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang; dieselbe Angst, die ich schon
einmal in meinen Kinderjahren verspìrt, als die ersten spukhaften „uŸerungen
des Golem ihre Schatten vorauswarfen.
     Sechsundsechzig Jahre ist  das  wohl jetzt her und knìpft sich an einen
Abend, an dem der Br¤utigam meiner Schwester  zu Besuch gekommen war, und in
der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt werden sollte.
     Es wurde damals Blei gegossen - zum Scherz - und ich stand mit  offenem
Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten habe, - in meiner wirren,
kindlichen Vorstellung brachte ich es in Zusammenhang mit dem Golem, von dem
ich  meinen GroŸvater  oft hatte erz¤hlen hæren, und bildete mir ein,  jeden
Augenblick mìsse die Tìr aufgehen und der Unbekannte eintreten.
     Meine  Schwester leerte dann den Læffel mit dem flìssigen Metall in das
Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah, lustig an.
     Mit welken,  zitternden  H¤nden  holte mein  GroŸvater  den  blitzenden
Bleiklumpen heraus  und  hielt ihn ans  Licht. Gleich  darauf entstand  eine
allgemeine  Erregung.  Man  redete  laut  durcheinander;  ich  wollte   mich
hinzudr¤ngen, aber man wehrte mich ab.
     Sp¤ter, als ich ¤lter geworden, erz¤hlte mir mein Vater, es w¤re damals
das  geschmolzene  Metall zu  einem kleinen,  ganz deutlichen Kopf  erstarrt
gewesen,  -  glatt  und  rund,  wie  nach  einer  Form   gegossen,  und  von
unheimlicher „hnlichkeit mit den  Zìgen  des "Golem", daŸ sich alle entsetzt
h¤tten.
     Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah  Hillel, der  die  Requisiten
der  Altneusynagoge  in  Verwahrung  hat  und auch die gewisse Lehmfigur aus
Kaiser Rudolfs  Zeiten, darìber.  Er hat sich mit Kabbala  befaŸt und meint,
jener  Erdklumpen  mit  den menschlichen  GliedmaŸen sei  vielleicht  nichts
anderes  als  ein  ehemaliges  Vorzeichen, ganz so wie  in  meinem Fall  der
bleierne Kopf. Und  der Unbekannte, der da umgehe, mìsse das Phantasie- oder
Gedankenbild  sein,  das  jener  mittelalterliche  Rabbiner zuerst  lebendig
gedacht  habe,  ehe er  es mit Materie  bekleiden konnte,  und  das  nun  in
regelm¤Ÿigen    Zeitabschnitten,    bei    den    gleichen    astrologischen
Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden  - wiederkehre, vom Triebe
nach stofflichem Leben gequ¤lt.
     Auch Hillels  verstorbene  Frau  hatte  den "Golem"  von  Angesicht  zu
Angesicht erblickt und ebenso wie ich gefìhlt, daŸ man  sich im  Starrkrampf
befindet, solange das r¤tselhafte Wesen in der N¤he weilt.
     Sie sagte, sie sei felsenfest ìberzeugt gewesen, daŸ es damals nur ihre
eigene Seele habe sein kænnen,  die  -  aus dem Kærper  getreten - ihr einen
Augenblick gegenìbergestanden und mit den Zìgen eines fremden Geschæpfes ins
Gesicht gestarrt h¤tte.
     Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bem¤chtigt, habe
sie  doch keine  Sekunde die GewiŸheit verlassen, daŸ jener  andere nur  ein
Stìck ihres eignen Innern sein konnte." -
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     "Es ist unglaublich", murmelte Prokop in Gedanken verloren.
     Auch der Maler Vrieslander schien ganz in Grìbeln versunken.
     Da klopfte es an die Tìre und das alte Weib, das mir des Abends  Wasser
bringt  und was ich sonst noch  nætig  habe,  trat ein, stellte den tænernen
Krug auf den Boden und ging stillschweigend wieder hinaus.
     Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer umher, aber
noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.
     Als  sei ein neuer EinfluŸ  mit der  Alten zur Tìr hereingeschlìpft, an
den man sich erst gewæhnen muŸte.
     "Ja!  Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man nicht
loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder auftauchen sieht",
sagte  plætzlich  Zwakh  ganz  unvermittelt.  "Dieses  erstarrte,  grinsende
L¤cheln  kenne ich nun schon ein ganzes Menschenleben. Erst die  GroŸmutter,
dann die Mutter! -  Und stets das gleiche Gesicht, kein Zug anders! Derselbe
Name Rosina; - es ist immer eine die Auferstehung der andern."
     "Ist Rosina  nicht  die Tochter des Trædlers Aaron Wassertrum?"  fragte
ich.
     "Man spricht so", meinte Zwakh, - - "Aaron Wassertrum aber  hat manchen
Sohn und manche Tochter, von denen man nicht  weiŸ. Auch bei  Rosinas Mutter
wuŸte man nicht, wer ihr Vater gewesen, - auch  nicht, was aus ihr  geworden
ist. - Mit fìnfzehn Jahren hatte sie ein Kind geboren  und war seitdem nicht
mehr aufgetaucht. Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen,  soweit ich
mich entsinnen kann, der ihretwegen in diesem Hause begangen wurde.
     Wie jetzt  ihre Tochter, spukte damals  sie den halbwìchsigen Jungen im
Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, - ich sehe ihn æfter, - doch sein Name ist
mir entfallen.  Die andern sind bald gestorben,  und  ich meine, sie hat sie
alle frìhzeitig  under die Erde gebracht. Ich  erinnere mich aus  jener Zeit
ìberhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie verblichene  Bilder durch mein
Ged¤chtnis  treiben.  So  hat  es  damals  einen  halbblædsinnigen  Menschen
gegeben, der nachts von Schenke zu Schenke zog und den G¤sten gegen ein paar
Kreuzer Silhouetten aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken
machte,  geriet  er  in eine uns¤gliche  Traurigkeit,  und unter Tr¤nen  und
Schluchzen  schnitzelte  er,  ohne  aufzuhæren,  immer das  gleiche  scharfe
M¤dchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war.
     Aus Zusammenh¤ngen zu schlieŸen, die ich  l¤ngst vergessen,  hatte er -
fast ein Kind noch - eine gewisse Rosina, wohl die GroŸmutter  der heutigen,
so heftig geliebt, daŸ er den Verstand darìber verlor.
     Wenn ich die Jahre zurìckz¤hle, kann es keine andere als die GroŸmutter
der jetzigen Rosina gewesen sein." - - -
     Zwakh schwieg und lehnte sich zurìck.
     Das  Schicksal  in diesem Haus irrt  im Kreise  umher  und  kehrt immer
wieder  zum  selben  Punkt zurìck,  fuhr  es  mir durch  den Sinn,  und  ein
h¤Ÿliches Bild,  das  ich  einmal  mit angesehen - eine Katze mit verletzter
Gehirnh¤lfte im Kreise herumtaumelnd - trat vor mein Auge.
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     "Jetzt kommt der Kopf", hærte ich  plætzlich den Maler Vrieslander  mit
heller Stimme sagen.
     Und er nahm einen runden Holzklotz aus  der Tasche und begann an ihm zu
schnitzen.
     Eine  schwere Mìdigkeit  legte sich mir ìber die Augen, und  ich rìckte
meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
     Das Wasser fìr den Punsch brodelte im Kessel, und Josua  Prokop  fìllte
wiederum die Gl¤ser.  Leise,  ganz leise  klangen die  Kl¤nge der  Tanzmusik
durch  das geschlossene Fenster; - manchmal  verstummten sie  vollends, dann
wiederum wachten sie  ein wenig  auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder
zu uns von der Gasse emportrug.
     Ob  ich  denn nicht  anstoŸen wolle,  fragte mich  nach einer Weile der
Musiker.
     Ich aber gab  keine Antwort, - so vollkommen war mir der Wille, mich zu
bewegen, abhanden gekommen, daŸ ich gar nicht auf den  Gedanken, den Mund zu
æffnen, verfiel.
     Ich  dachte  ich  schliefe, so  steinern war die innere Ruhe,  die sich
meiner  bem¤chtigt hatte. Und ich muŸte hinìber auf Vrieslanders  funkelndes
Messer blinzeln, das ruhelos  aus  dem  Holz  kleine Sp¤ne  biŸ,  -  um  die
GewiŸheit zu erlangen, daŸ ich wach sei.
     In  weiter Ferne brummte Zwakhs  Stimme und  erz¤hlte  wieder  allerlei
wunderliche Geschichten  ìber Marionetten  und  krause M¤rchen,  die  er fìr
seine Puppenspiele erdacht.
     Auch  von Dr. Savioli  war die  Rede und  von der vornehmen  Dame,  der
Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli  zu
Besuch komme.
     Und   wiederum  sah   ich  im   Geiste  Aaron   Wassertrums  hæhnische,
triumphierende Miene. -
     Ob ich  Zwakh  nicht mitteilen  sollte, was sich damals ereignet hatte,
ìberlegte  ich,  -  dann  hielt  ich  es nicht  der Mìhe  fìr  wert  und fìr
belanglos. Auch  wuŸte ich, daŸ mein Wille versagen wìrde,  wollte ich jetzt
den Versuch machen zu sprechen.
     Plætzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir herìber, und Prokop
sagte ganz laut: "Er ist eingeschlafen", -  so laut, daŸ  es fast klang, als
ob es eine Frage sein sollte.
     Sie redeten mit ged¤mpfter Stimme weiter, und ich erkannte, daŸ sie von
mir sprachen.
     Vrieslanders  Schnitzmesser tanzte hin und her  und fing das Licht auf,
das von  der  Lampe niederfloŸ, und der spiegelnde Schein brannte mir in den
Augen.
     Es fiel  ein Wort wie: "irr sein", und ich horchte auf die Rede, die in
der Runde ging.
     "Gebiete, wie  das  vom  ›Golem‹ sollte man vor Pernath  nie berìhren,"
sagte  Josua  Prokop  vorwurfsvoll, "als  er  vorhin  von  dem  Buche  Ibbur
erz¤hlte, schwiegen wir still und fragten nicht  weiter. Ich  mæchte wetten,
er hat alles nur getr¤umt."
     Zwakh nickte: "Sie haben ganz  recht. Es ist, wie wenn man  mit offenem
Lichte  eine  verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche Tìcher Decke
und W¤nde bespannen und der dìrre Zunder der Vergangenheit fuŸhoch den Boden
bedeckt; ein flìchtiges Berìhren nur und schon schl¤gt das Feuer  aus  allen
Ecken."
     "War Pernath lange im  Irrenhaus? Schade  um  ihn, er  kann  doch  erst
vierzig sein", sagte Vrieslander.
     "Ich weiŸ es nicht, ich  habe auch keine  Vorstellung, woher er stammen
mag  und was  frìher  sein Beruf gewesen  ist.  Aussehen  tut er ja wie  ein
altfranzæsischer Edelmann mit  seiner  schlanken Gestalt und dem  Spitzbart.
Vor vielen vielen Jahren  hat mich ein befreundeter alter Arzt  gebeten, ich
mæchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm  eine kleine Wohnung  hier  in
diesen Gassen, wo sich  niemand um  ihn kìmmern und mit Fragen nach frìheren
Zeiten beunruhigen wìrde,  aussuchen."  -  Wieder  sah Zwakh  bewegt zu  mir
herìber. -  "Seit jener  Zeit  lebt er hier,  bessert Antiquit¤ten  aus  und
schneidet Gemmen und hat  sich damit einen  kleinen  Wohlstand gegrìndet. Es
ist ein Glìck fìr ihn, daŸ  er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenh¤ngt,
vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen,
die  die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen kænnten, - wie oft hat
mir  das  der alte Arzt ans  Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer,
wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler Mìhe
eingemauert,  mæchte  ich's  nennen,  -  so  wie   man  eine  Unglìcksst¤tte
einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knìpft." - - -
     Die Rede  des Marionettenspielers  war  auf  mich  zugekommen  wie  ein
Schl¤chter auf ein wehrloses Tier und preŸte mir mit rohen, grausamen H¤nden
das Herz zusammen.
     Von  jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt,  - ein Ahnen, als w¤re
mir etwas  genommen  worden und als  h¤tte ich  in  meinem Leben eine  lange
Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und
nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergrìnden.
     Jetzt  lag  des  R¤tsels  Læsung  offen  vor   mir   und  brannte  mich
unertr¤glich wie eine bloŸgelegte Wunde.
     Mein  krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse
nachzuh¤ngen,  -  dann der seltsame, von  Zeit zu Zeit immer  wiederkehrende
Traum, ich  sei in  ein Haus  mit einer Flucht  mir unzug¤nglicher  Gem¤cher
gesperrt, - das be¤ngstigende  Versagen meines  Ged¤chtnisses in Dingen, die
meine  Jugendzeit betrafen, - alles das fand mit einem Male seine furchtbare
Erkl¤rung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte
das  - "Zimmer" verschlossen, das die Verbindung  zu jenen Gem¤chern  meines
Gehirns  bildete,  und mich zum  Heimatlosen  inmitten  des  mich umgebenden
Lebens gemacht.
     Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
     Die Triebfedern meines  Denkens  und  Handelns liegen  in einem andern,
vergessenen  Dasein  verborgen, begriff  ich, -  nie wìrde ich  sie erkennen
kænnen: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das  aus einer fremden
Wurzel sproŸt.  Gel¤nge  es mir  auch, den  Eingang  in jenes  verschlossene
"Zimmer"  zu erzwingen, mìŸte  ich  nicht  abermals den Gespenstern, die man
darein gebannt, in die H¤nde fallen?!
     Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh  vor einer Stunde erz¤hlte, zog
mir  durch  den  Sinn,  und  plætzlich  erkannte  ich  einen   riesengroŸen,
geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in
dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
     Ja!  auch  in  meinem  Falle  "wìrde der  Strick  reiŸen",  wollte  ich
versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
     Der seltsame Zusammenhang wurde mir  immer deutlicher  und  nahm  etwas
unbeschreiblich Erschreckendes fìr mich an.
     Ich fìhlte: es  sind  da  Dinge -  unfaŸbare -  zusammengeschmiedet und
laufen  wie   blinde  Pferde,  die  nicht  wissen   wohin  der  Weg   fìhrt,
nebeneinander her.
     Auch im  Getto: ein Zimmer, ein  Raum,  dessen Eingang  niemand  finden
kann, - ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die
Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen! - - -
     Immer  noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz  knirschte
unter der Klinge des Messers.
     Es tat mir  fast  weh, wie ich es hærte,  und ich sah hin, ob  es  denn
nicht bald zu Ende sei.
     Wie der Kopf sich in des  Malers Hand hin und her  wandte, war  es, als
habe er BewuŸtsein und sp¤he von  Winkel zu Winkel. Dann ruhten  seine Augen
lange auf mir, befriedigt, daŸ sie mich endlich gefunden.
     Auch  ich  vermochte meine  Blicke  nicht mehr abzuwenden  und  starrte
unverwandt auf das hælzerne Antlitz.
     Eine Weile schien das Messer des Malers  zægernd etwas  zu suchen, dann
ritzte es entschlossen eine Linie  ein, und plætzlich  gewannen die Zìge des
Holzklotzes schreckhaftes Leben.
     Ich  erkannte  das gelbe Gesicht  des Fremden, der mir damals das  Buch
gebracht.
     Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden,  der Anblick hatte nur  eine
Sekunde gedauert, und  ich spìrte,  daŸ  mein Herz  zu schlagen aufhærte und
¤ngstlich flatterte.
     Dennoch blieb ich mir - wie damals - des Gesichtes bewuŸt.
     Ich war  es selber  geworden und lag auf Vrieslanders SchoŸ  und sp¤hte
umher.
     Meine  Augen  wanderten im  Zimmer umher, und eine fremde Hand  bewegte
meinen Sch¤del.
     Dann  sah ich mit einem  Male  Zwakhs aufgeregte Miene  und hærte seine
Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
     Und ein kurzes Ringen  entstand, und man wollte  Vrieslander mit Gewalt
das Schnitzwerk entreiŸen, doch der wehrte sich und rief lachend:
     "Was wollt ihr, es ist doch ganz  und  gar miŸlungen." Und er wand sich
los, æffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
     Da  schwand mein BewuŸtsein,  und ich tauchte in eine tiefe Finsternis,
die von  schimmernden  Goldf¤den  durchzogen war, und als  ich,  wie es  mir
schien, nach  einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hærte ich das Holz
klappernd auf das Pflaster fallen. - - -
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     "Sie  haben so  fest  geschlafen, daŸ Sie  nicht merkten,  wie  wir Sie
schìttelten,"  - sagte Josua Prokop zu mir,  "der Punsch ist  aus,  und  Sie
haben alles vers¤umt."
     Der heiŸe Schmerz ìber das, was ich vorhin mitangehært, ìbermannte mich
wieder, und  ich  wollte aufschreien, daŸ ich nicht getr¤umt  habe, als  ich
ihnen von dem  Buche Ibbur  erz¤hlte -  und es aus  der Kassette  nehmen und
ihnen zeigen kænne.
     Aber  diese  Gedanken  kamen  nicht  zu  Wort und  konnten die Stimmung
allgemeinen Aufbruches, die meine G¤ste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
     Zwakh h¤ngte mir mit Gewalt den Mantel und und rief:
     "Kommen  Sie  nur  mit zum Loisitschek, Meister Pernath,  es  wird Ihre
Lebensgeister erfrischen."

     Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterfìhren lassen.
     Ich spìrte  den Geruch des  Nebels, der von  der StraŸe ins Haus drang,
deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander  waren einige
Schritte vorausgegangen,  und  man  hærte, wie  sie  drauŸen vor dem  Torweg
mitsammen sprachen.
     "Er  muŸ  rein in das  Kanalgitter  gefallen  sein.  Es  ist  doch  zum
Teufelholen."
     Wir traten hinaus auf die  Gasse, und  ich sah, wie  Prokop sich bìckte
und die Marionette suchte.
     "Freut  mich, daŸ  du  den dummen  Kopf  nicht finden kannst",  brummte
Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht  leuchtete
grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen  - wie er das Feuer eines
Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
     Prokop machte  eine heftig abwehrende Bewegung  mit dem  Arm und beugte
sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
     "Still doch! Hært ihr denn nichts?"
     Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte
horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen  wir unbeweglich und lauschten
in den Schacht hinab.
     Nichts.
     "Was war's denn?" flìsterte  endlich der alte  Marionettenspieler; doch
sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
     Einen  Augenblick  -  kaum  einen  Herzschlag  lang  -  hatte  es   mir
geschienen,  als klopfte da unten  eine Hand gegen eine Eisenplatte  -  fast
unhærbar. Wie ich eine Sekunde sp¤ter darìber nachdachte,  war alles vorbei;
nur in meiner Brust  hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und læste sich
langsam in ein unbestimmtes Gefìhl des Grauens auf.
     Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
     "Gehen wir; was stehen wir da herum!" mahnte Vrieslander.
     Wir schritten die H¤userreihe entlang.
     Prokop folgte nur widerwillig.
     "Meinen  Hals mæcht  ich wetten,  da  unten  hat  jemand  geschrien  in
Todesangst."
     Niemand von uns  antwortete ihm, aber  ich fìhlte, daŸ etwas wie  leise
d¤mmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
     Bald darauf standen wir vor einem rotverh¤ngten Schenkenfenster.

     "Heinte groŸes Konzehr"
     stand auf einem Pappendeckel geschrieben,  dessen Rand mit verblichenen
Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
     Ehe  noch Zwakh die Hand auf die Klinke  legen konnte, æffnete sich die
Eingangstìr nach innen, und ein vierschrætiger Kerl mit gewichstem schwarzem
Haar, ohne Kragen - eine grìnseidene Krawatte um den bloŸen Hals geschlungen
und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinsz¤hnen geschmìckt - empfing
uns mit Bìcklingen.
     "J¤, j¤,  das sin  mir  G¤st¤h.  -  -  - Pane Schaffranek,  rasch einen
Tusch!" setzte er, ìber die Schulter  in  das  von Menschen ìberfìllte Lokal
gewendet, hastig seinem WillkommensgruŸ hinzu.
     Ein klimperndes Ger¤usch, wie wenn eine Ratte ìber Klaviersaiten liefe,
war die Antwort.
     "J¤, j¤, das  sin  mir  G¤st¤h,  das sin  mir G¤st¤h.  Da  schaut man",
murmelte der Vierschrætige immerw¤hrend eifrig vor sich hin, w¤hrend er  uns
aus den M¤nteln half.
     "Ja, ja, heinte ist der  ganze verehrliche Hochadel des Landes  bei mir
versammelt", beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als
im  Hintergrund  auf  einer  Art   Estrade,  die  durch  Gel¤nder  und  eine
zweistufige  Treppe vom  vorderen Teil  der  Schenke getrennt war,  ein paar
vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
     Schwaden beiŸenden Tabakrauches lagerten ìber den Tischen, hinter denen
die  langen Holzb¤nke  an  den  W¤nden  vollbesetzt von zerlumpten Gestalten
waren:  Dirnen von  den Schanzen, ungek¤mmt, schmutzig,  barfuŸ,  die festen
Brìste kaum verhìllt  von  miŸfarbigen Umh¤ngetìchern, Zuh¤lter  daneben mit
blauen Milit¤rmìtzen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehh¤ndler mit haarigen
F¤usten  und  schwerf¤lligen  Fingern,  die bei jeder Bewegung  eine  stumme
Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner  mit  frechen Augen und
blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
     "Ich  stell'  ich  Ihnen  spanische  Plente  umadum,  damit  Sie  schæn
ungestært sein", kr¤chzte die  feiste  Stimme des  Vierschrætigen,  und eine
Rollwand,  beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob  sich langsam  vor
den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
     Schnarrende  Kl¤nge einer Harfe  machten  das  Stimmengewirr  im Zimmer
verlæschen.
     Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
     Totenstille, als hielte alles den Atem an.
     Mit erschreckender  Deutlichkeit hærte man plætzlich  wie  die eisernen
Gasst¤be fauchend die flachen herzfærmigen Flammen aus ihren  Mìndern in die
Luft bliesen  -  - dann  fiel die Musik ìber das Ger¤usch her und verschlang
es.
     Als  w¤ren  sie  soeben erst  entstanden,  tauchten  da  zwei  seltsame
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
     Mit  langem,  wallendem,   weiŸen  Prophetenbart,  ein  schwarzseidenes
K¤ppchen -  wie  es  die  alten  jìdischen  Familienv¤ter tragen  - auf  dem
Kahlkopf, die  blinden Augen  milchbl¤ulich und  gl¤sern - starr  zur  Decke
gerichtet  -  saŸ dort  ein Greis, bewegte lautlos die  Lippen  und fuhr mit
dìrren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm  in
speckgl¤nzendem,  schwarzen Taffetkleid,  Jettschmuck und  Jettkreuz an Hals
und  Armen  -  ein  Sinnbild  erheuchelter  Bìrgermoral  -  ein  schwammiges
Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem SchoŸ.
     Ein wildes Gestolper von  Kl¤ngen  dr¤ngte  sich aus  den Instrumenten,
dann sank die Melodie ermattet zur bloŸen Begleitung herab.
     Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riŸ den  Mund weit
auf, daŸ man die  schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der  Brust
herauf rang  sich ihm, von seltsamen hebr¤ischen Ræchellauten begleitet, ein
wilder BaŸ:
     "Roo - n - te, blau - we Stern - -"
     "Rititit" (schrillte das Weibsbild  dazwischen und schnappte sofort die
keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)
     "Roonte blaue Steern
     Hærndlach ess i' ach geern";
     "Rititit"
     "Rotboart, Grienboart
     allerlaj Stern" - -
     "Rititit, rititit."
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     Die Paare traten zum Tanze an.
     "Es  ist  das Lied vom  ›chomezigen Borchu‹", erkl¤rte uns l¤chelnd der
Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlæffel, der sonderbarerweise
mit einer Kette am  Tisch befestigt war, den Takt. "Vor wohl  hundert Jahren
oder mehr noch hatten  zwei B¤ckergesellen, Rotbart  und Grìnbart, am  Abend
des ›Schabbes Hagodel‹ das  Brot  - Sterne und  Hærnchen - vergiftet, um ein
ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber  der ›Meschores‹ -
der  Gemeindediener  - war  infolge gættlicher Erleuchtung noch  rechtzeitig
draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei ìberliefern.
Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten  damals
die ›Landonim‹ und ›Bocherlech‹ jenes seltsame Lied, das wir  hier jetzt als
Bordellquadrille hæren."
     "Rititit - Rititit"
     "Roote blaue  Steern - - - -" immer hohler und fanatischer erscholl das
Gebell des Greises.
     Plætzlich  wurde  die  Melodie  konfuser und  ging  allm¤hlich  in  den
Rhythmus  des bæhmischen  "Schlapak"  -  eines schleifenden  Schiebetanzes -
ìber, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preŸten.
     "So  recht. Bravo.  „h da! fang,  hep,  hep!" rief von der Estrade  ein
schlanker,  junger Kavalier im Frack, das  Monokel im  Auge, dem Harfenisten
zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberstìck  in  der Richtung. Es
erreichte  sein Ziel  nicht:  ich sah  noch,  wie  es  ìber  das  Tanzgewìhl
hinblitzte; da war es plætzlich verschwunden. Ein Strolch - sein Gesicht kam
mir  so bekannt vor; ich glaube, es muŸ  derselbe  gewesen sein, der neulich
bei dem  RegenguŸ neben  Charousek gestanden - hatte seine  Hand  hinter dem
Busentuch  seiner  T¤nzerin,  wo  er  sie  bisher  hartn¤ckig ruhen  gehabt,
hervorgezogen - ein Griff in die Luft mit affenhafter  Geschwindigkeit, ohne
auch nur  einen Takt der  Musik auszulassen, und die Mìnze  war  geschnappt.
Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in
der N¤he grinsten leise.
     "Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹,  nach  der  Geschicklichkeit  zu
schlieŸen", sagte Zwakh lachend.
     "Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehært",
fiel   Vrieslander   auffallend  rasch   ein  und   zwinkerte  heimlich  dem
Marionettenspieler  zu, daŸ  ich es nicht sehen sollte. - Ich  verstand  gar
wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich fìr krank.
Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erz¤hlen. Irgend etwas.
     Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiŸ vom Herzen
in die Augen. Wenn er wìŸte, wie weh mir sein Mitleid tat!
     Ich ìberhærte die ersten  Worte, mit denen der Marionettenspieler seine
Worte einleitete, -  ich weiŸ nur, mir  war, als  verblute  ich langsam. Mir
wurde immer k¤lter und starrer, wie vorhin, als  ich  als hælzernes  Gesicht
auf Vrieslanders SchoŸ gelegen hatte. Dann war ich plætzlich mitten  drin in
der  Erz¤hlung, die mich fremdartig  umfing, -  einhìllte, wie ein  lebloses
Stìck aus einem Lesebuch.
     Zwakh begann:
     "Die Erz¤hlung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.
     - - - No, was soll ich  Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen
und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als Jìngling  kannte er nichts als
Studium.  Trockenes,  entnervendes  Studium.  Von  dem,  was  er sich  durch
Stundengeben mìhsam erwarb, muŸte er noch seine  kranke Mutter erhalten. Wie
grìne  Wiesen aussehen und Hecken und Hìgel  voll Blumen und  W¤lder, erfuhr
er, glaube ich, nur  aus Bìchern. Und  wie wenig von  Sonnenschein  in Prags
schwarze Gassen f¤llt, wissen Sie ja selbst.
     Sein  Doktorat  hatte er mit  Auszeichnung gemacht; das war  eigentlich
selbstverst¤ndlich.
     Nun, und  mit  der  Zeit  wurde er  ein  berìhmter Rechtsgelehrter.  So
berìhmt, daŸ alle Leute - Richter und alte Advokaten - zu ihm fragen  kamen,
wenn sie irgend  etwas nicht wuŸten. Dabei lebte er ¤rmlich wie  ein Bettler
in einer Dachkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.
     So  vergingen  Jahre um Jahre und Dr. Hulberts  Ruf als  Leuchte seiner
Wissenschaft wurde  allm¤hlich Sprichwort im ganzen Lande. DaŸ ein  Mann wie
er weichen Herzensempfindungen zug¤nglich sein konnte, zumal sein Haar schon
anfing  weiŸ  zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem
als von Jurisprudenz sprechen gehort  zu haben, hatte  wohl keiner geglaubt.
Doch  gerade  in  solchen  verschlossenen  Herzen  glìht  die  Sehnsucht  am
heiŸesten.
     An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als
Hæchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt  hatte:  - als n¤mlich Seine
Majest¤t  der Kaiser  von  Wien aus  ihn  zum Rector  magnificus an  unserer
Universit¤t  ernannte,  da  ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem
jungen, bildschænen Fr¤ulein aus zwar armer, aber adliger Familie verlobt.
     Und wirklich schien von da  an das Gluck bei  Dr. Hulbert eingezogen zu
sein. Wenn auch  seine  Ehe kinderlos blieb,  so  trug  er doch seine  junge
Gattin auf H¤nden,  und jeden  Wunsch zu erfìllen, den er ihr nur irgend von
den Augen abzulesen vermochte, war seine hæchste Freude.
     In seinem  Gluck vergaŸ er jedoch keineswegs, wie  es wohl  so  mancher
andere getan  hatte,  seine  leidenden  Mitmenschen.  "Mir  hat  Gott  meine
Sehnsucht  gestillt,"  soll  er  einmal gesagt  haben,  -  "er  hat  mir ein
Traumgesicht  zur  Wahrheit  werden  lassen,  das  wie  ein  Glanz  vor  mir
hergegangen ist seit Kindheit an: er hat mir  das lieblichste Wesen zu eigen
gegeben, das die Erde  tragt. Und so will ich, daŸ  ein  Schimmer von diesem
Gluck, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fallt." - - -
     Und so kam es, daŸ er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm
wie seines eigenen  Sohnes. Vermutlich in der Erw¤gung,  wie wohl ihm selbst
ein solch gutes Werk getan hatte, w¤re es ihm am  eigenen Leib  und Leben in
den Tagen  seiner  kummervollen Jugendzeit passiert. Wie  aber nun auf Erden
manche Tat, die dem Menschen gut und  edel  scheint, Folgen nach  sich zieht
gleich   der   einer  fluchwìrdigen,  weil  wir  wohl  doch  nicht   richtig
unterscheiden kænnen zwischen dem,  was giftigen Samen in sich tragt und was
heilsamen, so  begab es sich auch hier, daŸ aus  Dr. Hulberts mitleidsvollem
Werk das bitterste Leid fìr ihn selbst sproŸ.
     Die  junge  Frau  entbrannte  gar  bald  in  heimlicher  Liebe  zu  dem
Studenten, und ein  erbarmungsloses  Schicksal wollte,  daŸ sie  der  Rektor
gerade  in dem Augenblicke, als  er  unerwartet  nach Hause  kam, um sie zum
Zeichen  seiner Liebe  mit  einem  StrauŸ  Rosen  als  Geburtstagspr¤sent zu
ìberraschen, in  den Armen  dessen antraf,  auf den  er Wohltat ìber Wohltat
geh¤uft hatte.
     Man  sagt,  daŸ  die  blaue  Muttergottesblume  fìr  immer  ihre  Farbe
verlieren kann, wenn  der  fahle, schweflige Schein  eines Blitzes,  der ein
Hagelwetter verkìndet, plætzlich auf sie f¤llt; gewiŸ ist, daŸ die Seele des
alten Mannes fìr  immer  erblindete an dem Tage, wo sein  Gluck  in Scherben
ging.  Am  selben  Abend  noch saŸ er,  er, der bis dahin nicht  gewuŸt, was
Unm¤Ÿigkeit  ist, hier beim "Loisitschek" - fast  bewuŸtlos vom  Fusel - bis
zum Morgengrauen. Und der "Loisitschek" wurde seine Heimst¤tte fìr  den Rest
seines zerstærten Lebens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines
Neubaus, im Winter hier auf den hælzernen B¤nken.
     Den Titel  eines Professors  und  Doktors beider  Rechte belieŸ man ihm
stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berìhmten
Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daŸ man „rgernis n¤hme an seinem Wandel.
     Allm¤hlich  sammelte sich  um ihn, was an  lichtscheuem Gesindel in der
Judenstadt sein  Wesen  trieb,  und so kam es zur  Grìndung jener  seltsamen
Gemeinschaft, die man noch heutigentags "das Bataillon" nennt.
     Dr.  Hulberts umfassende  Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk  fìr alle
die,  denen  die  Polizei  zu scharf  auf  die  Finger  sah.  War  irgendein
entlassener  Str¤fling  daran  zu  verhungern,   schickte  ihn  Dr.  Hulbert
splitternackt  hinaus  auf  den  Altstadter  Ring  - und  das  Amt  auf  der
sogenannten "Fischbanka" sah sich genætigt, einen Anzug beizustellen. Sollte
eine unterstandslose  Dirne aus  der Stadt gewiesen werden, so heiratete sie
schnell einen Strolch, der bezirkszust¤ndig war, und wurde dadurch ans¤ssig.
     Hundert solcher  Auswege wuŸte Dr. Hulbert, und seinem  Rate  gegenìber
stand  die Polizei  machtlos da.  - Was diese AusgestoŸenen der menschlichen
Gesellschaft "verdienten", ìbergaben sie getreulich  auf Heller  und Kreuzer
der gemeinsamen  Kassa, aus der der nætige Lebensunterhalt bestritten wurde.
Niemals  lieŸ sich  auch nur einer  die geringste  Unehrlichkeit  zuschulden
kommen.  Mag  sein,  daŸ angesichts dieser eisernen  Disziplin der Name "das
Bataillon" entstand.
     Pìnktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Unglìcks  j¤hrte, das
den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim "Loisitschek" eine
seltsame  Feier statt.  Kopf  an Kopf  gedr¤ngt  standen sie hier:  Bettler,
Vagabunden,  Zuh¤lter und Dirnen, Trunkenbolde und  Lumpensammler,  und eine
lautlose Stille herrschte wie beim  Gottesdienst. -  Und dann erz¤hlte ihnen
Dr.  Hulbert dort von der Ecke  aus,  wo jetzt die beiden Musikanten sitzen,
gerade   unter  dem   Krænungsbilde  Seiner  Majest¤t   des  Kaisers,  seine
Lebensgeschichte:  - wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben und
sp¤ter Rektor magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er  mit
dem Busch Rosen in der Hand  ins Zimmer seiner jungen Frau trat, - zur Feier
ihres Geburtstages und zugleich zum Ged¤chtnis jener Stunde,  da er dereinst
um sie anhalten  gekommen und sie  seine  liebe  Braut geworden  war,  -  da
versagte ihm jedesmal  die Stimme, und weinend  sank  er am Tisch  zusammen.
Dann  geschah es wohl zuweilen, daŸ  irgendein liederliches Frauenzimmer ihm
versch¤mt und heimlich,  damit es  keiner sehen sollte, eine halbwelke Blume
in die Hand legte.
     Von  den Zuhærern rìhrte  sich dann  noch lange Zeit keiner. Zum Weinen
sind diese  Menschen  zu hart, aber an  ihren Kleidern blickten sie herunter
und drehten unsicher die Finger.
     Eines  Morgens fand man Dr. Hulbert  tot auf  einer Bank  unten  an der
Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein.
     Sein Leichenbeg¤ngnis  sehe  ich noch heute vor  mir.  Das  "Bataillon"
hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie mæglich zu gestalten.
     Voran ging der Pedell der  Universit¤t in  vollem  Ornat: in den H¤nden
das  purpurne Kissenpolster mit der gìldenen  Kette  darauf  und hinter  dem
Leichenwagen   in   unabsehbarer   Reihe  -   -  das   "Bataillon"   barfuŸ,
schmutzstarrend, zerlumpt  und zerfetzt. Einer  von ihnen hatte sein Letztes
verkauft  und  ging  daher:  Leib,  Beine  und  Arme  mit  Lagen  aus  altem
Zeitungspapier umwickelt und umbunden.
     So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
     Auf seinem  Grabe, drauŸen im Friedhof, steht ein  weiŸer Stein, darein
sind drei Figuren gemeiŸelt: Der Heiland gekreuzigt  zwischen  zwei R¤ubern.
Von unbekannter Hand  gestiftet. Man  munkelt, Dr.  Hulberts  Frau habe  das
Denkmal errichtet. - - -
     Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war  ein Legat  vorgesehen,
danach bekommt jeder vom "Bataillon" mittags "beim Loisitschek" umsonst eine
Suppe; zu diesem  Zwecke h¤ngen  hier am Tisch die Læffel an den Ketten, und
die ausgehæhlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller.  Um 12 Uhr kommt
die  Kellnerin  und spritzt  mit einer groŸen, blechernen  Spritze die Brìhe
hinein und, wenn sich einer  nicht  ausweisen kann  als "vom Bataillon",  so
zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zurìck.
     Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit  als Witz die Runde durch
die ganze Welt."
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     Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus  meiner Lethargie.
Die letzten S¤tze, die Zwakh gesprochen, wehten ìber mein BewuŸtsein hinweg.
Ich sah  noch, wie  er seine H¤nde  bewegte, um  das Vor- und Zurìckschieben
eines Spritzenkolbens klarzumachen,  dann jagten die Bilder, die  sich rings
um  uns   abrollten,  so  rasch   und   automatenhaft  und  dennoch  mit  so
gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vorìber, daŸ ich in Momenten ganz
mich selbst vergaŸ und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen Uhrwerk.
     Das Zimmer  war  ein  einziges  Menschengewìhl geworden.  Oben  auf der
Estrade: dutzende Herren in  schwarzen Fr¤cken. WeiŸe Manschetten, blitzende
Ringe. Eine  Dragoneruniform  mit Rittmeisterschnìren.  Im  Hintergrund  ein
Damenhut mit lachsfarbigen StrauŸenfedern.
     Durch  die  St¤be  des Gel¤nders  stierte das verzerrte  Gesicht Loisas
hinauf. Ich sah: er  konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir  war  da
und  schaute unverwandt hinauf, mit dem Rìcken  dicht,  ganz dicht,  an  der
Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
     Die Gestalten hielten  plætzlich im  Tanzen inne:  der Wirt muŸte ihnen
etwas zugerufen  haben, was  sie erschreckt hatte.  Die  Musik spielte noch,
aber leise; sie traute  sich nicht mehr recht. Sie  zitterte; man fìhlte  es
deutlich. Und doch lag der Ausdruck  h¤mischer  wilder Freude in dem Gesicht
des Wirtes.
     - - - - In der Eingangstìr steht mit einem Mal der  Polizeikommiss¤r in
Uniform.  Er hatte die  Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. Hinter
ihm ein Kriminalschutzmann.
     "Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes?  Ich sperre die Spelunke.
Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!"
     Es klingt wie Kommandos.
     Der Vierschrætige gibt keine Antwort, aber das h¤mische Grinsen  bleibt
in seinen Zìgen.
     BloŸ starrer ist es geworden.
     Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch.
     Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
     Die Gesichter  sind  plætzlich  alle im Profil  zu  sehen: sie  glotzen
erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.
     Und da kommt eine  vornehme  schwarze Gestalt gelassen  die paar Stufen
herab und geht langsam auf den Kommiss¤r zu.
     Die   Augen   des   Kriminalschutzmannes    h¤ngen   gebannt   an   den
heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.
     Der Kavalier ist  einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben
und  l¤Ÿt  den  Blick gelangweilt ihm  von Kopf  bis zu den FìŸen und wieder
zurìck schweifen.
     Die  andern jungen Adligen oben  auf der Estrade  haben  sich ìber  das
Gel¤nder  gebeugt  und  verbeiŸen  das   Lachen  hinter  ihren  grauseidenen
Taschentìchern.
     Der  Dragonerrittmeister klemmt ein Goldstìck ins Auge und spuckt einem
M¤dchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.
     Der Polizeikommiss¤r hat sich  verf¤rbt und  starrt in der Verlegenheit
immerw¤hrend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.
     Er  kann  den gleichgìltigen, glanzlosen  Blick  dieses glattrasierten,
unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.
     Er bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
     Die Totenstille im Lokal wird immer qu¤lender.
     "So  sehen  die  Ritterstatuen aus, die  mit  gefalteten H¤nden auf den
Steins¤rgen liegen in den gotischen Kirchen", flìstert der Maler Vrieslander
mit einem Blick auf den Kavalier.
     Da bricht der  Aristokrat endlich das  Schweigen: "„h - Hm." -  -  - er
kopiert die Stimme des Wirtes: "J¤, j¤, das sin mir G¤st¤h - da schaut man."
Ein  schallendes  Gejohle  explodiert im Lokal, daŸ  die Gl¤ser klirren; die
Strolche halten sich den Bauch vor  Lachen. Eine Flasche fliegt an die  Wand
und   zerschellt.  Der  vierschrætige  Wirt   meckert  uns   erl¤uternd  und
ehrfurchtsvoll zu: "Seine Durchlaucht Exzellenz Fìrst Ferri Athenst¤dt."
     Der Fìrst hat dem Beamten eine Visitkarte hingehalten. Der „rmste nimmt
sie, salutiert wiederholt und schl¤gt die Hacken zusammen.
     Es  wird  von neuem  still,  die  Menge  lauscht  atemlos,  was  weiter
geschehen wird.
     Der Kavalier spricht wieder:
     "Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, - ¤h - sind meine
lieben G¤ste."  Seine Durchlaucht  deutet mit einer nachl¤ssigen Armbewegung
auf  das  Gesindel,  "wìnschen  Sie,  Herr  Kommiss¤r,  -  ¤h  -  vielleicht
vorgestellt zu werden?"
     Der Kommiss¤r verneint mit erzwungenem L¤cheln, stottert verlegen etwas
von  "leidiger  Pflichterfìllung"  und  rafft sich schlieŸlich zu den Worten
auf: "Ich sehe ja, daŸ es hier anst¤ndig zugeht."
     Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hintergrund
auf  den Damenhut mit der StrauŸenfeder zu und zerrt im n¤chsten  Augenblick
unter dem Jubel der jungen Adligen - Rosina am Arm herunter in den Saal.
     Sie schwankt vor Trunkenheit und h¤lt die Augen geschlossen. Der groŸe,
kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa Strìmpfe
und - einen Herrenfrack auf dem bloŸen Kærper.
     Ein Zeichen: Die Musik fallt ein wie rasend - - - "Rititit - Rititit" -
- - und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als
er Rosina gesehen, an der Wand drìben ausgestoŸen hat. - -
     Wir wollen gehen.
     Zwakh ruft nach der Kellnerin.
     Der allgemeine L¤rm verschlingt seine Worte.
     Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
     Der Rittmeister  h¤lt die  halbnackte  Rosina  im Arm  und  dreht  sich
langsam mit ihr im Takt.
     Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
     Dann murmelt es von den B¤nken: "Der Loisitschek, der Loisitschek", die
H¤lse werden  lang und zu dem tanzenden  Paar gesellt sich ein  zweites noch
seltsameres. Ein weibisch aussehender  Bursche in  rosa  Trikots, mit langem
blondem Haar bis  zu den Schultern,  Lippen und Wangen  geschminkt wie  eine
Dirne  und  die  Augen  niedergeschlagen  in  koketter  Verwirrung,  - h¤ngt
schmachtend an der Brust des Fìrsten Athenst¤dt.
     Ein sìŸlicher Walzer quillt aus der Harfe.
     Wilder Ekel vor dem Leben schnìrt mir die Kehle zusammen.
     Mein  Blick  sucht voll  Angst  die  Ture:  der  Kommiss¤r  steht  dort
abgewendet,   um   nichts   zu  sehen,   und   flìstert   hastig   mit   dem
Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.
     Die  beiden  sp¤hen  hinìber auf den blatternarbigen Loisa,  der  einen
Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gel¤hmt - das Gesicht  kalkweiŸ
und verzerrt vor Entsetzen - stehen bleibt.
     Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor  mir auf und erlischt sofort:  Das
Bild, wie "Prokop lauscht, wie ich es  vor einer Stunde gesehen,  - ìber das
Kanalgitter gebeugt - und ein Todesschrei gellt aus der Erde empor."
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     Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und
biegen  mir  die  Zunge  nach  unten  gegen die Vorderz¤hne, daŸ es  wie ein
Klumpen meinen Gaumen erfìllt und ich kein Wort hervorbringen kann.
     Ich kann die Finger  nicht sehen,  weiŸ,  daŸ sie unsichtbar  sind, und
doch empfinde ich sie wie etwas Kærperliches.
     Und  klar  steht   es  in  meinem   BewuŸtsein:  sie  gehæren  zu   der
gespenstischen Hand,  die mir  in meinem Zimmer in der HahnpaŸgasse das Buch
"Ibbur" gegeben hat.
     "Wasser, Wasser!" schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den  Kopf und
leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.
     "In seine Wohnung schaffen, Arzt holen - der Archivar Hillel kennt sich
aus in solchen Dingen - - zu ihm bringen!" beraten sie murmelnd.
     Dann liege ich  starr wie  eine Leiche  auf einer Bahre  und Prokop und
Vrieslander tragen mich hinaus.

     Zwakh war  vor  uns  die Treppen  hinaufgelaufen,  und  ich hærte,  wie
Mirjam, die Tochter des Archivars Hillel, ihn ¤ngstlich ausfragte und er sie
zu beruhigen trachtete.
     Ich gab mir keine Mìhe hinzuhorchen, was sie  miteinander sprachen, und
erriet mehr, als ich es in Worten  verstand, daŸ Zwakh erz¤hlte, mir sei ein
Unfall zugestoŸen  und sie k¤men bitten, mir die erste Hilfe  zu leisten und
mich wieder zu BewuŸtsein zu bringen.
     Noch immer  konnte  ich kein Glied rìhren, und die unsichtbaren  Finger
hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher und das Gefìhl des
Grauens hatte  von mir abgelassen.  Ich wuŸte  genau, wo ich war und was mit
mir  geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, daŸ man mich wie
einen  Toten  hinauftrug,  samt  der  Bahre   im  Zimmer  Schemajah  Hillels
niedersetzte und - allein lieŸ.
     Eine ruhige, natìrliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach
einer langen Wanderung genieŸt, erfìllte mich.
     Es  war finster  in der  Stube, und mit verschwimmenden Umrissen  hoben
sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen  von dem  mattleuchtenden  Dunst ab,
der von der Gasse heraufschimmerte.
     Alles  kam mir selbstverst¤ndlich  vor  und  ich  wunderte  mich  weder
darìber,  daŸ  Hillel  mit  einem jìdischen  siebenflammigen  Sabbatleuchter
eintrat, noch, daŸ  er mir  gelassen "guten  Abend" wìnschte  wie  jemandem,
dessen Kommen er erwartet hatte.
     Was ich  die  ganze  Zeit,  die  ich  im  Hause  wohnte,  nie als etwas
Besonderes bemerkt hatte, - trotzdem wir einander  oft drei-  bis viermal in
der Woche auf  den Stiegen begegnet waren, - fiel mir plætzlich stark an ihm
auf,  wie er so  hin  und  her  ging,  einige Gegenst¤nde  auf  der  Kommode
zurechtrìckte und schlieŸlich mit  dem  Leuchter  einen zweiten, gleichfalls
siebenflammigen anzìndete.
     N¤mlich:  sein  EbenmaŸ an Leib  und  Gliedern und der  schmale,  feine
Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.
     Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen  sah,  nicht ¤lter sein
als ich: hæchstens 45 Jahre z¤hlen.
     "Du bist um einige Minuten  frìher  gekommen", - begann  er  nach einer
Weile  - "als anzunehmen  war, sonst  h¤tte  ich  die Lichter  schon  vorher
angezìndet." -  Er deutete  auf  die  beiden Leuchter, trat an die Bahre und
richtete seine  dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf jemand, der
mir zu H¤upten stand oder  kniete, den ich aber  nicht  zu  sehen vermochte.
Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.
     Sofort  lieŸen  die  unsichtbaren  Finger  meine  Zunge   los  und  der
Starrkrampf  wich  von mir. Ich richtete mich auf und  blickte hinter  mich:
Niemand auŸer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.
     Sein "Du" und die Bemerkung, daŸ er mich erwartet habe, hatten also mir
gegolten!?
     Viel befremdender als diese beiden Umst¤nde an sich wirkte es auf mich,
daŸ ich nicht imstande war, auch nur  die  geringste Verwunderung darìber zu
empfinden.
     Hillel erriet offenbar  meine  Gedanken, denn  er  l¤chelte freundlich,
wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit  der Hand auf einen Sessel
wies, und sagte:
     "Es  ist  auch  nichts Wunderbares dabei.  Schreckhaft  wirken  nur die
gespenstischen Dinge - die Kischuph - auf den Menschen; das Leben kratzt und
brennt wie  ein h¤rener Mantel,  aber die Sonnenstrahlen der geistigen  Welt
sind mild und erw¤rmend."
     Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was  ich ihm h¤tte erwidern sollen.
Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu  haben, setzte sich mir gegenìber
und  fuhr  gelassen fort: "Auch ein  silberner Spiegel, h¤tte er Empfindung,
litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und gl¤nzend geworden, gibt
er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung."
     "Wohl dem Menschen", setzte er leise hinzu, "der von sich  sagen  kann:
Ich bin geschliffen." -  Einen Augenblick versank er in Nachdenken,  und ich
hærte ihn einen  hebr¤ischen Satz murmeln: "Lischuos¨cho  Kiwisi  Adoschem."
Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:
     "Du bist  zu  mir  gekommen in  tiefem Schlaf  und  ich habe dich  wach
gemacht. Im Psalm David heiŸt es:
     "Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist
es, welche diese Ver¤nderung gemacht hat."
     Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerst¤tten,  so w¤hnen sie, sie
h¤tten  den Schlaf abgeschìttelt, und wissen nicht, daŸ sie ihren Sinnen zum
Opfer fallen  und die Beute eines  neuen viel tieferen Schlafes  werden, als
der war, dem sie soeben entronnen  sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und
das  ist  das, dem Du dich jetzt  n¤herst. Sprich den Menschen davon und sie
werden sagen, Du seist  krank, denn  sie kænnen dich nicht verstehen.  Darum
ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.
     Sie fahren dahin wie ein Strom -
     Und sind wie ein Schlaf,
     Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird -
     Das des Abends abgehauen wird und verdorret."
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     "Wer war  der Fremde, der mich  in meiner Kammer aufgesucht hat und mir
das Buch "Ibbur" gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?", wollte
ich fragen,  doch  Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte
fassen konnte:
     "Nimm an, der Mann, der zu Dir kam und den Du den Golem nennst, bedeute
die Erweckung des Toten durch  das  innerste  Geistesleben.  Jedes Ding  auf
Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!
     Wie denkst Du mit dem Auge? Jede Form, die Du siehst, denkst Du mit dem
Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst."
     Ich fìhlte, wie Begriffe, die bisher in  meinem Hirn verankert gewesen,
sich  losrissen  und  gleich  Schiffen  ohne  Steuer  hinaustrieben  in  ein
uferloses Meer.
     Ruhevoll fuhr Hillel fort:
     "Wer aufgeweckt  worden  ist,  kann nicht  mehr sterben; Schlaf und Tod
sind dasselbe."
     "- - kann nicht mehr sterben?" - Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.
     "Zwei  Pfade  laufen nebeneinander hin:  der Weg des Lebens und der Weg
des Todes. Du hast das Buch "Ibbur" genommen und darin gelesen.  Deine Seele
ist schwanger geworden vom Geist des Lebens", hærte ich ihn reden.
     "Hillel, Hillel, laŸ  mich den Weg  gehen, den alle Menschen gehen: den
des Sterbens!", schrie alles wild in mir auf.
     Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.
     "Die Menschen gehen keinen Weg,  weder den  des  Lebens,  noch  den des
Todes.  Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: "Ehe Gott die
Welt  schuf,  hielt er den  Wesen einen Spiegel  vor; darin  sahen  sie  die
geistigen Leiden des Daseins  und die Wonnen, die  darauf folgten. Da nahmen
die  einen die Leiden auf sich. Die  anderen aber  weigerten sich, und diese
strich Gott aus  dem Buche der Lebenden." Du aber gehst einen  Weg und  hast
ihn aus freiem Willen beschritten, - wenn Du es jetzt auch selbst nicht mehr
weiŸt: Du bist berufen  von dir selbst.  Gr¤m' dich  nicht: allm¤hlich, wenn
das Wissen kommt,  kommt  auch die  Erinnerung. Wissen  und Erinnerung  sind
dasselbe."
     Der   freundliche,  fast  liebenswìrdige  Ton,  in  den  Hillels   Rede
ausgeklungen  war, gab  mir meine Ruhe wieder, und  ich fìhlte mich geborgen
wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiŸ.
     Ich blickte auf und sah, daŸ mit einemmal  viele  Gestalten  im  Zimmer
waren und uns  im Kreis umstanden: einige in weiŸen Sterbegew¤ndern, wie sie
die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an
den  Schuhen - aber  Hillel fuhr  mir mit der  Hand ìber die  Augen, und die
Stube war wieder leer.
     Dann  geleitete  er mich hinaus  zur Treppe  und gab mir eine brennende
Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten kænne in mein Zimmer.
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     Ich legte  mich zu  Bett  und wollte schlafen,  aber  der Schlummer kam
nicht,  und ich  geriet stattdessen in einen  sonderbaren Zustand, der weder
Tr¤umen war, noch Wachen, noch Schlafen.
     Das  Licht hatte ich ausgelæscht, aber trotzdem war alles in der  Stube
so deutlich, daŸ ich  jede  einzelne  Form genau unterscheiden konnte. Dabei
fìhlte  ich mich vollkommen  behaglich und frei  von der gewissen qualvollen
Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in ¤hnlicher Verfassung befindet.
     Nie  vorher in  meinem Leben w¤re ich imstande gewesen, so  scharf  und
pr¤zis zu  denken wie  eben  jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchstræmte
meine  Nerven  und ordnete meine Gedanken in Reih' und Glied wie eine Armee,
die nur auf meine Befehle wartete.
     Ich brauchte bloŸ zu  rufen, und sie traten vor mich und erfìllten, was
ich wìnschte.
     Eine  Gemme,  die  ich in  den  letzten Wochen  aus  Aventurinstein  zu
schneiden versucht hatte, - ohne damit  zurechtzukommen, da sich die  vielen
zerstreuten  Flimmer in  dem  Mineral niemals  mit den  Gesichtszìgen decken
wollten, die ich  mir vorgestellt,  - fiel mir  ein, und im  Nu sah  ich die
Læsung vor mir und wuŸte genau, wie ich den Stichel zu  fìhren hatte, um der
Struktur der Masse gerecht zu werden.
     Ehedem  Sklave einer Horde phantastischer Eindrìcke und Traumgesichter,
von denen ich oft nicht  gewuŸt: waren es Ideen  oder Gefìhle,  sah ich mich
jetzt plætzlich als Herr und Kænig im eigenen Reich.
     Rechenexempel, die ich frìher  nur mit „chzen und auf dem Papier  h¤tte
bew¤ltigen  kænnen,  fìgten sich  mir  mit einem  Mal im Kopf  spielend  zum
Resultat.  Alles mit Hilfe einer  neuen, in  mir erwachten F¤higkeit, das zu
sehen  und  festzuhalten,   was   ich  gerade  brauchte:  Ziffern,   Formen,
Gegenst¤nde  oder  Farben. Und  wenn es sich um  Fragen handelte,  die durch
derlei  Werkzeuge  nicht  zu  læsen  waren:  - philosophische  Probleme  und
¤hnliches  -, so  trat  an  Stelle des inneren Sehens  das Gehær, wobei  die
Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers ìbernahm.
     Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
     Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloŸes Wort an meinem Ohr hatte
vorìbergehen  lassen,  stand wertgetr¤nkt  bis in die tiefste Faser vor mir;
was  ich  "auswendig"  gelernt,  "erfaŸte" ich  mit  einem  Schlag  als mein
"Eigen"tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor
mir.
     Die "hohen" Ideale  der Menschheit,  die  vordem  mit kommerzienr¤tlich
biederer  Miene,  die Pathosbrust mit  Orden bekleckst, mich  von oben herab
behandelt hatten,  -  demìtig nahmen  sie jetzt die Maske von der Fratze und
entschuldigten sich:  sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin Krìcken
fìr - einen noch frecheren Schwindel.
     Tr¤umte ich nicht  vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel
gesprochen?
     Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
     Richtig: dort lag die Kerze, die  mir  Schemajah  mitgegeben hatte; und
selig wie ein kleiner Junge  in der Christfestnacht, der sich ìberzeugt hat,
daŸ der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, wìhlte
ich mich wieder in die Kissen.
     Und wie ein Spìrhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen
R¤tsel, die mich rings umgaben.
     Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurìckzugelangen, bis
zu dem meine Erinnerung  reichte. Nur von dort aus - glaubte ich - kænnte es
mir mæglich sein, jenen  Teil  meines Daseins zu ìberblicken, der  fìr mich,
durch eine seltsame Fìgung des Schicksals in Finsternis gehìllt lag.
     Aber wie  sehr ich mich auch bemìhte, ich kam nicht weiter, als daŸ ich
mich wie einst  in dem dìsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den
Torbogen den Trædlerladen des Aaron  Wassertrum unterschied - als ob ich ein
Jahrhundert lang als  Gemmenschneider  in diesem Hause  gewohnt h¤tte, immer
gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
     Schon wollte ich  es als hoffnungslos aufgeben, weiter  zu  schìrfen in
den Sch¤chten  der Vergangenheit,  da begriff ich  plætzlich mit leuchtender
Klarheit,  daŸ  in   meiner  Erinnerung  wohl  die   breite  HeerstraŸe  der
Geschehnisse  mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig
schmaler FuŸsteige, die wohl  bisher den Hauptpfad st¤ndig begleitet hatten,
von mir jedoch nicht beachtet worden  waren. "Woher", schrie es  mir fast in
die  Ohren,  "hast du denn die  Kenntnisse, dank derer du jetzt  dein  Leben
fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt -  und Gravieren  und all das
andere? Lesen, schreiben,  sprechen - und essen -  und gehen,  atmen, denken
und fìhlen?"
     Sofort griff ich den Rat meines Innern  auf. Systematisch ging ich mein
Leben zurìck.
     Ich  zwang  mich  in  verkehrter  aber ununterbrochener Reihenfolge  zu
ìberlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag
vor diesem und so weiter?
     Wieder  war  ich bei dem  gewissen Torbogen angelangt - - jetzt! Jetzt!
Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem Vergessen
trennte,  muŸte ìberflogen sein - da trat ein Bild vor mich, das ich auf der
Rìckwanderung meiner Gedanken ìbersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit
der Hand ìber die Augen - genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
     Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.
     Nur eins stand fest als bleibender Gewinn:  die  Erkenntnis:  die Reihe
der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch
zu  sein  scheint.  Die  schmalen,  verborgenen  Steige sind's,  die  in die
verlorene Heimat  zurìckfìhren: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift
in unserem Kærper eingraviert ist, und nicht  die scheuŸliche Narbe, die die
Raspel des  ¤uŸeren  Lebens  hinterlaŸt,  -  birgt die  Læsung  der  letzten
Geheimnisse.
     So,  wie ich zurìckfinden kænnte in die Tage meiner jugend, wenn ich in
der  Fibel das Alphabet in verkehrter  Folge  vorn¤hme von Z bis A,  um dort
anzulangen, wo ich in der Schule  zu lernen  begonnen, -  so,  begriff  ich,
muŸte ich auch wandern kænnen in die andere ferne Heimat, die jenseits allen
Denkens liegt.
     Eine Weltkugel an Arbeit w¤lzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules
trug eine Zeitlang das Gewælbe des  Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein,
und versteckte  Bedeutung  schimmerte  mir  aus  der Sage entgegen.  Und wie
Herkules wieder loskam  durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: "LaŸ
mich  nur  einen Bausch  von Stricken  um  den Kopf binden,  damit  mir  die
entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt", so g¤be es vielleicht  einen
dunklen Weg - d¤mmerte mir - von dieser Klippe weg.
     Ein tiefer  Argwohn, der Fìhrerschaft  meiner Gedanken weiter blind  zu
vertrauen, beschlich mich plætzlich. Ich legte mich gerade und verschloŸ mit
den  Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu  werden durch die Sinne.
Um jeden Gedanken zu tæten.
     Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur
einen Gedanken durch einen  anderen vertreiben,  und  starb der  eine, schon
m¤stete sich der n¤chste an seinem Fleische. Ich flìchtete in den brausenden
Strom meines  Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem FuŸ; ich verbarg
mich  im H¤mmerwerk  meines  Herzens: nur eine kleine Weile, und sie  hatten
mich entdeckt.
     Abermals  kam  mir da  Hillels freundliche Stimme zu  Hilfe und  sagte:
"Bleib  auf  deinem  Weg  und wanke  nicht!  Der  Schlìssel  zur  Kunst  des
Vergessens gehært unseren Brìdern, die den  Pfad des  Todes wandeln; du aber
bist geschw¤ngert vom Geiste des - Lebens."
     Das  Buch Ibbur erschien  vor mir,  und zwei Buchstaben  flammten darin
auf: der eine, der das erzene Weib  bedeutete, mit dem Pulsschlag,  m¤chtig,
gleich  einem Erdbeben, - der andere in  unendlicher Ferne: der Hermaphrodit
auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.
     Dann  fuhr  Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der  Hand  ìber  meine
Augen, und ich schlummerte ein.

     "Mein lieber und verehrter Meister Pernath!
     Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und  hæchster Angst.
Bitte, vernichten  Sie ihn  sofort,  nachdem  Sie ihn gelesen  haben, - oder
besser noch, bringen  Sie ihn mir  samt Kuvert mit.  - Ich h¤tte keine  Ruhe
sonst.
     Sagen  Sie keiner Menschenseele, daŸ  ich Ihnen geschrieben habe.  Auch
nicht, wohin Sie heute gehen werden!
     Ihr ehrliches gutes Gesicht hat  mir  - "neulich" - (Sie  werden  durch
diese kurze Anspielung auf ein Ereignis,  dessen  Zeuge  Sie waren, erraten,
wer  Ihnen  diesen Brief  schreibt,  denn  ich fìrchte  mich,  meinen  Namen
darunter  zu  setzen)  -  so viel Vertrauen eingeflæŸt, und weiter,  daŸ Ihr
lieber, seliger Vater mich als Kind  unterrichtet hat,  - alles das gibt mir
den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen  Menschen, der noch helfen
kann, zu wenden.
     Ich flehe Sie an, kommen  Sie  heute, abends um 5 Uhr, in die Domkirche
auf dem Hradschin."
     Eine Ihnen bekannte Dame.
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     Wohl eine  Viertelstunde  lang saŸ  ich da und hielt  den  Brief in der
Hand.  Die seltsame,  weihevolle Stimmung,  die mich  von  gestern nacht her
umfangen  gehalten, war  mit  einem  Schlag  gewichen, -  weggeweht von  dem
frischen  Windhauch  eines neuen irdischen Tages.  Ein junges  Schicksal kam
l¤chelnd  und verheiŸungsvoll  -  ein  Frìhlingskind  -  auf  mich  zu.  Ein
Menschenherz suchte Hilfe bei  mir. - Bei mir! Wie sah meine Stube plætzlich
so anders aus! Der  wurmstichige, geschnitzte Schrank  blickte  so zufrieden
drein, und die vier Sessel kamen mir  vor wie  alte Leute, die um den  Tisch
herumsitzen und behaglich kichernd Tarock spielen.
     Meine  Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum
und Glanz.
     So sollte der morsche Baum noch Frìchte tragen?
     Ich fìhlte,  wie  mich eine lebendige  Kraft durchrieselte,  die bisher
schlafen gelegen in  mir - verborgen  gewesen in den  Tiefen  meiner  Seele,
verschìttet von dem Geræll, das der  Alltag h¤uft, wie eine Quelle losbricht
aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.
     Und ich wuŸte so gewiŸ, wie ich den Brief  in der  Hand  hielt, daŸ ich
wìrde  helfen kænnen,  um was es auch ginge. Der Jubel in  meinem Herzen gab
mir die Sicherheit.
     Wieder und  wieder las  ich  die  Stelle: "und weiter,  daŸ Ihr  lieber
seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat -  - -"; - mir  stand der  Atem
still. Klang das  nicht wie  VerheiŸung:  "Heute noch  wirst du  mit mir  im
Paradiese  sein?" Die Hand, die sich mir  hinstreckte, Hilfe suchend,  hielt
mir  das Geschenk  entgegen: die Rìckerinnerung, nach der  ich  dìrstete,  -
wìrde  mir  das Geheimnis  offenbaren, den Vorhang  heben  helfen,  der sich
hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!
     "Ihr  lieber seliger Vater" -  -, wie fremdartig die Worte klangen, als
ich sie  mir  vorsagte! - Vater! - Einen Augenblick sah ich das mìde Gesicht
eines  alten  Mannes  mit  weiŸem Haar in dem Lehnstuhl  neben meiner  Truhe
auftauchen  - fremd,  ganz fremd und  doch so schauerlich bekannt; -  - dann
kamen  meine  Augen  wieder  zu  sich,  und die Hammerlaute  meines  Herzens
schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.
     Erschreckt fuhr ich  auf: hatte ich die Zeit vertr¤umt? Ich blickte auf
die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fìnf.
     Ich  ging  in meine  Schlafkammer nebenan,  holte Hut  und  Mantel  und
schritt die Treppen hinab.  Was kìmmerte  mich heute das Geraune der dunklen
Winkel, die  bæsartigen,  engherzigen, verdrossenen Bedenken, die  immer von
ihnen  aufstiegen:  "Wir  lassen dich nicht,  - du bist unser, - wir  wollen
nicht, daŸ du dich freust - das w¤re noch schæner, Freude hier im Haus!"
     Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen G¤ngen und
Ecken her  um  mich gelegt  mit  wìrgenden H¤nden: heute  wich  er  vor  dem
lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an Hillels
Tìr.
     Sollte ich eintreten?
     Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu  klopfen. Mir war so ganz  anders
heute, - so, als dìrfe ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb mich die
Hand des Lebens vorw¤rts, die Stiegen hinab. - -
     Die Gasse lag weiŸ im Schnee.
     Ich  glaube, daŸ viele  Leute  mich  gegrìŸt  haben; ich  erinnere mich
nicht, ob  ich ihnen gedankt. Immer  wieder fìhlte ich  an die Brust, ob ich
den Brief auch bei mir trìge:
     Es ging eine W¤rme von der Stelle aus. - -
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     Ich  wanderte  durch  die  Bogen  der  gequaderten Laubeng¤nge  auf dem
Altst¤dter Ring und an  dem  Erzbrunnen vorbei, dessen  barockes Gitter voll
Eiszapfen  hing, hinìber ìber die steinerne Brìcke mit ihren Heiligenstatuen
und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.
     Unten sch¤umte der FluŸ voll HaŸ gegen die Fundamente.
     Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehæhlten Sandstein  der heiligen
Luitgard mit "den Qualen der Verdammten" darin: dicht lag der Schnee auf den
Lidern der BìŸenden und den Ketten an ihren betend erhobenen H¤nden.
     Torbogen nahmen mich auf und  entlieŸen mich, Pal¤ste zogen  langsam an
mir vorìber, mit geschnitzten, hochmìtigen  Portalen, darinnen Læwenkæpfe in
bronzene Ringe bissen.
     Auch  hier  ìberall  Schnee, Schnee. Weich, weiŸ  wie  das  Fell  eines
riesigen Eisb¤ren.
     Hohe, stolze  Fenster,  die  Simse  beglitzert  und  vereist,  schauten
teilnahmslos zu den Wolken empor.
     Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vægel war.
     Als ich die  unz¤hligen Granitstufen emporstieg zum  Hradschin, jede so
breit,  wie  wohl vier Menschenleiber lang sind, versank  Schritt um Schritt
die Stadt mit ihren D¤chern und Giebeln vor meinem Sinn. - - -
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     Schon schlich die D¤mmerung die  H¤userreihen entlang, da trat ich  auf
den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der Engel.
     FuŸstapfen - die R¤nder mit Krusten aus Eis - fìhrten hin zum Nebentor.
     Von irgendwo  aus  einer  fernen  Wohnung klangen leise, verlorene Tæne
eines Harmoniums in  die Abendstille hinaus. Wie Tr¤nentropfen der Schwermut
fielen sie in die Verlassenheit.
     Ich  hærte  hinter   mir   das  Seufzen  des  Schlagpolsters,  wie  die
Kirchentìre mich  aufnahm, dann stand ich  im Dunkel, und der  goldene Altar
blinkte in starrer Ruhe herìber zu mir durch den  grìnen und blauen Schimmer
sterbenden  Lichtes, das  durch  die  farbigen  Fenster  auf  die  Betstìhle
niedersank. Funken sprìhten aus roten, gl¤sernen Ampeln.
     Welker Duft von Wachs und Weihrauch.
     Ich lehnte mich in eine  Bank.  Mein Blut ward seltsam still  in diesem
Reich der Regungslosigkeit.
     Ein  Leben  ohne  Herzschlag  erfìllte  den  Raum  -  ein   heimliches,
geduldiges Warten.
     Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.
     Da! -  Aus weiter,  weiter  Ferne  drang  das  Ger¤usch von Pferdehufen
ged¤mpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte n¤her kommen und verstummte.
     Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zuf¤llt. - - -
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     Das  Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich  zugekommen, und eine
zarte, schmale Damenhand hatte leicht meinen Arm berìhrt.
     "Bitte, bitte, gehen wir doch dort  neben  den Pfeiler; es  widerstrebt
mir, hier in den  Betstìhlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen sagen
muŸ."
     Die weihevollen  Bilder  ringsum zerrannen  zu nìchterner Klarheit. Der
Tag hatte mich plætzlich angefaŸt.
     "Ich  weiŸ gar  nicht, wie ich Ihnen  danken soll, Meister Pernath, daŸ
Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht
haben."
     Ich stotterte ein paar banale Worte.
     "-  -  Aber  ich  wuŸte  keinen  andern  Ort,  wo  ich   sicherer   vor
Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns gewiŸ
niemand nachgegangen."
     Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.
     Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang
ihrer Stimme  hatte  ich  sie  wiedererkannt als dieselbe,  die damals  voll
Entsetzen vor  Wassertrum in mein  Zimmer in der HahnpaŸgasse flìchtete. Ich
war auch nicht erstaunt darìber, denn ich hatte niemand anderen erwartet.
     Meine  Augen  hingen  an  ihrem  Gesicht,  das  in  der  D¤mmerung  der
Mauernische  wohl  noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein  mochte.
Ihre  Schænheit  benahm  mir fast den  Atem, und ich stand  wie  gebannt. Am
liebsten w¤re ich vor ihr niedergefallen und h¤tte ihre FìŸe gekìŸt, daŸ sie
es war, der ich helfen sollte, daŸ sie mich dazu erw¤hlt hatte.
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     "Vergessen Sie, ich  bitte Sie von Herzen darum,  -  wenigstens solange
wir hier sind - die Situation, in der Sie mich damals gesehen haben", sprach
sie  gepreŸt  weiter, "ich weiŸ auch gar  nicht, wie  Sie ìber  solche Dinge
denken - -"
     "Ich bin  ein  alter  Mann geworden, aber  kein  einziges Mal in meinem
Leben  war ich  so vermessen, daŸ  ich mich Richter gedìnkt h¤tte ìber meine
Mitmenschen", war das einzige, was ich hervorbrachte.
     "Ich danke Ihnen, Meister Pernath", sagte sie warm  und  schlicht. "Und
jetzt  hæren Sie mich geduldig an, ob  Sie  mir in meiner Verzweiflung nicht
helfen oder wenigstens einen Rat geben kænnen." - Ich fìhlte, wie eine wilde
Angst sie packte, und hærte ihre Stimme  zittern. - "Damals - - im Atelier -
- - damals  brach  die schreckliche GewiŸheit  ìber mich  herein,  daŸ jener
grauenhafte Oger mir mit  Vorbedacht  nachgespìrt hat.  - Schon durch Monate
war mir  aufgefallen, daŸ, wohin ich auch immer  ging, - ob allein, oder mit
meinem  Gatten,  oder  mit -  -  -  mit  -  mit  Dr. Savioli,  -  stets  das
entsetzliche  Verbrechergesicht  dieses   Trædlers  irgendwo   in  der  N¤he
auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielenden Augen.
Noch  macht sich  ja  kein Zeichen  bemerkbar, was er  vorhat,  aber  um  so
qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir die Schlinge um
den Hals!
     Anfangs  wollte  mich  Dr.  Savioli  damit beruhigen,  was  denn so ein
armseliger  Trædler  wie  dieser  Aaron  Wassertrum  ìberhaupt  vermæchte  -
schlimmsten Falles kænnte es  sich nur um eine geringfìgige Erpressung  oder
dergleichen handeln, aber jedesmal  wurden seine  Lippen weiŸ, wenn der Name
Wassertrum  fiel. Ich ahne: Dr. Savioli h¤lt mir  etwas  geheim, um  mich zu
beruhigen, - irgend  etwas Furchtbares, was ihn oder  mich das Leben  kosten
kann.
     Und dann  erfuhr ich, was er mir sorgsam  verheimlichen wollte: daŸ ihn
der  Trædler mehrere Male  des Nachts  in seiner Wohnung besucht hat!  - Ich
weiŸ es, ich spìre es in jeder Faser meines Kærpers: es geht etwas  vor, das
sich langsam um  uns zusammenzieht wie  die Ringe einer  Schlange. - Was hat
dieser Mærder dort zu suchen? Warum kann Dr. Savioli ihn  nicht abschìtteln?
Nein, nein, ich sehe  das nicht  l¤nger  mit an; ich muŸ  etwas  tun. Irgend
etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt."
     Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie lieŸ mich
nicht zu Ende sprechen.
     "Und in den letzten Tagen  nahm der  Alp, der  mich zu erwìrgen  droht,
immer greifbarere  Formen an. Dr. Savioli ist plætzlich erkrankt, - ich kann
mich  nicht mehr  mit ihm verst¤ndigen  -  darf ihn nicht besuchen, wenn ich
nicht stìndlich gew¤rtigen soll, daŸ meine Liebe zu ihm entdeckt wird -;  er
liegt in Delirien,  und das  einzige, was  ich erkunden konnte, ist,  daŸ er
sich im Fieber  von einem Scheusal verfolgt w¤hnt, dessen  Lippen von  einer
Hasenscharte gespalten sind: - Aaron Wassertrum!
     Ich weiŸ,  wie mutig Dr. Savioli ist; um  so entsetzlicher - kænnen Sie
sich  das  vorstellen? - wirkt es auf  mich,  ihn jetzt  gel¤hmt  vor  einer
Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle N¤he eines grauenhaften Wìrgengels
empfinde, zusammengebrochen zu sehen.
     Sie werden sagen, ich sei feige, und warum ich mich denn nicht offen zu
Dr.  Savioli bekenne,  alles  von mir wìrfe, wenn ich  ihn doch so  liebe -:
alles, Reichtum, Ehre, Ruf  und  so weiter,  aber  -" sie schrie es færmlich
heraus, daŸ es  widerhallte von den  Chorgalerien, - "ich kann nicht!  - Ich
hab' doch mein Kind, mein liebes, blondes, kleines M¤del! Ich kann doch mein
Kind  nicht hergeben! - Glauben Sie denn, mein Mann  lieŸe es mir?!  Da, da,
nehmen Sie das, Meister  Pernath" - sie riŸ im  Wahnwitz ein T¤schchen  auf,
das  vollgestopft war  mit Perlenschnìren und Edelsteinen - "und bringen Sie
es dem Verbrecher; - ich weiŸ, er ist habsìchtig - er soll sich alles holen,
was ich  besitze, aber  mein Kind soll er mir lassen. - Nicht  wahr, er wird
schweigen? - So reden Sie doch  um Jesu  Christi willen,  sagen Sie nur  ein
Wort, daŸ Sie mir helfen wollen!"
     Es  gelang mir mit græŸter Mìhe,  die Rasende  wenigstens  so  weit  zu
beruhigen, daŸ sie sich auf eine Bank niederlieŸ.
     Ich  sprach  zu   ihr,  wie  es  mir  der   Augenblick  eingab.  Wirre,
zusammenhanglose S¤tze.
     Gedanken jagten dabei  in meinem Hirn, so daŸ ich selbst kaum verstand,
was mein Mund redete, - Ideen phantastischer Art, die  zusammenbrachen, kaum
daŸ sie geboren waren.
     Geistesabwesend haftete  mein Blick auf einer bemalten  Mænchsstatue in
der Wandnische. Ich redete und redete. Allm¤hlich verwandelten sich die Zìge
der   Statue,   die  Kutte   wurde   ein  fadenscheiniger   œberzieher   mit
hochgeklapptem Kragen,  und ein jugendliches Gesicht mit  abgezehrten Wangen
und hektischen Flecken wuchs daraus empor.
     Ehe ich  die  Vision verstehen konnte, war  der  Mænch wieder da. Meine
Pulse schlugen zu laut.
     Die unglìckliche  Frau  hatte sich ìber  meine Hand gebeugt  und weinte
still.
     Ich gab ihr von der Kraft, die  in mich eingezogen war in  der  Stunde,
als  ich  den  Brief gelesen  hatte,  und  mich jetzt  abermals  ìberm¤chtig
erfìllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.
     "Ich will  Ihnen sagen,  warum  ich mich gerade  an  Sie gewendet habe,
Meister Pernath",  fing sie nach langem Schweigen leise wieder an. "Es waren
ein  paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben - und die ich nie vergessen
konnte die vielen Jahre hindurch - -"
     Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut.
     "- -  Sie  nahmen Abschied von mir - ich weiŸ nicht  mehr,  weshalb und
wieso, ich war ja noch ein Kind, - und Sie sagten so  freundlich und doch so
traurig:
     ›Es  wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, wenn  Sie
je im Leben  nicht aus noch ein wissen.  Vielleicht gibt mir Gott der  Herr,
daŸ  ich  es dann  sein  darf,  der  Ihnen  hilft.‹ -  Ich habe mich  damals
abgewendet und rasch meinen Ball  in den Springbrunnen fallen lassen,  damit
Sie meine Tr¤nen nicht sehen  sollten. Und dann  wollte ich Ihnen  das  rote
Korallenherz schenken, das ich  an einem Seidenband um den  Hals  trug, aber
ich sch¤mte mich, weil das gar so l¤cherlich gewesen w¤re." - - -
     Erinnerung!
     - Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein Schimmer
wie  aus  einem vergessenen,  fernen  Land  der  Sehnsucht trat  vor mich  -
unvermittelt und  schreckhaft:  Ein  kleines  M¤dchen  in  weiŸem  Kleid und
ringsum  die  dunkle  Wiese  eines  SchloŸparks,  von  alten  Ulmen ums¤umt.
Deutlich sah ich es wieder vor mir. - -
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     Ich muŸte mich verf¤rbt  haben; ich merkte  es an der Hast, mit der sie
fortfuhr: "Ich weiŸ ja, daŸ Ihre Worte damals nur der Stimmung des Abschieds
entsprangen, aber  sie  waren  mir  oft ein Trost und - und ich  danke Ihnen
dafìr."
     Mit aller  Kraft biŸ ich  die Z¤hne zusammen  und  jagte  den heulenden
Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurìck.
     Ich  verstand: Eine gn¤dige  Hand war es gewesen,  die die  Riegel  vor
meiner Erinnerung  zugeschoben hatte.  Klar stand jetzt in meinem BewuŸtsein
geschrieben, was ein kurzer  Schimmer  aus alten Tagen herìbergetragen: Eine
Liebe,  die  fìr  mein Herz  zu  stark gewesen, hatte fìr Jahre mein  Denken
zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der Balsam fìr  meinen wunden
Geist geworden.
     Allm¤hlich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins ìber mich und kìhlte
die Tr¤nen hinter  meinen Augenlidern. Der Hall  von  Glocken zog ernst  und
stolz durch den Dom, und ich konnte freudig l¤chelnd der in die Augen sehen,
die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.
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     Wieder hærte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das Trappen der
Hufe. - - -
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     Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.
     Die   Laternen   staunten  mich  an  mit  zwinkernden  Augen,  und  aus
geschichteten  Bergen  von Tannenb¤umen raunte es von Flitter  und silbernen
Nìssen und vom kommenden Christfest.
     Auf dem Rathausplatz an der Mariens¤ule  murmelten bei Kerzenglanz  die
alten  Bettelweiber  mit  den  grauen  Kopftìchern  der  Muttergottes  ihren
Rosenkranz.
     Vor  dem  dunklen  Eingang  zur   Judenstadt   hockten  die  Buden  des
Weihnachtsmarktes. Mitten  darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete  grell,
von   schwelenden   Fackeln   beschienen,    die    offene    Bìhne    eines
Marionettentheaters.
     Zwakhs Policcinell in  Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand und
daran  an  der  Schnur  einen  Totensch¤del,  ritt  klappernd auf  hælzernem
Schimmel ìber die Bretter.
     In  Reihen  fest  aneinander   gedr¤ngt  starrten  die  Kleinen  -  die
Pelzmìtzen  tief  ìber die  Ohren gezogen  -  mit offenem  Munde  hinauf und
lauschten  gebannt den  Versen  des  Prager Dichters Oskar Wiener, die  mein
Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach:
     "Ganz vorne schritt ein Hampelmann,
     Der Kerl war mager wie ein Dichter
     Und hatte bunte Lappen an
     Und torkelte und schnitt Gesichter." - - -
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     Ich bog in  die  Gasse  ein,  die schwarz  und  winklig  auf den  Platz
mìndete.  Dicht, Kopf an Kopf,  stand lautlos eine Menschenmenge  da in  der
Finsternis vor einem Anschlagzettel.
     Ein Mann hatte ein Streichholz angezìndet, und ich konnte einige Zeilen
bruchstìckweise lesen.  Mit  dumpfen Sinnen  nahm mein  BewuŸtsein  ein paar
Worte auf:
     VermiŸt!
     1000 fl Belohnung
     „lterer Herr... schwarz gekleidet...
     ......... Signalement:
     ... fleischiges, glattrasiertes Gesicht......
     ...... Haarfarbe: weiŸ.........
     .. Polizeidirektion... Zimmer Nr....
     Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam hinein
in die lichtlosen H¤userreihen.
     Eine  Handvoll  winziger  Sterne glitzerte auf  dem  schmalen,  dunklen
Himmelsweg ìber den Giebeln.
     Friedvoll  schweiften meine Gedanken  zurìck in den  Dom, und die  Ruhe
meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom Platz herìber,
schneidend klar  -  als  stìnde  sie dicht an  meinem Ohr  - die  Stimme des
Marionettenspielers durch die Winterluft:
     "Wo ist das Herz aus rotem Stein?
     Es hing an einem Seidenbande
     Und funkelte im Frìhrotschein." - - -

     Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir
das Gehirn zermartert, wie ich "ihr" Hilfe bringen kænnte.
     Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu  gehen,
ihm zu erz¤hlen, was mir  anvertraut worden, und ihn  um Rat zu bitten. Aber
jedesmal verwarf ich den EntschluŸ.
     Er stand im Geist so riesengroŸ vor mir, daŸ es eine Entweihung schien,
ihn mit Dingen, die das ¤uŸere Leben betrafen,  zu  behelligen,  dann wieder
kamen  Momente,  wo mich brennende  Zweifel befielen, ob ich in Wirklichkeit
alles das erlebt h¤tte, was nur eine kurze Spanne Zeit zurìcklag und doch so
seltsam verblaŸt schien, verglichen mit den lebenstrotzenden Erlebnissen des
verflossenen Tages.
     Hatte  ich  nicht  doch  getr¤umt?  Durfte ich -  ein  Mensch, dem  das
Unerhærte  geschehen war, daŸ er seine Vergangenheit vergessen hatte, - auch
nur eine Sekunde lang als GewiŸheit  annehmen, wofìr als einziger Zeuge bloŸ
meine Erinnerung die Hand aufhob?
     Mein  Blick  fiel auf die Kerze Hillels, die immer  noch auf dem Sessel
lag. Gott  sei  Dank,  wenigstens das eine  stand fest:  ich  war mit ihm in
persænlicher Berìhrung gewesen!
     Sollte  ich  nicht ohne  Besinnen  hinunterlaufen  zu  ihm,  seine Knie
umfassen und wie Mensch  zu Mensch ihm  klagen, daŸ ein  uns¤gliches  Weh an
meinem Herzen fraŸ?
     Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da lieŸ ich wieder los; ich sah
voraus,  was kommen wìrde: Hillel wìrde mir mild ìber die Augen fahren und -
- - nein, nein, nur das nicht! Ich  hatte kein Recht, Linderung zu begehren.
"Sie" vertraute  auf mich und  meine Hilfe, und wenn die Gefahr, in der  sie
sich fìhlte, mir in Momenten auch klein und nichtig erscheinen mochte, - sie
empfand sie sicherlich als riesengroŸ!
     Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit  - ich zwang mich, kalt  und
nìchtern  zu denken; - ihn jetzt -  mitten in der Nacht zu stæren? - es ging
nicht an. So wìrde nur ein Verrìckter handeln.
     Ich wollte die  Lampe  anzìnden;  dann  lieŸ ich  es wieder  sein:  der
Abglanz des Mondlichts fiel von den  D¤chern gegenìber herein in mein Zimmer
und  gab mehr Helle, als  ich brauchte. Und ich fìrchtete, die Nacht  kænnte
noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte.
     Es  lag  so   viel  Hoffnungslosigkeit  in  dem  Gedanken,  die   Lampe
anzuzìnden, nur  um den  Tag zu erwarten, - eine leise Angst sagte mir,  der
Morgen rìcke dadurch in unerlebbare Ferne.
     Ich  trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft  schwebender
Friedhof lagen  die Reihen verschnærkelter Giebel dort oben -  Leichensteine
mit  verwitterten Jahreszahlen, getìrmt ìber die dunklen  Modergrìfte, diese
"Wohnst¤tten", darein  sich das  Gewimmel  der  Lebenden  Hæhlen  und  G¤nge
genagt.
     Lange  stand  ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise
zu wundern begann, warum ich denn nicht aufschr¤ke, wo doch ein Ger¤usch von
verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein Ohr drang.
     Ich  horchte hin:  Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch.  Das  kurze
„chzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zægernd schlich.
     Mit einem Schlage war  ich ganz bei mir. Ich wurde færmlich kleiner, so
preŸte sich  alles in mir zusammen unter  dem Druck  des  Willens, zu hæren.
Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart.
     Noch  ein  rasches Knistern,  das  vor sich  selbst erschrak und hastig
abbrach.  Dann  Totenstille. Jene  lauernde,  grauenhafte  Stille,  die  ihr
eigener Verr¤ter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht.
     Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedrìckt, das drohende Gefìhl
in der Kehle, daŸ drìben einer stand, genauso wie ich und dasselbe tat.
     Ich lauschte und lauschte:
     Nichts.
     Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben.
     Lautlos  -  auf  den Zehenspitzen - stahl  ich  mich an den Sessel  bei
meinem Bett, nahm Hillels Kerze und zìndete sie an.
     Dann ìberlegte ich:  Die eiserne Speichertìre drauŸen auf dem Gang, die
zum Atelier Saviolis fìhrte, ging nur von drìben aufzuklinken.
     Aufs  Geratewohl  ergriff ich ein hakenfærmiges Stìck Draht,  das unter
meinen Graviersticheln auf dem Tische  lag: derlei Schlæsser springen leicht
auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder!
     Und was wìrde dann geschehen?
     Nur  Aaron Wassertrum konnte  es sein,  der  da  nebenan spionierte,  -
vielleicht  in K¤sten wìhlte, um  neue  Waffen  und Beweise in die  Hand  zu
bekommen, legte ich mir zurecht.
     Ob es viel nìtzen wìrde, wenn ich dazwischen trat?
     Ich besann mich nicht lang:  handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare
Warten auf den Morgen zerfetzen!
     Und schon stand ich vor der  eisernen Bodentìre, drìckte dagegen, schob
vorsichtig  den Haken ins  SchloŸ und  horchte.  Richtig:  Ein  schleifendes
Ger¤uch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht.
     Im n¤chsten Augenblick schnellte der Riegel zurìck.
     Ich konnte das Zimmer ìberblicken und sah,  obwohl  es fast finster war
und meine Kerze mich nur blendete,  wie ein  Mann in langem schwarzem Mantel
entsetzt vor  einem Schreibtisch aufsprang, - eine Sekunde lang unschlìssig,
wohin sich wenden, - eine Bewegung machte, als wolle er auf mich losstìrzen,
sich dann den Hut vom Kopf riŸ und hastig damit sein Gesicht bedeckte.
     "Was suchen Sie hier!" wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor:
     "Pernath! Sie sind's?  Gotteswillen! Das Licht weg!" Die Stimme kam mir
bekannt vor, war aber keinesfalls die des Trædlers Wassertrum.
     Automatisch blies ich die Kerze aus.
     Das Zimmer lag halbdunkel da  - nur von  dem schimmrigen Dunst, der aus
der Fensternische  hereindrang, matt  erhellt  - genau  wie meines, und  ich
muŸte  meine  Augen  aufs ¤uŸerste anstrengen,  ehe ich  in dem abgezehrten,
hektischen Gesicht, das  plætzlich ìber dem  Mantel auftauchte, die Zìge des
Studenten Charousek erkennen konnte.
     "Der Mænch!"  dr¤ngte  es sich mir auf die  Zunge  und ich verstand mit
einem Mal die Vision,  die ich gestern im Dom gehabt! Charousek! Das war der
Mann, an den ich mich wenden sollte! - Und ich hærte seine Worte wieder, die
er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt  hatte: "Aaron Wassertrum  wird
es schon erfahren, daŸ man mit vergifteten, unsichtbaren Nadeln durch Mauern
stechen kann. Genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will."
     Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen?  WuŸte  er ebenfalls,  was
sich zugetragen? Sein Hiersein  zu so ungewæhnlicher Stunde lieŸ fast darauf
schlieŸen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu richten.
     Er  war  ans Fenster geeilt und sp¤hte hinter dem Vorhang hinunter  auf
die Gasse.
     Ich erriet: er fìrchtete, Wassertrum kænne den Lichtschein meiner Kerze
wahrgenommen haben.
     "Sie denken gewiŸ,  ich  sei ein Dieb, daŸ  ich nachts  hier  in  einer
fremden Wohnung herumsuche,  Meister Pernath," fing er nach langem Schweigen
mit unsicherer Stimme an, "aber ich schwære Ihnen - -"
     Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn.
     Und um ihm  zu zeigen, daŸ ich keinerlei  MiŸtrauen gegen ihn hegte, in
ihm  vielmehr  einen  Bundesgenossen  sah,  erz¤hlte  ich  ihm  mit  kleinen
Einschr¤nkungen,  die  ich fìr  nætig hielt, welche Bewandtnis  es  mit  dem
Atelier  habe, und  daŸ  ich fìrchte, eine Frau, die  mir nahestehe,  sei in
Gefahr, den erpresserischen Gelìsten des  Trædlers  in irgendwelcher Art zum
Opfer zu fallen.
     Aus der hæflichen Weise, mit  der  er mir zuhærte, ohne mich mit Fragen
zu  unterbrechen,  entnahm ich, daŸ  er das meiste bereits wuŸte,  wenn auch
vielleicht nicht in Einzelheiten.
     "Es stimmt schon",  sagte er grìbelnd, als  ich  zu Ende  gekommen war.
"Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl  will Savioli  an die Gurgel
fahren,  das  ist  klar,  aber offenbar hat  er  noch  nicht genug  Material
beisammen. Weshalb wìrde er sich sonst noch hier immerw¤hrend  herumdrìcken!
Ich ging n¤mlich gestern, sagen wir mal: ›zuf¤llig‹ durch die HahnpaŸgasse,"
erklarte er, als er  meine  fragende  Miene bemerkte, "da fiel  mir auf, daŸ
Wassertrum erst lange - scheinbar unbefangen  - vor dem Tor unten auf und ab
schlenderte, dann aber,  als er sich unbeobachtet  glaubte,  rasch  ins Haus
bog. Ich ging  ihm sofort nach und tat so,  als wollte ich Sie besuchen, das
heiŸt,  ich klopfte  bei  Ihnen  an, und dabei ìberraschte  ich  ihn, wie er
drauŸen  an  der  eisernen  Bodentìr  mit  einem  Schlìssel  herumhantierte.
Natìrlich gab er es augenblicklich auf, als ich kam, und  klopfte  ebenfalls
als  Vorwand bei Ihnen an.  Sie schienen ìbrigens  nicht zu Hause gewesen zu
sein, denn es æffnete niemand.
     Als ich mich dann  vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich,
daŸ jemand,  der nach den Schilderungen nur Dr.  Savioli  sein konnte,  hier
heimlich  ein  Absteigequartier  bes¤Ÿe. Da Dr.  Savioli  schwerkrank liegt,
reimte ich mir das ìbrige zurecht.
     Sehen Sie: und  das da habe ich  aus den Schubladen zusammengesucht, um
Wassertrum  fìr alle F¤lle zuvorzukommen", schloŸ  Charousek und deutete auf
ein  Paket  Briefe  auf  dem  Schreibtisch;   "es  ist  alles,  was  ich  an
Schriftstìcken finden konnte. Hoffentlich ist  sonst nichts  mehr vorhanden.
Wenigstens habe ich in s¤mtlichen Truhen und Schr¤nken gestæbert, so gut das
in der Finsternis ging."
     Meine Augen  durchforschten bei seiner  Rede  das  Zimmer  und  blieben
unwillkìrlich  auf  einer Falltìre am Boden  haften. Ich entsann mich  dabei
dunkel, daŸ Zwakh mir irgendwann erz¤hlt hatte, ein  geheimer  Zugang  fìhre
von unten herauf ins Atelier.
     Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff.
     "Wo sollen wir  die  Briefe aufheben?", fing Charousek wieder an. "Sie,
Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Getto, die Wassertrum
harmlos vorkommen,  - warum gerade ich, das -  hat -  seine  - besonderen  -
Grìnde", - (ich sah, daŸ sich seine Zìge in wildem HaŸ verzerrten, wie er so
den  letzten  Satz  færmlich zerbiŸ -) "und Sie  halt er fìr  - -" Charousek
erstickte das Wort "verrìckt"  mit einem  raschen, erkìnstelten Husten, aber
ich erriet, was  er  hatte sagen wollen. Es tat mir  nicht weh; das  Gefìhl,
"ihr" helfen zu kænnen, machte mich so  glìckselig, daŸ jede Empfindlichkeit
ausgelæscht war.
     Wir  kamen schlieŸlich ìberein,  das  Paket bei mir zu verstecken,  und
gingen hinìber in meine Kammer.
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     Charousek  war  l¤ngst  fort, aber  immer  noch  konnte  ich mich nicht
entschlieŸen, zu Bette  zu gehen. Eine  gewisse innere Unzufriedenheit nagte
an mir  und hielt mich davon ab. Irgend  etwas sollte  ich noch  tun, fìhlte
ich, aber was? was?
     Einen Plan fìr den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen h¤tte?
     Das  allein konnte  es nicht sein. Charousek lieŸ  den Trædler  sowieso
nicht aus den Augen,  darìber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn ich
an den HaŸ dachte, der aus seinen Worten geweht hatte.
     Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte?
     Die  seltsame  innere Unruhe  in  mir  wuchs und brachte  mich fast zur
Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und  ich verstand
nicht.
     Ich kam mir vor wie ein Gaul,  der dressiert wird,  das ReiŸen am Zìgel
spìrt und  nicht weiŸ, welches  Kunststìck er machen soll, den Willen seines
Herrn nicht erfaŸt.
     Hinuntergehen zu Schemajah Hillel?
     Jede Faser in mir verneinte.
     Die Vision  des Mænchs  in der Domkirche, auf  dessen Schultern gestern
der  Kopf Charouseks aufgetaucht war als  Antwort auf eine  stumme  Bitte um
Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe Gefìhle nicht ohne weiteres
zu verachten. Geheime Kr¤fte keimten in mir auf  seit geraumer Zeit, das war
gewiŸ:  ich  empfand es zu ìberm¤chtig,  als  daŸ ich auch nur  den  Versuch
gemacht h¤tte, es wegzuleugnen.
     Buchstaben zu empfinden, sie nicht  nur mit  den  Augen  in  Bìchern zu
lesen, - einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir  ìbersetzt, was
die  Instinkte ohne Worte raunen, darin muŸ der  Schlìssel liegen,  sich mit
dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verst¤ndigen, begriff ich.
     "Sie haben Augen und  sehen nicht; sie  haben  Ohren und  hæren nicht",
fiel mir eine Bibelstelle wie eine Erkl¤rung dazu ein.
     "Schlìssel,   Schlìssel,  Schlìssel",  wiederholten  mechanisch   meine
Lippen, derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte
ich plætzlich.
     "Schlìssel, Schlìssel -  -?" Mein  Blick fiel  auf den krummen Draht in
meiner Hand, der  mir vorhin zum –ffnen der Speichertìre gedient  hatte, und
eine heiŸe Neugier, wohin wohl die viereckige Falltìr aus dem Atelier fìhren
kænnte, peitschte mich auf.
     Und ohne zu ìberlegen, ging  ich  nochmals  hinìber in Saviolis Atelier
und zog an dem  Griffring  der Falltìre, bis es  mir schlieŸlich gelang, die
Platte zu heben.
     Zuerst nichts als Dunkelheit.
     Dann  sah   ich:  Schmale,  steile  Stufen  liefen   hinab  in  tiefste
Finsternis.
     Ich stieg hinunter.
     Eine Zeitlang tastete ich mich mit den  H¤nden die Mauern entlang, aber
es wollte  kein  Ende nehmen:  Nischen, feucht  von  Schimmel  und Moder,  -
Windungen, Ecken und Winkel,  - G¤nge geradeaus, nach links und nach rechts,
Reste einer  alten Holztìre,  Wegteilungen und  dann wieder Stufen,  Stufen,
Stufen hinauf und hinab.
     Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde ìberall.
     Und noch immer kein Lichtstrahl. -
     Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen h¤tte!
     Endlich flacher, ebener Weg.
     Aus dem Knirschen unter meinen  FìŸen schloŸ ich, daŸ ich auf trockenem
Sand dahinschritt.
     Es konnte  nur  einer  jener zahllosen  G¤nge sein, die scheinbar  ohne
Zweck und Ziel unter dem Getto hinfìhren bis zum FluŸ.
     Ich  wunderte  mich   nicht:   die   halbe   Stadt   stand   doch  seit
unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen  L¤uften, und die Bewohner
Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen.
     Das Fehlen jeglichen Ger¤uschs  zu meinen  H¤upten sagte mir,  daŸ  ich
mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben
ist, befinden muŸte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebtere
StraŸen oder Pl¤tze ìber mir h¤tten sich durch fernes Wagenrasseln verraten.
     Eine  Sekunde lang wìrgte  mich die Furcht:  was,  wenn  ich im  Kreise
herumging!? In ein Loch  stìrzte,  mich verletzte, ein  Bein brach und nicht
mehr weiter gehen konnte?!
     Was  geschah  dann mit  ihren  Briefen in  meiner  Kammer?  Sie  muŸten
unfehlbar Wassertrum in die H¤nde fallen.
     Der Gedanke  an Schemajah Hillel,  mit dem ich  vag  den Begriff  eines
Helfers und Fìhrers verknìpfte, beruhigte mich unwillkìrlich.
     Vorsichtshalber  ging  ich aber doch langsamer und tastenden  Schrittes
und hielt den Arm in die Hæhe, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen,
falls der Gang niedriger wìrde.
     Von Zeit zu Zeit, dann immer  æfter stieŸ ich oben mit der Hand an, und
endlich senkte sich das Gestein so tief herab, daŸ ich mich bìcken muŸte, um
durchzukommen.
     Pætzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.
     Ich blieb stehen und starrte hinauf.
     Nach  und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser,  kaum
merklicher Schimmer von Licht.
     Mìndete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter?
     Ich richtete mich  auf und tastete mit beiden H¤nden  in  Kopfeshæhe um
mich herum: die –ffnung war genau viereckig und ausgemauert.
     Allm¤hlich  konnte  ich darin  als  AbschluŸ die schattenhaften Umrisse
eines  wagerechten Kreuzes unterscheiden,  und endlich  gelang es mir, seine
St¤be zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzw¤ngen.
     Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.
     Offenbar  endeten hier die  œberbleibsel einer  eisernen  Wendeltreppe,
wenn mich das Gefìhl meiner Finger nicht t¤uschte?
     Lang, unsagbar lang muŸte  ich tappen, bis ich die zweite Stufe  finden
konnte, dann klomm ich empor.
     Es waren im  ganzen acht Stufen.  Eine jede fast in  Mannshæhe ìber der
andern.
     Sonderbar: die Treppe stieŸ oben gegen eine Art horizontalen  Get¤fels,
das   aus   regelm¤Ÿigen,   sich   schneidenden   Linien   den   Lichtschein
herabschimmern lieŸ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!
     Ich duckte  mich, so tief ich konnte, um aus  etwas weiterer Entfernung
besser unterscheiden zu  kænnen, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem
Erstaunen,  daŸ  sie genau  die  Form  eines Sechsecks,  wie man  es auf den
Synagogen findet, bildeten.
     Was mochte das nur sein?
     Plætzlich kam  ich  dahinter: es war  eine  Falltìr, die  an den Kanten
Licht durchlieŸ! Eine Falltìr aus Holz in Gestalt eines Sternes.
     Ich  stemmte  mich  mit  den Schultern gegen  die  Platte, drìckte  sie
aufw¤rts  und  stand im  n¤chsten Moment  in einem Gemach, das  von  grellem
Mondschein erfìllt war.
     Es war  ziemlich  klein, vollst¤ndig leer bis auf einen Haufen Gerumpel
in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.
     Eine Tìre oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den  ich  soeben
benìtzt,  vermochte ich nicht zu entdecken,  so  genau  ich  auch die Mauern
immer wieder von neuem absuchte.
     Die Gitterst¤be des Fensters standen zu eng, als daŸ ich den Kopf h¤tte
durchstecken kænnen, so viel aber sah ich:
     Das  Zimmer befand sich ungef¤hr in  der Hæhe eines dritten Stockwerks,
denn  die  H¤user gegenìber  hatten nur  zwei  Etagen und  lagen  wesentlich
tiefer.
     Das eine Ufer der  StraŸe unten war fìr  mich noch knapp sichtbar, aber
infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe
Schlagschatten  getaucht,  die  es mir  unmæglich  machten, Einzelheiten  zu
unterscheiden.
     Zum  Judenviertel muŸte  die Gasse unbedingt gehæren, denn  die Fenster
drìben waren s¤mtlich vermauert oder aus Simsen im  Bau angedeutet, und  nur
im Getto kehren die H¤user einander so seltsam den Rìcken.
     Vergebens qu¤lte  ich  mich  ab  herauszubringen was das wohl  fìr  ein
sonderbares Bauwerk sein mochte, in dem ich mich befand.
     Sollte  es vielleicht ein aufgelassenes Seitentìrmchen der griechischen
Kirche sein? Oder gehærte es irgendwie zur Altneusynagoge?
     Die Umgebung stimmte nicht.
     Wieder  sah  ich  mich im Zimmer  um:  nichts,  was  mir  auch nur  den
kleinsten AufschluŸ  gegeben  h¤tte. - Die W¤nde  und die  Decke waren kahl,
Bewurf und Kalk  l¤ngst abgefallen und weder  Nagellæcher,  noch  N¤gel, die
verraten h¤tten, daŸ der Raum einst bewohnt gewesen.
     Der Boden lag fuŸhoch bedeckt mit Staub, als h¤tte ihn seit Jahrzehnten
kein lebendes Wesen betreten.
     Das  Gerìmpel in der Ecke zu  durchsuchen, ekelte ich mich. Es  lag  in
tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es bestand.
     Dem ¤uŸeren Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem Kn¤uel geballt.
     Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer?
     Ich tastete mit dem FuŸ  hin, und es gelang mir,  mit  dem Absatz einen
Teil davon in die N¤he des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer ìbers
Zimmer  warf.  Es schien wie ein breites, dunkles Band,  das sich da langsam
aufrollte.
     Ein blitzender Punkt wie ein Auge!
     Ein Metallknopf vielleicht?
     Allm¤hlich wurde  mir klar:  ein „rmel  von  sonderbarem,  altmodischem
Schnitt hing da aus dem Bìndel heraus.
     Und  eine  kleine  weiŸe  Schachtel,  oder  dergleichen  lag  darunter,
lockerte  sich  unter  meinem  FuŸ  und  zerfiel  in  eine  Menge  fleckiger
Schichten.
     Ich gab ihr einen leichten StoŸ: Ein Blatt flog ins Helle.
     Ein Bild?
     Ich bìckte mich: ein Pagad!
     Was mir eine weiŸe Schachtel geschienen, war ein Tarockspiel.
     Ich hob es auf.
     Konnte es etwas  L¤cherlicheres geben: Ein Kartenspiel hier  an  diesem
gespenstischen Ort!
     Merkwìrdig, daŸ ich mich zum  L¤cheln zwingen muŸte. Ein leises  Gefìhl
von Grauen beschlich mich.
     Ich  suchte  nach  einer  banalen  Erkl¤rung,  wie  die   Karten   wohl
hierhergekommen sein kænnten,  und z¤hlte dabei mechanisch das Spiel. Es war
vollst¤ndig:  78 Stìck. Aber  schon w¤hrend des  Z¤hlens fiel mir etwas auf:
Die Bl¤tter waren wie aus Eis.
     Eine  l¤hmende  K¤lte  ging von  ihnen  aus,  und  wie  ich  das  Paket
geschlossen  in der  Hand hielt, konnte  ich  es  kaum  mehr  loslassen:  so
erstarrt  waren  meine  Finger.  Wieder  haschte  ich nach einer  nìchternen
Erkl¤rung:
     Mein  dìnner  Anzug, die  lange Wanderung ohne  Mantel  und  Hut in den
unterirdischen   G¤ngen,  die  grimmige  Winternacht,  die  Steinw¤nde,  der
entsetzliche Frost,  der  mit  dem Mondlicht  durchs  Fenster hereinfloŸ:  -
sonderbar genug, daŸ ich  erst jetzt anfing zu frieren. Die Erregung, in der
ich mich die ganze Zeit befunden, muŸte  mich darìber hinwegget¤uscht haben.
-
     Ein Schauer nach dem andern jagte mir ìber die Haut. Schicht um Schicht
drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen Kærper ein.
     Ich fìhlte  mein Skelett zu  Eis werden und  wurde mir  jedes einzelnen
Knochens bewuŸt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch festfror.
     Kein  Umherlaufen  half, kein  Stampfen  mit den  FìŸen und  nicht  das
Schlagen mit den Armen. Ich biŸ die Z¤hne zusammen, um ihr Klappern nicht zu
hæren.
     Das  ist der  Tod,  sagte  ich mir,  der  dir  die kalten H¤nde auf den
Scheitel legt.
     Und ich wehrte mich wie ein  Rasender gegen den  bet¤ubenden Schlaf des
Erfrierens, der, wollig  und erstickend, mich wie mit einem Mantel einhìllen
kam.
     Die Briefe, in meiner  Kammer - ihre Briefe! brìllte es in mir auf: man
wird sie finden,  wenn ich  hier sterbe.  Und sie hofft  auf  mich! Hat ihre
Rettung in meine H¤nde gelegt! - Hilfe! - Hilfe! Hilfe! -
     Und ich schrie durch das Fenstergitter hinunter auf die  æde Gasse, daŸ
es widerhallte: Hilfe, Hilfe, Hilfe!
     Warf  mich zu Boden  und sprang wieder  auf. Ich durfte nicht  sterben,
durfte  nicht! ihretwegen,  nur ihretwegen! Und wenn ich  Funken aus  meinen
Knochen schlagen sollte, um mich zu erw¤rmen.
     Da fiel mein Blick  auf die Lumpen in der Ecke, und  ich stìrzte darauf
zu und zog sie mit schlotternden H¤nden ìber meine Kleider.
     Es  war  ein  zerschlissener  Anzug   aus  dickem,  dunklem  Tuch   von
uraltmodischem, seltsamem Schnitt.
     Ein Geruch nach Moder ging von ihm aus.
     Dann kauerte  ich mich  in dem  gegenìberliegenden Mauerwinkel zusammen
und spìrte meine  Haut langsam, langsam w¤rmer  werden. Nur das schauerliche
Gefìhl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen. Regungslos
saŸ ich  da und lieŸ meine Augen wandern: die Karte, die ich zuerst gesehen,
- der Pagad, - lag noch immer inmitten des Zimmers in dem Lichtstreifen.
     Unverwandt muŸte ich sie anstarren.
     Sie schien, soweit ich  auf  die  Entfernung hin  erkennen  konnte,  in
Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt, und  stellte den hebr¤ischen
Buchstaben  Aleph  dar,  in Form eines  Mannes,  altfr¤nkisch gekleidet, den
grauen  Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm  erhoben, w¤hrend  der
andere abw¤rts deutete.
     Hatte  das Gesicht  des  Mannes  nicht  eine  seltsame „hnlichkeit  mit
meinem, d¤mmerte mir ein Verdacht auf? - Der Bart - er paŸte so gar nicht zu
einem Pagad, - - ich kroch auf die Karte zu und warf sie  in die Ecke zu dem
Rest des Gerìmpels, um den qu¤lenden Anblick los zu sein.
     Dort lag sie  jetzt und schimmerte - ein grauweiŸer, unbestimmter Fleck
- zu mir herìber aus dem Dunkel.
     Mit Gewalt zwang ich mich zu ìberlegen, was  ich  zu beginnen h¤tte, um
wieder in meine Wohnung zu kommen:
     Den Morgen abwarten! Unten die Vorìbergehenden vom Fenster aus anrufen,
damit  sie  mir  von  auŸen  mit  einer  Leiter  Kerzen  oder  eine  Laterne
heraufbr¤chten!  -  Ohne  Licht  die endlosen, sich  ewig  kreuzenden  G¤nge
zurìckzufinden,  wìrde  mir  nie  gelingen,  empfand  ich   als  beklemmende
GewiŸheit. -  Oder, falls das Fenster zu hoch l¤ge, daŸ sich jemand vom Dach
mit einem Strick - -? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl durchfuhr es mich:
jetzt  wuŸte ich,  wo  ich  war:  Ein  Zimmer ohne Zugang  -  nur  mit einem
vergitterten  Fenster  - das  altertìmliche  Haus  in der Altschulgasse, das
jeder mied! - schon einmal vor vielen Jahren hatte sich ein Mensch an  einem
Strick vom Dach herabgelassen, um durchs Fenster  zu schauen, und der Strick
war gerissen und -  Ja: ich war in dem Haus, in  dem der gespenstische Golem
jedesmal verschwand!
     Ein  tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich wehrte, das ich nicht
einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederk¤mpfen konnte,  l¤hmte
jedes Weiterdenken und mein Herz fing an, sich zu krampfen.
     Hastig sagte ich mir vor mit steifen  Lippen,  es sei nur der Wind, der
da  so  eisig  aus der Ecke  herìberwehte, sagte es mir vor,  schneller  und
schneller,  mit  pfeifendem  Atem -  es  half nicht  mehr:  dort drìben  der
weiŸliche  Fleck  - die Karte  - sie quoll auf zu blasigem Klumpen,  tastete
sich  hin  zum  Rande  des  Mondstreifens  und  kroch  wieder  zurìck in die
Finsternis.  -  Tropfende  Laute - halb gedacht, geahnt, halb  wirklich - im
Raum und doch auŸerhalb um mich herum und  doch anderswo, - tief im  eigenen
Herzen und  wieder mitten  im  Zimmer -  erwachten: Ger¤usche, wie wenn  ein
Zirkel f¤llt und mit der Spitze im Holz stecken bleibt!
     Immer wieder: Der weiŸliche Fleck -  - - der weiŸliche Fleck - -!  Eine
Karte,  eine erb¤rmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es,  schrie  ich mir
ins Hirn hinein  - - - umsonst  - - jetzt  hat  er  sich  dennoch  - dennoch
Gestalt erzwungen - der Pagad  - und hockt in der Ecke und stiert herìber zu
mir mit meinem eigenen Gesicht.
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     Stunden und Stunden  kauerte ich da -  unbeweglich - in  meinem Winkel,
ein frosterstarrtes Gerippe in fremden, modrigen Kleidern! -  Und er drìben:
ich selbst.
     Stumm und regungslos.
     So starrten wir uns in die Augen, - einer das gr¤Ÿliche Spiegelbild des
andern. - - -
     Ob  er es auch  sieht,  wie sich  die  Mondstrahlen mit schneckenhafter
Tr¤gheit ìber den Boden hinsaugen und wie Zeiger eines unsichtbaren Uhrwerks
in der Unendlichkeit die Wand emporkriechen und fahler und fahler werden? -
     Ich bannte ihn  fest  mit meinem  Blick und es half ihm  nichts, daŸ er
sich auflæsen wollte  in dem  Morgend¤mmerschein, der ihm vom Fenster her zu
Hilfe kam.
     Ich hielt ihn fest.
     Schritt vor Schritt habe ich mit ihm gerungen  um mein Leben -  um  das
Leben, das mein ist, weil es nicht mehr mir gehært. - -
     Und wie er kleiner und kleiner wurde und sich bei Tagesgrauen wieder in
sein Kartenblatt verkroch, da stand ich auf, ging hinìber zu ihm und steckte
ihn in die Tasche - den Pagad.
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     Immer noch war die Gasse unten æd und menschenleer.
     Ich  durchstæberte die Zimmerecke, die jetzt  im stumpfen  Morgenlichte
lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne,  morsche Fetzen,  ein Flaschenhals.
Tote Dinge und doch so merkwìrdig bekannt.
     Und auch die Mauern - wie die Risse und Sprìnge dann deutlich wurden! -
wo hatte ich sie nur gesehen?
     Ich nahm das Kartenp¤ckchen zur  Hand - es d¤mmerte mir auf: hatte  ich
die nicht einst selbst bemalt? Als Kind? Vor langer, langer Zeit?
     Es  war ein uraltes Tarockspiel.  Mit hebr¤ischen Zeichen. - Nummer  12
muŸ der "Gehenkte" sein, ìberkam's mich wie halbe Erinnerung. - Mit dem Kopf
abw¤rts? Die Arme auf dem Rìcken? - Ich bl¤tterte nach: Da! Da war er.
     Dann wieder, halb Traum, halb GewiŸheit,  tauchte ein Bild vor mir auf:
Ein geschw¤rztes Schulhaus, bucklig, schief,  ein  mìrrisches  Hexengeb¤ude,
die linke Schulter hochgezogen, die andere mit einem Nebenhaus verwachsen. -
-  -  Wir sind  mehrere  halbwìchsige Jungen  -  ein verlassener Keller  ist
irgendwo - - -
     Dann  sah ich  an meinem  Kærper  herab  und  wurde  wieder  irre:  Der
altmodische Anzug war mir vællig fremd.
     Der  L¤rm  eines holpernden Karrens schreckte  mich auf,  doch  als ich
hinabblickte: Keine  Menschenseele. Nur ein Fleischerhund stand versonnen an
einem Eckstein.
     Da! Endlich! Stimmen! menschliche Stimmen!
     Zwei  alte Weiber  kamen  langsam  die  StraŸe dahergetrottet,  und ich
zw¤ngte den Kopf halb durch das Gitter und rief sie an.
     Mit offenem Mund glotzten sie in  die Hæhe und berieten  sich. Aber als
sie mich sahen, stieŸen sie ein gellendes Geschrei aus und liefen davon.
     Sie haben mich fìr den Golem gehalten, begriff ich.
     Und ich erwartete, daŸ ein Zusammenlauf  von  Menschen entstehen wìrde,
denen  ich mich verst¤ndlich machen  kænnte, aber wohl  eine Stunde verging,
und nur  hie  und da sp¤hte unten  vorsichtig ein blasses  Gesicht herauf zu
mir, um sofort in Todesschreck wieder zurìckzufahren.
     Sollte  ich  warten, bis vielleicht nach  Stunden oder gar  erst morgen
Polizisten kamen - die Staatsfalotten, wie Zwakh sie zu nennen pflegte?
     Nein, lieber wollte ich  einen Versuch machen, die unterirdischen G¤nge
ein Stìck weit auf ihre Richtung hin zu untersuchen.
     Vielleicht fiel  jetzt bei  Tag durch Ritzen  im Gestein eine Spur  von
Licht hinab?
     Ich kletterte die Leiter  hinunter,  setzte  den Weg, den  ich  gestern
gekommen war, fort - ìber  ganze Halden zerbrochener  Ziegelsteine und durch
versunkene Keller  - erklomm eine  Treppenruine und stand plætzlich -  -  im
Hausflur des schwarzen Schulhauses, das ich vorhin wie im Traum gesehen.
     Sofort stìrzte  eine  Flutwelle  von Erinnerungen  auf mich ein: B¤nke,
bespritzt mit Tinte von oben  bis unten, Rechenhefte, pl¤rrender Gesang, ein
Junge, der Maik¤fer  in  der  Klasse losl¤Ÿt, Lesebìcher  mit  zerquetschten
Butterbroten darin und der  Geruch  nach Orangenschalen. Jetzt wuŸte ich mit
GewiŸheit: Ich war einst  als  Knabe hier gewesen. - Aber ich lieŸ mir keine
Zeit nachzudenken und eilte heim.
     Der  erste Mensch,  der  mir in der  Salnitergasse  begegnete, war  ein
verwachsener alter  Jude  mit weiŸen  Schl¤fenlocken.  Kaum  hatte  er  mich
erblickt, bedeckte er sein Gesicht mit den H¤nden und heulte laut hebr¤ische
Gebete herunter.
     Auf  den L¤rm  hin muŸten wahrscheinlich  viele Leute  aus ihren Hæhlen
gestìrzt  sein,  denn es brach ein unbeschreibliches Gezeter hinter mir los.
Ich   drehte   mich   um   und   sah   ein   wimmelndes  Heer  totenblasser,
entsetzenverzerrter Gesichter sich mir nachw¤lzen.
     Erstaunt  blickte  ich  an mir  herunter und verstand: -  ich trug noch
immer  die  seltsam  mittelalterlichen Kleider  von nachts  her ìber  meinem
Anzug, und die Leute glaubten, den "Golem" vor sich zu haben.
     Rasch lief ich um die Ecke hinter ein Haustor und riŸ mir  die modrigen
Fetzen vom Leibe.
     Gleich darauf  raste die Menge mit geschwungenen Stæcken und geifernden
M¤ulern schreiend an mir vorìber.

     Einigemal im Lauf des  Tages hatte ich  an  Hillels Tìre geklopft; - es
lieŸ mir keine  Ruhe:  ich muŸte  ihn sprechen  und  fragen, was alle  diese
seltsamen Erlebnisse bedeuteten; aber immer hieŸ es,  er sei  noch nicht  zu
Hause.
     Sowie  er  heimk¤me  vom  jìdischen  Rathaus, wollte mich seine Tochter
sofort verst¤ndigen. -
     Ein sonderbares M¤dchen ìbrigens, diese Mirjam!
     Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.
     Eine Schænheit, so fremdartig,  daŸ man sie im ersten Moment  gar nicht
fassen kann, - eine  Schænheit, die einen stumm macht, wenn man sie ansieht,
und  ein unerkl¤rliches  Gefìhl,  so etwas, wie leise Mutlosigkeit  in einem
erweckt.
     Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden  verlorengegangen sein
mìssen, ist dieses Gesicht geformt, grìbelte ich mir zurecht, wie ich  es so
im Geiste wieder vor mir sah.
     Und ich dachte  nach, welchen Edelstein  ich  w¤hlen  mìŸte,  um es als
Gemme festzuhalten und dabei den kìnstlerischen Ausdruck richtig  zu wahren:
Schon  an dem rein  „uŸerlichen; dem blauschwarzen Glanz des Haares und  der
Augen,  der alles ìbertraf, worauf ich auch riet, scheiterte  es. - Wie erst
die unirdische Schmalheit des Gesichtes sinn- und visionsgem¤Ÿ in eine Kamee
bannen,  ohne sich in die stumpfsinnige „hnlichkeitsmacherei der kanonischen
"Kunst"richtung festzurennen!
     Nur durch ein  Mosaik lieŸ es  sich  læsen, erkannte ich klar, aber was
fìr Material w¤hlen? Ein  Menschenleben gehærte  dazu, das passende zusammen
zu finden. - -
     Wo nur Hillel blieb!
     Ich sehnte mich nach ihm wie nach einem lieben, alten Freunde.
     Merkwìrdig, wie er mir  in den wenigen Tagen  - und ich hatte ihn doch,
genaugenommen, nur  ein  einziges  Mal  im  Leben  gesprochen,  -  ins  Herz
gewachsen war.
     Ja,  richtig:  die  Briefe  - ihre  Briefe  - wollte  ich  doch  besser
verstecken.  Zu  meiner Beruhigung, falls ich wieder  einmal  l¤nger von  zu
Hause fort sein sollte.
     Ich nahm  sie  aus  der Truhe: - in  der  Kassette wìrden  sie sicherer
aufbewahrt sein.
     Eine Photographie  glitt zwischen den Briefen heraus. Ich wollte  nicht
hinschauen, aber es war zu sp¤t.
     Den Brokatstoff um die bloŸen  Schultern gelegt - so wie ich  ›sie‹ das
erste  Mal gesehen, als sie in mein Zimmer flìchtete aus Saviolis Atelier  -
blickte sie mir in die Augen.
     Ein wahnsinniger  Schmerz bohrte sich in mich ein.  Ich las die Widmung
unter dem Bilde, ohne die Worte zu erfassen, und den Namen:
     Deine Angelina.
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     Angelina!!!
     Wie ich den Namen aussprach, zerriŸ der Vorhang, der meine  Jugendjahre
vor mir verbarg, von oben bis unten.
     Vor  Jammer  glaubte  ich  zusammenbrechen zu mìssen.  Ich krallte  die
Finger in die Luft und winselte, - biŸ  mich  in die Hand: -  -  nur  wieder
blind sein, Gott  im Himmel, - den Scheintot weiterleben, wie bisher, flehte
ich.
     Das Weh stieg mir in den Mund. - Quoll. -  Schmeckte seltsam sìŸ, - wie
Blut. - -
     Angelina!!
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     Der  Name kreiste  in  meinen  Adern  und  wurde  -  zu  unertr¤glicher
gespenstischer Liebkosung.
     Mit  einem gewaltsamen Ruck riŸ ich mich zusammen und zwang  mich - mit
knirschenden Z¤hnen  -  das  Bild anzustarren, bis  ich langsam Herr darìber
wurde!
     Herr darìber!
     Wie heute nacht ìber das Kartenblatt.
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     Endlich: Schritte! M¤nnertritte.
     Er kam!
     Voll Jubel eilte ich zur Tìr und riŸ sie auf.
     Schemajah Hillel stand StrauŸen und hinter ihm  - ich machte mir  leise
Vorwìrfe, daŸ  ich  es  als  Entt¤uschung empfand  - mit roten B¤ckchen  und
runden Kinderaugen: der alte Zwakh.
     "Wie ich  zu meiner Freude sehe, sind  Sie  wohlauf,  Meister Pernath",
fing Hillel an.
     Ein kaltes "Sie"?
     Frost. Schneidender, ertætender Frost lag plætzlich im Zimmer.
     Bet¤ubt,  mit halbem  Ohr,  hærte  ich  hin,  was  Zwakh,  atemlos  vor
Aufregung, auf mich losplapperte:
     "Wissen Sie schon,  der Golem geht wieder um? Neulich erst sprachen wir
davon, wissen  Sie noch, Pernath? Die ganze Judenstadt ist  auf. Vrieslander
hat ihn selbst gesehen,  den Golem. Und wieder hat es, wie immer, mit  einem
Mord begonnen" - Ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?
     Zwakh  schìttelte mich: "Ja, wissen Sie denn von  gar  nichts, Pernath?
Unten  h¤ngt doch  groŸm¤chtig ein  Polizeiaufruf  an  den Ecken: den dicken
Zottmann,    den    ›Freimaurer‹    -    na,     ich    meine    doch    den
Lebensversicherungsdirektor Zottmann, - soll man ermordet haben. Der Loisa -
hier  im  Haus  -  ist  bereits  verhaftet. Und  die  rote  Rosina:  spurlos
verschwunden. - Der Golem - der Golem - es ist ja haarstr¤ubend."
     Ich gab  keine Antwort und suchte in Hillels  Augen:  warum  blickte er
mich so unverwandt an?
     Ein verhaltenes L¤cheln zuckte plætzlich um seine Mundwinkel.
     Ich verstand. Es galt mir.
     Am liebsten w¤re ich ihm um den Hals gefallen vor jauchzender Freude.
     AuŸer mir in meinem Entzìcken, lief  ich planlos  im Zimmer  umher. Was
zuerst bringen? Gl¤ser? Eine Flasche Burgunder?  (Ich hatte  doch nur eine.)
Zigarren? - Endlich fand ich Worte: "Aber warum setzt ihr euch denn nicht?!"
- Rasch schob ich meinen beiden Freunden Sessel unter. - - -
     Zwakh fing an,  sich zu ¤rgern: "Warum  l¤cheln Sie denn  immerw¤hrend,
Hillel? Glauben Sie vielleicht nicht, daŸ der Golem spukt? Mir scheint.  Sie
glauben ìberhaupt nicht an den Golem?"
     "Ich wìrde nicht an ihn glauben, selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor
mir  s¤he",  antwortete  Hillel  gelassen  mit einem Blick auf  mich. -  Ich
verstand den Doppelsinn, der aus seinen Worten klang.
     Zwakh  hielt erstaunt im Trinken inne: "Das Zeugnis von  Hunderten  von
Menschen gilt  Ihnen nichts, Hillel? -  Aber  warten Sie nur, Hillel, denken
Sie an meine Worte: Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt geben! Ich
kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft hinter sich her."
     "Die   H¤ufung  gleichartiger   Ereignisse   ist  nichts  Wunderbares",
erwiderte Hillel. Er sprach im Gehen, trat ans Fenster und blickte durch die
Scheiben hinab auf den  Trædlerladen - "Wenn der  Tauwind weht, rìhrt sich's
in den Wurzeln. In den sìŸen wie, in den giftigen."
     Zwakh zwinkerte mir lustig zu und deutete mit dem Kopf nach Hillel.
     "Wenn der Rabbi nur reden  wollte, der kænnte uns  Dinge  erz¤hlen, daŸ
einem die Haare zu Berge stìnden", warf er halblaut hin.
     Schemajah drehte sich um.
     "Ich bin nicht ›Rabbi‹, wenn ich auch  den  Titel  tragen darf. Ich bin
nur ein armseliger Archivar im jìdischen Rathaus und fìhre die Register ìber
die Lebendigen und die Toten."
     Eine verborgene  Bedeutung lag in  seiner  Rede, fìhlte  ich. Auch  der
Marionettenspieler schien es unterbewuŸt zu empfinden, - er wurde still, und
eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort.
     "Hæren Sie  mal,  Rabbi  -,  verzeihen Sie: ›Herr  Hillel‹,  wollte ich
sagen", - fing  Zwakh nach  einer Weile  wieder  an,  und seine Stimme klang
auffallend ernst, "ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Sie brauchen mir
ja nicht drauf zu antworten, wenn Sie nicht mægen, oder nicht dìrfen - - -"
     Schemajah trat an den  Tisch  und spielte mit  dem Weinglas -  er trank
nicht; vielleicht verbot es ihm das jìdische Ritual.
     "Fragen Sie ruhig, Herr Zwakh."
     "-  - Wissen Sie  etwas  ìber  die  jìdische Geheimlehre, die  Kabbala,
Hillel?"
     "Nur wenig."
     "Ich  habe gehært, es soll ein Dokument geben, aus dem man die  Kabbala
lernen kann: den ›Sohar‹ - -"
     "Ja, den Sohar - das Buch des Glanzes."
     "Sehen  Sie, da  hat man's", schimpfte  Zwakh los.  "Ist es  nicht eine
himmelschreiende  Ungerechtigkeit,  daŸ  eine  Schrift,  die  angeblich  die
Schlìssel zum Verst¤ndnis der Bibel und zur Glìckseligkeit enth¤lt -"
     Hillel unterbrach ihn: "- nur einige Schlìssel."
     "Gut,  immerhin  einige! - also, daŸ diese  Schrift infolge ihres hohen
Wertes und ihrer Seltenheit wieder nur den  Reichen zug¤nglich ist? In einem
einzigen Exemplar, das noch dazu im Londoner Museum steckt, wie ich mir habe
erz¤hlen  lassen? Und ìberdies  chald¤isch, aram¤isch,  hebr¤isch - oder was
weiŸ ich wie - geschrieben? - Habe ich zum  Beispiel je im Leben Gelegenheit
gehabt, diese Sprachen zu lernen oder nach London zu kommen?"
     "Haben Sie denn alle Ihre Wìnsche so  heiŸ auf dieses  Ziel gerichtet?"
fragte Hillel mit leisem Spott.
     "Offen gestanden - nein", gab Zwakh einigermaŸen verwirrt zu.
     "Dann sollten Sie  sich nicht  beklagen",  sagte  Hillel  trocken, "wer
nicht nach  dem  Geist  schreit mit  allen Atomen seines Leibes, -  wie  ein
Erstickender nach Luft, - der kann die Geheimnisse Gottes nicht schauen."
     "Es  sollte trotzdem ein Buch geben, in  dem s¤mtliche Schlìssel zu den
R¤tseln  der anderen Welt stehen, nicht nur einige", schoŸ es mir  durch den
Kopf,  und meine Hand spielte automatisch mit dem Pagad, den ich immer  noch
in der Tasche trug,  aber ehe  ich die Frage in Worte  kleiden konnte, hatte
Zwakh sie bereits ausgesprochen.
     Hillel  l¤chelte wieder  sphinxhaft: "Jede  Frage, die  ein  Mensch tun
kann, ist im selben  Augenblick beantwortet, in dem er sie geistig  gestellt
hat."
     "Verstehen Sie, was er damit meint?", wandte sich Zwakh an mich.
     Ich gab keine Antwort  und hielt den  Atem an, um kein Wort von Hillels
Rede zu verlieren.
     Schemajah fuhr fort:
     "Das ganze Leben ist  nichts anderes als formgewordene Fragen,  die den
Keim  der Antwort  in  sich  tragen - und Antworten, die schwanger gehen mit
Fragen. Wer irgend etwas anderes drin sieht, ist ein Narr."
     Zwakh schlug mit der Faust auf den Tisch:
     "Jawohl:  Fragen, die jedesmal anders lauten, und  Antworten, die jeder
anders versteht."
     "Gerade darauf  kommt  es an", sagte Hillel freundlich. "Alle  Menschen
ìber einen  Læffel  zu -  kurieren,  ist lediglich  Vorrecht der  „rzte. Der
Fragende erh¤lt die  Antwort, die ihm not tut: sonst ginge nicht die Kreatur
den Weg  ihrer Sehnsucht.  Glauben Sie denn, unsere jìdischen Schriften sind
bloŸ aus Willkìr nur in Konsonanten geschrieben? - Jeder hat sich selbst die
geheimen Vokale dazu zu finden, die  ihm den nur fìr  ihn  allein bestimmten
Sinn  erschlieŸen,  -  soll   nicht  das  lebendige  Wort  zum  toten  Dogma
erstarren."
     Der Marionettenspieler wehrte heftig ab:
     "Das sind Worte, Rabbi, Worte! Pagad Ultimo will ich heiŸen,  wenn  ich
daraus klug werde."
     Pagad!!  - Das  Wort  schlug  in mich ein  wie der Blitz. Ich  fiel vor
Entsetzen beinahe vom Stuhl.
     Hillel wich meinen Augen aus.
     "Pagad ultimo? Wer weiŸ, ob Sie nicht wirklich so  heiŸen, Herr Zwakh!"
- schlug  Hillels Rede wie aus weiter  Ferne an  mein Ohr. "Man  soll seiner
Sache  niemals  allzu sicher sein. -  œbrigens,  da wir  gerade  von  Karten
sprechen: Herr Zwakh, spielen Sie Tarock?"
     "Tarock? Natìrlich. Von Kindheit an."
     "Dann wundert's mich, wieso Sie nach  einem Buche fragen kænnen, in dem
die ganze Kabbala steht,  wo Sie es doch  selbst  Tausende Male in der  Hand
gehabt haben."
     "Ich? In der Hand gehabt? Ich?" - Zwakh griff sich an den Kopf.
     "Jawohl, Sie! Ist es  Ihnen niemals aufgefallen, daŸ das Tarockspiel 22
Trìmpfe hat,  - genausoviel, wie das hebr¤ische  Alphabet Buchstaben? Zeigen
unsere  bæhmischen  Karten  nicht  zum  œberfluŸ   noch   Bilder  dazu,  die
offenkundig Symbole sind: Der Narr, der Tod, der Teufel, das Letzte Gericht?
- Wie laut, lieber Freund,  wollen Sie eigentlich,  daŸ  Ihnen das Leben die
Antworten in die Ohren schreien soll? - - Was Sie allerdings nicht zu wissen
brauchen, ist,  daŸ ›Tarok‹  oder  ›Tarot‹ soviel bedeutet  wie die jìdische
›Tora‹ = das Gesetz, oder das alt¤gyptische ›Tarut‹ = ›die Befragte‹, und in
der  uralten Zendsprache das Wort: ›tarisk‹ = ›ich verlange die Antwort‹.  -
Aber die Gelehrten sollten es wissen,  bevor sie  die Behauptung aufstellen,
das Tarock stamme aus der Zeit Karls des Sechsten.  - Und  so, wie der Pagad
die  erste Karte im Spiel ist, so ist der Mensch  die erste Figur  in seinem
eignen Bilderbuch,  sein eigner Doppelg¤nger: - -  der  hebr¤ische Buchstabe
Aleph, der, nach der Form des Menschen gebaut, mit der einen Hand zum Himmel
zeigt  und mit der  andern abw¤rts: das heiŸt also: ›So wie es oben ist, ist
es auch unten; so wie es unten ist, ist es auch  oben.‹  -  Darum  sagte ich
vorhin: Wer weiŸ, ob  Sie wirklich Zwakh heiŸen und nicht: ›Pagad‹ - berufen
Sie's nicht," - Hillel blickte mich dabei unverwandt an,  und ich ahnte, wie
sich unter seinen Worten ein Abgrund immer neuer Bedeutung auftat - "berufen
Sie's  nicht, Herr Zwakh! Man kann  da in finstere G¤nge  geraten, aus denen
noch  keiner  zurìckfand,  der  nicht - einen  Talisman  bei sich  trug. Die
œberlieferung erz¤hlt, daŸ einmal drei M¤nner hinabgestiegen seien ins Reich
der Dunkelheit, der eine wurde wahnsinnig, der zweite blind, nur der dritte,
Rabbi  ben  Akiba,  kam  heil  wieder heim  und  sagte, er  sei sich  selbst
begegnet.  Schon so mancher, werden Sie  sagen, ist sich selbst begegnet, z.
B. Goethe, gewæhnlich  auf einer  Brìcke,  oder  sonst einem Steig, der  von
einem  Ufer eines  Flusses  zum  andern fìhrt, - hat sich  selbst  ins  Auge
geblickt und ist nicht  wahnsinnig geworden. Aber  dann war's  eben nur eine
Spiegelung des eigenen  BewuŸtseins und nicht der wahre Doppelg¤nger:  nicht
das, was man  ›den Hauch der Knochen‹, den ›Habal Garmin‹  nennt, von dem es
heiŸt:  Wie  er  in  die  Grube fuhr, unverweslich,  im Gebein,  so wird  er
auferstehn am Tage  des Letzten Gerichts." - Hillels Blick bohrte sich immer
tiefer in  meine Augen -  "Unsere GroŸmìtter sagen von  ihm: ›er wohnt  hoch
ìber der Erde in einem Zimmer ohne Tìre, nur mit  einem Fenster, von dem aus
eine Verst¤ndigung mit den Menschen unmæglich ist. Wer ihn  zu bannen und zu
- - verfeinern  versteht, der  wird gut Freund mit sich selbst." -  - -  Was
schlieŸlich das Tarock betrifft,  so wissen Sie so gut  wie ich:  Fìr  jeden
Spieler liegen die  Karten anders,  wer aber die Trìmpfe  richtig verwendet,
der gewinnt die Partie - - -. Aber kommen Sie jetzt, Herr Zwakh! Gehen  wir,
Sie trinken sonst Meister Pernaths ganzen  Wein  aus, und es  bleibt  nichts
mehr ìbrig fìr ihn selbst."

     Eine  Flockenschlacht tobte  vor meinem Fenster. Regimenterweise jagten
die  Schneesterne  -  winzige  Soldaten in  weiŸen,  zottigen  M¤ntelchen  -
hintereinander  her  an  den  Scheiben vorìber  -  minutenlang  -  immer  in
derselben  Richtung, wie  auf  gemeinsamer Flucht vor  einem  ganz besonders
bæsartigen Gegner. Dann hatten sie das Davonlaufen mit  einemmal dick  satt,
schienen  aus r¤tselhaften Grìnden einen Wutanfall  zu  bekommen und sausten
wieder  zurìck, bis ihnen  von oben und unten neue feindliche Armeen  in die
Flanken fielen und alles in ein heilloses Gewirbel auflæsten.
     Monate schien mir zurìckzuliegen, was  ich an Seltsamem erst vor kurzem
erlebt hatte, und w¤ren nicht t¤glich  einigemal immer  neue krause Gerìchte
ìber den Golem zu mir  gedrungen, die alles wieder frisch  aufleben  lieŸen,
ich glaube, ich h¤tte mich in Augenblicken des Zweifels verd¤chtigen kænnen,
das Opfer eines seelischen D¤mmerzustandes gewesen zu sein.
     Aus den  bunten Arabesken, die die Ereignisse um mich gewoben, stach in
schreienden  Farben hervor, was mir Zwakh ìber den noch immer unaufgekl¤rten
Mord an dem sogenannten "Freimaurer" erz¤hlt hatte.
     Den blatternarbigen Loisa damit in Zusammenhang zu bringen, wollte  mir
nicht recht einleuchten, obwohl ich einen dunklen Verdacht nicht abschìtteln
konnte,  -  fast  unmittelbar  darauf,  als Prokop  in  jener Nacht aus  dem
Kanalgitter ein unheimliches Ger¤usch  gehært zu haben geglaubt, hatten  wir
den Burschen beim "Loisitschek"  gesehen. Allerdings lag kein AnlaŸ vor, den
Schrei unter der Erde, der ìberdies geradesogut eine Sinnest¤uschung gewesen
sein konnte, als Hilferuf eines Menschen zu deuten. - - -
     Das Schneegestæber  vor meinen  Augen  blendete mich  und  ich fing an,
alles in tanzenden Streifen zu sehen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder
auf  die  Gemme vor  mir.  Das  Wachsmodell,  das  ich von  Mirjams  Gesicht
entworfen  hatte,  muŸte  sich vortrefflich  auf  den  bl¤ulich  leuchtenden
Mondstein da ìbertragen  lassen. - Ich  freute mich: es war  ein  angenehmer
Zufall, daŸ sich etwas so Geeignetes unter  meinem Mineralienvorrat gefunden
hatte.  Die tiefschwarze  Matrix  von  Hornblende gab dem  Stein  gerade das
richtige  Licht  und die Konturen paŸten  so  genau,  als habe ihn die Natur
eigens  geschaffen, ein  bleibendes  Abbild  von Mirjams  feinem  Profil  zu
werden.
     Anfangs  war meine Absicht gewesen, eine Kamee daraus zu schneiden, die
den  ¤gyptischen  Gott  Osiris  darstellen   sollte,  und  die   Vision  des
Hermaphroditen aus dem Buche Ibbur, die  ich  mir jederzeit mit auffallender
Deutlichkeit  ins  Ged¤chtnis  zurìckrufen konnte,  regte  mich kìnstlerisch
stark  an,  aber allm¤hlich entdeckte  ich nach  den ersten  Schnitten  eine
solche  „hnlichkeit mit der Tochter Schemajah Hillels, daŸ ich  meinen  Plan
umstieŸ. - - -
     - Das Buch Ibbur! -
     Erschìttert legte ich den Stahlgriffel weg. UnfaŸbar, was in der kurzen
Spanne Zeit in mein Leben getreten war!
     Wie jemand, der sich plætzlich  in eine unabsehbare Sandwìste  versetzt
sieht,  wurde ich mir mit einem Schlage der  tiefen, riesengroŸen Einsamkeit
bewuŸt, die mich von meinen Nebenmenschen trennte.
     Konnte ich je mit einem Freund - Hillel ausgenommen - davon reden,  was
ich erlebt?
     Wohl  war  mir in  den  stillen  Stunden  der verflossenen  N¤chte  die
Erinnerung  wiedergekehrt,  daŸ mich  all meine  Jugendjahre  -  von  frìher
Kindheit  angefangen  -  ein unsagbarer  Durst  nach  dem  Wunderbaren,  dem
jenseits aller Sterblichkeit  Liegenden, bis zur  Todespein gefoltert hatte,
aber die Erfìllung meiner Sehnsucht war wie ein Gewittersturm  gekommen  und
erdrìckte den Jubelaufschrei meiner Seele mit ihrer Wucht.
     Ich zitterte vor dem Augenblick,  wo  ich zu mir selbst kommen  und das
Geschehene in  seiner vollen  markverbrennenden  Lebendigkeit  als Gegenwart
empfinden muŸte.
     Nur  jetzt  sollte  es  noch  nicht kommen!  Erst den  GenuŸ auskosten:
Unaussprechliches an Glanz auf sich zukommen zu sehen!
     Ich  hatte es  doch in meiner Macht!  Brauchte  nur hinìber zu gehen in
mein  Schlafzimmer und die Kassette aufzusperren, in der das Buch Ibbur, das
Geschenk der Unsichtbaren, lag!
     Wie lang war's her, da  hatte es  meine Hand berìhrt, als ich Angelinas
Briefe dazuschloŸ!
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     Dumpfes  Dræhnen drauŸen, wie von Zeit zu Zeit der Wind die angeh¤uften
Schneemassen von den D¤chern hinab vor die H¤user  warf, gefolgt von  Pausen
tiefer Stille, da die Flockendecke auf dem Pflaster jeden Laut verschlang.
     Ich wollte weiterarbeiten, - da plætzlich stahlscharfe Hufschl¤ge unten
die Gasse entlang, daŸ man's færmlich Funken sprìhen sah.
     Das Fenster zu æffnen und  hinauszuschauen, war unmæglich:  Muskeln aus
Eis verbanden seine R¤nder mit dem Mauerwerk, und die Scheiben waren bis zur
H¤lfte weiŸ  verweht. Ich sah  nur,  daŸ Charousek scheinbar  ganz friedlich
neben  dem  Trædler  Wassertrum  stand  -  sie  muŸten soeben  ein  Gespr¤ch
mitsammen gefìhrt haben - sah, wie die Verblìffung, die sich in ihrer beider
Mienen malte, wuchs und sie sprachlos offenbar den Wagen, der meinen Blicken
entzogen war, anstarrten.
     Angelinas Gatte ist es, fuhr es mir durch den Kopf. - Sie selbst konnte
es  nicht  sein!  Mit ihrer  Equipage  hier  bei  mir vorzufahren  -  in der
HahnpaŸgasse! - vor aller Leute Augen! Es w¤re hellichter Wahnsinn  gewesen.
- Aber was sollte ich zu ihrem Gatten sagen, wenn er's w¤re und mich auf den
Kopf zu fragte?
     Leugnen, natìrlich leugnen.
     Hastig legte ich  mir die Mæglichkeiten zurecht: es kann nur ihr  Gatte
sein. Er hat einen anonymen Brief bekommen, - von Wassertrum - daŸ  sie hier
gewesen sei  zu  einem  Rendezvous,  und  sie  hat  eine  Ausrede gebraucht:
wahrscheinlich, daŸ sie eine Gemme oder sonst etwas bei mir bestellt habe. -
- - Da! wìtendes Klopfen an meiner Tìr und - Angelina stand vor mir.
     Sie konnte kein Wort hervorbringen,  aber der Ausdruck  ihres Gesichtes
verriet mir alles: sie brauchte sich nicht  mehr zu verstecken. Das Lied war
aus.
     Dennoch lehnte sich  irgend etwas in mir  auf gegen diese  Annahme. Ich
brachte es nicht fertig, zu glauben, daŸ das  Gefìhl, ihr helfen zu  kænnen,
mich belogen haben sollte.
     Ich fìhrte sie in meinen Lehnstuhl. Streichelte ihr stumm das Haar; und
sie verbarg, todmìde wie ein Kind, ihren Kopf an meiner Brust.
     Wir hærten  das Knistern der  brennenden Scheite im Ofen und sahen, wie
der rote Schein ìber die Dielen huschte, aufflammte und erlosch - aufflammte
und erlosch - aufflammte und erlosch - - -
     "Wo ist das Herz  aus rotem Stein - - -" klang es in meinem Innern. Ich
fuhr auf: Wo bin ich! Wie lang sitzt sie schon hier?
     Und ich  forschte sie aus, - vorsichtig,  leise, ganz  leise,  daŸ  sie
nicht aufwache und ich mit der Sonde die schmerzende Wunde nicht berìhre.
     Bruchstìckweise erfuhr  ich, was ich zu wissen brauchte, und setzte  es
mir zusammen wie ein Mosaik:
     "Ihr Gatte weiŸ - -?"
     "Nein, noch nicht; er ist verreist."
     Also um  Dr. Saviolis Leben drehte sich's; - Charousek hatte es richtig
erraten. Und weil's um Saviolis Leben ging, und nicht mehr um ihres, war sie
hier. Sie denkt nicht mehr daran, irgend etwas zu verbergen, begriff ich.
     Wassertrum war  abermals  bei  Dr.  Savioli  gewesen.  Hatte  sich  mit
Drohungen und Gewalt den Weg erzwungen bis zu seinem Krankenlager.
     Und weiter! Weiter! Was wollte er von ihm?
     Was er wollte? Sie hatte es halb erraten, halb erfahren: er wollte, daŸ
- - daŸ - er wollte, daŸ sich Dr. Savioli - - ein Leid antue.
     Sie kenne jetzt auch  die Grìnde von Wassertrums wildem besinnungslosem
HaŸ: "Dr. Savioli habe einst  seinen Sohn, den Augenarzt Wassory, in den Tod
getrieben."
     Sofort schlug  ein Gedanke in mich  ein wie der Blitz:  hinunterlaufen,
dem Trædler alles verraten: daŸ Charousek den Schlag gefìhrt hatte - aus dem
Hinterhalt  - und nicht Savioli,  der nur das  Werkzeug war - - -.  "Verrat!
Verrat!"  heulte es mir ins Hirn, "du willst also den armen schwindsìchtigen
Charousek, der dir  helfen wollte und  ihr,  der  Rachsucht dieses  Halunken
preisgeben?" - Und es  zerriŸ  mich in blutende H¤lften. -  Dann  sprach ein
Gedanke eiskalt  und gelassen die Losung aus: "Narr! Du  hast es doch in der
Hand!  Brauchst ja nur die Feile  dort auf dem Tisch  zu nehmen, hinunter zu
laufen und sie dem Trædler durch die  Gurgel zu jagen, daŸ die Spitze hinten
zum Genick herausschaut."
     Mein Herz jauchzte einen Dankesschrei zu Gott.
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     Ich forschte weiter:
     "Und Dr. Savioli?"
     Kein Zweifel,  daŸ er Hand  an sich  legen  wird, wenn  sie  ihn  nicht
rettete. Die Krankenschwestern lieŸen ihn nicht  aus  den Augen,  hatten ihn
mit  Morphium bet¤ubt,  aber  vielleicht erwacht er  plætzlich  - vielleicht
gerade  jetzt - und  - und - nein, nein, sie mìsse fort, dìrfe keine Sekunde
Zeit  mehr  vers¤umen,  -  sie  wolle  ihrem  Gatten  schreiben,  ihm  alles
eingestehen, - solle er ihr das Kind nehmen, aber Savioli sei gerettet, denn
sie h¤tte Wassertrum damit die einzige Waffe aus der Hand geschlagen, die er
bes¤Ÿe und mit der er drohe.
     Sie wolle das Geheimnis selbst enthìllen, ehe er es verraten kænne.
     "Das  werden  Sie nicht  tun, Angelina!" schrie ich  und dachte  an die
Feile und die Stimme versagte mir in jubelnder Freude ìber meine Macht.
     Angelina wollte sich losreiŸen: ich hielt sie fest.
     "Nur noch eins: œberlegen Sie, wird Ihr Gatte  denn dem Trædler so ohne
weiteres glauben?"
     "Aber Wassertrum hat doch  Beweise, offenbar  meine  Briefe, vielleicht
auch  ein  Bild  von mir,  -  alles, was  im Schreibtisch nebenan im Atelier
versteckt war."
     Briefe? Bild?  Schreibtisch? - ich wuŸte nicht  mehr, was  ich tat: ich
riŸ Angelina an meine Brust und kìŸte sie. Auf den Mund,  auf die Stirn, auf
die Augen.
     Ihr blondes Haar lag wie ein goldner Schleier vor meinem Gesicht.
     Dann  hielt  ich sie  an  ihren  schmalen H¤nden und  erz¤hlte  ihr mit
fliegenden  Worten,  daŸ der Todfeind  Wassertrums -  ein  armer  bæhmischer
Student -  die  Briefe und  alles in Sicherheit gebracht  h¤tte  und  sie in
meinem Besitz seien und fest verwahrt.
     Und sie fiel mir um den Hals und lachte und weinte in einem Atem. KìŸte
mich. Rannte zur Tìr. Kehrte wieder um und kìŸte mich wieder.
     Dann war sie verschwunden.
     Ich stand  wie bet¤ubt  und fìhlte noch immer den Atem ihres Mundes  an
meinem Gesicht.
     Ich  hærte wie  die Wagenr¤der ìber  das  Pflaster  donnerten  und  den
rasenden Galopp der Hufe. Eine Minute sp¤ter war alles still. Wie ein Grab.
     Auch in mir.
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     Plætzlich knarrte die  Tìr  leise  hinter mir, und  Charousek stand  im
Zimmer:
     "Verzeihen  Sie,  Herr  Pernath,  ich  habe  lange geklopft,  aber  Sie
schienen es nicht zu hæren."
     Ich nickte nur stumm.
     "Hoffentlich nehmen Sie nicht an, daŸ ich  mich mit Wassertrum versæhnt
habe, weil  Sie mich vorhin mit ihm sprechen sahen?" - Charouseks hohnisches
L¤cheln  sagte mir,  daŸ er nur einen grimmigen SpaŸ  machte. -  "Sie mìssen
n¤mlich wissen: Das Gluck ist mir hold; die Kanaille da unten f¤ngt an, mich
in  ihr Herz zu schlieŸen,  Meister Pernath. - - Es ist eine seltsame Sache,
das mit der Stimme des Blutes", setzte er leise - halb fìr sich - hinzu.
     Ich verstand nicht, was er damit meinen konnte, und nahm an, ich  h¤tte
etwas ìberhært. Die ausgestandene Erregung zitterte noch zu stark in mir.
     "Er wollte  mir einen Mantel  schenken", fuhr Charousek laut fort. "Ich
habe natìrlich dankend abgelehnt. Mich brennt schon meine eigene Haut genug.
- Und dann hat er mir Geld aufgedr¤ngt."
     "Sie haben es angenommen?!", wollte es mir herausfahren, aber ich hielt
noch rasch meine Zunge im Zaum.
     Die Wangen des Studenten bekamen kreisrunde rote Flecken:
     "Das Geld habe ich selbstverst¤ndlich angenommen."
     Mir wurde ganz wirr im Kopf!
     "- an - genommen?", stammelte ich.
     "Ich  h¤tte  nie  gedacht, daŸ  man  auf  Erden eine  so  reine  Freude
empfinden kann!" -  Charousek hielt  einen Augenblick inne und  schnitt eine
Fratze.  -  "Ist  es  nicht  ein erhebendes  Gefìhl,  im Haushalt der  Natur
›Mìtterchens  Vorsehung‹ ækonomischen Finger  allenthalben  in  Weisheit und
Umsicht walten zu sehen!?" - Er sprach  wie  ein Pastor und  klimperte dabei
mit  dem Geld in  seiner Tasche, - "wahrlich, als hehre Pflicht empfinde ich
es, den Schatz,  mir  anvertraut  von milder Hand,  auf  Heller und  Pfennig
dereinst dem edelsten aller Zwecke zuzufìhren."
     War er betrunken? Oder wahnsinnig?
     Charousek ¤nderte plætzlich den Ton:
     "Es liegt eine satanische Komik darin, daŸ Wassertrum sich die - Arznei
selber bezahlt. Finden Sie nicht?"
     Eine  Ahnung d¤mmerte mir auf, was sich hinter Charouseks Rede verbarg,
und mir graute vor seinen fiebernden Augen.
     "œbrigens lassen wir das jetzt, Meister Pernath. Erledigen wir erst die
laufenden Gesch¤fte. Vorhin, die Dame, das war ›sie‹ doch?  Was ist ihr denn
eingefallen, hier æffentlich vorzufahren?"
     Ich erz¤hlte Charousek, was geschehen war.
     "Wassertrum  hat bestimmt keine Beweise  in  den H¤nden", unterbrach er
mich  freudig,  "sonst  h¤tte er  nicht heute morgen  abermals  das  Atelier
durchsucht. - Merkwìrdig, daŸ Sie ihn nicht gehært haben!? Eine volle Stunde
lang war er drìben."
     Ich staunte, woher er alles so genau wissen kænne, und sagte es ihm.
     "Darf  ich?" -  als Erkl¤rung nahm er  sich  eine Zigarette vom  Tisch,
zìndete sie an und  erl¤uterte: "Sehen Sie, wenn Sie  jetzt die  Tìr æffnen,
bringt die  Zugluft, die  vom Stiegenhaus hereinweht, den Tabakrauch aus der
Richtung. Es ist das vielleicht das einzige Naturgesetz, das Herr Wassertrum
genau kennt, und fìr alle F¤lle hat  er  in der  StraŸenmauer des Ateliers -
das Haus gehært ihm, wie Sie wissen - eine kleine, versteckte, offene Nische
anbringen lassen:  eine Art Ventilation, und darin ein rotes F¤hnchen.  Wenn
nun jemand das Zimmer betritt oder verl¤Ÿt, das heiŸt: die Zugtìr æffnet, so
merkt es Wassertrum unten an dem heftigen Flattern des F¤hnchens. Allerdings
weiŸ ich es ebenfalls," setzte  Charousek trocken hinzu, "wenn's mir drum zu
tun  ist, und kann es  von dem Kellerloch  vis- -vis,  in dem  zu hausen ein
gn¤diges  Schicksal  mir  huldreichst  gestattet,  genau  beobachten.  - Der
niedliche  Scherz  mit der  Ventilation  ist zwar  ein  Patent  des wìrdigen
Patriarchen, aber auch mir seit Jahren gel¤ufig."
     "Was fìr einen ìbermenschlichen HaŸ Sie gegen ihn haben mìssen, daŸ Sie
so  jeden  seiner  Schritte  belauern.  Und  noch dazu seit langem, wie  Sie
sagen!" warf ich ein.
     "HaŸ?"  Charousek  l¤chelte krampfhaft.  "HaŸ? - HaŸ ist kein Ausdruck.
Das Wort, das meine Gefìhle gegen ihn bezeichnen kænnte, muŸ erst geschaffen
werden. - Ich hasse, genaugenommen, auch gar nicht ihn. Ich hasse sein Blut.
Verstehen Sie das?  Ich  wittere wie  ein wildes  Tier,  wenn  auch nur  ein
Tropfen von seinem Blut in den Adern  eines Menschen flieŸt, - und" - er biŸ
die Z¤hne  zusammen  - "das kommt  ›zuweilen‹  vor  hier im  Getto." Unf¤hig
weiter zu  sprechen vor Aufregung lief er ans Fenster  und starrte hinaus. -
Ich hærte wie er sein Keuchen unterdrìckte. Wir schwiegen beide eine Weile.
     "Hallo, was ist denn das?" fuhr er plætzlich auf und winkte mir hastig:
"Rasch, rasch! Haben Sie nicht einen Operngucker oder so etwas?"
     Wir sp¤hten vorsichtig hinter den Vorh¤ngen hinunter:
     Der taubstumme Jaromir stand vor dem Eingang des Trædlerladens und bot,
soviel  wir aus  seiner  Zeichensprache  erraten konnten,  Wassertrum  einen
kleinen blitzenden Gegenstand, den er in der Hand halb verbarg, zum Kauf an.
Wassertrum  fuhr  danach wie ein  Geier und  zog sich  damit in  seine Hæhle
zurìck.
     Gleich darauf stìrzte er wieder hervor - totenblaŸ - und packte Jaromir
an der Brust: Es entspann  sich ein heftiges Ringen. -  Mit einem  Mal  lieŸ
Wassertrum los und schien  zu ìberlegen. Nagte wìtend  an seiner gespaltenen
Oberlippe. Warf einen grìbelnden Blick zu uns herauf und zog dann Jaromir am
Arm friedlich in seinen Laden.
     Wir warteten  wohl eine Viertelstunde  lang: sie  schienen nicht fertig
werden zu kænnen mit ihrem Handel.
     Endlich  kam  der Taubstumme mit befriedigter Miene  wieder heraus  und
ging seines Weges.
     "Was  halten Sie davon?", fragte ich.  "Es scheint  nichts Wichtiges zu
sein?  Vermutlich hat  der arme  Bursche irgendeinen  erbettelten Gegenstand
versilbert."
     Der Student gab keine Antwort und setzte sich schweigend wieder  an den
Tisch.
     Offenbar legte auch er dem Geschehnis keine Bedeutung bei, denn er fuhr
nach einer Pause da fort, wo er stehen geblieben war:
     "Ja. Also  ich sagte,  ich  hasse  sein  Blut. - Unterbrechen Sie mich,
Meister Pernath, wenn  ich wieder heftig  werde. Ich will kalt bleiben.  Ich
darf  meine besten  Empfindungen  nicht  so vergeuden. Es packt  mich  sonst
nachher wie Ernìchterung. Ein Mensch  mit Schamgefìhl soll  in kìhlen Worten
reden, nicht mit Pathos wie eine Prostituierte oder  - oder  ein  Dichter. -
Seit  die  Welt  steht,  w¤r's niemand eingefallen, vor  Leid  die ›H¤nde zu
ringen‹, wenn nicht  die Schauspieler diese  Geste als besonders ›plastisch‹
ausgetìftelt h¤tten."
     Ich  begriff, daŸ er mit Absicht  blind  drauflos  redete, um innerlich
Ruhe zu bekommen.
     Es  wollte ihm nicht  recht  gelingen. Nervæs lief er im Zimmer auf und
ab, faŸte alle mæglichen  Gegenst¤nde an und stellte sie zerstreut zurìck an
ihren Platz.
     Dann war er mit einem Ruck wieder mitten in seinem Thema:
     "Aus den  kleinsten unwillkìrlichen  Bewegungen eines  Menschen  verr¤t
sich  mir dieses  Blut. Ich kenne  Kinder, die  ›ihm‹  ¤hnlich sehen und als
seine gelten, aber doch sind sie nicht vom  selben Stamme -  man  kann  mich
nicht  t¤uschen. Jahrelang erfuhr ich nicht, daŸ Dr.  Wassory sein Sohn ist,
aber ich habe es - ich mæchte sagen - gerochen.
     Schon als  kleiner  Junge, als ich noch nicht  ahnen konnte, in welchen
Beziehungen  Wassertrum zu  mir  steht,"  - sein  Blick ruhte  eine  Sekunde
forschend auf mir, - "besaŸ ich diese Gabe. Man hat mich mit FìŸen getreten,
mich geschlagen, daŸ es  wohl  keine Stelle an meinem Kærper gibt, die nicht
wìŸte, was rasender Schmerz ist, - hat mich  hungern und dursten lassen, bis
ich  halb wahnsinnig wurde und schimmlige Erde gefressen habe, aber  niemals
konnte ich  diejenigen hassen, die mich peinigten. Ich konnte einfach nicht.
Es war kein Platz mehr in mir fìr  HaŸ. - Verstehen Sie?  Und doch war  mein
ganzes Wesen getr¤nkt damit.
     Nie hat mir Wassertrum auch nur das geringste angetan - ich  will damit
sagen,  daŸ  er  mich  jemals weder  geschlagen  oder  beworfen,  noch  auch
irgendwie  beschimpft hat,  wenn ich mich  als Gassenjunge unten herumtrieb:
ich weiŸ das genau, - und doch richtete sich alles, was an Rachsucht und Wut
in mir kochte, gegen ihn. Nur gegen ihn!
     Merkwìrdig  ist,  daŸ ich  ihm trotzdem nie als Kind  einen Schabernack
gespielt  habe. Wenn's  die andern taten, zog  ich mich  sofort zurìck. Aber
stundenlang konnte ich im Torweg stehen und,  hinter  der Haustìr versteckt,
durch  die  Angelritzen  sein  Gesicht  unverwandt  anstieren,  bis mir  vor
unerkl¤rlichem HaŸgefìhl schwarz vor den Augen wurde.
     Damals, glaube  ich, habe ich den Grundstein zu  dem Hellsehen  gelegt,
das  sofort in  mir aufwacht,  wenn  ich  mit Wesen,  ja sogar mit Dingen in
Berìhrung komme, die  in Verbindung mit ihm stehen. Ich muŸ wohl jede seiner
Bewegungen: seine  Art, den Rock zu tragen und  wie er Sachen anfaŸt, hustet
und  trinkt,  und all das  Tausenderlei damals  unbewuŸt  auswendig  gelernt
haben, bis sich's mir  in die Seele  fraŸ, daŸ  ich ìberall die Spuren davon
auf den ersten Blick mit unfehlbarer Sicherheit als seine Erbstìcke erkennen
kann.
     Sp¤ter wurde das manchmal fast zur Manie: ich warf harmlose Gegenst¤nde
von mir,  bloŸ  weil mich der  Gedanke qu¤lte, seine Hand  kænne sie berìhrt
haben, -  andere  wieder waren mir ans  Herz  gewachsen; ich liebte sie  wie
Freunde, die ihm Bæses wìnschten."
     Charousek  schwieg einen Moment. Ich sah, wie  er  geistesabwesend  ins
Leere blickte. Seine Finger streichelten mechanisch die Feile auf dem Tisch.
     "Als dann ein paar mitleidige Lehrer fìr  mich gesammelt hatten und ich
Philosophie und Medizin studierte - auch nebenbei selbst denken lernte -, da
kam mir langsam die Erkenntnis, was HaŸ ist:
     Wir kænnen nur  etwas so tief hassen, wie ich es tue, was ein Teil  von
uns selbst ist.
     Und wie ich  sp¤ter  dahinter kam,  - nach und  nach  alles erfuhr: was
meine Mutter war - und - und noch sein muŸ, wenn - wenn sie noch lebt, - und
daŸ  mein eigener  Leib" - er wendete sich ab,  damit ich sein Gesicht nicht
sehen sollte,  - "voll  ist von seinem eklen Blut - nun ja, Pernath, - warum
sollen Sie's nicht wissen:  er ist mein Vater! - da wurde  mir  klar, wo die
Wurzel lag.  -  -  - Zuweilen  kommt's mir  sogar  wie  ein  geheimnisvoller
Zusammenhang  vor,  daŸ ich  schwindsìchtig  bin und  Blut spucken muŸ: mein
Kærper  wehrt sich gegen alles, was von ›ihm‹  ist, und stæŸt es mit Abscheu
von sich.
     Oft hat mich mein HaŸ bis in den Traum begleitet und zu træsten gesucht
mit Geschichten  von allen nur erdenklichen  Foltern, die ich ›ihm‹  zufìgen
durfte,  aber  immer  verscheuchte  ich  sie  selber,  weil  sie  den  faden
Beigeschmack des - Unbefriedigtseins in mir hinterlieŸen.
     Wenn ich ìber mich selbst nachdenke und mich wundern muŸ, daŸ es so gar
niemanden und nichts auf der Welt gibt, was ich zu hassen, - ja nicht einmal
als antipathisch zu empfinden imstande w¤re, auŸer ›ihn‹ und seinen Stamm, -
beschleicht  mich  oft  das  widerliche Gefìhl: ich kænnte das sein, was man
einen ›guten Menschen‹ nennt.  Aber zum Glìck ist es  nicht so. - Ich  sagte
Ihnen schon: es ist kein Platz mehr in mir.
     Und  glauben  Sie  nur ja  nicht,  daŸ  ein  trauriges  Schicksal  mich
verbittert hat: (Was er meiner Mutter angetan hat,  erfuhr ich ìberdies erst
in sp¤teren  Jahren)  - ich habe  einen Freudentag  erlebt, der weit  in den
Schatten  stellt, was sonst einem Sterblichen vergænnt ist. Ich  weiŸ nicht,
ob Sie kennen, was  innere, echte, heiŸe Fræmmigkeit ist, - ich hatte es bis
dahin auch nicht  gekannt - als  ich aber an jenem Tage, an dem Wassory sich
selbst ausgerottet hat, am Laden unten stand und sah, wie ›er‹ die Nachricht
bekam, -  sie ›stumpfsinnig‹, wie ein  Laie, der die echte  Bìhne des Lebens
nicht  kennt,  h¤tte  glauben  mìssen,  - hinnahm,  wohl  eine  Stunde  lang
teilnahmslos  stehen  blieb, seine  blutrote Hasenscharte nur ein ganz klein
biŸchen hæher ìber die Z¤hne gezogen als sonst und den Blick so gewiŸ - - so
-  so  -  so  eigenartig nach innen  gekehrt,  -  -  -  -  da fìhlte ich den
Weihrauchduft von den Schwingen des Erzengels. - - Kennen Sie das Gnadenbild
der schwarzen  Muttergottes in der Teinkirche? Dort warf ich mich nieder und
die Finsternis des Paradieses hìllte meine Seele ein." -
     - -  - Wie ich  Charousek so  dastehen sah,  die  groŸen, tr¤umerischen
Augen voll Tr¤nen, da fielen mir Hillels Worte ein von der Unbegreiflichkeit
des dunklen Pfades, den die Brìder des Todes gehen.
     Charousek fuhr fort:
     "Die  ¤uŸeren  Umstande,  die meinen  HaŸ ›rechtfertigen‹  oder  in den
Gehirnen  der  amtlich  besoldeten  Richter  begreiflich  erscheinen  lassen
kænnten,  werden Sie vielleicht  gar nicht interessieren:  - Tatsachen sehen
sich an wie  Meilensteine und sind doch nur leere Eierschalen. Sie  sind das
aufdringliche Knallen der Champagnerpfropfen an den  Tafeln der Protzen, das
nur der Schwachsinnige fìr das Wesentliche eines Gelages  h¤lt. - Wassertrum
hat  meine  Mutter mit  all den  infernalischen  Mitteln, die seinesgleichen
Gewohnheit sind, gezwungen, ihm zu Willen zu sein, - wenn es nicht noch viel
schlimmer  war.  Und  dann  -  -  nun  ja  - und dann  hat er sie  an  - ein
Freudenhaus verkauft, - -  - so etwas ist nicht schwer, wenn man Polizeir¤te
zu  Gesch¤ftsfreunden hat,  - aber  nicht  etwa, weil er  ihrer  ìberdrìssig
gewesen  w¤re, o nein!  Ich kenne die Schlupfwinkel seines  Herzens: an  dem
Tage hat  er  sie verkauft, wo er sich voll Schrecken bewuŸt wurde, wie heiŸ
er  sie  in  Wirklichkeit  liebte.  So einer  wie  er handelt  da  scheinbar
widersinnig, aber immer gleich. Das  Hamsterhafte in seinem  Wesen quietscht
auf, sowie jemand kommt und kauft ihm irgend etwas ab aus seiner Trædlerbude
gegen noch so teures Geld: er empfindet nur den Zwang des ›Hergebenmìssens‹.
Er mæchte den  Begriff ›haben‹  am liebsten in sich hineinfressen und kænnte
er  sich ìberhaupt ein Ideal ausdenken, so  w¤r's das, sich dereinst in  den
abstrakten Begriff ›Besitz‹ aufzulæsen. - -
     Und da  ist es damals riesengroŸ in ihm gewachsen bis zu einem Berg von
Angst:  "seiner selbst nicht mehr sicher" zu sein, -  nicht: etwas an  Liebe
geben zu wollen,  sondern geben zu  mìssen: die Gegenwart eines Unsichtbaren
in sich zu ahnen, das seinen Willen oder das, von dem er mæchte, daŸ es sein
Wille sein sollte, heimlich in Fesseln schlug. - So war der Anfang. Was dann
folgte, geschah automatisch. Wie der Hecht mechanisch zubeiŸen  muŸ, - ob er
will  oder  nicht   -  wenn  ein  blitzender   Gegenstand  zu  rechter  Zeit
vorìberschwimmt.
     Das Verschachern meiner Mutter ergab sich fìr Wassertrum als natìrliche
Folge. Es befriedigte  den  Rest der in ihm schlummernden Eigenschaften: die
Gier nach  Gold und die perverse  Wonne an der Selbstqual.  - - -  Verzeihen
Sie,  Meister  Pernath," -  Charouseks  Stimme  klang plætzlich so hart  und
nìchtern, daŸ  ich erschrak, - "verzeihen Sie, daŸ ich so furchtbar gescheit
daherrede, aber  wenn  man  an der Universit¤t  ist,  kommt einem eine Menge
vertrottelter Bìcher unter die  H¤nde;  unwillkìrlich  verf¤llt man dann  in
eine teppenhafte Ausdrucksweise." -
     Ich zwang mich ihm zu Gefallen zu einem L¤cheln; innerlich verstand ich
gar wohl, daŸ er mit dem Weinen k¤mpfte.
     Irgendwie muŸ ich ihm helfen, ìberlegte ich, wenigstens seine bitterste
Not  zu lindern  versuchen, soweit  das  in  meiner Macht  steht.  Ich  nahm
unauff¤llig  die Hundertguldennote,  die  ich noch zu Hause  hatte,  aus der
Kommodenschublade und steckte sie in die Tasche.
     "Wenn Sie sp¤ter einmal in eine bessere Umgebung kommen und Ihren Beruf
als  Arzt ausìben, wird  Frieden bei Ihnen einziehen, Herr Charousek"; sagte
ich, um dem Gespr¤ch eine versæhnliche Richtung zu geben, - "machen Sie bald
Ihr Doktorat?"
     "Demn¤chst.  Ich bin  es meinen Wohlt¤tern  schuldig.  Zweck  hat's  ja
keinen, denn meine Tage sind gez¤hlt."
     Ich  wollte den  ìblichen Einwand  machen, daŸ  er doch wohl zu schwarz
sehe, aber erwehrte l¤chelnd ab:
     "Es  ist  das  beste  so.  Es  muŸ  ìberdies  kein Vergnìgen sein,  den
Heilkomædianten  zu mimen  und  sich  zu  guterletzt  noch als  diplomierter
Brunnenvergifter  einen Adelstitel zuzuziehen. - - Andererseits",  setzte er
mit seinem galligen Humor hinzu, "wird mir leider jedes weitere segensreiche
Wirken hier im Diesseits-Getto ein fìr allemal abgeschnitten sein." Er griff
nach seinem Hut. "Jetzt  will ich aber nicht  langer stæren. Oder  w¤re noch
etwas zu besprechen  in  der Angelegenheit Savioli? Ich denke nicht.  Lassen
Sie mich  jedenfalls wissen, wenn  Sie etwas  Neues erfahren. Am besten, Sie
h¤ngen  einen  Spiegel hier ans Fenster, als  Zeichen,  daŸ ich Sie besuchen
soll. Zu  mir  in den  Keller dìrfen Sie auf  keinen Fall kommen: Wassertrum
wurde sofort Verdacht schæpfen, daŸ wir  zusammenhalten. - Ich  bin ìbrigens
sehr neugierig, was  er jetzt tun  wird, wo er gesehen hat, daŸ die Dame  zu
Ihnen gekommen ist. Sagen Sie ganz einfach, sie h¤tte Ihnen ein Schmuckstìck
zu reparieren gebracht, und  wenn er zudringlich  wird, spielen Sie eben den
Rabiaten."
     Es  wollte  sich  keine passende  Gelegenheit  ergeben,  Charousek  die
Banknote  aufzudr¤ngen;  ich   nahm  daher  das  Modellierwachs  wieder  vom
Fensterbrett und sagte: "Kommen Sie, ich  begleite Sie ein Stìck die Treppen
hinunter. - Hillel erwartet mich", log ich.
     Er stutzte:
     "Sie sind mit ihm befreundet?"
     "Ein wenig.  Kennen Sie ihn? - - Oder miŸtrauen Sie ihm", -  ich  muŸte
unwillkìrlich l¤cheln - "vielleicht auch?"
     "Da sei Gott vor!"
     "Warum sagen Sie das so ernst?"
     Charousek zægerte und dachte nach:
     "Ich weiŸ selbst nicht warum. Es  muŸ etwas UnbewuŸtes sein: so oft ich
ihm   auf  der  StraŸe  begegne,  mæchte  ich  am  liebsten   vom   Pflaster
heruntertreten und das  Knie beugen wie vor einem Priester, der  die  Hostie
tr¤gt.  -  Sehen Sie, Meister  Pernath, da  haben Sie einen Menschen, der in
jedem Atom das Gegenteil von Wassertrum  ist. Er gilt z. B. bei den Christen
hier im  Viertel, die,  wie immer, so auch in diesem Fall falsch  informiert
sind, als Geizhals und heimlicher Million¤r und ist doch unsagbar arm."
     Ich fuhr entsetzt auf: "arm?"
     "Ja, womæglich  noch armer als ich. Das Wort ›nehmen‹ kennt er,  glaub'
ich, ìberhaupt nur aus Bìchern; aber wenn  er  am Ersten  des Monats aus dem
›Rathaus‹ kommt, dann laufen die  jìdischen  Bettler vor ihm davon, weil sie
wissen,  er  wìrde dem  n¤chsten besten  von  ihnen seinen ganzen k¤rglichen
Gehalt in die Hand drìcken und  ein paar  Tage sp¤ter -  samt seiner Tochter
selber  verhungern. - Wenn's wahr  ist, was eine uralte talmudische  Legende
behauptet: daŸ von  den zwælf jìdischen St¤mmen zehn verflucht sind und zwei
hellig,  so verkærpert er die zwei heiligen und Wassertrum  alle zehn andern
zusammen. - Haben  Sie noch nie  bemerkt,  wie  Wassertrum  s¤mtliche Farben
spielt, wenn Hillel an ihm vorìber  geht? Interessant, sag' ich Ihnen! Sehen
Sie,  solches Blut kann sich gar nicht  vermischen; da kamen die  Kinder tot
zur  Welt. Vorausgesetzt, daŸ die  Mìtter nicht schon frìher  vor  Entsetzen
stìrben.  - Hillel  ist ìbrigens der  einzige, an den  sich Wassertrum nicht
herantraut; - er weicht ihm  aus wie dem Feuer. Vermutlich, weil Hillel  das
Unbegreifliche, das vollkommen Unentr¤tselbare, fìr ihn bedeutet. Vielleicht
wittert er in ihm auch den Kabballsten."
     Wir gingen bereits die Stiegen hinab.
     "Glauben  Sie, daŸ es heutzutage  noch Kabballsten gibt - daŸ ìberhaupt
an  der Kabbala  etwas  sein konnte?",  fragte  ich, gespannt, was  er  wohl
antworten wìrde, aber er schien nicht zugehært zu haben.
     Ich wiederholte meine Frage.
     Hastig lenkte er ab und deutete auf eine Tìr des Treppenhauses, die aus
Kistendeckeln zusammengenagelt war:
     "Sie haben da  neue Mitbewohner bekommen,  eine zwar jìdische aber arme
Familie:  den  meschuggenen  Musikanten  Nephtali  Schaffranek mit  Tochter,
Schwiegersohn und Enkelkindern. Wenn's dunkel wird und er allein ist mit den
kleinen M¤dchen, kommt der Rappel ìber ihn: dann bindet er sie an den Daumen
zusammen,  damit  sie  ihm nicht  davonlaufen,  zw¤ngt sie  in  einen  alten
Hìhnerk¤fig  und  unterweist  sie im  ›Gesang‹,  wie er  es nennt, damit sie
sp¤ter ihren Lebensunterhalt selbst erwerben kænnen, -  das heiŸt,  er lehrt
sie  die verrìcktesten Lieder, die es gibt, deutsche Texte, Bruchstìcke, die
er  irgendwo  aufgeschnappt  hat und im D¤mmer seines Seelenzustandes  fìr -
preuŸische Schlachthymnen oder dergleichen h¤lt."
     Wirklich tænte da  eine sonderbare Musik leise auf den Gang heraus. Ein
Fiedelbogen  kratzte fìrchterlich hoch und immerw¤hrend in ein und demselben
Ton die Umrisse eines Gassenhauers, und zwei fadendìnne Kinderstimmen sangen
dazu:
     "Frau Pick,
     Frau Hock,
     Frau Kle - pe - tarsch,
     se stehen beirenond
     und schmusen allerhond - -"
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     Es  war wie  Wahnwitz und Komik zugleich,  und ich  muŸte wider  Willen
hellaut auflachen.
     "Schwiegersohn Schaffranek  -  seine  Frau verkauft  auf  dem Eiermarkt
Gurkensaft  gl¤schenweise an die Schuljugend - l¤uft den ganzen  Tag  in den
Bìros  herum",  fuhr  Charousek  grimmig  fort,  "und  erbettelt  sich  alte
Briefmarken. Die sortiert er dann,  und wenn er  welche darunter findet, die
zuf¤llig  nur  am Rande  gestempelt  sind, so legt  er  sie  aufeinander und
schneidet  sie  durch. Die  ungestempelten  H¤lften  klebt  er  zusammen und
verkauft sie  als neu.  Anfangs blìhte das  Gesch¤ft und  warf manchmal fast
einen - Gulden  im  Tag  ab, aber schlieŸlich  kamen  die  Prager  jìdischen
GroŸindustriellen  dahinter - und machen es jetzt selber.  Sie  schæpfen den
Rahm ab."
     "Wìrden  Sie  Not  lindern,  Charousek,  wenn  Sie  ìberflìssiges  Geld
h¤tten?" fragte ich rasch. - Wir standen vor Hillels Tìr und ich klopfte an.
     "Halten  Sie mich fìr  so gemein,  daŸ Sie glauben kænnen,  ich t¤te es
nicht?", fragte er verblìfft zurìck.
     Mirjams Schritte  kamen n¤her,  und ich  wartete,  bis  sie die  Klinke
niederdrìckte, dann schob ich ihm rasch die Banknote in die Tasche:
     "Nein, Herr Charousek, ich halte Sie nicht dafìr, aber  mich mìŸten Sie
fìr gemein halten, wenn ich's unterlieŸe."
     Ehe er etwas  erwidern konnte, hatte  ich  ihm die Hand geschìttelt und
die Tìr  hinter  mir zugezogen. W¤hrend mich  Mirjam begrìŸte, lauschte ich,
was er tun wìrde.
     Er  blieb  eine  Weile stehen,  dann  schluchzte er leise auf und  ging
langsam mit  suchendem Schritt die Treppe hinunter. Wie jemand, der  sich am
Gel¤nder halten muŸ. - - -
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     Es war das erste Mal, daŸ ich Hillels Zimmer besuchte.
     Es sah schmucklos aus  wie ein Gef¤ngnis. Der Boden peinlich sauber und
mit weiŸem Sand bestreut. Nichts an Mæbeln als zwei Stìhle und ein Tisch und
eine Kommode. Ein Holzpostament je links und rechts an den W¤nden. - - -
     Mirjam saŸ  mir  gegenìber am  Fenster, und  ich  bossierte  an  meinem
Modellierwachs.
     "MuŸ  man denn  ein  Gesicht vor  sich  haben,  um  die  „hnlichkeit zu
treffen?", fragte sie schìchtern und nur, um die Stille zu unterbrechen.
     Wir  wichen einander scheu  mit den Blicken aus. Sie wuŸte nicht, wohin
die Augen  richten in ihrer Qual und  Scham ìber die jammervolle Stube,  und
mir brannten die Wangen von innerem Vorwurf, daŸ ich mich nicht l¤ngst darum
gekìmmert hatte, wie sie und ihr Vater lebten.
     Aber irgend etwas muŸte ich doch antworten!
     "Nicht so sehr,  um  die „hnlichkeit zu treffen, als um zu vergleichen,
ob man innerlich  auch richtig gesehen hat",  - ich fìhlte, noch w¤hrend ich
sprach, wie grundfalsch das alles war, was ich sagte.
     Jahrelang  hatte ich  den irrigen  Grundsatz  der Maler, man  mìsse die
¤uŸere  Natur  studieren, um  kìnstlerisch schaffen zu  kænnen, stumpfsinnig
nachgebetet und befolgt; erst, seit Hillel mich in jener Nacht erweckt,  war
mir  das   innere   Schauen  aufgegangen:  das   wahre  Sehenkænnen   hinter
geschlossenen Lidern, das sofort erlischt, wenn man die Augen  aufschl¤gt, -
die  Gabe, die sie alle zu haben glauben und die doch unter Millionen keiner
wirklich besitzt.
     Wie konnte  ich  auch nur  von der Mæglichkeit sprechen, die unfehlbare
Richtschnur  der geistigen  Vision an  den groben  Mitteln des  Augenscheins
nachmessen zu wollen!
     Mirjam schien „hnliches zu denken, nach dem Erstaunen in  ihren  Mienen
zu schlieŸen.
     "Sie dìrfen es nicht so wærtlich nehmen", entschuldigte ich mich.
     Voll Aufmerksamkeit  sah sie  zu,  wie  ich mit  dem  Griffel  die Form
vertiefte.
     "Es  muŸ unendlich  schwer sein,  alles  dann haargenau  auf  Stein  zu
ìbertragen?"
     "Das ist nur mechanische Arbeit. So ziemlich wenigstens."

     Pause.

     "Darf ich die Gemme sehen, wenn sie fertig ist?" fragte sie.
     "Sie ist doch fìr Sie bestimmt, Mirjam."
     "Nein, nein; das geht nicht, - - das - das  -  -", -  ich sah, wie ihre
H¤nde nervæs wurden.
     "Nicht  einmal  diese  Kleinigkeit  wollen  Sie  von   mir  annehmen?",
unterbrach ich sie schnell, "ich wollte, ich dìrfte mehr fìr Sie tun."
     Hastig wandte sie das Gesicht ab.
     Was hatte ich da gesagt! Ich  muŸte sie aufs tiefste verletzt haben. Es
hatte geklungen, als wollte ich auf ihre Armut anspielen.
     Konnte ich es noch beschænigen? Wurde es dann nicht weit schlimmer?
     Ich nahm einen Anlauf:
     "Hæren Sie mich ruhig  an, Mirjam! Ich  bitte  Sie darum. - Ich schulde
Ihrem Vater so unendlich viel, - Sie kænnen das gar nicht ermessen - -"
     Sie sah mich unsicher an; verstand offenbar nicht.
     "-ja ja: unendlich viel. Mehr als mein Leben."
     "Weil er Ihnen damals beistand, als Sie ohnm¤chtig waren? Das  war doch
selbstverst¤ndlich."
     Ich fìhlte:  sie  wuŸte  nicht,  welches  Band  mich  mit  ihrem  Vater
verknìpfte. Vorsichtig  sondierte  ich,  wie weit ich  gehen durfte, ohne zu
verraten, was er ihr verschwieg.
     "Weit hæher als ¤uŸere Hilfe, dachte ich, ist die  innere zu stellen. -
Ich meine die, die aus  dem  geistigen EinfluŸ eines Menschen auf den andern
ìberstrahlt. - Verstehen Sie, was ich damit sagen will,  Mirjam?  - Man kann
jemand auch seelisch heilen, nicht nur kærperlich, Mirjam."
     "Und das hat - -?"
     "Ja, das hat Ihr Vater an mir getan!"  - ich faŸte sie  an der  Hand, -
"begreifen Sie nicht, daŸ es mir da  ein Herzenswunsch sein muŸ, wenn  schon
nicht ihm, so doch jemand, der ihm so nahesteht,  wie Sie, irgendeine Freude
zu bereiten? - Haben Sie nur ein ganz klein wenig Vertrauen zu mir! - Gibt's
denn gar keinen Wunsch, den ich Ihnen erfìllen kænnte?"
     Sie  schìttelte  den  Kopf:  "Sie glauben, ich  fìhle  mich unglìcklich
hier?"
     "GewiŸ nicht. Aber vielleicht haben Sie  zuweilen Sorgen, die ich Ihnen
abnehmen  konnte? Sie  sind  verpflichtet - hæren Sie!  - verpflichtet, mich
daran teilnehmen zu lassen! Warum leben Sie denn beide hier in  der finstern
traurigen Gasse, wenn Sie nicht mìŸten? Sie sind noch so jung, Mirjam, und -
-"
     "Sie  leben  doch  selbst  hier,  Herr  Pernath", unterbrach  sie  mich
l¤chelnd, "was fesselt Sie an das Haus?"
     Ich stutzte. - Ja.  Ja,  das  war richtig.  Warum lebte ich  eigentlich
hier? Ich konnte  es  mir  nicht  erkl¤ren, was fesselt  dich an  das  Haus?
wiederholte ich mir geistesabwesend. Ich konnte keine  Erkl¤rung finden  und
vergaŸ  einen  Augenblick  ganz,  wo  ich  war.  -  Dann stand ich plætzlich
entrìckt irgendwo hoch oben - in einem  Garten - roch  den zauberhaften Duft
von blìhenden Holunderdolden, - sah herab auf die Stadt - - -
     "Habe  ich eine Wunde berìhrt? Hab' ich Ihnen  weh getan?", kam Mirjams
Stimme von weit, weit her zu mir.
     Sie hatte sich  ìber mich gebeugt und sah mir  ¤ngstlich forschend  ins
Gesicht.
     Ich muŸte wohl lange starr dagesessen haben, daŸ sie so besorgt war.
     Eine Weile schwankte es hin und her in mir, dann brach sich's plætzlich
gewaltsam Bahn, ìberflutete mich,  und ich schìttete Mirjam mein ganzes Herz
aus.
     Ich erz¤hlte ihr, wie  einem lieben, alten Freund,  mit  dem  man  sein
ganzes Leben beisammen war und vor dem man kein Geheimnis hat, wie's um mich
stand  und auf welche Weise ich aus einer  Erz¤hlung Zwakhs  erfahren hatte,
daŸ ich  in frìheren Jahren wahnsinnig gewesen und  der  Erinnerung an meine
Vergangenheit  beraubt worden  war, - wie in letzter Zeit Bilder in mir wach
geworden,  die  in jenen Tagen  wurzeln muŸten, immer h¤ufiger und h¤ufiger,
und daŸ  ich  vor dem Moment zitterte, wo mir alles offenbar werden und mich
von neuem zerreiŸen wìrde.
     Nur, was ich mit ihrem Vater  in  Zusammenhang bringen  muŸte: -  meine
Erlebnisse in den unterirdischen G¤ngen und all das  ìbrige, verschwieg  ich
ihr.
     Sie  war  dicht zu  mir  gerìckt  und hærte mit  einer tiefen atemlosen
Teilnahme zu, die mir uns¤glich wohl tat.
     Endlich hatte ich einen Menschen gefunden, mit dem ich mich aussprechen
konnte, wenn mir meine geistige Einsamkeit zu  schwer wurde.  - GewiŸ  wohl:
Hillel war  ja noch da, aber fìr mich nur wie ein Wesen jenseits der Wolken,
das kam und verschwand wie ein Licht, an das ich nicht herankonnte, wenn ich
mich sehnte.
     Ich sagte  es ihr und sie verstand  mich. Auch sie sah ihn so, trotzdem
er ihr Vater war.
     Er hing mit unendlicher Liebe an ihr und sie an ihm - "und doch bin ich
wie  durch eine Glaswand von  ihm getrennt," vertraute sie mir an, "die  ich
nicht durchbrechen kann. Solange ich  denke, war es  so. - Wenn ich ihn  als
Kind  im  Traum an meinem  Bette  stehen sah, immer  trug er  das Gewand des
Hohenpriesters: die goldene Tafel des Moses mit den 12 Steinen darin auf der
Brust, und blaue  leuchtende Strahlen gingen von seinen Schl¤fen  aus. - Ich
glaube, seine Liebe ist von der Art, die ìbers Grab hinausgeht, und zu groŸ,
als daŸ wir sie fassen kænnten. - Das hat auch  meine Mutter  immer  gesagt,
wenn  wir  heimlich  ìber ihn  sprachen."  -  - Sie schauderte plætzlich und
zitterte am ganzen Leib. Ich wollte aufspringen, aber sie hielt mich zurìck:
"Seien  Sie ruhig,  es ist  nichts. BloŸ  eine Erinnerung. Als  meine Mutter
starb -  nur  ich  weiŸ, wie er  sie geliebt hat,  ich war  damals  noch ein
kleines M¤dchen, - glaubte ich vor Schmerz ersticken zu mìssen, und ich lief
zu ihm hin und krallte mich in seinen Rock und wollte aufschreien und konnte
doch nicht, weil alles gel¤hmt war in mir - und - und da - - - - mir lauft's
wieder eiskalt ìber den Rìcken, wenn ich daran denke - sah er mich  l¤chelnd
an, kìŸte mich auf die Stirn und fuhr mir mit der Hand ìber die Augen. - - -
-  Und von dem  Moment  an bis  heute  war jedes  Leid, daŸ ich meine Mutter
verloren  hatte,  wie  ausgetilgt  in  mir.  Nicht  eine  Tr¤ne  konnte  ich
vergieŸen,  als sie begraben  wurde;  ich sah die Sonne als strahlende  Hand
Gottes  am Himmel stehen und wunderte mich, warum die Menschen weinten. Mein
Vater  ging hinter  dem Sarge  her,  neben mir,  und  wenn  ich  aufblickte,
l¤chelte er jedesmal leise und ich fìhlte, wie das Entsetzen durch die Menge
fuhr, als sie es sahen."
     "Und  sind Sie  glìcklich, Mirjam? Ganz glìcklich? Liegt nicht zugleich
etwas Furchtbares fìr Sie in dem Gedanken, ein Wesen zum Vater zu haben, das
hinausgewachsen ist ìber alles Menschentum?", fragte ich leise.
     Mirjam schìttelte freudig den Kopf:
     "Ich  lebe wie in  einem seligen Schlaf dahin.  - Als Sie  mich  vorhin
fragten, Herr Pernath, ob ich nicht Sorgen h¤tte und warum wir hier wohnten,
muŸte ich fast lachen. Ist denn die Natur schæn? Nun ja, die B¤ume sind grìn
und  der  Himmel  ist  blau,  aber  das  alles  kann  ich  mir  viel schæner
vorstellen, wenn ich die Augen schlieŸe. MuŸ ich  denn, um sie zu sehen, auf
einer Wiese sitzen? - Und das biŸchen  Not und - und - und Hunger?  Das wird
tausendfach aufgewogen durch die Hoffnung und das Warten."
     "Das Warten?", fragte ich erstaunt.
     "Das Warten  auf ein Wunder. Kennen Sie  das  nicht? Nein? Da  sind Sie
aber ein ganz,  ganz armer Mensch.  - DaŸ das so  wenige kennen?! Sehen Sie,
das  ist auch der Grund,  weshalb ich nie ausgehe und  mit niemand verkehre.
Ich hatte wohl frìher ein paar Freundinnen - Jìdinnen natìrlich, wie ich  -,
aber wir redeten immer aneinander vorbei;  sie verstanden mich nicht und ich
sie  nicht. Wenn ich von  Wundern  sprach, glaubten  sie  anfangs, ich mache
SpaŸ,  und  als sie merkten,  wie ernst  es mir war und  daŸ  ich auch unter
Wundern  nicht  das  verstand,  was  die  Deutschen  mit  ihren  Brillen  so
bezeichnen: das  gesetzm¤Ÿige Wachsen des  Grases  und dergleichen,  sondern
eher das Gegenteil, -  h¤tten sie mich  am liebsten  fìr  verrìckt gehalten,
aber dagegen stand ihnen wieder im Wege, daŸ  ich  ziemlich gelenkig bin  im
Denken,  hebr¤isch  und  aram¤isch gelernt habe, die Targumim und Midraschim
lesen kann, und  was dergleichen  Nebens¤chlichkeiten mehr sind. SchlieŸlich
fanden sie ein Wort,  das ìberhaupt nichts mehr  ausdrìckt: sie nannten mich
›ìberspannt‹.
     Wenn  ich ihnen  dann  klarmachen  wollte,  daŸ  das Bedeutsame  -  das
Wesentliche  - fìr mich  in  der  Bibel und anderen  heiligen Schriften  das
Wunder und bloŸ das Wunder sei und nicht Vorschriften  ìber Moral und Ethik,
die nur versteckte Wege sein kænnen, um  zum Wunder zu gelangen, - so wuŸten
sie  nur  mit  Gemeinpl¤tzen  zu  erwidern,  denn sie  scheuten sich,  offen
einzugestehen, daŸ  sie  aus  den Religionsschriften  nur das glaubten,  was
ebensogut  im bìrgerlichen  Gesetzbuch  stehen  kænnte. Wenn  sie  das  Wort
›Wunder‹ nur  hærten,  wurde ihnen schon unbehaglich. Sie verlæren den Boden
unter den FìŸen, sagten sie.
     Als ob  es etwas Herrlicheres  geben  kænnte,  als den Boden  unter den
FìŸen zu verlieren!
     Die Welt ist  dazu da,  um von uns kaputt gedacht zu werden, hærte  ich
einmal meinen Vater  sagen, - dann, dann erst f¤ngt das Leben an. - Ich weiŸ
nicht, was er mit dem ›Leben‹ meinte, aber ich fìhle zuweilen, daŸ ich eines
Tages so wie: ›erwachen‹ werde.  Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, in
welchen Zustand hinein. Und Wunder mìssen  dem vorhergehen,  denke  ich  mir
immer.
     ›Hast  du denn schon welche erlebt, daŸ du fortw¤hrend darauf wartest?‹
fragten  mich oft  meine  Freundinnen,  und wenn ich  verneinte, wurden  sie
plætzlich froh  und siegesgewiŸ. Sagen Sie, Herr Pernath,  kænnen Sie solche
Herzen  verstehen? DaŸ ich doch Wunder erlebt habe, wenn auch nur kleine,  -
winzig  kleine  -",  -  Mirjams  Augen gl¤nzten,  - "wollte  ich ihnen nicht
verraten, - - -"
     Ich hærte, wie Freudentr¤nen ihre Stimme fast erstickten.
     "- aber Sie werden mich verstehen: oft,  Wochen,  ja Monate", -  Mirjam
wurde  ganz leise - "haben wir nur von  Wundern gelebt. Wenn  gar  kein Brot
mehr im Hause war, aber  auch nicht ein Bissen  mehr, dann wuŸte  ich: jetzt
ist  die Stunde da! - Und dann saŸ ich hier und wartete und wartete, bis ich
vor  Herzklopfen kaum  mehr  atmen  konnte.  Und -  und  dann,  wenn's  mich
plætzlich  zog, lief ich hinunter und kreuz und quer  durch die StraŸen,  so
rasch ich konnte, um  rechtzeitig  wieder im Hause  zu sein, ehe mein  Vater
heimkam. Und - und jedesmal fand ich Geld. Einmal mehr, einmal weniger, aber
immer soviel, daŸ  ich  das Nætigste  einkaufen konnte. Oft  lag ein  Gulden
mitten auf der StraŸe; ich sah ihn  von weitem blitzen  und die Leute traten
darauf,  rutschten aus darìber, aber keiner  bemerkte ihn. - Das machte mich
zuweilen so  ìbermìtig, daŸ ich  gar nicht  erst ausging, sondern nebenan in
der Kìche  den Boden durchsuchte wie  ein  Kind, ob nicht Geld oder Brot vom
Himmel gefallen sei."
     - Ein  Gedanke  schoŸ  mir durch  den Kopf,  und ich muŸte  aus  Freude
darìber l¤cheln. -
     Sie sah es.
     "Lachen  Sie nicht,  Herr Pernath", flehte sie.  "Glauben  Sie mir, ich
weiŸ, daŸ diese Wunder wachsen werden und daŸ sie eines Tages -"
     Ich beruhigte sie: "Aber  ich lache doch nicht,  Mirjam! Was denken Sie
denn! Ich bin unendlich  glìcklich, daŸ Sie nicht  sind wie  die andern, die
hinter jeder Wirkung die gewohnte Ursache  suchen und  bocken, wenn's -  wir
rufen in solchen Fallen: Gott sei Dank! - einmal anders kommt."
     Sie streckte mir die Hand hin:
     "Und nicht wahr, Sie werden nie mehr sagen, Herr Pernath, daŸ Sie mir -
oder uns - helfen wollen? Jetzt, wo Sie wissen, daŸ Sie mir die Mæglichkeit,
ein Wunder zu erleben, rauben wìrden, wenn Sie es t¤ten?"
     Ich versprach es. Aber im Herzen machte ich einen Vorbehalt.
     Da ging die Tìr und Hillel trat ein.
     Mirjam  umarmte  ihn;  und  er  begrìŸte   mich.   Herzlich   und  voll
Freundschaft, aber wieder mit dem kìhlen "Sie".
     Auch schien  etwas  wie leise  Mìdigkeit oder  Unsicherheit auf ihm  zu
lasten. - Oder irrte ich mich?
     Vielleicht kam es nur von der D¤mmerung, die in der Stube lag.
     "Sie  sind gewiŸ hier, mich um Rat zu fragen", fing  er an, als  Mirjam
uns allein gelassen hatte, "in der Sache, die die fremde Dame betrifft - -?"
     Ich wollte ihn verwundert unterbrechen, aber er fiel mir in die Rede:
     "Ich weiŸ es von dem Studenten Charousek. Ich sprach ihn auf der  Gasse
an, weil  er mir merkwìrdig ver¤ndert vorkam. Er hat  mir alles  erz¤hlt. In
der œberfìlle seines  Herzens. Auch, daŸ - Sie ihm Geld geschenkt haben." Er
sah mich durchdringend an und betonte jedes seiner Worte auf hæchst seltsame
Weise, aber ich verstand nicht, was er damit wollte:
     "GewiŸ, es hat dadurch ein paar Tropfen Glìck mehr vom  Himmel geregnet
- und - und in diesem - Fall hat's vielleicht auch nicht geschadet, aber -,"
er dachte eine Weile nach, - "aber manchmal schafft man sich und anderen nur
Leid damit. Gar so leicht ist das Helfen nicht, wie Sie denken, mein  lieber
Freund! Da w¤re es  sehr, sehr einfach, die Welt zu erlæsen. -  Oder glauben
Sie nicht?"
     "Geben Sie  denn  nicht auch den Armen?  Oft alles,  was  Sie besitzen,
Hillel?", fragte ich.
     Er schìttelte l¤chelnd den Kopf: "Mir  scheint, Sie sind ìber Nacht ein
Talmudist geworden, daŸ Sie eine  Frage wieder mit einer Frage  beantworten.
Da ist freilich schwer streiten."
     Er  hielt  inne,  als ob  ich darauf  antworten  sollte,  aber wiederum
verstand ich nicht, worauf er eigentlich wartete.
     "œbrigens, um zu dem Thema zurìckzukommen", fuhr er in ver¤ndertem Tone
fort,  "ich glaube  nicht,  daŸ Ihrem Schìtzling  - ich  meine  die  Dame  -
augenblicklich  Gefahr droht. Lassen Sie die  Dinge an  sich herantreten. Es
heiŸt zwar: ›der kluge Mann baut vor‹, aber der Klìgere, scheint mir, wartet
ab und ist auf  alles  gefaŸt.  Vielleicht  ergibt sich die Gelegenheit, daŸ
Aaron Wassertrum mit mir zusammentrifft, aber das muŸ dann von ihm ausgehen,
- ich tue keinen Schritt, er muŸ herìberkommen. Ob zu Ihnen oder zu mir, ist
gleichgìltig - und dann will ich mit ihm reden. An ihm  wird's sein, sich zu
entscheiden,  ob  er meinen Rat befolgen will oder nicht.  Ich wasche  meine
H¤nde in Unschuld."
     Ich versuchte  ¤ngstlich  in  seinem  Gesicht  zu lesen.  So  kalt  und
eigentìmlich  drohend  hatte er  noch  nie  gesprochen.  Aber  hinter diesem
schwarzen, tiefliegenden Auge schlief ein Abgrund.
     "Es  ist wie  eine Glaswand  zwischen ihm und  uns", fielen mir Mirjams
Worte ein.
     Ich konnte ihm nur wortlos die Hand drìcken und - gehen.
     Er begleitete mich bis vor die Tìre und, als ich  die Treppe hinaufging
und mich noch einmal umdrehte, sah ich, daŸ er  stehen geblieben war und mir
freundlich nachwinkte, aber wie jemand, der noch gern etwas sagen mæchte und
nicht kann.

     Ich hatte die Absicht, mir Mantel und Stock  zu holen und in die kleine
Wirtsstube  "Zum  alten  Ungelt"  essen  zu  gehen, wo  allabendlich  Zwakh,
Vrieslander  und Prokop  bis sp¤t in die Nacht beisammen  saŸen und einander
verrìckte Geschichten erz¤hlten; aber  kaum betrat ich  mein Zimmer, da fiel
der Vorsatz von mir ab,  - wie wenn mir H¤nde ein Tuch oder sonst etwas, was
ich am Leibe getragen, abgerissen h¤tten.
     Es lag eine  Spannung in der Luft, ìber die ich  mir keine Rechenschaft
geben konnte, die aber trotzdem vorhanden  war wie etwas Greifbares und sich
im Verlauf  weniger Sekunden derart heftig  auf  mich ìbertrug,  daŸ ich vor
Unruhe anfangs kaum wuŸte, was ich zuerst tun sollte: Licht anzìnden, hinter
mir abschlieŸen, mich niedersetzen oder auf und ab gehen.
     Hatte  sich  jemand in meiner Abwesenheit eingeschlichen und versteckt?
War's die Angst eines  Menschen  vor  dem Gesehenwerden, die mich ansteckte?
War Wassertrum vielleicht hier?
     Ich griff hinter die Gardinen, æffnete den Schrank, tat einen Blick ins
Nebenzimmer: - niemand.
     Auch die Kassette stand unverrìckt an ihrem Platz.
     Ob es nicht am besten war, ich verbrannte die Briefe kurz entschlossen,
um ein fìr allemal die Sorge um sie los zu sein?
     Schon suchte ich nach dem Schlìssel in meiner Westentasche - aber muŸte
es denn jetzt geschehen? Es blieb mir doch Zeit genug bis morgen frìh.
     Erst Licht machen!
     Ich konnte die Streichhælzer nicht finden.
     War  die  Tìr abgesperrt? - Ich  ging ein  paar Schritte  zurìck. Blieb
wieder stehen.
     Warum mit einemmal die Angst?
     Ich  wollte  mir Vorwìrfe  machen,  daŸ  ich  feig  sei: - die Gedanken
blieben stecken. Mitten im Satz.
     Eine wahnwitzige  Idee  ìberfiel mich  plætzlich: rasch, rasch  auf den
Tisch  steigen,  einen  Sessel packen und zu mir  hinaufziehen und "dem" den
Sch¤del damit von oben herab einschlagen, das da auf dem Boden herumkroch, -
- wenn - wenn es in die N¤he kam.
     "Es ist doch niemand hier," sagte ich mir laut und ¤rgerlich vor, "hast
du dich denn je im Leben gefìrchtet?"
     Es half nichts. Die Luft, die ich einatmete, wurde dìnn und  schneidend
wie „ther.
     Wenn  ich  irgendetwas  gesehen  h¤tte:  das Gr¤Ÿlichste, was man  sich
vorstellen kann, - im Nu w¤re die Furcht von mir gewichen.
     Es kam nichts.
     Ich bohrte meine Augen in alle Winkel:
     Nichts.
     œberall lauter wohlbekannte Dinge: Mæbel, Truhen,  die Lampe, das Bild,
die Wanduhr - leblose, alte, treue Freunde.
     Ich hoffte, sie wìrden sich vor meinen  Blicken ver¤ndern und mir Grund
geben, eine Sinnest¤uschung als Ursache fìr das wìrgende Angstgefìhl  in mir
zu finden.
     Auch das nicht. - Sie blieben  ihrer  Form  starr getreu. Viel zu starr
fìr das herrschende Halbdunkel, als daŸ es natìrlich gewesen w¤re.
     "Sie  stehen unter  demselben Zwang  wie  du  selbst", fìhlte ich. "Sie
trauen sich nicht, auch nur die leiseste Bewegung zu machen."
     Warum tickt die Wanduhr nicht? -
     Das Lauern ringsum trank jeden Laut.
     Ich rìttelte  am Tisch und  wunderte mich,  daŸ ich  das Ger¤usch hæren
konnte.
     Wenn doch wenigstens der Wind ums Haus pfiffe! - Nicht einmal das! Oder
das Holz im Ofen aufknallen wollte: - das Feuer war erloschen.
     Und immerw¤hrend dasselbe entsetzliche  Lauern in der Luft - pausenlos,
lìckenlos, wie das Rinnen von Wasser.
     Dieses  vergebliche  Auf-dem-Sprung-stehen  aller  meiner  Sinne!   Ich
verzweifelte  daran, es  je ìberdauern zu kænnen. - Der Raum voll Augen, die
ich nicht sehen, - voll von planlos wandernden H¤nden, die ich nicht greifen
konnte.
     "Es ist das Entsetzen, das  sich aus sich  selbst gebiert, die l¤hmende
Schrecknis des unfaŸbaren Nicht-Etwas, das keine Form  hat und unserm Denken
die Grenzen zerfriŸt", begriff ich dumpf.
     Ich stellte mich steif hin und wartete.
     Wartete wohl eine  Viertelstunde: vielleicht  lieŸ  "es" sich verleiten
und schlich von rìckw¤rts an mich heran - und ich konnte es ertappen?!
     Mit einem Ruck fuhr ich herum: wieder nichts.
     Dasselbe  markverzehrende  "Nichts", das nicht war und  doch das Zimmer
mit seinem grausigen Leben erfìllte.
     Wenn ich hinausliefe? Was hinderte mich?
     "Es  wìrde  mit  mir  gehen",   wuŸte  ich  sofort   mit  unabweisbarer
Sicherheit.  Auch, daŸ es mir nichts nìtzen kænnte, wenn ich  Licht  machte,
sah ich ein, - dennoch  suchte ich so  lange nach dem Feuerzeug, bis ich  es
gefunden hatte.
     Aber der  Kerzendocht wollte nicht brennen und kam lang aus dem Glimmen
nicht  heraus: die kleine Flamme konnte nicht leben  und  nicht sterben, und
als sie sich endlich doch ein  schwindsìchtiges Dasein erk¤mpft hatte, blieb
sie glanzlos wie gelbes, schmutziges Blech. Nein, da war die Dunkelheit noch
besser.
     Ich læschte wieder  aus und warf mich angezogen ìbers  Bett. Z¤hlte die
Schl¤ge meines Herzens: eins, zwei, drei - vier ... bis  tausend, und  immer
von neuem - Stunden,  Tage, Wochen, wie mir schien, bis meine Lippen trocken
wurden und das Haar sich mir str¤ubte: keine Sekunde der Erleichterung.
     Auch nicht eine einzige.
     Ich  fing an, mir Worte vorzusagen,  wie sie mir  gerade  auf die Zunge
kamen: "Prinz", "Baum", "Kind", "Buch" -  und sie krampfhaft zu wiederholen,
bis sie plætzlich als  sinnlose, schreckhafte Laute aus barbarischer Vorzeit
nackt  mir gegenìberstanden, und ich  mit aller Kraft nachdenken  muŸte,  in
ihre Bedeutung zurìckzufinden: P-r-i-n-z? - B-u-ch?
     War  ich nicht schon wahnsinnig?  Oder  gestorben? - Ich tastete an mir
herum.
     Aufstehen!
     Mich in den Sessel setzen!
     Ich lieŸ mich in den Lehnstuhl fallen.
     Wenn doch endlich der Tod k¤me!
     Nur dieses blutlose, furchtbare Lauern nicht mehr fìhlen! "Ich - will -
nicht - ich will - nicht!", schrie ich. "Hært ihr denn nicht?!"
     Kraftlos fiel ich zurìck.
     Konnte es nicht fassen, daŸ ich immer noch lebte.
     Unf¤hig, irgend etwas zu denken oder zu  tun, stierte ich geradeaus vor
mich hin.
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     "Weshalb er mir nur  die Kærner  so  beharrlich hinreicht?", ebbte  ein
Gedanke auf mich zu, zog sich zurìck und  kam wieder.  Zog sich zurìck.  Kam
wieder.
     Langsam wurde mir endlich klar, daŸ ein seltsames Wesen vor mir stand -
vielleicht  schon, seit ich hier  saŸ, dagestanden hatte - und  mir die Hand
hinstreckte:
     Ein  graues,  breitschultriges  Geschæpf, in der GræŸe  eines gedrungen
gewachsenen  Menschen,  auf  einen  spiralfærmig  gedrehten Knotenstock  aus
weiŸem Holz gestìtzt.
     Wo  der Kopf h¤tte  sitzen mìssen, konnte ich nur einen Nebelballen aus
fahlem Dunst unterscheiden.
     Ein  trìber  Geruch nach  Sandelholz  und  nassem Schiefer ging von der
Erscheinung aus.
     Ein Gefìhl vollkommenster Wehrlosigkeit  raubte mir fast die Besinnung.
Was  ich  die ganze lange Zeit an nervenzernagender Qual mitgemacht, dr¤ngte
sich  jetzt  zu  Todesschrecken zusammen und war  in diesem  Wesen zur  Form
geronnen.
     Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, ich  wìrde wahnsinnig  werden vor
Entsetzen und  Furcht,  wenn ich  das Gesicht  des Phantoms sehen kænnte,  -
warnte mich davor, schrie es mir in die Ohren - und doch zog es mich wie ein
Magnet, daŸ ich den Blick von dem fahlen Nebelballen nicht wenden konnte und
darin forschte nach Augen, Nase und Mund.
     Aber  so sehr ich mich auch abmìhte: der Dunst blieb unbeweglich.  Wohl
glìckte es mir, Kæpfe aller Art auf den Rumpf zu setzen, doch jedesmal wuŸte
ich, daŸ sie nur meiner Einbildungskraft entstammten.
     Sie zerrannen  auch stets - fast in derselben Sekunde, in der  ich  sie
geschaffen hatte.
     Nur  die  Form eines  ¤gyptischen  Ibiskopfs  blieb  noch  am  l¤ngsten
bestehen.
     Die Umrisse  des Phantoms  schleierten  schemenhaft in  der Dunkelheit,
zogen sich kaum  merklich  zusammen und dehnten sich  wieder aus,  wie unter
langsamen  Atemzìgen,  die  die  ganze  Gestalt   durchliefen,  die  einzige
Bewegung, die zu bemerken  war. Statt der  FìŸe berìhrten Knochenstumpen den
Boden, von  denen  das  Fleisch -  grau  und blutleer - auf Spannenbreite zu
wulstigen R¤ndern emporgezogen war.
     Regungslos hielt das Geschæpf mir seine Hand hin.
     Kleine Kærner lagen dann. BohnengroŸ, von roter Farbe und mit schwarzen
Punkten am Rande.
     Was sollte ich damit?!
     Ich fìhlte  dumpf:  eine  ungeheure  Verantwortung lag auf  mir  - eine
Verantwortung,  die weit hinausging ìber  alles Irdische, -  wenn  ich jetzt
nicht das Richtige tat.
     Zwei  Waagschalen,   jede  belastet   mit  dem   Gewicht   des   halben
Weltgeb¤udes,  schweben  irgendwo im  Reich  der Ursachen, ahnte  ich -  auf
welche von beiden ich ein St¤ubchen warf: die sank zu Boden.
     Das war das furchtbare Lauern ringsum!,  verstand  ich. "Keinen  Finger
rìhren!", riet mir mein Verstand, - "und wenn der Tod in alle Ewigkeit nicht
kommen sollte und mich erlæsen aus dieser Qual." -
     Auch  dann h¤ttest  du  deine  Wahl getroffen:  du h¤ttest  die  Kærner
abgelehnt, raunte es in mir. Hier gibt's kein Zurìck.
     Hilfesuchend blickte ich  um  mich, ob mir denn kein Zeichen wurde, was
ich tun sollte. Nichts.
     Auch in mir kein Rat, kein Einfall - alles tot, gestorben.
     Das Leben von Myriaden Menschen wiegt leicht wie  eine  Feder in diesem
furchtbaren Augenblick, erkannte ich. - -
     Es  muŸte  bereits tiefe  Nacht sein, denn ich konnte die  W¤nde meines
Zimmers nicht mehr unterscheiden.
     Nebenan im Atelier stampften  Schritte; ich hærte, daŸ jemand  Schr¤nke
rìckte,  Schubladen aufriŸ und polternd  zu Boden  warf, glaubte Wassertrums
Stimme zu erkennen, wie er in seinem  ræchelnden BaŸ wilde  Fluche ausstieŸ;
ich horchte nicht hin. Es war mir belanglos wie das Rascheln einer  Maus.  -
Ich schloŸ die Augen:
     Menschliche Antlitze  zogen in  langen Reihen an mir vorìber. Die Lider
zugedrìckt  - starre Totenmasken: -  mein eigenes  Geschlecht, meine eigenen
Vorfahren.
     Immer dieselbe Sch¤delbildung, wie auch der  Typus zu  wechseln schien,
so  stand es auf  aus  seinen Grìften,  -  mit glattem  gescheiteltem  Haar,
gelocktem  und  kurz   geschnittenem,  mit  Allongeperìcken  und   in  Ringe
gezw¤ngten Schæpfen - durch  Jahrhunderte heran, bis  die Zìge mir bekannter
und bekannter  wurden  und in  ein letztes Gesicht  zusammenflossen:  -  das
Gesicht des Golem, mit dem die Kette meiner Ahnen abbrach.
     Dann læste die Finsternis mein Zimmer in einen unendlichen leeren  Raum
auf, in dessen Mitte ich mich auf meinem Lehnstuhl sitzen wuŸte, vor mir der
graue Schatten wieder mit dem ausgestreckten Arm.
     Und  als  ich  die Augen aufschlug, standen  in zwei sich  schneidenden
Kreisen, die einen Achter bildeten, fremdartige Wesen um uns herum:
     Die des einen  Kreises gehìllt in Gew¤nder mit violettem Schimmer,  die
des anderen mit rætlich schwarzem.  Menschen einer fremden Rasse, von hohem,
unnatìrlich schm¤chtigem  Wuchs,  die Gesichter  hinter  leuchtenden Tìchern
verborgen.
     Das  Herzbeben  in  meiner  Brust  sagte  mir,  daŸ  der Zeitpunkt  der
Entscheidung gekommen war. Meine  Finger zuckten nach  den Kærnern: - und da
sah ich, wie ein Zittern durch die Gestalten des rætlichen Kreises ging. -
     Sollte ich die Kærner zurìckweisen?: Das Zittern ergriff den bl¤ulichen
Kreis;  -  ich  blickte  den  Mann ohne Kopf  scharf an;  er stand  da -  in
derselben Stellung: regungslos wie frìher.
     Sogar sein Atem hatte aufgehært.
     Ich hob  den Arm, wuŸte  noch immer nicht,  was  ich  tun sollte, und -
schlug auf die  ausgestreckte  Hand  des  Phantoms, daŸ die Kærner  ìber den
Boden hinrollten.
     Einen  Moment,  so j¤h wie  ein  elektrischer Schlag, entglitt  mir das
BewuŸtsein, und ich  glaubte in endlose Tiefen zu stìrzen,  - dann stand ich
fest auf den FìŸen.
     Das  graue  Geschæpf  war verschwunden. Ebenso die Wesen des  rætlichen
Kreises.
     Die bl¤ulichen Gestalten hingegen  hatten einen Ring um  mich gebildet;
sie trugen eine Inschrift aus goldnen Hieroglyphen auf der Brust und hielten
stumm  - es sah aus  wie ein  Schwur  - zwischen Zeigefinger und  Daumen die
roten  Kærner in  die  Hohe,  die  ich dem Phantom  ohne Kopf  aus  der Hand
geschlagen hatte.
     Ich  hærte,  wie  drauŸen  Hagelschauer  gegen  die  Fenster tobten und
brìllender Donner die Luft zerriŸ:
     Ein Wintergewitter in seiner ganzen  besinnungslosen Wut raste ìber die
Stadt  hinweg.  Vom  FluŸ  her  dræhnten  durch  das  Heulen  des Sturms  in
rhythmischen Intervallen die  dumpfen  Kanonenschìsse,  die das  Brechen der
Eisdecke  auf  der  Moldau  verkìndeten.  Die Stube  loderte  im  Licht  der
ununterbrochen  aufeinanderfolgenden  Blitze.  Ich  fìhlte mich plætzlich so
schwach, daŸ mir die Knie zitterten und ich mich setzen muŸte.
     "Sei ruhig," sagte deutlich eine Stimme neben mir, "sei ganz  ruhig, es
ist heute die Lelschimurim: die Nacht der Beschìtzung." -
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     Allm¤hlich lieŸ das Unwetter nach, und der bet¤ubende L¤rm ging ìber in
das eintænige Trommeln der SchloŸen auf die Dacher.
     Die Mattigkeit in meinen  Gliedern nahm derart zu, daŸ ich nur mehr mit
stumpfen Sinnen und halb im Traum wahrnahm, was um mich her vorging:
     Jemand aus dem Kreis sagte die Worte:
     "Den ihr suchet, der ist nicht hier."
     Die andern erwiderten etwas in einer fremden Sprache.
     Hierauf sagte der erste wieder leise einen Satz, dann kam der Name
     "Henoch"
     vor, aber ich verstand das ìbrige nicht: der Wind trug das  Stæhnen der
berstenden Eisschollen zu laut vom Flusse herìber.
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     Dann læste sich einer aus dem Kreis, trat vor mich hin, deutete auf die
Hieroglyphen auf seiner Brust - sie  waren  dieselben Buchstaben wie die der
ìbrigen - und fragte mich, ob ich sie lesen kænne.
     Und als  ich  - lallend vor Mìdigkeit,  -  verneinte,  streckte er  die
Handfl¤che  gegen mich aus, und die Schrift  erschien  leuchtend  auf meiner
Brust in Lettern, die zuerst lateinisch waren:
     CHABRAT ZEREH AUR BOCHER
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     und  sich  langsam  in die mir unbekannten verwandelten. - - - Und  ich
fiel  in einen tiefen, traumlosen  Schlaf, wie  ich ihn seit jener Nacht, in
der Hillel mir die Zunge gelæst, nicht mehr gekannt hatte.

     Wie im  Fluge  waren mir die Stunden der  letzten Tage vergangen. Kaum,
daŸ ich mir Zeit zu den Mahlzeiten lieŸ.
     Ein  unwiderstehlicher Drang nach ¤uŸerer T¤tigkeit hatte mich von frìh
bis abends an meinen Arbeitstisch gefesselt.
     Die  Gemme war fertig  geworden, und Mirjam  hatte  sich  wie  ein Kind
darìber gefreut.
     Auch der Buchstabe "I" in dem Buche Ibbur war ausgebessert.
     Ich lehnte mich zurìck  und lieŸ ruhevoll  all die kleinen Geschehnisse
der heutigen Stunden an mir vorìberziehen:
     Wie das alte Weib,  das mich bediente, am Morgen nach dem Ungewitter zu
mir ins Zimmer gestìrzt kam mit der Meldung, die steinerne Brìcke sei in der
Nacht eingestìrzt. -
     Seltsam:  -  Eingestìrzt! Vielleicht gerade in der Stunde,  wo ich  die
Kærner - - - nein, nein,  nicht daran denken;  es  kænnte einen Anstrich von
Nìchternheit  bekommen,  was  damals   geschehen  war,  und  ich  hatte  mir
vorgenommen, es in meiner Brust  begraben  sein zu lassen, bis es von selbst
wieder erwachte, - nur nicht daran rìhren.
     Wie  lange war's her,  da ging  ich  noch  ìber  die  Brìcke,  sah  die
steinernen  Statuen  -  und  jetzt  lag sie,  die  Brìcke,  die Jahrhunderte
gestanden, in Trìmmern.
     Es stimmte mich beinahe  wehmìtig, daŸ ich nie  mehr meinen FuŸ auf sie
setzen sollte. Wenn man sie auch wieder aufbaute, war es doch nicht mehr die
alte, geheimnisvolle, steinerne Brìcke.
     Stundenlang  hatte ich,  w¤hrend ich  an  der  Gemme  schnitt,  darìber
nachdenken mìssen, und so selbstverst¤ndlich, als h¤tte ich es nie vergessen
gehabt,  war  es lebendig in mir geworden: wie  oft ich als Kind und auch in
sp¤tern  Jahren zu dem Bildnis der heiligen Luitgard und all den andern, die
jetzt begraben lagen in den tosenden Wassern, aufgeblickt.
     Die vielen, kleinen lieben  Dinge, die ich in  meiner Jugend mein eigen
genannt, hatte ich  wieder  gesehen im Geiste  - und meinen Vater  und meine
Mutter und die Menge Schulkameraden. Nur an das Haus, wo ich gewohnt, konnte
ich mich nicht mehr erinnern.
     Ich wuŸte, es wìrde plætzlich, eines  Tages, wenn ich  es am  wenigsten
erwartete, wieder vor mir stehen; und ich freute mich darauf.
     Die  Empfindung, daŸ sich  mit einemmal alles natìrlich und  einfach in
mir abwickelte, war so behaglich.
     Als ich vorgestern  das Buch Ibbur aus der Kassette  geholt hatte, - es
war so gar nichts Erstaunliches daran gewesen, daŸ es  aussah, nun, wie eben
ein altes,  mit wertvollen Initialen  geschmìcktes Pergamentbuch  aussieht -
schien es mir ganz selbstverst¤ndlich.
     Ich konnte nicht begreifen, daŸ es jemals gespenstisch auf mich gewirkt
hatte!
     Es war in hebr¤ischer  Sprache  geschrieben, vollkommen  unverst¤ndlich
fìr mich.
     Wann wohl der Unbekannte es wieder holen kommen wurde?
     Die Freude am Leben, die w¤hrend der Arbeit heimlich in mich eingezogen
war,  erwachte  von   neuem  in   ihrer  ganzen  erquickenden   Frische  und
verscheuchte  die  Nachtgedanken, die  mich  hinterrìcks  wieder  ìberfallen
wollten.
     Rasch nahm  ich  Angelinas Bild - ich  hatte die Widmung,  die darunter
stand, abgeschnitten - und kìŸte es.
     Es war das alles so tæricht  und widersinnig, aber  warum nicht  einmal
von  -  Glìck tr¤umen, die  glitzernde  Gegenwart festhalten und  sich daran
freuen, wie ìber eine Seifenblase?
     Konnte denn nicht vielleicht  doch  in Erfìllung gehen,  was mir da die
Sehnsucht meines Herzens vorgaukelte? War  es so ganz und gar unmæglich, daŸ
ich ìber Nacht ein berìhmter Mann wurde? Ihr ebenbìrtig, wenn auch  nicht an
Herkunft? Zumindest Dr. Savioli ebenbìrtig? Ich dachte an die Gemme Mirjams:
wenn mir noch andere so gelangen wie diese - kein Zweifei, selbst die ersten
Kìnstler aller Zeiten hatten nie etwas Besseres geschaffen.
     Und nur einen Zufall angenommen: der Gatte Angelinas stìrbe plætzlich?
     Mir wurde heiŸ und kalt: ein winziger Zufall -  und meine Hoffnung, die
verwegenste  Hoffnung, gewann  Gestalt. An einem dìnnen Faden, der stìndlich
reiŸen konnte, hing das Glìck, das mir dann in den SchoŸ fallen mìŸte.
     War  mir  denn nicht  schon tausendfach Wunderbareres geschehen? Dinge,
von denen die Menschheit gar nicht ahnte, daŸ sie ìberhaupt existierten?
     War es kein Wunder, daŸ binnen weniger Wochen kìnstlerische F¤higkeiten
in mir  erwacht  waren,  die  mich  jetzt schon  weit ìber  den Durchschnitt
erhoben?
     Und ich stand doch erst am Anfang des Weges!
     Hatte ich denn kein Anrecht auf Glìck?
     Ist denn Mystik gleichbedeutend mit Wunschlosigkeit?
     Ich ìbertænte das: "Ja" in mir: -  nur noch  eine Stunde tr¤umen - eine
Minute - ein kurzes Menschendasein!
     Und ich tr¤umte mit offenen Augen:
     Die  Edelsteine auf dem Tisch wuchsen und wuchsen und umgaben mich  von
allen  Seiten mit farbigen Wasserf¤llen. B¤ume aus  Opal standen  in Gruppen
beisammen und strahlten die Lichtwellen des Himmels, der blau schillerte wie
der Flìgel eines gigantischen Tropenschmetterlings, in Funkensprìhregen ìber
unabsehbare Wiesen voll heiŸem Sommerduft.
     Mich  dìrstete, und ich kìhlte meine Glieder in dem eisigen  Gischt der
B¤che, die ìber Felsblæcke rauschten aus schimmerndem Perlmutter.
     Schwìler Hauch strich ìber H¤nge, ìbers¤t  mit Blìten und  Blumen,  und
machte  mich trunken  mit  den Gerìchen von  Jasmin, Hyazinthen,  Narzissen,
Seidelbast - - -
     Unertr¤glich! Unertr¤glich! Ich verlæschte das Bild. - Mich dìrstete.
     Das waren die Qualen des Paradieses.
     Ich riŸ die Fenster auf und lieŸ den Tauwind an meine Stirne wehen.
     Es roch nach kommendem Frìhling - - -
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     Mirjam!
     Ich muŸte an Mirjam denken.
     Wie  sie sich vor  Erregung  an der  Wand hatte halten mìssen, um nicht
umzufallen, als  sie mir erz¤hlen  gekommen, ein Wunder  sei  geschehen, ein
wirkliches Wunder: sie habe ein Goldstìck gefunden in  dem Brotlaib, den der
B¤cker vom Gang aus durchs Gitter ins Kìchenfenster gelegt. - - -
     Ich griff nach meiner  Bærse. - Hoffentlich war es heute nicht schon zu
sp¤t, und ich kam noch zurecht, ihr wieder einen Dukaten zuzuzaubern!
     T¤glich hatte sie mich besucht, um mir Gesellschaft zu leisten, wie sie
es  nannte, dabei  aber fast nicht  gesprochen, so erfìllt war  sie  von dem
"Wunder"  gewesen.  Bis  in  die  tiefsten  Tiefen hatte  das  Erlebnis  sie
aufgewìhlt und, wenn ich  mir vorstellte, wie sie  manchmal  plætzlich  ohne
¤uŸern Grund - nur unter dem  EinfluŸ ihrer  Erinnerung - totenblaŸ geworden
war bis  in die Lippen, schwindelte  mir bei dem bloŸen Gedanken, ich kænnte
in  meiner  Blindheit  Dinge  angerichtet  haben, deren  Tragweite  bis  ins
Grenzenlose ging.
     Und wenn ich mir die letzten, dunklen Worte Hillels ins Ged¤chtnis rief
und in Zusammenhang damit brachte, ìberlief es mich eiskalt.
     Die Reinheit des Motivs war  keine Entschuldigung fìr mich, - der Zweck
heiligt die Mittel nicht, das sah ich ein.
     Und  was, wenn ìberdies  das Motiv: "helfen  zu  wollen" nur  scheinbar
"rein" war?  Hielt sich nicht vielleicht  doch eine  heimliche Lìge dahinter
verborgen?: der selbstgef¤llige, unbewuŸte Wunsch,  in der Rolle des Helfers
zu schwelgen?
     Ich fing an, irre an mir selbst zu werden.
     DaŸ ich Mirjam viel zu oberfl¤chlich beurteilt hatte, war klar.
     Schon als die Tochter Hillels muŸte sie anders sein als andere M¤dchen.
     Wie hatte ich nur so vermessen sein kænnen, auf solch tærichte Weise in
ein Innenleben einzugreifen,  das vielleicht  himmelhoch ìber meinem eigenen
stand!
     Schon ihr Gesichtsschnitt, der hundertmal eher in die Zeit der sechsten
¤gyptischen  Dynastie paŸte  und  selbst fìr diese  noch viel zu vergeistigt
war, als in die unsrige mit ihren Verstandesmenschentypen, h¤tte mich warnen
mìssen.
     "Nur  der ganz  Dumme miŸtraut  dem  ¤uŸern Schein", hatte ich irgendwo
einmal gelesen. - Wie richtig! Wie richtig!
     Mirjam  und  ich waren jetzt gute Freunde; sollte ich ihr  eingestehen,
daŸ ich  es gewesen war, der die Dukaten Tag fìr Tag  ins Brot  geschmuggelt
hatte?
     Der Schlag k¤me zu plætzlich. Wìrde sie bet¤uben.
     Ich durfte das nicht wagen, muŸte behutsamer vorgehen.
     Das "Wunder" irgendwie abschw¤chen? Statt das Geld ins Brot zu stecken,
es auf die  Treppenstufe zu legen, daŸ sie es finden muŸte, wenn sie die Tìr
aufmachte,  und so weiter,  und so  weiter?  Etwas Neues,  weniger Schroffes
wìrde  sich  schon  ausdenken  lassen,  irgendein   Weg,  der  sie  aus  dem
Wunderbaren allm¤hlich  wieder  ins Allt¤gliche herìberlenkte,  træstete ich
mich.
     Ja! Das war das Richtige.
     Oder den Knoten zerhauen? Ihren Vater einweihen und zu Rate ziehen? Die
Schamræte stieg  mir ins  Gesicht. Zu diesem  Schritt blieb Zeit genug, wenn
alle andern Mittel versagten.
     Nur gleich ans Werk gehen, keine Zeit vers¤umen!
     Ein  guter   Einfall   kam  mir:   Ich   muŸte  Mirjam  zu  etwas  ganz
Absonderlichem bewegen, sie fìr ein paar Stunden aus der  gewohnten Umgebung
reiŸen, daŸ sie andere Eindrìcke bekam.
     Wir wìrden einen Wagen nehmen  und eine Spazierfahrt machen. Wer kannte
uns denn, wenn wir das Judenviertel mieden?
     Vielleicht   interessierte   es  sie,   die  eingestìrzte   Brìcke   zu
besichtigen?
     Oder der alte Zwakh oder eine ihrer frìheren Freundinnen sollte mit ihr
fahren, wenn sie es ungeheuerlich finden wìrde, daŸ ich mit dabei sei.
     Ich war fest entschlossen, keinen Widerspruch gelten zu lassen. - - -
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     An der Tìrschwelle rannte ich einen Mann beinahe ìber den Haufen.
     Wassertrum!
     Er  muŸte  durchs  Schlìsselloch  hereingesp¤ht  haben,  denn  er stand
gebìckt, als ich mit ihm zusammengestoŸen war.
     "Suchen Sie mich?", fragte ich barsch.
     Er  stammelte ein paar Worte  der Entschuldigung in  seinem unmæglichen
Jargon; dann bejahte er.
     Ich forderte ihn auf, n¤her zu treten und sich zu setzen, aber er blieb
am  Tisch  stehen  und  drehte  krampfhaft  mit  der Hutkrempe.  Eine  tiefe
Feindseligkeit, die  er vergebens  vor  mir verbergen wollte, spiegelte  aus
seinem Gesicht und jeder seiner Bewegungen.
     Noch  nie hatte  ich den Mann in so unmittelbarer  N¤he gesehen.  Seine
grauenhafte H¤Ÿlichkeit war es nicht, die einen so abstieŸ; (sie machte mich
eher mitleidig  gestimmt: er sah aus wie ein Geschæpf,  dem die Natur selbst
bei  seiner  Geburt  voll Wut und Abscheu mit  dem  FuŸ ins Gesicht getreten
hatte)  - etwas anderes, Unw¤gbares, das von  ihm  ausging, trug  die Schuld
daran.
     Das "Blut", wie Charousek es treffend bezeichnet hatte.
     Unwillkìrlich  wischte ich  mir  die Hand  ab,  die ich ihm  bei seinem
Eintritt gereicht hatte.
     So wenig auff¤llig ich es  machte,  er schien es doch bemerkt zu haben,
denn er muŸte  sich plætzlich mit  Gewalt zwingen, das Aufflammen des Hasses
in seinen Zìgen zu unterdrìcken.
     "Hìbsch  ham Se's hier", fing er endlich  stockend  an, als er sah, daŸ
ich ihm nicht den Gefallen tat, das Gespr¤ch zu beginnen.
     Im Widerspruch zu seinen  Worten schloŸ er dabei die Augen, vielleicht,
um  meinem Blick nicht zu begegnen. Oder glaubte  er, daŸ es seinem  Gesicht
einen harmloseren Ausdruck verleihen wìrde?
     Man konnte  ihm deutlich anhæren, welche Mìhe er sich gab,  hochdeutsch
zu reden.
     Ich fìhlte mich nicht zu einer Entgegnung verpflichtet und wartete, was
er weiter sagen wìrde.
     In seiner Verlegenheit griff er nach der Feile, die - weiŸ Gott wieso -
noch  seit Charouseks Besuch  auf  dem  Tisch  lag, fuhr  aber unwillkìrlich
sofort  wie von einer  Schlange gebissen zurìck.  Ich staunte innerlich ìber
seine unterbewuŸte seelische Feinfìhligkeit.
     "Freilich, natìrlich,  es  gehært zum  Gesch¤ft, daŸ  man's  fein hat,"
raffte  er sich auf, zu sagen, "wenn man  -  so noble Besuche  bekommt."  Er
wollte  die Augen  aufschlagen, um zu sehen, welchen  Eindruck die Worte auf
mich machten,  hielt  es  aber offenbar noch  fìr verfrìht  und  schloŸ  sie
schnell wieder.
     Ich wollte ihn  in die Enge treiben: "Sie meinen die Dame,  die neulich
hier vorfuhr? Sagen Sie doch offen, wo Sie hinauswollen!"
     Er zægerte einen Moment,  dann packte er mich  heftig am Handgelenk und
zerrte mich ans Fenster.
     Die  sonderbare,  unmotivierte  Art, mit  der er es tat, erinnerte mich
daran, wie er vor einigen Tagen den taubstummen Jaromir unten in seine Hæhle
gerissen hatte.
     Mit krummen Fingern hielt er mir einen blitzenden Gegenstand hin:
     "Was glauben Sie, Herr Pernath, laŸt sich da noch was machen?"
     Es war eine goldene  Uhr  mit so stark verbeulten Deckeln, daŸ es  fast
aussah, als h¤tte sie jemand mit Absicht verbogen.
     Ich  nahm  ein  VergræŸerungsglas:  die  Scharniere  waren  zur  H¤lfte
abgerissen und innen - stand da nicht etwas eingraviert? Kaum mehr leserlich
und noch ìberdies mit einer Menge ganz frischer Schrammen zerkratzt. Langsam
entzifferte ich:
     K-rl Zott-mann.
     Zottmann? Zottmann? - Wo hatte ich diesen Namen doch gelesen? Zottmann?
Ich konnte mich nicht entsinnen. Zottmann?
     Wassertrum schlug mir die Lupe beinahe aus der Hand:
     "Im Werk is nix, da hab' ich schon selber geschaut. Aber mit'm Geh¤use,
da stinkt's."
     "Braucht man nur gerade zu klopfen - hæchstens ein paar Lætstellen. Das
kann Ihnen ebensogut jeder beliebige Goldarbeiter machen, Herr Wassertrum."
     "Ich leg' doch Wert darauf, daŸ es eine solide Arbeit  wird. Was man so
sagt: kìnstlerisch", unterbrach er mich hastig. Fast ¤ngstlich.
     "Nun gut, wenn Ihnen derart viel daran liegt -"
     "Viel  daran  liegt!" Seine  Stimme schnappte ìber vor Eifer. "Ich will
sie doch selber tragen, die Uhr. Und wenn ich sie  jemandem zeig',  will ich
sagen kænnen: schauen Sie mal her, so arbeitet der Herr von Pernath."
     Ich  ekelte  mich  vor  dem  Kerl; er spuckte mir  seine  widerw¤rtigen
Schmeicheleien færmlich ins Gesicht.
     "Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen, wird alles fertig sein."
     Wassertrum  wand  sich in Kr¤mpfen: "Das gibt's  nicht.  Das  will  ich
nicht. Drei Tag. Vier Tag. Die n¤chste Woche  is Zeit genug. Das ganze Leben
mæcht' ich mir Vorwìrfe machen, daŸ ich Ihnen gedr¤ngt hab'."
     Was  wollte  er nur, daŸ  er  so auŸer sich geriet? -  Ich machte einen
Schritt  ins Nebenzimmer  und  sperrte  die Uhr in  die  Kassette. Angelinas
Photographie lag obenauf. Schnell schlug ich den  Deckel wieder zu - fìr den
Fall, daŸ Wassertrum mir nachblicken sollte.
     Als ich zurìckkam, fiel mir auf, daŸ er sich verf¤rbt hatte.
     Ich  musterte ihn  scharf, lieŸ aber  meinen  Verdacht  sofort  fallen:
Unmæglich! Er konnte nichts gesehen haben.
     "Also,  dann vielleicht n¤chste Woche", sagte ich, um seinem Besuch ein
Ende zu machen.
     Er schien mit einemmal keine Eile  mehr zu haben, nahm einen Sessel und
setzte sich.
     Im Gegensatz zu frìher hielt er seine  Fischaugen jetzt beim Reden weit
offen und fixierte beharrlich meinen obersten Westenknopf.
     Pause.
     "Die  Duksel hat Ihnen  natìrlich  gesagt,  Sie sollen sich  nix wissen
machen, wenn's  heraus  kommt.  Waas?"  sprudelte  er  plætzlich  ohne  jede
Einleitung auf mich los und schlug mit der Faust auf den Tisch.
     Es lag etwas merkwìrdig Schreckhaftes in der Abgerissenheit, mit der er
von  einer  Sprechweise  in  die  andere  ìbergehen  -  von  Schmeicheltænen
blitzartig  ins  Brutale  springen  konnte,  und  ich  hielt  es  fìr   sehr
wahrscheinlich,   daŸ  die  meisten  Menschen,  besonders  Frauen,  sich  im
Handumdrehen in seiner  Gewalt befinden  muŸten,  wenn er nur die  geringste
Waffe gegen sie besaŸ.
     Ich wollte auffahren, ihn am Hals  packen und  vor die  Tìr setzen, war
mein  erster  Gedanke;  dann  ìberlegte  ich,  ob es  nicht  klìger sei, ihn
zuværderst einmal grìndlich auszuhorchen.
     "Ich verstehe wahrhaftig nicht, was Sie meinen, Herr Wassertrum;" - ich
bemìhte mich, ein mæglichst dummes Gesicht zu machen - "Duksel? Was ist das:
Duksel?"
     "Soll ich Ihnen vielleicht Deitsch lernen?", fuhr er mich grob an. "Die
Hand  werden  Sie aufheben  mìssen bei Gericht, wenn's um  die Wurscht geht.
Verstehen Sie mich?! Das sag ich Ihnen!" - Er fing an zu schreien:  "Mir ins
Gesicht hinein werden Sie nicht  abschwæren,  daŸ ›sie‹ von  da drìben" - er
deutete mit dem Daumen nach dem Atelier - "zu Ihnen heribber geloffen is mit
en Teppich an und - sonst nix!"
     Die  Wut stieg mir in  die Augen; ich packte den Halunken an der  Brust
und schìttelte ihn:
     "Wenn Sie jetzt noch ein Wort in diesem Ton sagen, breche ich Ihnen die
Knochen im Leibe entzwei! Verstanden?"
     Aschfahl sank er in den Stuhl zurìck und stotterte:
     "Was is? Was is? Was wollen Sie? Ich mein' doch bloŸ."
     Ich  ging ein paarmal im Zimmer  auf  und  ab,  um  mich zu  beruhigen.
Horchte nicht hin, was er alles zu seiner Entschuldigung herausgeiferte.
     Dann setzte  ich mich ihm dicht  gegenìber, in der festen Absicht,  die
Sache, soweit  sie  Angelina  betraf, ein fìr allemal mit ihm  ins  reine zu
bringen und, sollte  es  im Frieden nicht gehen, ihn zu zwingen, endlich die
Feindseligkeiten zu  eræffnen und seine paar schwachen  Pfeile  vorzeitig zu
verschieŸen.
     Ohne seine Unterbrechungen im geringsten zu beachten, sagte ich ihm auf
den Kopf  zu, daŸ  Erpressungen  irgendwelcher Art - ich betonte  das Wort -
miŸglìcken  mìŸten, da er auch nicht eine einzige Anschuldigung mit Beweisen
erh¤rten  kænnte  und  ich  mich  einer  Zeugenschaft  (angenommen,  es w¤re
ìberhaupt im  Bereiche der Mæglichkeit, daŸ es je zu  einer solchen k¤me)  -
bestimmt  zu entziehen wissen wìrde.  Angelina stìnde mir  viel zu nahe, als
daŸ  ich  sie nicht in der  Stunde  der  Not  retten wìrde, koste es, was es
wolle, sogar einen Meineid!
     Jede Muskel in  seinem Gesicht zuckte, seine  Hasenscharte zog sich bis
zur Nase auseinander, er fletschte die Z¤hne  und kollerte wie ein  Truthahn
mir immer wieder  in die Rede hinein: "Will ich  denn was von die Duksel? So
hæren  Sie doch zu!" -  Er war auŸer  sich vor  Ungeduld, daŸ ich mich nicht
beirren  lieŸ.  - "Um den Savioli is  mir's  zu  tun, um den gottverfluchten
Hund, - den - den -", fuhr es ihm plætzlich brìllend heraus.
     Er japste nach Luft. Rasch hielt  ich inne: endlich war er dort, wo ich
ihn haben wollte, aber schon hatte er sich gefaŸt und fixierte wieder  meine
Weste.
     "Hæren  Sie  zu,  Pernath;"  er   zwang  sich,  die   kìhle,  abw¤gende
Sprechweise eines Kaufmanns nachzuahmen, "Sie reden fort von der Duk - - von
der Dame. Gut!  sie ist verheiratet. Gut: sie hat sich eingelassen mit dem -
mit dem jungen Lauser. Was hab' ich  damit zu tun?" Er bewegte die H¤nde vor
meinem Gesicht hin und her,  die  Fingerspitzen zusammengedrìckt, als hielte
er eine Prise Salz darin - "soll sie sich das selber abmachen, die Duksel. -
Ich bin e Weltmann und  Sie sin auch e Weltmann. Wir kennen  doch das beide.
Waas? Ich will doch nur zu meinem Geld kommen. Verstehen Sie, Pernath?!"
     Ich horchte erstaunt auf:
     "Zu welchem Geld? Ist Ihnen denn Dr. Savioli etwas schuldig?"
     Wassertrum wich aus:
     "Abrechnungen hab' ich mit ihm. Das kommt doch auf eins heraus."
     "Sie wollen ihn ermorden!" schrie ich.
     Er sprang auf. Taumelte. Gluckste ein paarmal.
     "Jawohl!  Ermorden! Wie lange  wollen Sie mir noch Komædie vorspielen!"
Ich deutete auf die Tìr. "Schauen Sie, daŸ Sie hinauskommen."
     Langsam  griff er  nach seinem Hut, setzte ihn  auf und wandte sich zum
Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen und sagte  mit einer Ruhe, deren ich
ihn nie fìr f¤hig gehalten h¤tte:
     "Auch recht. Ich hab' Sie herauslassen  wollen. Gut. Wenn nicht: Nicht.
Barmherzige Barbiere  machen faule Wunden. Mein Zarbìchel ist voll. Wenn Sie
gescheit gewesen  w¤ren -:  der Savioli  is Ihnen  doch nur im Weg?! Jetzt -
mach  -  ich -  mit - Ihnen allen dreien" - er deutete mit einer  Geste  des
Erdrosselns an, womit er es meinte - "PreŸcolleeh".
     Seine Mienen drìckten eine  so satanische Grausamkeit aus und er schien
seiner Sache so sicher zu sein, daŸ mir  das Blut in den Adern erstarrte. Er
muŸte  eine  Waffe  in H¤nden  haben, von  der  ich nichts ahnte,  die  auch
Charousek nicht kannte. Ich fìhlte den Boden unter mir wanken.
     "Die  Feile!  Die Feile!" hærte  ich es  in  meinem Hirn  flìstern. Ich
sch¤tzte die Entfernung ab: ein Schritt bis zum Tisch - zwei Schritte bis zu
Wassertrum  -  - ich  wollte  zuspringen -  - -  da stand wie aus  dem Boden
gewachsen Hillel auf der Schwelle.
     Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen.
     Ich sah nur  - wie durch Nebel -, daŸ  Hillel unbeweglich stehen  blieb
und Wassertrum Schritt fìr Schritt bis an die Wand zurìckwich.
     Dann hærte ich Hillel sagen:
     "Sie kennen doch,  Aaron, den Satz: Alle Juden sind Bìrgen fìreinander?
Machen Sie's einem nicht  zu schwer."  - Er fìgte ein paar hebr¤ische  Worte
hinzu, die ich nicht verstand.
     "Was haben Sie  das  netig, an der  Tìre zu  schnìffeln?" geiferte  der
Trædler mit bebenden Lippen.
     "Ob  ich  gehorcht  habe oder nicht,  braucht Sie  nicht zu kìmmern!" -
wieder  schloŸ  Hillel mit  einem  hebr¤ischen Satz,  der diesmal  wie  eine
Drohung  klang.  Ich  erwartete, daŸ es  zu einem Zank  kommen  wìrde,  aber
Wassertrum antwortete nicht eine Silbe,  ìberlegte einen Augenblick und ging
dann trotzig hinaus.
     Gespannt blickte ich Hillel an. Er  winkte mir zu, ich solle schweigen.
Offenbar wartete er auf irgend  etwas,  denn  er horchte angestrengt auf den
Gang  hinaus.  Ich  wollte die Tìre schlieŸen gehen: er hielt mich mit einer
ungeduldigen Handbewegung zurìck.
     Wohl  eine  Minute  verging, dann  kamen  die schleppenden Schritte des
Trædlers  wieder  die Stufen  herauf. Ohne ein Wort zu sprechen  ging Hillel
hinaus und machte ihm Platz.
     Wassertrum wartete,  bis er  auŸer Hærweite war, dann knurrte  er  mich
verbissen an:
     "Geben Se mer meine Uhr zorìck."

     Wo nur Charousek blieb?
     Beinahe 24  Stunden waren vergangen, und noch immer lieŸ  er sich nicht
blicken.
     Sollte er das Zeichen vergessen haben, das  wir verabredet hatten? Oder
sah er es vielleicht nicht?
     Ich ging ans Fenster und richtete den Spiegel so, daŸ der Sonnenstrahl,
der  darauf schien,  genau auf das vergitterte Guckloch seiner Kellerwohnung
fiel.
     Das  Eingreifen  Hillels -  gestern  -  hatte mich  ziemlich  beruhigt.
Bestimmt wìrde er mich gewarnt haben, wenn eine Gefahr im Anzug w¤re.
     œberdies: Wassertrum  konnte nichts von Belang mehr unternommen  haben;
gleich,   nachdem  er   mich  verlassen   hatte,  war  er  in  seinen  Laden
zurìckgekehrt,  - ich  warf  einen  Blick  hinunter:  richtig,  da lehnte er
unbeweglich  hinter  seinen  Herdplatten,  genau  so,  wie  ich   ihn  schon
frìhmorgens gesehen - - -
     Unertr¤glich, das ewige Warten!
     Die  milde  Frìhlingsluft,  die  durch  das  offene  Fenster   aus  dem
Nebenzimmer hereinstræmte, machte mich krank vor Sehnsucht.
     Dies  schmelzende  Tropfen   von  den  D¤chern!  Und  wie   die  feinen
Wasserschnìre im Sonnenlicht gl¤nzten!
     Es zog mich hinaus an unsichtbaren F¤den. Voll Ungeduld ging ich in der
Stube auf und ab. Warf mich in einen Sessel. Stand wieder auf.
     Dieses  sìchtige Keimen einer  Ungewissen Verliebtheit in meiner Brust,
es wollte nicht weichen.
     Die ganze Nacht ìber  hatte es  mich gequ¤lt.  Einmal  war es  Angelina
gewesen, die sich an mich geschmiegt,  dann wieder sprach ich scheinbar ganz
harmlos mit  Mirjam, und kaum  hatte  ich das  Bild  zerrissen, kam abermals
Angelina und kìŸte mich;  ich  roch den Duft  ihres Haares, und ihr  weicher
Zobelpelz kitzelte mich am Hals,  rutschte von ihren entblæŸten  Schultern -
und sie wurde zu Rosina, die mit trunkenen, halbgeschlossenen Augen tanzte -
im  Frack - nackt;  - - - und alles in  einem Halbschlaf,  der doch genau so
gewesen war wie Wachsein. Wie ein sìŸes, verzehrendes, d¤mmeriges Wachsein.
     Gegen  Morgen  stand  dann  mein  Doppelg¤nger  an  meinem  Bett,   der
schattenhafte  Habal  Garmin,  "der  Hauch  der  Knochen",  von  dem  Hillel
gesprochen, - und ich sah ihm an den Augen an: er war in meiner Macht, muŸte
mir  jede Frage beantworten,  die ich ihm stellen wìrde  nach irdischen oder
jenseitigen Dingen, und  er  wartete nur  darauf,  aber der  Durst nach  dem
Geheimnisvollen  konnte  nicht  an  gegen  die  Schwìle  meines  Blutes  und
versickerte im dìrren Erdreich meines Verstandes. - Ich schickte das Phantom
weg, es  solle zum  Spiegelbild Angelinas werden, und es schrumpfte zusammen
zu  dem Buchstaben "Aleph", wuchs wieder empor, stand  da als das KoloŸweib,
splitternackt, wie ich es einstens  im Buche Ibbur gesehen,  mit  dem  Pulse
gleich  einem  Erdbeben,  und  beugte sich  ìber mich,  und  ich  atmete den
bet¤ubenden Geruch ihres heiŸen Fleisches ein.
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     Kam  denn Charousek  immer noch  nicht? -  Die  Glocken  sangen von den
Kirchtìrmen.
     Eine Viertelstunde wollte  ich noch  warten -  dann  aber hinaus! Durch
belebte StraŸen voll festt¤gig  gekleideter Menschen schlendern, mich in das
frohe Gewimmel mischen in den Stadtteilen  der  Reichen, schæne Frauen sehen
mit koketten Gesichtern und schmalen H¤nden und FìŸen.
     Vielleicht  begegnete ich dabei Charousek  zuf¤llig, entschuldigte  ich
mich vor mir selbst.
     Ich holte das altertìmliche Tarockspiel vom Bìcherbord, um mir die Zeit
rascher zu vertreiben. -
     Vielleicht  lieŸ sich aus den  Bildern  Anregung schæpfen  zum  Entwurf
einer Kamee?
     Ich suchte nach dem Pagad.
     Nicht zu finden. Wo konnte er hingeraten sein?
     Ich  bl¤tterte  noch  einmal  die  Karten  durch  und  verlor  mich  in
Nachdenken  ìber  ihren verborgenen  Sinn.  Besonders der "Gehenkte", -  was
konnte er nur bedeuten?:
     Ein  Mann h¤ngt an einem Seil zwischen  Himmel und Erde, den  Kopf nach
abw¤rts, die  Arme auf den Rìcken  gebunden, den  rechten Unterschenkel ìber
das linke  Bein  verschr¤nkt,  daŸ es  aussieht  wie  ein  Kreuz ìber  einem
verkehrten Dreieck?
     Unverst¤ndliches Gleichnis.
     Da! - Endlich! Charousek kam.
     Oder doch nicht?
     Freudige œberraschung, es war Mirjam.
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     "Wissen Sie, Mirjam, daŸ  ich  soeben zu Ihnen hinuntergehen wollte und
Sie bitten,  eine  Spazierfahrt  mit  mir zu machen?" Es war nicht  ganz die
Wahrheit, aber ich machte mir weiter keine Gedanken darìber.  - "Nicht wahr,
Sie schlagen es mir  nicht ab?! Ich bin heute  so unendlich froh im  Herzen,
daŸ Sie, gerade Sie, Mirjam, meiner Freude die Krone aufsetzen mìssen."
     "-  spazierenfahren?",  wiederholte sie derart verblìfft, daŸ  ich laut
auflachen muŸte.
     "Ist denn der Vorschlag gar so wunderbar?"
     "Nein, nein, aber -  -," sie suchte nach Worten,  "unerhært merkwìrdig.
Spazierenfahren!"
     "Durchaus   nicht   merkwìrdig,  wenn  Sie  sich   vorhalten,   daŸ  es
Hunderttausende  von  Menschen  tun  -  eigentlich  ihr ganzes Leben  nichts
anderes tun."
     "Ja, andere Menschen!" gab sie, immer noch vollst¤ndig ìberrumpelt, zu.
     Ich faŸte ihre beiden H¤nde:
     "Was andere  Menschen an  Freude erleben  dìrfen, mæchte ich,  daŸ Sie,
Mirjam, in noch unendlich viel reicherem MaŸe genieŸen."
     Sie wurde plætzlich leichenblaŸ,  und ich sah  an der  starren Taubheit
ihres Blickes, woran sie dachte. Es gab mir einen Stich.
     "Sie  dìrfen es nicht immer mit sich  herumtragen,  Mirjam," redete ich
ihr zu, "das - das Wunder. Wollen Sie mir das nicht versprechen  - aus - aus
Freundschaft?"
     Sie hærte die Angst aus meinen Worten und blickte mich erstaunt an.
     "Wenn es Sie nicht so angriffe, kænnte  ich mich mit Ihnen freuen, aber
so? Wissen Sie,  daŸ ich tief besorgt bin um  Sie, Mirjam? -  Um -  um - wie
soll  ich nur  sagen? - um  Ihre seelische Gesundheit! Fassen Sie  es  nicht
wærtlich auf, aber -: ich wollte, das Wunder w¤re nie geschehen."
     Ich  erwartete, sie wìrde mir widersprechen,  aber  sie nickte  nur  in
Gedanken versunken.
     "Es verzehrt Sie. Habe ich nicht recht, Mirjam?" Sie raffte sich auf:
     "Manchmal mæchte ich beinahe auch, es w¤re nicht geschehen."
     Es  klang wie  ein  Hoffnungsstrahl fìr mich.  -  "Wenn ich mir  denken
soll,"  sie  sprach  ganz  langsam  und  traumverloren,  "daŸ Zeiten  kommen
kænnten, wo ich ohne solche Wunder leben mìŸte - - -."
     "Sie kænnen doch ìber  Nacht  reich werden und brauchen dann nicht mehr
-,"  fuhr ich ihr unbedacht in die Rede, hielt aber rasch inne, als ich  das
Entsetzen  in ihrem Gesicht bemerkte, - "ich meine: Sie kænnen plætzlich auf
natìrliche Weise Ihrer  Sorgen enthoben werden, und die Wunder, die Sie dann
erleben, wìrden geistiger Art sein: - innere Erlebnisse."
     Sie schìttelte den Kopf  und sagte hart: "Innere Erlebnisse sind  keine
Wunder. Erstaunlich  genug, daŸ es Menschen zu geben  scheint, die ìberhaupt
keine  haben.  - Seit meiner Kindheit, Tag fìr Tag, Nacht  fìr Nacht, erlebe
ich -" (sie  brach mit einem Ruck ab, und ich erriet, daŸ noch etwas anderes
in ihr war, von  dem sie  mir  nie gesprochen  hatte,  vielleicht  das Weben
unsichtbarer  Geschehnisse, ¤hnlich den meinigen)  -  "aber das gehært nicht
hierher.  Selbst,  wenn  einer  aufstìnde  und  machte Kranke  gesund  durch
Handauflegen, ich kænnte es kein Wunder nennen. Erst, wenn der leblose Stoff
- die Erde  - beseelt wird vom  Geist und die Gesetze  der Natur zerbrechen,
dann ist  das geschehen, wonach ich mich sehne, seit ich denken  kann. - Mir
hat einmal mein Vater gesagt: es g¤be zwei Seiten der Kabbala: eine magische
und eine  abstrakte, die sich niemals zur Deckung bringen lieŸen. Wohl kænne
die magische die  abstrakte an sich ziehen,  aber  nie und nimmer umgekehrt.
Die magische ist ein  Geschenk,  die andere  kann errungen werden, wenn auch
nur  mit Hilfe eines Fìhrers."  Sie  nahm den ersten Faden wieder  auf: "Das
Geschenk  ist es,  nach dem ich dìrste;  was  ich mir erringen kann, ist mir
gleichgìltig und  wertlos wie Staub. Wenn ich  mir  denken soll,  es kænnten
Zeiten kommen,  sagte  ich  vorhin, wo  ich wieder ohne  diese  Wunder leben
mìŸte," -  ich  sah,  wie  sich ihre Finger  krampften  und Reue und  Jammer
zerfleischten mich,  - "ich glaube,  ich  sterbe jetzt  schon angesichts der
bloŸen Mæglichkeit."
     "Ist  das der Grund, weshalb  auch  Sie wìnschten, das  Wunder w¤re nie
geschehen?", forschte ich.
     "Nur zum Teil. Es ist  noch etwas anderes da. Ich - ich - ", sie dachte
einen Augenblick nach, "war noch nicht reif dazu, ein Wunder  in dieser Form
zu erleben. Das ist  es. Wie soll ich  es Ihnen  erkl¤ren? Nehmen Sie einmal
an, bloŸ  als Beispiel,  ich h¤tte seit  Jahren jede Nacht ein und denselben
Traum, der sich immer weiter fortspinnt und in dem  mich jemand - sagen wir:
ein  Bewohner einer  andern  Welt -  belehrt  und  mir  nicht nur  an  einem
Spiegelbilde von mir selbst und seinen allm¤hlichen Ver¤nderungen zeigt, wie
weit  ich von der  magischen Reife, ein ›Wunder‹ erleben zu kænnen, entfernt
bin, sondern: mir  auch in Verstandesfragen, wie  sie  mich  einmal tagsìber
besch¤ftigen, derart AufschluŸ gibt,  daŸ ich  es jederzeit nachprìfen kann.
Sie werden mich  verstehen:  Ein solches Wesen ersetzt einem an Glìck alles,
was sich auf  Erden ausdenken l¤Ÿt; es ist fìr mich die Brìcke, die mich mit
dem  ›Drìben‹ verbindet, ist  die Jakobsleiter, auf der  ich  mich  ìber die
Dunkelheit des Alltags erheben kann ins  Licht, - ist mir Fìhrer und Freund,
und  alle meine  Zuversicht, daŸ ich mich auf den  dunkeln Wegen,  die meine
Seele  geht, nicht verirren  kann in Wahnsinn  und Finsternis, setze ich auf
›ihn‹, der mich noch nie belogen hat.  -  Da  mit einem Mal, entgegen allem,
was er mir gesagt hat, kreuzt  ein  ›Wunder‹ mein Leben!  Wem soll ich jetzt
glauben? War das, was mich die vielen Jahre ìber ununterbrochen erfìllt hat,
eine T¤uschung? Wenn ich daran zweifeln mìŸte, ich stìrzte kopfìber in einen
bodenlosen  Abgrund.  -  Und  doch  ist  das  Wunder  geschehen!  Ich  wìrde
aufjauchzen vor Freude, wenn -"
     "Wenn  - - -?" unterbrach ich sie atemlos. Vielleicht sprach sie selbst
das erlæsende Wort, und ich konnte ihr alles eingestehen.
     "- wenn ich erfìhre, daŸ ich mich geirrt habe, - daŸ es gar kein Wunder
war! Aber ich  weiŸ so genau, wie  ich weiŸ, daŸ ich  hier sitze, ich  ginge
zugrunde daran"; (mir  blieb das  Herz stehen) - "zurìckgerissen werden, vom
Himmel wieder herab mìssen  auf die Erde? Glauben Sie,  daŸ  das  ein Mensch
ertragen kann?"
     "Bitten Sie doch Ihren Vater um Hilfe", sagte ich ratlos vor Angst.
     "Meinen Vater? Um Hilfe?" - sie blickte mich verst¤ndnislos an - "wo es
nur  zwei Wege  fìr mich  gibt, kann  er da einen dritten finden? - - Wissen
Sie, was die einzige Rettung fìr mich w¤re? Wenn mir das gesch¤he, was Ihnen
geschehen ist. Wenn ich  in dieser Minute alles,  was hinter mir liegt: mein
ganzes  Leben  bis zum  heutigen Tag -  vergessen  kænnte.  -  Ist  es nicht
merkwìrdig: was Sie als Unglìck empfinden, w¤re fìr mich das hæchste Glìck!"
     Wir  schwiegen  beide noch eine  lange Zeit. Dann ergriff sie plætzlich
meine Hand und l¤chelte. Beinahe fræhlich.
     "Ich will nicht, daŸ Sie sich meinetwegen gr¤men;" - (sie træstete mich
- mich!) - "vorhin  waren Sie so voll  Freude  und Glìck  ìber den  Frìhling
drauŸen, und jetzt sind  Sie die Betrìbnis selbst. Ich h¤tte Ihnen ìberhaupt
nichts sagen  sollen.  ReiŸen Sie  es aus Ihrem  Ged¤chtnis  und denken  Sie
wieder so heiter wie vorhin! - Ich bin ja so froh -"
     "Sie? Froh? Mirjam?", unterbrach ich sie bitter.
     Sie  machte ein  ìberzeugtes Gesicht: "Ja! Wirklich!  Froh!  Als ich zu
Ihnen  heraufging,  war ich  so unbeschreiblich ¤ngstlich, -  ich weiŸ nicht
warum: ich konnte das Gefìhl nicht loswerden, daŸ Sie in einer groŸen Gefahr
schweben",  -  ich  horchte auf -  "aber, statt mich darìber  zu freuen, Sie
gesund und wohlauf zu treffen, habe ich Sie angeunkt und - -"
     Ich zwang mich zur Lustigkeit: "und das  kænnen Sie nur gutmachen, wenn
Sie mit  mir ausfahren." (Ich bemìhte mich, so viel œbermut  wie  mæglich in
meine Stimme zu  legen:)  "Ich mæchte doch einmal sehen, Mirjam,  ob es  mir
nicht gelingt, Ihnen die trìben Gedanken zu verscheuchen. Sagen Sie, was Sie
wollen: Sie sind noch lange kein ¤gyptischer Zauberer, sondern vorl¤ufig nur
ein junges M¤dchen,  dem  der  Tauwind  noch manchen  bæsen Streich  spielen
kann."
     Sie wurde plætzlich ganz lustig:
     "Ja, was ist  denn das  heute mit  Ihnen, Herr Pernath? So hab' ich Sie
noch  nie  gesehen!  -  œbrigens  ›Tauwind‹:  bei  uns  Judenm¤dchen  lenken
bekanntlich die  Eltern den Tauwind, und wir haben nur zu gehorchen. Tuen es
natìrlich auch. Es steckt uns schon so im Blut. - Mir  ja nicht", setzte sie
ernsthafter  hinzu, "meine Mutter hat bæs gestreikt, als sie den  gr¤Ÿlichen
Aaron Wassertrum heiraten sollte."
     "Was? Ihre Mutter? Den Trædler da unten?"
     Mirjam nickte. "Gott sei Dank ist es nicht zustande gekommen. - Fìr den
armen Menschen freilich war es ein vernichtender Schlag."
     "Armer Mensch, sagen Sie?" fuhr ich auf. "Der Kerl ist ein Verbrecher."
     Sie wiegte nachdenklich den Kopf: "GewiŸ, er  ist  ein Verbrecher. Aber
wer  in  einer solchen Haut steckt und kein Verbrecher wird, muŸ ein Prophet
sein."
     Ich rìckte neugierig n¤her;
     "Wissen  Sie Genaueres  ìber  ihn?  Mich  interessiert  das.  Aus  ganz
besonderen - -"
     "Wenn Sie einmal  seinen  Laden von innen gesehen h¤tten, Herr Pernath,
wìŸten Sie sofort, wie es  in seiner Seele ausschaut. Ich sage das, weil ich
als Kind sehr oft drin  war. - Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Ist denn
das  so  merkwìrdig?  - Gegen mich war er immer freundlich und gìtig. Einmal
sogar, erinnere ich mich, schenkte er mir einen groŸen blitzenden Stein, der
mir besonders unter seinen Sachen gefallen hatte. Meine Mutter sagte, es sei
ein Brillant, und ich muŸte ihn natìrlich sofort zurìcktragen.
     Erst wollte er ihn lange  nicht wiedernehmen, aber dann riŸ  er ihn mir
aus  der Hand  und warf ihn voll  Wut weit  von sich. Ich habe  aber dennoch
gesehen, wie  ihm dabei die Tr¤nen  aus den Augen  stìrzten; ich konnte auch
damals  schon genug  Hebr¤isch, um zu verstehen, was er murmelte: ›Alles ist
verflucht, was meine Hand berìhrt.‹ - -  Es war das  letzte Mal, daŸ ich ihn
besuchen durfte. Nie  wieder  hat  er mich seitdem  aufgefordert, zu ihm  zu
kommen. Ich weiŸ auch warum: H¤tte ich  ihn nicht zu træsten versucht,  w¤re
alles beim alten geblieben, so aber, weil er mir unendlich leid tat  und ich
es  ihm sagte, wollte er  mich nicht  mehr  sehen. - -  - Sie  verstehen das
nicht, Herr Pernath? Es  ist doch so einfach:  er ist  ein Besessener, - ein
Mensch, der sofort miŸtrauisch,  unheilbar miŸtrauisch wird, wenn jemand  an
sein  Herz  rìhrt.  Er  h¤lt  sich  fìr  noch  viel  h¤Ÿlicher,  als  er  in
Wirklichkeit ist, - wenn das ìberhaupt mæglich sein  kann, und darin wurzelt
sein ganzes  Denken und Handeln. Man sagt, seine Frau h¤tte ihn gern gehabt,
vielleicht war  es mehr  Mitleid als  Liebe, aber immerhin glaubten  es sehr
viele Leute. Der  einzige, der vom Gegenteil tief durchdrungen  war, war er.
œberall wittert er Verrat und HaŸ.
     Nur bei seinem Sohn  machte er eine Ausnahme.  Ob es  daher kam, daŸ er
ihn vom  S¤uglingsalter an hatte  heranwachsen sehen, also das Keimen  jeder
Eigenschaft von Urbeginn in dem Kinde sozusagen miterlebte und daher nie  zu
einem Punkte gelangte, wo sein  MiŸtrauen h¤tte einsetzen kænnen, oder ob es
im jìdischen Blute lag:  alles, was  an  Liebesf¤higkeit  in ihm lebte,  auf
seinen Nachkommen  auszugieŸen - in jener instinktiven Furcht unserer Rasse:
wir kænnten  aussterben  und eine Mission nicht  erfìllen, die wir vergessen
haben, die aber dunkel in uns fortlebt, - wer kann das wissen!
     Mit  einer Umsicht, die beinahe  an Weisheit  grenzte,  und  bei  einem
unbelesenen Menschen, wie er, wunderbar ist, leitete er die Erziehung seines
Sohnes.  Mit  dem  Scharfsinn eines Psychologen r¤umte  er dem  Kinde  jedes
Erlebnis aus dem  Wege,  das  zur Entwicklung der  Gewissenst¤tigkeit  h¤tte
beitragen kænnen, um ihm kìnftige seelische Leiden zu ersparen.
     Er hielt ihm als Lehrer einen hervorragenden Gelehrten, der die Ansicht
verfocht,  die  Tiere  seien empfindungslos  und  ihre  Schmerz¤uŸerung  ein
mechanischer Reflex.
     Aus   jedem   Geschæpf  so  viel  Freude  und  GenuŸ  fìr  sich  selbst
herauspressen,  wie  nur  irgend  mæglich,  und dann die Schale  sofort  als
nutzlos  wegzuwerfen:  das  war  ungef¤hr  das  Abc  seines   weitblickenden
Erziehungssystems.
     DaŸ das Geld als Standarte und  Schlìssel zur ›Macht‹ dabei eine  erste
Rolle spielte, kænnen Sie sich denken,  Herr  Pernath. Und  so wie er selbst
den eigenen Reichtum  sorgsam geheim h¤lt, um die  Grenzen seines Einflusses
in Dunkel zu hìllen, so ersann er sich  ein Mittel, seinem Sohn „hnliches zu
ermæglichen, ihm aber gleichzeitig die Qual eines scheinbar ¤rmlichen Lebens
zu ersparen:  er durchtr¤nkte  ihn  mit  der  infernalischen  Lìge  von  der
›Schænheit‹,  brachte ihm die ¤uŸere und  innere Geb¤rde  der „sthetik  bei,
lehrte  ihn ¤uŸerlich:  die Lilie auf  dem Felde heucheln und innerlich  ein
Aasgeier sein.
     Natìrlich war das mit der  ›Schænheit‹ wohl  kaum  eigene Erfindung von
ihm - vermutlich die ›Verbesserung‹ eines Ratschlags, den ihm ein Gebildeter
gegeben hatte.
     DaŸ ihn sein Sohn sp¤ter verleugnete, wo und  wann er nur  konnte, nahm
er niemals  ìbel. Im  Gegenteil, er machte es  ihm  zur  Pflicht: denn seine
Liebe war  selbstlos, und wie ich  es schon einmal von meinem Vater sagte: -
von der Art, die ìbers Grab hinausgeht."
     Mirjam schwieg  einen  Augenblick  und  ich sah ihr  an,  wie  sie ihre
Gedanken stumm weiterspann, hærte  es an dem ver¤nderten Klang ihrer Stimme,
als sie sagte:
     "Seltsame Frìchte wachsen auf dem Baume des Judentums."
     "Sagen Sie,  Mirjam,"  fragte ich,  "haben Sie  nie  davon  gehært, daŸ
Wassertrum eine  Wachsfigur in seinem Laden stehen hat? Ich weiŸ nicht mehr,
wer es mir erz¤hlt hat, - es war vielleicht nur ein Traum - -"
     "Nein,  nein,  es  ist  schon  richtig, Herr Pernath:  eine lebensgroŸe
Wachsfigur steht in der Ecke, in der er, mitten unter dem tollsten Gerìmpel,
auf seinem Strohsack schl¤ft. Er hat sie vor Jahren einem Schaubudenbesitzer
abgewuchert,  heiŸt  es, bloŸ  weil  sie  einem  M¤dchen - einer  Christin -
¤hnlich sah, die angeblich einmal seine Geliebte gewesen sein soll."
     "Charouseks Mutter!" dr¤ngte es sich mir auf.
     "Ihren Namen wissen Sie nicht, Mirjam?"
     Mirjam  schìttelte den Kopf. "Wenn Ihnen daran liegt,  - soll ich  mich
erkundigen?"
     "Ach Gott, nein, Mirjam; es ist  mir vollkommen gleichgìltig", (ich sah
an ihren blitzenden Augen,  daŸ sie sich in  Eifer geredet hatte. Sie durfte
nicht wieder zu  sich kommen, nahm  ich mir vor),  "aber was mich viel  mehr
interessiert,  ist das  Gebiet,  von dem Sie vorhin  flìchtig  sprachen. Ich
meine  das  ›vom  Tauwind‹.  -  Ihr  Vater  wìrde  Ihnen  doch  gewiŸ  nicht
vorschreiben, wen Sie heiraten sollen?"
     Sie lachte lustig auf. "Mein Vater? Wo denken Sie hin!"
     "Nun, das ist ein groŸes Glìck fìr mich."
     "Wieso?" fragte sie arglos.
     "Weil ich dann noch Chancen habe."
     Es war nur ein Scherz, und sie nahm es auch nicht anders hin, aber doch
sprang sie rasch auf  und  ging ans Fenster,  um mich nicht sehen zu lassen,
daŸ sie rot wurde.
     Ich lenkte ein, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen:
     "Das  eine  bitte  ich  mir  aus  als  alter  Freund:  Mich  mìssen Sie
einweihen, wenn's einmal so weit ist. - Oder gedenken Sie ìberhaupt ledig zu
bleiben?"
     "Nein!  nein!   nein!"  -  sie  wehrte  so  entschlossen  ab,  daŸ  ich
unwillkìrlich l¤chelte - "einmal muŸ ich ja doch heiraten."
     "Natìrlich! Selbstverst¤ndlich!"
     Sie wurde nervæs wie ein Backfisch.
     "Kænnen Sie denn nicht eine Minute ernsthaft  bleiben, Herr Pernath?" -
Ich  machte gehorsam ein Lehrergesicht, und sie setzte sich wieder. - "Also:
wenn ich sage, ich muŸ doch einmal heiraten, so meine ich damit, daŸ ich mir
zwar bis jetzt den Kopfìber  die n¤heren Umst¤nde nicht zerbrochen habe, den
Sinn des Lebens aber gewiŸ nicht verstìnde, wenn ich annehmen wìrde, ich sei
als Weib auf die Welt gekommen, um kinderlos zu bleiben."
     Das erste Mal,  seit ich sie kannte,  sah ich das Frauenhafte in  ihren
Zìgen.
     "Es  gehært  mit   zu  meinen  Tr¤umen",  fuhr  sie  leise  fort,  "mir
vorzustellen, daŸ es ein Endziel sei, wenn zwei Wesen zu einem verschmelzen,
- zu dem, was - - haben Sie nie von dem ¤gyptischen Osiriskult gehært?  - zu
dem verschmelzen, was der ›Hermaphrodit‹ als Symbol bedeuten mag."
     Ich horchte gespannt auf: "Der Hermaphrodit -?"
     "Ich meine:  Die  magische  Vereinigung  von m¤nnlich und  weiblich  im
Menschengeschlecht  zu  einem  Halbgott.  Als  Endziel! -  Nein,  nicht  als
Endziel, als Beginn eines neuen Weges, der ewig ist - kein Ende hat."
     "Und  hoffen  Sie,   dereinst  denjenigen   zu   finden,"   fragte  ich
erschìttert, "den Sie suchen? - Kann es nicht  sein, daŸ er in  einem fernen
Land lebt, vielleicht gar nicht auf Erden ist?"
     "Davon weiŸ ich nichts"; sagte sie einfach, "ich  kann nur warten. Wenn
er durch Zeit und Raum von mir getrennt ist, - was ich nicht glaube, weshalb
w¤re  ich  dann  hier  im  Getto  angebunden?  -  oder   durch   die  Klìfte
gegenseitigen Nichterkennens - und  ich finde ihn nicht, dann hat mein Leben
keinen Zweck gehabt und war das gedankenlose Spiel eines idiotischen D¤mons.
- Aber, bitte, bitte, reden wir nicht mehr davon," flehte sie, "wenn man den
Gedanken  nur  ausspricht,  bekommt  er  schon  einen  h¤Ÿlichen,  irdischen
Beigeschmack, und ich mæchte nicht -"
     Sie brach plætzlich ab.
     "Was mæchten Sie nicht, Mirjam?"
     Sie hob die Hand. Stand rasch auf und sagte:
     "Sie bekommen Besuch, Herr Pernath!"
     Seidenkleider raschelten auf dem Gang.
     Ungestìmes Klopfen. Dann:
     Angelina!
     Mirjam wollte gehen; ich hielt sie zurìck:
     "Darf  ich vorstellen: die Tochter eines lieben  Freundes - Frau Gr¤fin
-"
     "Nicht   einmal  vorfahren  kann  man   mehr.   œberall   das  Pflaster
aufgerissen. Wann werden Sie  einmal in eine menschenwìrdige Gegend siedeln,
Meister Pernath? DrauŸen schmilzt der Schnee und der  Himmel  jubelt, daŸ es
einem  die Brust zersprengt,  und Sie hocken  hier in Ihrer Tropfsteingrotte
wie ein alter  Frosch, - -  ìbrigens wissen Sie,  daŸ ich gestern bei meinem
Juwelier  war und  er gesagt hat: Sie seien der græŸte Kìnstler, der feinste
Gemmenschneider,  den es heute gibt,  wenn nicht  einer der  græŸten, die je
gelebt  haben?!"  - Angelina  plauderte  wie ein  Wasserfall,  und  ich  war
verzaubert. Sah nur mehr ihre strahlenden, blauen Augen, die kleinen FìŸe in
den  winzigen  Lackstiefeln,  sah  das kapriziæse  Gesicht aus dem Wust  von
Pelzwerk leuchten und die rosigen Ohrl¤ppchen.
     Sie lieŸ sich kaum Zeit auszuatmen.
     "An  der Ecke  steht mein Wagen.  Ich  hatte schon Angst, Sie nicht  zu
Hause  zu treffen. Sie haben doch hoffentlich noch nicht zu Mittag gegessen?
Wir fahren zuerst  - ja, wohin fahren wir zuerst? Wir fahren zuerst einmal -
warten Sie - - ja: vielleicht in den  Baumgarten, oder kurz: irgendwohin ins
Freie, wo man  so recht das Keimen und heimliche Sprossen in  der Luft ahnt.
Kommen Sie, kommen Sie, nehmen Sie Ihren Hut;  und dann essen Sie bei mir, -
und dann schw¤tzen wir  bis abends. Nehmen Sie doch Ihren Hut! Worauf warten
Sie denn? - Eine warme,  ganz weiche Decke ist unten: da wickeln wir uns ein
bis an die Ohren und kuscheln uns zusammen, bis uns siedheiŸ wird."
     Was sollte ich  nur  sagen?! "Soeben  habe ich mit  der Tochter  meines
Freundes eine Spazierfahrt verabredet - -"
     Mirjam hatte  sich bereits  hastig von Angelina verabschiedet, noch ehe
ich aussprechen konnte.
     Ich  begleitete  sie  bis  vor  die  Tìr,  obschon  sie mich freundlich
abwehren wollte.
     "Hæren Sie mich an, Mirjam, ich kann es Ihnen hier auf der Treppe nicht
so sagen, wie ich an Ihnen h¤nge - - und daŸ ich tausendmal lieber mit Ihnen
- -"
     "Sie dìrfen die Dame nicht warten lassen, Herr  Pernath,"  dr¤ngte sie,
"adieu und viel Vergnìgen!"
     Sie sagte es voll Herzlichkeit und unverstellt und  echt, aber ich sah,
daŸ der Glanz in ihren Augen erloschen war.
     Sie eilte  die Treppe hinunter,  und  das  Leid schnìrte mir  die Kehle
zusammen.
     Mir war, als h¤tte ich eine Welt verloren.
     0x01 graphic

     Wie im  Rausch saŸ ich an Angelinas Seite.  Wir fuhren in rasendem Trab
durch die menschenìberfìllten StraŸen.
     Eine Brandung des Lebens rings um mich, daŸ ich, halb bet¤ubt, nur noch
die  kleinen   Lichtflecke  in  dem  Bilde,  das  an   mir   vorìberhuschte,
unterscheiden  konnte: blitzende Juwelen in Ohrringen und Muffketten, blanke
Zylinderhìte, weiŸe  Damenhandschuhe, einen Pudel mit rosa Halsschleife, der
kl¤ffend   in   die  R¤der  beiŸen   wollte,  sch¤umende  Rappen,   die  uns
entgegensausten in silbernen Geschirren, ein  Ladenfenster, drin schimmernde
Schalen  voll Perlschnìren  und  funkelnden  Geschmeiden,  -  Seidenglanz um
schlanke M¤dchenhìften.
     Der scharfe Wind, der uns ins Gesicht  schnitt, lieŸ mich die W¤rme von
Angelinas Kærper doppelt sinnverwirrend empfinden.
     Die Schutzleute an den Kreuzungen sprangen respektvoll zur Seite,  wenn
wir an ihnen vorìberjagten.
     Dann ging's im Schritt ìber das Quai, das eine einzige  Wagenreihe war,
an der eingestìrzten steinernen Brìcke vorbei, umstaut vom Gewìhl  gaffender
Gesichter.
     Ich blickte kaum hin: - das kleinste Wort aus dem Munde Angelinas, ihre
Wimpern,  das eilige Spiel  ihrer Lippen, - alles, alles  war mir  unendlich
viel  wichtiger,  als  zuzusehen,  wie  die   Felstrìmmer   dort  unten  den
antaumelnden Eisschollen die Schultern entgegenstemmten. -
     Parkwege. Dann - gestampfte, elastische  Erde. Dann Laubrascheln  unter
den  Hufen  der  Pferde,  nasse  Luft,   bl¤tterlose   Baumriesen  voll  von
Kr¤hennestern, totes  Wiesengrìn mit weiŸlichen Inseln schwindenden Schnees,
alles zog an mir vorbei wie getr¤umt.
     Nur mit ein paar kurzen Worten, fast gleichgìltig, kam Angelina auf Dr.
Savioli zu sprechen.
     "Jetzt,  wo  die  Gefahr  vorìber  ist",  sagte  sie  mit entzìckender,
kindlicher  Unbefangenheit,  "und ich  weiŸ,  daŸ es ihm auch wieder  besser
geht, kommt mir alles das,  was ich mitgemacht  habe, so gr¤Ÿlich langweilig
vor.  - Ich  will mich endlich einmal wieder freuen, die Augen  zumachen und
untertauchen in dem glitzernden Schaum des Lebens. Ich glaube,  alle  Frauen
sind so. Sie  gestehen es bloŸ nicht ein. Oder sie sind so dumm,  daŸ sie es
selbst nicht wissen. Meinen  Sie nicht auch?" Sie  hærte gar nicht hin,  was
ich   darauf   antwortete.  "œbrigens   sind   mir  die  Frauen  vollst¤ndig
uninteressant.  Sie dìrfen  es natìrlich  nicht als Schmeichelei  auffassen:
aber  -  wahrhaftig, die bloŸe  N¤he eines  sympathischen Mannes ist mir  im
kleinen  Finger  lieber  als das  anregendste  Gespr¤ch  mit  einer noch  so
gescheiten  Frau. Es ist ja schlieŸlich doch alles  dummes Zeug, was man  da
zusammenschw¤tzt. - Hæchstens: das biŸchen Putz - na und! Die Moden wechseln
ja  nicht gar so h¤ufig. - - Nicht wahr, ich bin  leichtsinnig?", fragte sie
plætzlich  kokett,  daŸ ich  mich, bestrickt  von ihrem Reiz, zusammennehmen
muŸte, nicht  ihr  Kæpfchen zwischen meine  H¤nde zu nehmen  und sie in  den
Nacken zu kìssen, - "sagen Sie, daŸ ich leichtsinnig bin!"
     Sie schmiegte sich noch dichter an und h¤ngte sich in mich ein.
     Wir   fuhren   aus  der   Allee  heraus   an   Bosketts   entlang   mit
strohumwickelten Zierstauden, die  aussahen  in ihren Hìllen  wie Rìmpfe von
Ungeheuern mit abgehauenen Gliedern und H¤uptern.
     Leute saŸen auf B¤nken in der Sonne und  blickten hinter uns  drein und
steckten die Kæpfe zusammen.
     Wir  schwiegen eine  Weile und hingen  unseren Gedanken  nach. Wie  war
Angelina  doch so vollst¤ndig anders, als sie  bisher in  meiner  Einbildung
gelebt hatte! - Als sei sie erst heute fìr mich in die Gegenwart gerìckt!
     War  das  wirklich  dieselbe  Frau, die  ich damals  in  der  Domkirche
getræstet hatte?
     Ich konnte den Blick nicht wenden von ihrem halboffenen Mund.
     Sie sprach noch immer kein Wort. Schien im Geiste ein Bild zu sehen.
     Der Wagen bog ìber eine feuchte Wiese.
     Es roch nach erwachender Erde.
     "Wissen Sie, - - Frau - -?"
     "Nennen Sie mich doch Angelina", unterbrach sie mich leise.
     "Wissen Sie, Angelina, daŸ  - daŸ ich heute die  ganze Nacht von  Ihnen
getr¤umt habe?", stieŸ ich gepreŸt hervor.
     Sie  machte eine  kleine rasche  Bewegung, als wolle sie  ihren Arm aus
meinem  ziehen, und sah mich groŸ an. "Merkwìrdig! Und ich  von Ihnen! - Und
in diesem Moment habe ich dasselbe gedacht."
     Wieder  stockte  das Gespr¤ch, und beide  errieten  wir,  daŸ  wir auch
dasselbe getr¤umt hatten.
     Ich fìhlte es an dem Beben ihres Blutes. Ihr Arm zitterte kaum merklich
an meiner Brust. Sie blickte  krampfhaft von mir weg aus dem Wagen hinaus. -
- -
     Langsam zog  ich  ihre  Hand  an  meine Lippen,  streifte  den  weiŸen,
duftenden Handschuh  zurìck, hærte, wie  ihr Atem  heftig wurde, und  preŸte
toll vor Liebe meine Z¤hne in ihren Handballen.
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     -  - Stunden  sp¤ter  ging ich wie ein Trunkener  durch  den Abendnebel
hinab der  Stadt zu. Planlos w¤hlte ich die StraŸen  und ging lange, ohne es
zu wissen, im Kreise herum.
     Dann stand ich am FluŸ ìber eisernes Gel¤nder gebeugt und starrte hinab
in die tosenden Wellen.
     Noch  immer  fìhlte  ich  Angelinas  Arme um  meinen  Nacken,  sah  das
steinerne  Becken  des  Springbrunnens,  an  dem  wir schon einmal  Abschied
voneinander  genommen  vor  vielen  Jahren,  vor   mir,  mit  den  faulenden
Ulmenbl¤ttern  darin, und sie wanderte  wieder mit mir,  wie soeben erst vor
kurzem, den Kopf an  meine  Schulter  gelehnt, stumm  durch den fræsteldnen,
d¤mmrigen Park ihres Schlosses.
     Ich setzte mich  auf eine  Bank und zog den Hut tief ins Gesicht, um zu
tr¤umen.
     Die Wasser  brausten  ìber  das  Wehr und  ihr Rauschen verschlang  die
letzten, aufmurrenden Ger¤usche der schlafengehenden Stadt.
     Wenn  ich  von  Zeit  zu  Zeit meinen  Mantel  fester  um mich zog  und
aufblickte, lag der FluŸ in immer tieferen Schatten, bis er endlich, von der
schweren  Nacht  erdrìckt,  schwarzgrau  dahinstræmte  und  der  Gischt  des
Staudamms als weiŸer,  blendender  Streifen  schr¤g  hinìber zum andern Ufer
lief.
     Mich  schauderte  bei  dem  Gedanken, wieder zurìck  zu mìssen in  mein
trauriges Haus.
     Der Glanz eines kurzen Nachmittags hatte mich  fìr immer  zum Fremdling
in meiner Wohnst¤tte gemacht.
     Eine Spanne  von wenigen Wochen, vielleicht  nur von Tagen, dann  muŸte
das  Glìck vorìber sein  - und  nichts  blieb  davon als  eine wehe,  schæne
Erinnerung.
     Und dann?
     Dann war  ich heimatlos  hier  und drìben, diesseits  und jenseits  des
Flusses.
     Ich  stand  auf!  Wollte noch durch das Parkgitter einen  Blick auf das
SchloŸ werfen, hinter dessen  Fenstern sie schlief, ehe ich in  das finstere
Getto ging. -  - - Ich schlug die Richtung  ein, aus  der ich  gekommen war,
tappte  mich  durch  den dichten Nebel  an  H¤userreihen  entlang  und  ìber
schlummernde Pl¤tze, sah  schwarze  Monumente drohend auftauchen und einsame
Schilderh¤user  und die  Schnærkel  von Barockfassaden.  Der  matte Schimmer
einer Laterne  wuchs  zu  riesigen,  phantastischen  Ringen  in verblichenen
Regenbogenfarben aus dem Dunst heraus, wurde zum fahlgelben, stechenden Auge
und zerging hinter mir in der Luft.
     Mein FuŸ tastete breite, steinerne Stufenfl¤chen, mit Kies bestreut. Wo
war ich? Ein Hohlweg, der steil aufw¤rts fìhrt?
     Glatte Gartenmauern links  und  rechts? Die  kahlen  „ste  eines Baumes
h¤ngen herìber. Sie kommen  vom  Himmel herunter:  der Stamm  verbirgt  sich
hinter der Nebelwand. -
     Ein paar morsche, dìnne Zweige  brechen krachend ab,  wie  mein Hut sie
streift, und fallen an meinem Mantel hinab  in den  nebligen grauen Abgrund,
der mir meine FìŸe verbirgt.
     Dann ein strahlender Punkt: ein  einsames Licht in der Ferne - irgendwo
- r¤tselhaft - zwischen Himmel und Erde. - - -
     Ich muŸte fehlgegangen sein. Es konnte nur die "alte SchloŸstiege" sein
neben den H¤ngen der Fìrstenbergschen G¤rten - - -
     Dann lange Strecken lehmiger Erde. - Ein gepflasterter Weg.
     Ein  massiger  Schatten  ragt hoch  auf, den  Kopf  in einer schwarzen,
steifen Zipfelmìtze: "die Daliborka" = der Hungerturm, in dem Menschen einst
verschmachteten, derweilen Kænige unten im "Hirschgraben" das Wild hetzten.
     Ein schmales, gewundenes G¤Ÿchen mit SchieŸscharten, ein Schneckengang,
kaum breit genug,  die Schultern durchzulassen  -  und  ich stand  vor einer
Reihe von H¤uschen, keines hæher als ich.
     Wenn ich den Arm ausstreckte, konnte ich auf die D¤cher greifen.
     Ich war  in  die  "Goldmachergasse"  geraten,  wo  im  Mittelalter  die
alchimistischen  Adepten  den  Stein der Weisen geglìht und die Mondstrahlen
vergiftet haben.
     Es rìhrte kein anderer Weg hinaus als der, den ich gekommen war.
     Aber ich fand die Mauerlìcke nicht mehr, die mich  eingelassen, - stieŸ
an ein Holzgatter.
     Es nìtzt  nichts, ich  muŸ jemand wecken,  damit man mir den Weg zeigt,
sagte ich mir. Sonderbar, daŸ hier ein  Haus die Gasse  abschlieŸt  - græŸer
als die andern und anscheinend wohnlich? Ich  kann mich  nicht entsinnen, es
je bemerkt zu haben.
     Es muŸ wohl weiŸ getìncht sein, daŸ es so hell aus dem Nebel leuchtet?
     Ich gehe durch das Gatter ìber  den  schmalen Gartenstreif,  drìcke das
Gesicht an die Scheiben: - alles finster. Ich  klopfe ans Fenster. - Da geht
drinnen ein steinalter Mann, eine  brennende  Kerze  in der Hand, durch eine
Tìr mit greisenhaft  wankenden  Schritten  bis  mitten  in die Stube, bleibt
stehen, dreht langsam den Kopf nach den verstaubten alchimistischen Retorten
und  Kolben an der Wand, starrt  nachdenklich auf die riesigen Spinnweben in
den Ecken und richtet dann seinen Blick unverwandt auf mich.
     Der Schatten seiner Backenknochen f¤llt ihm auf die Augenhæhlen, daŸ es
aussieht, als seien sie leer wie die einer Mumie.
     Er sieht mich offenbar nicht.
     Ich klopfe ans Glas.
     Er hært mich  nicht. Geht  lautlos wie ein Schlafwandler wieder aus dem
Zimmer.
     Ich warte vergebens.
     Klopfe ans Haustor: niemand æffnet. - - -
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     Es  blieb mir nichts ìbrig, als so lange zu suchen, bis ich den Ausgang
aus der Gasse endlich fand.
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     Ob  es nicht am besten  w¤re, ich ginge noch unter Menschen,  ìberlegte
ich. -  Zu meinen Freunden: Zwakh, Prokop und Vrieslander ins "alte Ungelt",
wo sie bestimmt sein wìrden -, um meine verzehrende Sehnsucht nach Angelinas
Kìssen wenigstens fìr ein paar  Stunden zu  ìbert¤uben? Rasch mache ich mich
auf den Weg.
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     Wie  ein  Trifolium von  Toten hockten sie  um den wurmstichigen, alten
Tisch herum, - alle drei: weiŸe dìnnstielige Tonpfeifen zwischen den Z¤hnen,
und das Zimmer voll Rauch.
     Man  konnte  kaum ihre Gesichtszìge  unterscheiden,  so  schluckten die
dunkelbraunen W¤nde das sp¤rliche Licht der altmodischen H¤ngelampe ein.
     In  der  Ecke die  spindeldìrre, wortkarge,  verwitterte Kellnerin  mit
ihrem   ewigen   Strickstrumpf,   dem  farblosen  Blick   und   der   gelben
Entenschnabelnase!
     Mattrote Decken hingen vor den geschlossenen  Tìren, so daŸ die Stimmen
der  G¤ste im  Nebenzimmer  nur  wie das leise  Summen eines  Bienenschwarms
herìberdrangen.
     Vrieslander, seinen  kegelfærmigen Hut mit der  geraden Krempe auf  dem
Kopf, mit  seinem  Knebelbart,  der  bleigrauen Gesichtsfarbe  und der Narbe
unter  dem Auge, sah aus wie ein ertrunkener Holl¤nder aus einem vergessenen
Jahrhundert.
     Josua  Prokop  hatte  sich  eine  Gabel quer  durch  die  Musikerlocken
gesteckt,   klapperte   unaufhærlich    mit   seinen   gespenstisch   langen
Knochenfingern und sah bewundernd zu, wie sich  Zwakh abmìhte, der bauchigen
Arakflasche das Purpurm¤ntelchen einer Marionette umzuh¤ngen.
     "Das  wird Babinski",  erkl¤rte mir Vrieslander mit  tiefem Ernst. "Sie
wissen  nicht,  wer Babinski  war? Zwakh,  erz¤hlen Sie  Pernath  rasch, wer
Babinski war!"
     "Babinski  war",  begann  Zwakh sofort, ohne  auch nur eine Sekunde von
seiner Arbeit aufzusehen, "einst ein  berìhmter Raubmærder  in Prag. - Viele
Jahre betrieb  er  sein  sch¤ndliches Handwerk,  ohne daŸ  es jemand bemerkt
h¤tte. Nach und nach  jedoch fiel es in den besseren Familien auf,  daŸ bald
dieses, bald jenes Mitglied der Sippe  beim Essen fehlte und sich nie wieder
blicken lieŸ. Wenn man auch anfangs nichts sagte, da die Sache gewissermaŸen
ihre  guten Seiten  hatte, indem  man weniger  zu kochen brauchte, so durfte
wiederum  nicht  auŸer  acht   gelassen  werden,  daŸ  das  Ansehen  in  der
Gesellschaft leicht darunter leiden und man ins Gerede kommen konnte.
     Besonders, wenn es sich um das  spurlose Verschwinden mannbarer Tæchter
handelte.
     œberdies verlangte die  Hochachtung vor sich selbst,  daŸ  man  auf ein
bìrgerliches Zusammenleben in der Familie nach auŸen hin das nætige  Gewicht
legte.
     Die Zeitungsrubriken: "Kehre zurìck, alles ist verziehen" wuchsen immer
mehr und  mehr, -  ein  Umstand,  den Babinski, leichtsinnig wie die meisten
Berufsmærder, in seine  Berechnungen nicht einbezogen hatte, - und  erregten
schlieŸlich die allgemeine Aufmerksamkeit.
     In dem  lieblichen Dærfchen Krtsch  bei Prag hatte sich  Babinski,  der
innerlich  ein ausgesprochen  idyllischer Charakter war,  mit der Zeit durch
seine unverdrossene T¤tigkeit ein kleines, aber trautes Heim geschaffen. Ein
H¤uschen, blitzend  vor  Sauberkeit,  und  ein G¤rtchen davor mit  blìhenden
Geranien.
     Da es ihm seine Einkìnfte nicht gestatteten, sich zu vergræŸern, sah er
sich genætigt, um  die Leichen seiner Opfer unauff¤llig bestatten zu kænnen,
statt  eines  Blumenbeetes  -  wie  er  es  gern   gesehen   h¤tte  -  einen
grasbewachsenen und schlichten, aber, den Umst¤nden angemessen: zweckm¤Ÿigen
Grabhìgel anzulegen,  der sich  mìhelos verl¤ngern lieŸ, wenn es der Betrieb
oder die Saison erforderte.
     Auf  dieser  Weihest¤tte pflegte Babinski allabendlich nach  des  Tages
Last und Mìhen in  den  Strahlen der untergehenden  Sonne  zu sitzen und auf
seiner Flæte allerlei schwermìtige Weisen zu blasen." - -
     "Halt!"  unterbrach Josua Prokop rauh, zog einen  Hausschlìssel aus der
Tasche, hielt ihn wie eine Klarinette an den Mund und sang:
     "Zimzerlim zambusla - deh."
     "Waren  Sie denn dabei,  daŸ Sie die Melodie so genau kennen?",  fragte
Vrieslander erstaunt.
     Prokop warf ihm einen bitterbæsen Blick zu: "Nein. Dazu hat Babinski zu
frìh gelebt. Aber was er gespielt haben kann, muŸ  ich als Komponist doch am
besten  wissen.  Ihnen   steht  darìber  kein  Urteil  zu:  Sie  sind  nicht
musikalisch. - - Zimzerlim - zambusla - busla - deh."
     Zwakh hærte  ergriffen  zu,  bis  Prokop  seinen  Hausschlìssel  wieder
einsteckte, und fuhr dann fort:
     "Das best¤ndige Wachsen des Hìgels erweckte allm¤hlich Verdacht bei den
Anrainern, und einem Polizeimann aus der Vorstadt  Zizkov, der  gelegentlich
von weitem  zusah, wie Babinski gerade eine alte Dame der guten Gesellschaft
erwìrgte,  gebìhrt das  Verdienst, dem selbstsìchtigen Treiben  des Unholdes
ein fìr allemal Schranken gesetzt zu haben:
     Man verhaftete Babinski in seinem Tuskulum.
     Der  Gerichtshof  verurteilte  ihn  unter  Zubilligung  des  mildernden
Umstandes  eines  ansonsten trefflichen  Leumundes zum Tode durch den Strang
und beauftragte zugleich die Firma  Gebrìder Leipen - Seilwaren  en gros und
en detail - die nætigen Hinrichtungsutensilien, soweit diese in ihre Branche
fielen,  unter  Anrechnung  ziviler  Preise  einem  hohen  Staats¤rar  gegen
Quittung auszuh¤ndigen.
     Nun   fìgte  es  sich  aber,  daŸ  der  Strick   riŸ  und  Babinski  zu
lebensl¤nglichem Gef¤ngnis begnadigt wurde.
     Zwanzig  Jahre  verbìŸte  der  Raubmærder hinter den  Mauern von  Sankt
Pankraz, ohne daŸ je ein  Vorwurf  ìber seine  Lippen gekommen w¤re;  - noch
heute ist der  Beamtenstab  des Institutes  voll Lob ìber seine vorbildliche
Auffìhrung,  ja,  man  gestattete ihm  sogar,  an  den Geburtstagen  unseres
Allerhæchsten Landesherrn ab und zu die Flæte zu blasen; -"
     Prokop suchte  sofort  wieder  nach  seinem Hausschlìssel,  aber  Zwakh
wehrte ihm.
     "- infolge allgemeiner  Amnestie wurde dem Babinski der Rest der Strafe
nachgesehen,  und  er  bekam  die  Stelle eines  Pfærtners  im  Kloster  der
›Barmherzigen Schwestern‹.
     Die  leichte Gartenarbeit, die er nebenbei  mit zu versehen hatte, ging
ihm  dank der  groŸen,  w¤hrend seines  frìheren Wirkungskreises  erworbenen
Geschicklichkeit im Gebrauch  des Spatens hurtig  von  der Hand, so daŸ  ihm
hinl¤nglich  MuŸe  blieb,  Herz und Geist  an guter, sorgf¤ltig ausgew¤hlter
Lektìre zu l¤utern.
     Die daraus resultierenden Folgen waren hocherfreulich.
     Sooft ihn  die Oberin Samstagabends  ins Wirtshaus  schickte, damit  er
sein Gemìt  ein wenig erheitere, jedesmal kam er pìnktlich vor  Anbruch  der
Nacht nach Hause mit dem  Hinweis, der Verfall der  allgemeinen Moral stimme
ihn  trìbe  und  soviel  lichtscheues  Gesindel schlimmster  Sorte mache die
LandstraŸe unsicher, daŸ es  fìr jeden Friedliebenden ein Gebot der Klugheit
sei, rechtzeitig die Schritte heimw¤rts zu lenken.
     Es  war  nun damaliger Zeit  in  Prag bei den  Wachsziehern die Unsitte
eingerissen, kleine Figìrchen feilzuhalten,  die ein rotes Manterle umh¤ngen
hatten und den Raubmærder Babinski darstellten.
     Wohl in keiner der leidtragenden Familien fehlte ein solches.
     Gewæhnlich  aber standen sie in den L¤den unter Glasstìrzen,  und  ìber
nichts  konnte  sich  Babinski  so  empæren,  als wenn  er  eines derartigen
Wachsbildes ansichtig wurde.
     ›Es ist  im hæchsten  Grade unwìrdig  und  zeugt von einer Gemìtsroheit
sondersgleichen, einem Menschen best¤ndig die Verfehlungen seiner Jugendzeit
vor  Augen zu fìhren,‹ pflegte Babinski  in solchen F¤llen zu sagen ›und  es
ist  tief  zu  bedauern, daŸ von Seiten der  Obrigkeit  nichts geschieht, so
offenkundigem Unfug zu steuern.‹
     Noch auf dem Totenbette ¤uŸerte er sich in ¤hnlichem Sinne.
     Nicht vergebens, denn bald darauf verfìgte die Behærde  die Einstellung
des Handels mit den ¤rgerniserregenden Babinskischen Statuetten." - - -
     -  - - Zwakh tat einen m¤chtigen Schluck  aus seinem Grogglas und  alle
drei grinsten wie  die Teufel, dann wandte er vorsichtig den Kopf  nach  der
farblosen Kellnerin, und ich sah, wie sie eine Tr¤ne im Auge zerdrìckte.
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     - "Na, und Sie geben nichts zum besten, auŸer - natìrlich - daŸ Sie aus
Dankbarkeit   fìr   den   ìberstandenen  KunstgenuŸ  die   Zeche   berappen,
wertgesch¤tzter Kollege und Gemmenschneider?", fragte mich  Vrieslander nach
einer langen Pause allgemeinen Tiefsinnes.
     Ich erz¤hlte ihnen meine Wanderung durch den Nebel.
     Als ich in der  Schilderung  zu der  Stelle kam, wo ich das weiŸe  Haus
erblickt hatte,  nahmen alle drei vor Spannung  die  Pfeifen aus den Z¤hnen,
und als ich schloŸ, schlug Prokop mit der Faust auf den Tisch und rief:
     "Das ist doch rein - -! Alle Sagen, die es gibt,  erlebt dieser Pernath
am eigenen Kadaver. - A propos, der Golem von damals - Sie wissen: die Sache
hat sich aufgekl¤rt."
     "Wieso aufgekl¤rt?" fragte ich baff.
     "Sie kennen doch den verrìckten jìdischen Bettler ›Haschile‹? Nein? Nun
also: dieser Haschile war der Golem."
     "Ein Bettler der Golem?"
     "Jawohl, der Haschile war der Golem. Heute nachmittag ging das Gespenst
seelenvergnìgt   bei  hellichtem   Sonnenschein   in   seinem   berìchtigten
altmodischen  Anzug  aus  dem  XVII.  Jahrhundert  durch  die  Salnitergasse
spazieren, und  da  hat  es der  Schinder mit  einer Hundeschlinge glìcklich
eingefangen."
     "Was soll das heiŸen? Ich verstehe kein Wort!" fuhr ich auf.
     "Ich sage  Ihnen doch: der  Haschile war  es! Er  hat die Kleider, hære
ich, vor l¤ngerer Zeit hinter einem Haustor gefunden. - œbrigens, um auf das
weiŸe  Haus  auf  der  Kleinseite  zurìckzukommen: die  Sache  ist furchtbar
interessant.  Es  geht  n¤mlich  eine  alte  Sage,  daŸ  dort  oben  in  der
Alchimistengasse ein Haus steht,  das nur bei Nebel sichtbar  wird, und auch
da bloŸ ›Sonntagskindern‹. Man nennt es ›die Mauer zur letzten Laterne‹. Wer
bei Tag hinaufgeht,  sieht  dort nur einen groŸen,  grauen Stein, - dahinter
stìrzt es  j¤h ab in die Tiefe in den Hirschgraben, und Sie kænnen von Glìck
sagen, Pernath,  daŸ  Sie keinen Schritt  weiter gemacht  haben:  Sie  w¤ren
unfehlbar hinuntergefallen und h¤tten s¤mtliche Knochen gebrochen.
     Unter dem Stein, heiŸt es, ruht ein riesiger Schatz, und  er  soll  von
dem Orden der ›Asiatischen Brìder‹, die  angeblich Prag gegrìndet haben, als
Grundstein fìr ein  Haus gelegt worden sein, das  dereinst am  Ende der Tage
ein  Mensch bewohnen wird - besser gesagt ein  Hermaphrodit -  ein Geschæpf,
das sich aus  Mann und Weib zusammensetzt. Und der wird das Bild eines Hasen
im Wappen tragen, - nebenbei: der Hase  war das Symbol des Osiris, und daher
stammt wohl die Sitte mit dem Osterhasen.
     Bis die Zeit gekommen  ist, heiŸt es, h¤lt Methusalem in eigener Person
Wache an dem Ort, damit Satan  nicht den Stein beflattert und einen Sohn mit
ihm zeugt: den sogenannten Armilos. - Haben  Sie noch nie von diesem Armilos
erz¤hlen  hæren? -  Sogar  wie er aussehen wìrde, weiŸ man - das heiŸt,  die
alten Rabbiner wissen es; - wenn er auf die Welt k¤me:  Haare aus Gold wìrde
er haben,  rìckw¤rts zum Schopf gebunden, dann: zwei Scheitel, sichelfærmige
Augen und Arme bis herunter zu den FìŸen."
     "Dieses Ehrengigerl  sollte  man  aufzeichnen", brummte Vrieslander und
suchte nach einem Bleistift.
     "Also:  Pernath,  wenn  Sie  einmal   das   Glìck  haben  sollten,  ein
Hermaphrodit zu werden  und en passant den  vergrabenen  Schatz  zu finden,"
schloŸ Prokop, "dann vergessen Sie nicht,  daŸ  ich  stets Ihr bester Freund
gewesen bin!"
     - Mir war nicht zum SpaŸmachen zumute, und ich fìhlte ein leises Weh im
Herzen.
     Zwakh mochte es mir ansehen, wenn  er auch den Grund  nicht wuŸte, denn
er kam mir rasch zu Hilfe:
     "Jedenfalls  ist es  hæchst  merkwìrdig,  fast unheimlich, daŸ  Pernath
gerade eine Vision an jener Stelle hatte, die mit einer  uralten Sage so eng
verknìpft ist. - Da  sind  Zusammenh¤nge,  aus deren Umklammerung  sich  ein
Mensch anscheinend  nicht befreien kann, wenn seine Seele die F¤higkeit hat,
Formen zu  sehen,  die dem Tastsinn vorenthalten sind.  - Ich kann mir nicht
helfen: das œbersinnliche ist doch das Reizvollste! - Was meint ihr?"
     Vrieslander  und Prokop waren  ernst geworden,  und jeder von uns hielt
eine Antwort fìr ìberflìssig.
     "Was  meinen Sie,  Eulalia?"  wiederholte Zwakh, zurìckgewendet,  seine
Frage.
     Die alte Kellnerin  kratzte  sich mit der Stricknadel am Kopf, seufzte,
errætete und sagte:
     "Aber g¤hn' Sie! Sie sind mir ein Schlimmer."
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     "Eine  verdammt  gespannte Luft war  heute den ganzen  Tag ìber",  fing
Vrieslander an, nachdem sich unser Heiterkeitsausbruch gelegt hatte,  "nicht
einen Pinselstrich  hab' ich  fertiggebracht. Fortw¤hrend  hab'  ich an  die
Rosina denken mìssen, wie sie im Frack getanzt hat."
     "Ist sie wieder aufgefunden worden?", fragte ich.
     "›Aufgefunden‹ ist gut. Die Sittenpolizei hat sie doch fìr ein l¤ngeres
Engagement gewonnen! - Vielleicht hat sie dem Herrn Kommiss¤r - damals ›beim
Loisitschek‹, ins Auge  gestochen?  Jedenfalls  ist  sie jetzt  - fieberhaft
t¤tig und tr¤gt  wesentlich zur Hebung des Fremdenverkehrs in der Judenstadt
bei.  Ein verflucht dralles  Mensch ist sie  ìbrigens schon  geworden in der
kurzen Zeit."
     "Wenn  man bedenkt,  was  ein Weib  aus  einem  Mann machen  kann  bloŸ
dadurch, daŸ  sie ihn verliebt sein l¤Ÿt in sich: es ist zum  Staunen", warf
Zwakh hin. "Um das Geld aufzubringen,  zu ihr gehen zu  kænnen, ist der arme
Bursche,  der  Jaromir,  ìber  Nacht  Kìnstler  geworden.  Er  geht  in  den
Wirtsh¤usern herum  und schneidet  Silhouetten fìr G¤ste aus, die  sich  auf
diese Art portr¤tieren lassen."
     Prokop, der den SchluŸ ìberhært hatte, schmatzte mit den Lippen:
     "Wirklich?  Ist  sie so  hìbsch geworden, die  Rosina? - Haben  Sie ihr
schon ein KìŸchen geraubt, Vrieslander?"
     Die Kellnerin sprang sofort auf und verlieŸ indigniert das Zimmer.
     "Das Suppenhuhn!  Die  hat's wahrhaftig nætig,  - Tugendanf¤lle! Pah!",
brummte Prokop ¤rgerlich hinter ihr drein.
     "Was wollen  Sie,  sie  ist doch bei der unrichtigen Stelle abgegangen.
Und auŸerdem war der Strumpf gerade fertig", beschwichtigte ihn Zwakh.
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     Der Wirt  brachte  neuen  Grog und die Gespr¤che  fingen allm¤hlich an,
eine  schwìle Richtung zu nehmen. Zu schwìl,  als daŸ sie mir nicht ins Blut
gegangen w¤ren bei meiner fiebrigen Stimmung.
     Ich str¤ubte mich dagegen, aber je mehr ich mich innerlich abschloŸ und
an Angelina zurìckdachte, um so heiŸer brauste es mir in den Ohren.
     Ziemlich unvermittelt verabschiedete ich mich.
     Der Nebel  war durchsichtiger  geworden,  sprìhte  feine  Eisnadeln auf
mich, war aber  immer noch so  dicht, daŸ ich die StraŸentafeln  nicht lesen
konnte und von meinem Heimweg um ein geringes abkam.
     Ich war in eine andere Gasse geraten und wollte eben umkehren, da hærte
ich meinen Namen rufen:
     "Herr Pernath! Herr Pernath!"
     Ich blickte um mich, in die Hæhe:
     Niemand!
     Ein offenes Haustor, darìber diskret  eine kleine, rote Laterne, g¤hnte
neben  mir  auf, und eine helle Gestalt  -  schien mir - stand  tief im Flur
darin.
     Wieder: "Herr Pernath! Herr Pernath!" Im Flìsterton.
     Ich trat erstaunt in den Gang, - da  schlangen sich warme Frauenarme um
meinen Hals, und  ich sah bei dem  Lichtstrahl,  der aus  einem sich langsam
æffnenden Tìrspalt fiel, daŸ es Rosina war, die sich heiŸ an mich preŸte.

     Ein grauer, blinder Tag.
     Bis  tief  in  den  Morgen  hinein  hatte  ich   geschlafen,  traumlos,
bewuŸtlos, wie ein Scheintoter.
     Meine   alte  Bedienerin   war   ausgeblieben  oder   hatte   vergessen
einzuheizen.
     Kalte Asche lag im Ofen.
     Staub auf den Mæbeln.
     Der FuŸboden nicht gekehrt.
     Fræstelnd ging ich auf und ab.
     Widerw¤rtiger  Geruch  nach  ausgeatmetem  Fusel lag  im  Zimmer.  Mein
Mantel, meine Kleider stanken nach altem Tabakrauch.
     Ich  riŸ  das Fenster  auf,  schloŸ es wieder: - der kalte,  schmutzige
Hauch von der StraŸe war unertr¤glich.
     Spatzen  mit durchn¤Ÿtem  Gefieder hockten regungslos  drauŸen auf  den
Dachrinnen.
     Wohin  ich  blickte,  miŸfarbene  Verdrossenheit.  Alles  in   mir  war
zerrissen, zerfetzt.
     Das  Sitzpolster  auf  dem Lehnstuhl  -  wie fadenscheinig  es war! Die
RoŸhaare quollen hervor aus den R¤ndern.
     Man muŸte es zum Tapezierer schicken  - - ach was, sollte es so bleiben
- noch ein ædes Menschenleben hindurch, bis alles zu Gerumpel zerfiel!
     Und   dort,  welch   geschmackloser,   zweckwidriger   Plunder,   diese
Zwirnlappen an den Fenstern!
     Warum drehte ich sie nicht zu einem Strick und erhenkte mich daran?!
     Dann brauchte ich diese augenverletzenden Dinge wenigstens  nie mehr zu
sehen,  und  der  ganze graue,  zermìrbende Jammer  war  vorìber -  ein  fìr
allemal.
     Ja! Das war das gescheiteste! Ein Ende machen.
     Heute noch.
     Jetzt  noch  -  vormittags.  Gar nicht erst  zum  Essen  gehen.  -  Ein
ekelhafter Gedanke,  mit vollem Magen sich  aus der Welt zu schaffen! In der
nassen Erde liegen und unverdaute, verfaulende Speisen in sich zu haben.
     Wenn nur nie wieder die Sonne scheinen wollte und ihre freche Lìge  von
der Freude des Daseins einem ins Herz funkeln.
     Nein!  ich  lieŸ  mich  nicht  mehr  narren,  wollte nicht  l¤nger  der
Spielball sein eines  t¤ppischen,  zwecklosen Schicksals, das  mich emporhob
und dann wieder  in Pfìtzen stieŸ, bloŸ damit ich die Verg¤nglichkeit  alles
Irdischen einsehen sollte, etwas, was ich l¤ngst wuŸte, was jedes Kind weiŸ,
jeder Hund auf der StraŸe weiŸ.
     Arme, arme Mirjam! Wenn ich ihr wenigstens helfen kænnte.
     Es  hieŸ,  einen  EntschluŸ  fassen,   einen  ernsten,  unab¤nderlichen
BeschluŸ, bevor der  verfluchte  Trieb  zum  Dasein  wieder  in mir erwachen
konnte und mir neue Trugbilder vorgaukeln.
     Wozu hatten sie mir denn  gedient: alle diese Botschaften aus dem Reich
des Unverweslichen?
     Zu nichts, zu gar, gar nichts.
     Nur dazu  vielleicht, daŸ ich im Kreis herumgetaumelt war und jetzt die
Erde als unmægliche Qual empfand.
     Da gab es nur noch eins.
     Ich rechnete  im Kopf zusammen, wieviel Geld  ich auf  der  Bank liegen
hatte.
     Ja,  nur  so ging es. Das war noch das Einzige, Winzige, was von meinen
nichtigen Taten im Leben irgendeinen Wert haben konnte!
     Alles, was ich  besaŸ - die  paar Edelsteine in  der  Schublade dazu, -
zusammenschnìren  in ein  Paket  und  es  Mirjam  schicken.  Ein  paar Jahre
wenigstens wìrde es die Sorge ums t¤gliche Leben von  ihr  nehmen. Und einen
Brief an Hillel schreiben, in dem ich ihm sagte, wie es um sie stand mit dem
"Wunder".
     Er allein konnte ihr helfen.
     Ich fìhlte: ja, er wìrde Rat wissen fìr sie.
     Ich suchte die  Steine zusammen, steckte sie ein, sah auf die Uhr: wenn
ich  jetzt  auf  die Bank ging - in  einer Stunde  konnte  alles in  Ordnung
gebracht sein.
     Und dann noch  einen StrauŸ roter Rosen kaufen fìr Angelina! - - - - es
schrie auf in mir vor  Weh und wilder Sehnsucht. - Nur noch einen Tag, einen
einzigen Tag mæchte ich leben!
     Um dann abermals dieselbe wìrgende Verzweiflung mitmachen zu mìssen?
     Nein, nicht eine einzige Minute  mehr warten!  Es  kam wie Befriedigung
ìber mich, daŸ ich mir nicht nachgegeben hatte.
     Ich blickte umher. Blieb mir noch etwas zu tun?
     Richtig: die Feile  dort. Ich  steckte sie in die  Tasche, - wollte sie
fortwerfen irgendwo auf der Gasse, wie ich es mir neulich schon vorgenommen.
     Ich  haŸte die Feile! Wieviel  hatte gefehlt, und  ich w¤re zum  Mærder
geworden durch sie.
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     Wer kam mich denn da wieder stæren?
     Es war der Trædler.
     "Nur en Augenblick, Herr  von Pernath", bat er fassungslos, als ich ihm
bedeutete, daŸ ich keine Zeit h¤tte. "Nur en ganz en kurzen Augenblick.  Nur
¤ paar Worte."
     Der SchweiŸ lief ihm ìbers Gesicht, und er zitterte vor Aufregung.
     "Kann man hier auch ungestært mit Ihnen sprechen, Herr von Pernath? Ich
mæcht'  nicht, daŸ  der  -  der Hillel wieder hereinkommt.  Sperren Sie doch
lieber die Tìr  ab, oder geh'mer besser ins Nebenzimmer", - er  zog mich  in
seiner gewohnten, heftigen Art hinter sich drein.
     Dann sah er sich ein paarmal scheu um und flìsterte heiser:
     "Ich  hab mir's  ìberlegt, wissen  Sie, - das von neilich. Es is besser
so. Es kommt nix hereaus dabei. Gut. Vorìber is vorìber."
     Ich suchte in seinen Augen zu lesen.
     Er  hielt meinen Blick aus, krampfte aber die Hand  in die  Stuhllehne,
solche Anstrengung kostete es ihn.
     "Das freut mich, Herr Wassertrum," sagte ich, so freundlich ich konnte,
"das  Leben ist  zu  trìb,  als  daŸ man es sich gegenseitig  noch  mit  HaŸ
verbittern sollte."
     "Rein,  als  ob  man  ein  gedrìcktes  Buch  reden  hært,"  grunzte  er
erleichtert, wìhlte in  seinen  Hosentaschen und zog wieder die  goldene Uhr
mit den  verbogenen Sprungdeckeln hervor,  "und damit Sie  sehen, ich mein's
ehrlich, mìssen Sie die Kleinigkeit da von mir annehmen. Als Geschenk."
     "Was f¤llt Ihnen denn ein,"  wehrte ich ab, "Sie werden doch wohl nicht
glauben  -", da fiel  mir  ein, was Mirjam ìber ihn gesagt  hatte,  und  ich
streckte ihm die Hand hin, um ihn nicht zu kr¤nken.
     Er achtete  nicht darauf,  wurde plætzlich weiŸ wie die Wand,  lauschte
und ræchelte:
     "Da! Da! Hab' ich's doch gewuŸt. Schon wieder der Hillel! Er klopft."
     Ich horchte, ging ins andere Zimmer zurìck und zog zu seiner Beruhigung
die Verbindungstìr hinter mir halb zu.
     Es war  diesmal  nicht  Hillel. Charousek  trat  ein,  legte,  wie  zum
Zeichen,  daŸ  er  wisse, wer nebenan sei,  den  Finger  an die  Lippen  und
ìberschìttete  mich in der  n¤chsten Sekunde und ohne  abzuwarten,  was  ich
sagen wìrde, mit einem Schwall von Worten:
     "Oh, mein hochverehrter, liebwerter Meister  Pernath, wie  soll ich nur
die Worte finden, Ihnen  meine Freude auszudrìcken, daŸ  ich Sie allein  und
wohlauf zu Hause antreffe." - - -  Er sprach wie ein Schauspieler, und seine
schwìlstige, unnatìrliche Redeweise  stand in so krassem Gegensatz zu seinem
verzerrten Gesicht, daŸ ich ein tiefes Grauen vor ihm empfand.
     "Niemals h¤tte  ich,  Meister, es gewagt, in dem zerlumpten Zustande zu
Ihnen zu  kommen, in  dem Sie  mich gewiŸ schon des  æfteren auf der  StraŸe
erblickt  haben,  -  doch, was sage  ich: erblickt! haben  Sie mir doch  oft
huldreich die Hand gereicht.
     DaŸ ich heute vor Sie hintreten kann mit weiŸem Kragen und  in sauberem
Anzug,  - wissen Sie, wem  ich es verdanke? Einem der edelsten und  leider -
ach - meist verkannten Menschen unserer Stadt. Rìhrung ìbermannt  mich, wenn
ich seiner gedenke.
     Selber in bescheidenen Verh¤ltnissen, hat er  dennoch eine offene  Hand
fìr Arme und  Bedìrftige.  Von jeher, wenn ich ihn traurig vor seinem  Laden
stehen sah, trieb  es mich aus tiefstem Herzen heraus, zu  ihm zu treten und
ihm stumm die Hand zu drìcken.
     Vor  einigen Tagen rief er mich an,  als  ich vorìberging, schenkte mir
Geld und versetzte  mich dadurch in die Lage, mir  gegen Ratenzahlung  einen
Anzug kaufen zu kænnen.
     Und wissen Sie, Meister Pernath, wer mein Wohlt¤ter war? -
     Mit Stolz  sage ich es, denn  ich war von jeher der einzige, der geahnt
hat,  welch  goldenes  Herz  in seinem  Busen schl¤gt: Es  war - Herr  Aaron
Wassertrum!" - -
     -  -  Ich verstand  natìrlich,  daŸ  Charousek seine  Komædie  auf  den
Trædler,  der nebenan lauschte, gemìnzt hatte,  wenn mir auch unklar  blieb,
was er damit bezweckte; keinesfalls schien mir die allzuplumpe  Schmeichelei
geeignet, den miŸtrauischen Wassertrum  hinters Licht  zu fìhren.  Charousek
erriet offenbar aus meiner  bedenklichen Miene, was  ich dachte,  schìttelte
grinsend den Kopf, und auch seine n¤chsten Worte sollten mir  wahrscheinlich
sagen,  daŸ er seinen  Mann  genau kenne und wisse,  wie dick  er  auftragen
dìrfe.
     "Jawohl! Herr - Aaron - Wassertrum! Es drìckt mir fast das Herz ab, daŸ
ich ihm nicht selbst  sagen  kann,  wie  unendlich  dankbar ich ihm bin, und
beschwære Sie, Meister, verraten Sie ihm niemals, daŸ ich hier war und Ihnen
alles  erz¤hlt  habe.  -  Ich weiŸ,  die Selbstsucht der  Menschen  hat  ihn
verbittert  und tiefes, unheilbares  -  ach, leider  nur zu gerechtfertigtes
MiŸtrauen in seine Brust gepflanzt.
     Ich bin Seelenarzt,  aber auch mein Gefìhl sagt mir, es  ist am besten:
Herr Wassertrum erf¤hrt nie - auch aus meinem Munde nicht - wie hoch ich von
ihm denke. - Es hieŸe das:  Zweifel in sein unglìckliches Herz s¤en. Und das
sei ferne von mir. Lieber soll er mich fìr undankbar halten.
     Meister  Pernath!  Ich  bin  selbst  ein  Unglìcklicher  und  weiŸ  von
Kindesbeinen an,  was es heiŸt, einsam und verlassen in der Welt zu  stehen!
Ich kenne nicht einmal den  Namen  meines Vaters.  Auch mein Mìtterlein habe
ich niemals von Angesicht zu Angesicht gesehen. Sie muŸ frìhzeitig gestorben
sein -"  Charouseks Stimme wurde  seltsam geheimnisvoll und eindringlich,  -
"und  war,  wie  ich  bestimmt glaube,  eine  jener tiefseelisch  angelegten
Naturen, die nie sagen kænnen,  wie unendlich sie lieben, und zu denen  auch
Herr Aaron Wassertrum gehært.
     Ich besitze eine abgerissene Seite aus dem Tagebuch meiner Mutter - ich
trage das Blatt best¤ndig auf  der Brust -  und  darin steht, daŸ sie meinen
Vater, obschon er h¤Ÿlich gewesen sein soll, geliebt hat, wie wohl noch  nie
ein sterbliches Weib auf Erden einen Mann geliebt hat.
     Dennoch scheint sie es nie gesagt  zu haben. - Vielleicht aus ¤hnlichen
Grìnden, weshalb ich z.  B. Herrn Wassertrum  nicht sagen kænnte -  und wenn
mir das Herz darìber br¤che - was ich fìr ihn an Dankbarkeit fìhle.
     Aber noch eins geht aus dem Tagebuchblatt hervor,  wenn ich es auch nur
erraten  kann, denn die S¤tze  sind  fast unleserlich vor Tr¤nenspuren: mein
Vater  - sein  Andenken  mæge  vergehen  im  Himmel  und  auf  Erden! -  muŸ
scheuŸlich an meiner Mutter gehandelt haben."
     - Charousek fiel  plætzlich  auf die Knie, daŸ  der Boden  dræhnte, und
schrie in so markerschìtternden Tænen, daŸ ich nicht wuŸte, spielte  er noch
immer Komædie oder war er wahnsinnig geworden:
     "Du Allm¤chtiger,  dessen Namen der Mensch nicht aussprechen soll, hier
auf meinen Knien liege ich vor Dir: verflucht, verflucht, verflucht sei mein
Vater in alle Ewigkeit!"
     Er  biŸ das letzte Wort færmlich entzwei  und horchte eine Sekunde lang
mit aufgerissenen Augen.
     Dann feixte er wie der Satan. Auch mir schien  es, als h¤tte Wassertrum
nebenan leise gestæhnt.
     "Verzeihen Sie, Meister," fuhr Charousek nach einer Pause mit mimenhaft
erstickter Stimme fort, "verzeihen Sie, daŸ  es mich  ìbermannt hat, aber es
ist  mein  Gebet  frìh  und sp¤t, der Allm¤chtige wolle  es  fìgen, daŸ mein
Vater, wer immer er auch sein mæge, dereinst das gr¤Ÿlichste Ende nehme, das
sich ausdenken l¤Ÿt."
     Ich wollte unwillkìrlich  etwas erwidern,  allein  Charousek unterbrach
mich rasch:
     "Doch jetzt,  Meister Pernath, komme  ich zu  der Bitte, die  ich Ihnen
vorzutragen habe:
     Herr Wassertrum  besaŸ einen Schìtzling, den er ìber die MaŸen ins Herz
geschlossen  hatte, - es  dìrfte  ein Neffe von  ihm gewesen sein. Es  heiŸt
sogar, es sei sein Sohn gewesen,  aber ich will es nicht glauben, denn sonst
h¤tte  er  doch  denselben  Namen  getragen, in  Wirklichkeit  aber hieŸ er:
Wassory, Dr. Theodor Wassory.
     Die  Tr¤nen treten mir in  die  Augen, wenn  ich ihn im Geiste vor  mir
sehe. Ich war ihm aus ganzer Seele zugetan, als h¤tte mich ein unmittelbares
Band der Liebe und Verwandtschaft mit ihm verknìpft."
     Charousek   schluchzte,   als   kænne   er   vor   Ergriffenheit   kaum
weitersprechen.
     "Ach, daŸ dieser Edeling von der Erde gehen muŸte! - Ach! Ach!
     Was auch  der Grund gewesen sein mag, - ich habe ihn nie erfahren, - er
hat sich selbst den  Tod gegeben.  Und ich  war unter denen,  die  zu  Hilfe
gerufen wurden - - ach, ach, zu sp¤t - zu  sp¤t - zu sp¤t! Und als ich  dann
allein  am  Totenlager  stand  und  seine  kalte,  bleiche Hand  mit  Kìssen
bedeckte,  da -  warum soll ich  es nicht eingestehen, Meister Pernath? - es
war ja doch kein Diebstahl - da nahm ich eine Rose von der  Brust der Leiche
und eignete mir das Fl¤schchen an, mit dessen Inhalt der Unglìckliche seinem
blìhenden Leben ein schnelles Ende bereitet hatte."
     Charousek zog eine Medizinflasche hervor und fuhr bebend fort:
     "Beides lege  ich hier auf  Ihren  Tisch,  die verdorrte  Rose und  die
Phiole; sie waren mir ein Andenken an meinen dahingegangenen Freund.
     Wie  oft  in  Stunden  innerer Verlassenheit,  wenn  ich  mir  den  Tod
herbeiwìnschte  in  der Einsamkeit  meines  Herzens und  der  Sehnsucht nach
meiner toten Mutter, spielte ich mit diesem Fl¤schchen, und es gab mir einen
seligen Trost, zu  wissen:  ich brauchte nur die Flìssigkeit auf ein Tuch zu
gieŸen und  einzuatmen und schwebte schmerzlos  hinìber in  die Gefilde,  wo
mein lieber, guter Theodor ausruht von den Mìhsalen unseres Jammertales.
     Und  nun  bitte ich Sie, hochverehrter Meister, - und  deswegen bin ich
hergekommen - nehmen Sie beides und bringen Sie es Herrn Wassertrum.
     Sagen  Sie,  Sie  h¤tten  es  von  jemandem bekommen,  dem Dr.  Wassory
nahestand,  dessen  Namen  Sie  jedoch  gelobt  h¤tten,  nie  zu  nennen,  -
vielleicht von einer Dame.
     Er  wird es glauben,  und  es wird  ihm ein Andenken sein,  wie es  ein
teures Andenken fìr mich war.
     Das soll der heimliche Dank sein, den ich ihm gebe. Ich bin arm  und es
ist  alles, was ich habe,  aber es macht mich  froh,  zu wissen: beides wird
jetzt ihm gehæren, und dennoch ahnt er nicht, daŸ ich der Geber bin.
     Es liegt darin zugleich auch fìr mich etwas unendlich SìŸes.
     Und  jetzt leben  Sie  wohl, teurer Meister, und  seien  Sie  im voraus
vieltausendmal bedankt."
     Er hielt  meine  Hand fest,  zwinkerte und flìsterte mir, als  ich noch
immer nicht verstand, kaum hærbar etwas zu.
     "Warten  Sie,   Herr   Charousek,   ich   werde   Sie   ein   Stìckchen
hinunterbegleiten", sagte ich  mechanisch die Worte nach, die ich von seinen
Lippen las, und ging mit ihm hinaus.
     Auf dem finsteren Treppenabsatz im ersten Stock blieben wir stehen, und
ich wollte mich von Charousek verabschieden.
     "Ich kann mir denken, was Sie mit der Komædie bezweckt haben. - - Sie -
Sie wollen,  daŸ sich Wassertrum mit dem Fl¤schchen vergiftet!" Ich sagte es
ihm ins Gesicht.
     "Freilich", gab Charousek aufger¤umt zu.
     "Und dazu, glauben Sie, werde ich meine Hand bieten?"
     "Durchaus nicht nætig."
     "Aber ich  sollte  Wassertrum doch  die  Flasche  bringen,  sagten  Sie
vorhin!"
     Charousek schìttelte den Kopf:
     "Wenn  Sie  jetzt  zurìckgehen, werden Sie  sehen,  daŸ  er sie bereits
eingesteckt hat."
     "Wie kænnen Sie das nur annehmen?",  fragte ich  erstaunt. "Ein  Mensch
wie Wassertrum  wird sich  niemals umbringen,  -  ist viel  zu  feig  dazu -
handelt nie nach plætzlichen Impulsen."
     "Da kennen Sie das schleichende Gift der  Suggestion nicht", unterbrach
mich Charousek ernst. "H¤tte ich in allt¤glichen Worten geredet,  wìrden Sie
vielleicht recht behalten, aber auch den kleinsten Tonfall habe  ich  vorher
berechnet. Nur das widerlichste Pathos wirkt auf solche Hundsfætter! Glauben
Sie mir! Sein Mienenspiel bei jedem meiner S¤tze h¤tte ich Ihnen hinzeichnen
kænnen.  - Kein ›Kitsch‹ wie  es die Maler nennen, ist niedertr¤chtig genug,
als daŸ er nicht der bis  ins Mark  verlogenen Menge Tr¤nen  entlockte - sie
ins Herz trifft! Glauben Sie denn, man h¤tte nicht l¤ngst  s¤mtliche Theater
mit   Feuer  und  Schwert   ausgetilgt,   wenn   es  anders  w¤re?  An   der
Sentimentalit¤t  erkennt  man  die  Kanaille.  Tausende  armer Teufel kænnen
verhungern, da wird nicht geweint, aber wenn ein Schminkkamel auf der Buhne,
als Bauerntrampel  verkleidet, die Augen verdreht,  dann heulen  sie wie die
SchloŸhunde. - -  Wenn V¤terchen Wassertrum vielleicht auch morgen vergessen
hat,  was ihm soeben  noch  - Herzjauche kostete:  jedes meiner  Worte  wird
wieder  in ihm  lebendig werden, wenn die Stunden  reifen, wo er sich selbst
unendlich bedauernswert vorkommt. - In solchen Momenten des groŸen Misereres
bedarf es bloŸ eines leisen AnstoŸes, -  und fìr den werde  ich sorgen - und
selbst  die feigste Pfote  greift nach dem Gift. Es  muŸ nur zur Hand  sein!
Theodorchen h¤tte wahrscheinlich auch nicht zugegrapst, wenn ich's ihm nicht
so bequem gemacht h¤tte."
     "Charousek,  Sie  sind ein  furchtbarer  Mensch",  rief  ich  entsetzt.
"Empfinden Sie denn gar kein - - -"
     Er hielt mir schnell den Mund zu und dr¤ngte mich in eine Mauernische!
     "Still! Da ist er!"
     Mit taumelnden Schritten, sich an der Wand stìtzend, kam Wassertrum die
Stiege herunter und wankte an uns vorìber.
     Charousek schìttelte mir fluchtig die Hand und schlich ihm nach. - -
     Als ich in mein Zimmer zurìckgekehrt war, sah ich, daŸ die Rose und das
Fl¤schchen verschwunden waren und an ihrer Stelle die goldene, zerbeulte Uhr
des Trædlers auf dem Tisch lag.
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     "Acht Tage mìsse ich warten, ehe  ich mein Geld bekommen  kænne; es sei
das die ìbliche Kìndigungsfrist", hatte man mir auf der Bank gesagt.
     Man solle den Direktor holen, denn ich sei in græŸter Eile und ged¤chte
in einer Stunde abzureisen, hatte ich eine Ausrede gebraucht.
     Er sei nicht zu sprechen und kænne an den Gepflogenheiten der Bank auch
nichts  ¤ndern,  hieŸ es, und ein  Kerl mit einem Glasauge, der zugleich mit
mir an den Schalter getreten war, hatte darìber gelacht.
     Acht graue, furchtbare Tage auf den Tod sollte ich also warten!
     Wie ein Zeitraum ohne Ende kam es mir vor. - - -
     Ich  war so niedergeschlagen, daŸ ich mir gar  nicht bewuŸt wurde,  wie
lange ich schon  vor der  Tìre eines Kaffeehauses auf und nieder geschritten
sein mochte.
     Endlich trat ich ein, bloŸ  um  den widerw¤rtigen Kerl mit dem Glasauge
los zu werden,  der mir von der Bank her nachgekommen war und sich immer  in
meiner  N¤he  hielt  und,  wenn  ich  ihn  anblickte, sofort auf  dem  Boden
herumsuchte, als habe er etwas verloren.
     Er  hatte  einen  hellkarierten,  viel zu engen Rock  an und  schwarze,
speckgl¤nzende  Hosen, die  ihm  wie  S¤cke um  die  Beine schlotterten. Auf
seinem linken Stiefel war ein  eifærmiger, gewælbter Lederfleck aufgesteppt,
daŸ es aussah, als trìge er darunter einen Siegelring auf der Zehe.
     Kaum hatte ich mich niedergesetzt, kam auch  er herein und lieŸ sich an
einem Nebentisch nieder.
     Ich glaubte,  er wolle mich  anbetteln, und  suchte  schon  nach meinem
Portemonnai,  da  sah  ich  einen  groŸen  Brillanten  an  seinen  wulstigen
Metzgerfingern aufblitzen.
     Stunden und Stunden saŸ ich in  dem Kaffeehaus und glaubte vor  innerer
Nervosit¤t wahnsinnig werden zu mìssen,  - aber wohin sollte ich gehen? Nach
Hause? Herumschlendern? Eines schien mir gr¤Ÿlicher als das andere.
     Die veratmete  Luft, das ewige,  alberne Klappen der Billardkugeln, das
trockene,  unaufhærliche  Gerausper  eines  halbblinden  Zeitungstigers  mir
gegenìber, ein storchbeiniger Infanteneleutnant, der abwechselnd in der Nase
bohrte oder sich mit gelben Zigarettenfingern  vor einem  Taschenspiegel den
Schnurrbart k¤mmte, ein braunsammetenes Gebrodel ekelhafter,  verschwitzter,
schnatternder  Italiener  um  den  Kartentisch in der Ecke,  die  bald unter
gellem Gekreisch  ihre Trumpfe mit dem Faustknochel hinschlugen, bald  unter
Brecherscheinungen ins Zimmer  spuckten. Und  das alles in den  Wandspiegeln
doppelt und  dreifach sehen zu mìssen! Es sog mir  langsam das Blut aus  den
Adern. -
     Es wurde  allm¤hlich dunkel  und ein plattfuŸiger, knieweicher  Kellner
tastete mit einer Stange nach den Gaslìstern, um sich endlich kopfschìttelnd
zu ìberzeugen, daŸ sie nicht brennen wollten.
     So oft  ich das Gesicht wandte,  immer  begegnete  ich  dem schielenden
Wolfsblick des Glas¤ugigen, der sich dann jedesmal rasch hinter eine Zeitung
versteckte oder seinen schmutzigen Schnurrbart  in die langst  ausgetrunkene
Kaffeetasse tauchte.
     Er hatte seinen steifen, runden Hut tief aufgestìlpt, daŸ ihm die Ohren
fast waagerecht abstanden, machte aber keine Miene, aufzubrechen.
     Es war nicht mehr auszuhalten.
     Ich zahlte und ging.
     Als ich die Glastìr hinter mir  zumachen  wollte, nahm mir  jemand  die
Klinke aus der Hand - Ich drehte mich um:
     Wieder der Kerl!
     „rgerlich wollte  ich nach links biegen, in der Richtung der Judenstadt
zu, da dr¤ngte er sich an meine Seite und hinderte mich daran.
     "Da hært denn doch alles auf!" schrie ich ihn an.
     "Nach rechts geht's," sagte er kurz.
     "Was soll das heiŸen?"
     Er fixierte mich frech:
     "Sie sind der Pernath!"
     "Sie wollen wahrscheinlich sagen: Herr Pernath?"
     Er lachte nur h¤misch:
     "Alsdann keine Faxen jetz! Sie gah'n Sie mit!"
     "Ja, sind Sie toll? Wer sind Sie eigentlich?", fuhr ich auf.
     Er gab keine Antwort, schlug seinen Rock zurìck  und zeigte  vorsichtig
auf einen abgeschabten Blechadler, der im Futter festgesteckt war.
     Ich begriff: der Falott war Geheimpolizist und verhaftete mich.
     "So sagen Sie doch, um Himmels willen, was ist denn los?"
     "Sie werden sich's  schonn erfahrr¤hn. Auf  dem D¤partem¤nt", erwiderte
er grob. "Alla marsch jetz!"
     Ich schlug ihm vor, ich wollte einen Wagen nehmen.
     "Nix da!"
     Wir gingen zur Polizei.
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     Ein Gendarm fìhrte mich vor eine Tìr.
     ALOIS OTSCHIN
     Polizeirat
     las ich auf der Porzellantafel.
     "Sie k¤nnen sich eintr¤tten", sagte der Gendarm.
     Zwei schmierige Schreibtische mit meterhohen Aufs¤tzen standen einander
gegenìber.
     Ein paar verkraxte Stìhle dazwischen.
     Das Bild des Kaisers an der Wand.
     Ein Glas mit Goldfischen auf dem Fensterbrett.
     Sonst nichts im Zimmer.
     Ein KlumpfuŸ und daneben ein  dicker Filzschuh unter zerfransten grauen
Hosen hinter dem linken Schreibpult.
     Ich  hærte  rascheln.  Jemand  murmelte  ein paar Worte  in  bæhmischer
Sprache  und  gleich darauf  tauchte  der  Herr Polizeirat aus  dem  rechten
Schreibtisch auf und trat vor mich hin.
     Er war ein  kleiner Mann mit grauem Spitzbart  und hatte die sonderbare
Manier, bevor er anfing zu reden, die Z¤hne  zu fletschen wie jemand, der in
grelles Sonnenlicht schaut.
     Dabei kniff er  die  Augen hinter den Brillenglasern  zusammen, was ihm
den Ausdruck furchterregender Niedertracht verlieh.
     "Sie heiŸen  Athanasius Pernath  und sind"  - er blickte auf  ein Blatt
Papier, auf dem nichts stand - "Gemmenschneider."
     Sofort  kam Leben in den KlumpfuŸ unter dem  anderen  Schreibtisch:  er
wetzte sich an dem Stuhlbein, und ich hærte das Rauschen einer Schreibfeder.
     Ich bejahte:
     "Pernath. Gemmenschneider."
     "No, da  sin  wir ja  gleich beisammen, Herr  - -  -  Pernath, - jawohl
Pernath. Ja  wohl  ja."  -  Der  Herr Polizeirat war  mit  einem Schlag  von
erstaunlicher Liebenswìrdigkeit,  als  h¤tte er die erfreulichste  Nachricht
von der Welt bekommen, streckte mir beide H¤nde entgegen und bemìhte sich in
l¤cherlicher Weise, die Miene eines Biedermannes aufzusetzen.
     "Also, Herr Pernath,  erz¤hlen Sie mir einmal,  was treiben Sie so  den
ganzen Tag?"
     "Ich glaube,  daŸ Sie das nichts angeht, Herr  Otschin", antwortete ich
kalt.
     Er kniff die Augen zusammen, wartete einen Moment und fuhr blitzschnell
los:
     "Seit wann hat die Gr¤fin ihr Verh¤ltnis mit dem Savioli?"
     Ich war auf  etwas „hnliches gefaŸt gewesen  und zuckte  nicht  mit der
Wimper.
     Er suchte mich geschickt durch Kreuz- und Querfragen in Widersprìche zu
verwickeln, aber, so sehr mir auch vor Entsetzen das Herz  im  Halse schlug,
ich verriet mich nicht und kam immer wieder darauf zurìck, daŸ ich den Namen
Savioli nie gehært  h¤tte, mit Angelina von meinem Vater her befreundet sei,
und daŸ sie schon æfter Kameen bei mir bestellt habe.
     Ich fìhlte trotzdem  genau,  daŸ der Polizeirat mir ansah, wie  ich ihn
belog,  und  innerlich  sch¤umte vor Wut, nichts  aus mir  herausbekommen zu
kænnen.
     Er dachte eine  Weile nach, dann zog er  mich am  Rock dicht  an  sich,
deutete warnend mit dem Daumen auf den linken Schreibtisch und flìsterte mir
ins Ohr:
     "Athanasius! Ihr  seliger  Vater war mein bester  Freund. Ich  will Sie
retten, Athanasius! Aber Sie mìssen mir alles sagen ìber die Gr¤fin. - Hæren
Sie: alles."
     Ich begriff nicht, was das  bedeuten sollte. "Was meinen Sie damit: Sie
wollen mich retten?", fragte ich laut.
     Der KlumpfuŸ  stampfte ¤rgerlich  auf den  Boden.  Der Polizeirat wurde
aschgrau im Gesicht vor HaŸ. Zog die Lippe empor. Wartete.  - Ich wuŸte, daŸ
er gleich wieder losspringen wìrde;  (sein Verblìffungssystem erinnerte mich
an  Wassertrum)  und wartete  ebenfalls,  - sah,  daŸ ein  Bocksgesicht, der
Inhaber des KlumpfuŸes, lauernd hinter dem Schreibpulte  auftauchte - - dann
schrie mich der Polizeirat plætzlich gellend an:
     "Mærder".
     Ich war sprachlos vor Verblìffung.
     MiŸmutig zog sich das Bocksgesicht wieder hinter sein Pult zurìck.
     Auch der  Herr Polizeirat  schien ziemlich  betreten  ìber  meine Ruhe,
versteckte es  aber  geschickt,  indem  er einen Stuhl  herbeizog  und  mich
aufforderte, Platz zu nehmen.
     "Sie verweigern also, ìber  die Gr¤fin die von  mir gewìnschte Auskunft
zu geben, Herr Pernath?"
     "Ich kann sie nicht geben,  Herr Polizeirat,  wenigstens nicht  in  dem
Sinne, wie Sie erwarten. Erstens kenne  ich niemand namens Savioli, und dann
bin ich felsenfest ìberzeugt,  daŸ  es  eine Verleumdung ist,  wenn man  der
Gr¤fin nachsagt, sie hintergehe ihren Gatten."
     "Sind Sie bereit, das zu beeiden?"
     Mir stockte der Atem. "Ja! Jederzeit."
     "Gut. Hm."
     Eine  l¤ngere  Pause  entstand,   w¤hrend  der  Polizeirat  angestrengt
nachzugrìbeln schien.
     Als  er  mich  wieder  anblickte, lag  ein  komædiantenhafter  Zug  von
Schmerzlichkeit  in  seiner  Fratze. Unwillkìrlich  muŸte  ich  an Charousek
denken, wie er dann mit tr¤nenerstickter Stimme anfing:
     "Mir kænnen Sie  es doch  sagen,  Athanasius, - mir, dem  alten  Freund
Ihres Vaters -  mir,  der Sie auf den  Armen getragen  hat -" ich konnte das
Lachen kaum verbeiŸen:  er war hæchstens zehn Jahre  ¤lter als ich -  "nicht
wahr, Athanasius, es war Notwehr?"
     Das Bocksgesicht erschien abermals.
     "Was war Notwehr?", fragte ich verst¤ndnislos.
     "Das mit dem - - - Zottmann!" schrie mir der Polizeirat einen Namen ins
Gesicht.
     Das Wort traf mich wie ein Dolchstich: Zottmann! Zottmann! Die Uhr! Der
Name Zottmann stand doch in der Uhr eingraviert.
     Ich fìhlte,  wie  mir alles Blut  zum Herzen  stræmte:  Der grauenhafte
Wassertrum hatte mir die Uhr gegeben, um den Verdacht des Mordes auf mich zu
lenken.
     Sofort warf der Polizeirat die Maske ab, fletschte  die Z¤hne und kniff
die Augen zusammen:
     "Sie gestehen also den Mord ein, Pernath?"
     "Das ist alles ein Irrtum.  Ein entsetzlicher Irrtum.  Um Gottes willen
hæren Sie mich an. Ich kann es Ihnen erkl¤ren, Herr Polizeirat - -!", schrie
ich.
     "Werden Sie mir jetzt alles  mitteilen  in bezug  auf die Frau Gr¤fin",
unterbrach  er  mich rasch: "ich mache Sie aufmerksam: Sie  verbessern  Ihre
Lage damit."
     "Ich  kann nicht  mehr sagen, als bereits geschehen ist: die Gr¤fin ist
unschuldig."
     Er biŸ die Z¤hne zusammen und wandte sich an das Bocksgesicht:
     "Schreiben   Sie:  -   Also,   Pernath   gesteht   den   Mord  an   dem
Versicherungsbeamten Karl Zottmann ein."
     Mich packte eine besinnungslose Wut.
     "Sie Polizeikanaille!" brìllte ich los, "was unterstehen Sie sich?!"
     Ich suchte nach einem schweren Gegenstand.
     Im  n¤chsten  Augenblick  hatten mich  zwei Schutzleute gepackt und mir
Handschellen angelegt.
     Der Polizeirat bl¤hte sich jetzt wie der Hahn auf dem Mist:
     "Und die Uhr da?", - er hielt plætzlich die  verbeulte Uhr in der Hand,
- "hat  der  unglìckliche Zottmann noch gelebt, als Sie  ihn beraubten, oder
nicht?"
     Ich  war  wieder  ganz ruhig geworden  und gab  mit  klarer  Stimme  zu
Protokoll: "Die Uhr hat  mir  heute vormittag der Trædler Aaron Wassertrum -
geschenkt."
     Ein  wieherndes Gel¤chter brach los,  und ich sah, wie der KlumpfuŸ und
der  Filzpantoffel  mitsammen  einen  Freudentanz  unter  dem   Schreibtisch
auffìhrten.

     Die  H¤nde  gefesselt,   hinter  mir  ein  Gendarm  mit  aufgepflanztem
Bajonett, muŸte ich durch die abendlich beleuchteten StraŸen gehen.
     Gassenjungen  zogen in Scharen  johlend  links und  rechts  mit, Weiber
rissen die  Fenster auf, drohten  mit  Kochlæffeln  herunter  und schimpften
hinter mir drein.
     Schon von weitem sah ich  den massigen Steinwìrfel des Gerichtsgeb¤udes
mit der Inschrift auf dem Giebel herannahen:
     "Die strafende Gerechtigkeit ist die Beschirmung aller Braven."
     Dann nahm mich ein riesiges Tor auf und ein Flurzimmer, in  dem es nach
Kìche stank.
     Ein vollb¤rtiger Mann mit S¤bel, Beamtenrock und -mìtze, barfuŸ und die
Beine  in langen, um die Knæchel zusammengebundenen  Unterhosen,  stand auf,
stellte  die  Kaffeemìhle,  die er zwischen den Knien hielt, weg  und befahl
mir, mich auszuziehen.
     Dann visitierte er meine Taschen, nahm alles heraus, was er darin fand,
und fragte mich, ob ich - Wanzen h¤tte.
     Als  ich verneinte, zog er mir die Ringe von den Fingern und sagte,  es
sei gut, ich kænnte mich wieder ankleiden.
     Man  fìhrte mich  mehrere Stockwerke  hinauf und durch  G¤nge, in denen
vereinzelt  groŸe,  graue,  verschlieŸbare   Kisten  in  den  Fensternischen
standen.
     Eiserne Tìren mit Riegelstangen und kleinen, vergitterten Ausschnitten,
ìber jedem eine  Gasflamme,  zogen  sich in  ununterbrochener Reihe die Wand
entlang.
     Ein  hìnenhafter, soldatisch  aussehender Gefangenw¤rter  -  das  erste
ehrliche Gesicht  seit  Stunden - sperrte eine der Tìren auf, schob  mich in
eine dunkle, schrankartige, pestilenzialisch stinkende  –ffnung  und  schloŸ
hinter mir ab.
     Ich stand in vollkommener Finsternis und tappte mich zurecht.
     Mein Knie stieŸ an einen Blechkìbel.
     Endlich erwischte ich - der Raum war so eng, daŸ ich mich kaum umdrehen
konnte - eine Klinke, und stand in - einer Zelle.
     Je zwei und zwei Pritschen mit Strohs¤cken an den Mauern.
     Der Durchgang dazwischen nur einen Schritt breit.
     Ein  Quadratmeter Gitterfenster hoch  oben  in der  Querwand  lieŸ  den
matten Schein des Nachthimmels herein.
     Unertr¤gliche Hitze, vom Geruch alter Kleider verpestete  Luft erfìllte
den Raum.
     Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewæhnt hatten, sah ich, daŸ auf
drei  der  Pritschen  -  die   vierte  war   leer  -  Menschen   in   grauen
Str¤flingskleidern  saŸen; die  Arme auf die Knie gestìtzt und die Gesichter
in den H¤nden vergraben.
     Keiner sprach ein Wort.
     Ich setzte mich auf das leere Bett und wartete. Wartete. Wartete.
     Eine Stunde.
     Zwei - drei Stunden!
     Wenn ich drauŸen einen Schritt zu hæren glaubte, fuhr ich auf:
     Jetzt,  jetzt kam  man mich  holen,  um  mich  dem Untersuchungsrichter
vorzufìhren.
     Jedesmal war es eine  T¤uschung gewesen. Immer wieder verloren sich die
Schritte auf dem Gang.
     Ich riŸ mir den Kragen auf - glaubte, ersticken zu mìssen.
     Ich hærte, wie ein Gefangener nach dem andern sich ¤chzend ausstreckte.
     "Kann man denn das Fenster  da oben  nicht aufmachen?", fragte ich voll
Verzweiflung laut  in  die Dunkelheit hinein. Ich  erschrak fast  vor meiner
eigenen Stimme.
     "Es geht net", antwortete es mìrrisch von einem der Strohs¤cke herìber.
     Ich tastete trotzdem mit der Hand an der Schmalwand entlang:  ein Brett
in  Brusthæhe  lief quer  hin  -  - - zwei  Wasserkrìge  -  -  -  Stìcke von
Brotrinden.
     Mìhsam kletterte ich hinauf, hielt mich  an den Gitterst¤ben und preŸte
das Gesicht an die Fensterritzen, um wenigstens etwas frische Luft zu atmen.
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     So stand ich,  bis  mir die  Knie zitterten. Eintæniger,  schwarzgrauer
Nachtnebel vor meinen Augen.
     Die kalten Eisenst¤be schwitzten.
     Es muŸte bald Mitternacht sein.
     Hinter mir  hærte ich schnarchen. Nur einer  schien  nicht  schlafen zu
kænnen: er warf sich hin und her auf dem Stroh und stæhnte manchmal halblaut
auf.
     Wollte denn der Morgen nicht endlich kommen?! Da! Es schlug wieder.
     Ich z¤hlte mit bebenden Lippen:
     Eins, zwei, drei! - Gott sei Dank, nur noch wenige Stunden,  dann muŸte
die D¤mmerung kommen. Es schlug weiter:
     Vier? fìnf? - Der SchweiŸ trat mir  auf die Stirn. - Sechs!! - Sieben -
- - es war elf Uhr.
     Erst eine Stunde war vergangen, seit ich das letzte  Mal hatte schlagen
hæren.
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     Allm¤hlich legten sich meine Gedanken zurecht:
     Wassertrum hat mir  die Uhr  des vermiŸten Zottmann zugespielt, um mich
in Verdacht zu bringen, einen Mord begangen zu haben. - Er muŸte also selbst
der  Mærder sein; wie h¤tte er sonst  in den Besitz  der Uhr  kommen kænnen?
Wìrde er  die Leiche irgendwo gefunden und dann erst beraubt haben, h¤tte er
sich bestimmt die  tausend Gulden Belohnung  geholt, die  fìr die Entdeckung
des VermiŸten æffentlich ausgesetzt waren. - Das konnte aber nicht sein: die
Plakate klebten  noch immer an den StraŸenecken, wie ich deutlich auf meinem
Weg ins Gef¤ngnis gesehen hatte. - - -
     DaŸ der Trædler mich angezeigt haben muŸte, war klar.
     Ebenso:  daŸ  er  mit  dem  Polizeirat, wenigstens was Angelina betraf,
unter einer Decke steckte. Wozu sonst das Verhær wegen Savioli?
     Andererseits ging daraus hervor,  daŸ  Wassertrum Angelinas Briefe noch
nicht in H¤nden hatte.
     Ich grìbelte nach - - -
     Mit einem Schlag stand  alles mit  entsetzlicher Deutlichkeit  vor mir,
als w¤re ich selbst dabei gewesen.
     Ja; nur so konnte es sein: Wassertrum hatte meine eiserne  Kassette, in
der  er Beweise  vermutete, heimlich an sich  genommen,  als er  gerade  mit
seinen  Polizeikomplizen meine Wohnung  durchstæberte,  - konnte  sie  nicht
sogleich æffnen, da ich den Schlìssel bei mir trug, und war - - - vielleicht
gerade jetzt daran, sie in seiner Hæhle aufzubrechen.
     In  wahnsinniger  Verzweiflung  rìttelte  ich an den Gitterst¤ben,  sah
Wassertrum im Geiste vor mir, wie er in Angelinas Briefen wìhlte -
     Wenn   ich  nur  Charousek  benachrichtigen  kænnte,  daŸ   er  Savioli
wenigstens rechtzeitig warnen ging!
     Einen Augenblick klammerte ich mich  an die  Hoffnung, meine Verhaftung
mìsse bereits wie ein Lauffeuer in der Judenstadt bekannt geworden sein, und
ich  vertraute auf Charousek wie  auf  einen  rettenden Engel.  Gegen  seine
infernalische Schlauheit kam der Trædler nicht auf; "Ich werde ihn  genau in
der  Stunde  an der  Gurgel haben, in der er  Dr. Savioli an den Hals will",
hatte Charousek schon einmal gesagt.
     In der n¤chsten Minute wieder verwarf  ich alles, und eine  wilde Angst
packte mich: Wie, wenn Charousek zu sp¤t kam?
     Dann war Angelina verloren. - - -
     Ich  biŸ mir die  Lippen blutig und zerkrallte mir die  Brust aus Reue,
daŸ ich die Briefe damals nicht sofort verbrannt hatte; -  - - ich schwor es
mir zu, Wassertrum noch in derselben Stunde aus der Welt zu schaffen, wo ich
wieder auf freiem FuŸ sein wìrde.
     Ob ich von eigener Hand starb oder am Galgen - was lag mir daran!
     DaŸ  der Untersuchungsrichter meinen Worten glauben wìrde, wenn ich ihm
die Geschichte mit der Uhr  plausibel machte, ihm von Wassertrums  Drohungen
erz¤hlte, - keinen Augenblick zweifelte ich daran.
     Bestimmt morgen  schon muŸte ich frei sein; zumindest wìrde das Gericht
auch Wassertrum wegen Mordverdachts verhaften lassen.
     Ich z¤hlte die Stunden und betete, daŸ  sie rascher  vergehen  mæchten;
starrte hinaus in den schw¤rzlichen Dunst.
     Nach  uns¤glich  langer  Zeit fing es endlich an, heller zu werden, und
zuerst  wie ein dunkler Fleck, dann immer deutlicher, tauchte ein kupfernes,
riesiges Gesicht  aus  dem Nebel: das Zifferblatt einer  alten Turmuhr. Doch
die Zeiger fehlten; - neuerliche Qual.
     Dann schlug es fìnf.
     Ich hærte, wie  die Gefangenen erwachten und  g¤hnend eine Unterhaltung
in bæhmischer Sprache fìhrten.
     Eine Stimme kam  mir  bekannt  vor; ich  drehte mich um, stieg von  dem
Brett  herunter  und  -  sah  den blatternarbigen  Loisa auf  der  Pritsche,
gegenìber der meinigen, sitzen und mich verwundert anstarren.
     Die  beiden  anderen  waren  Gesellen  mit  verwegenen  Gesichtern  und
musterten mich geringsch¤tzig.
     "Defraudant? Was?", fragte der eine halblaut seinen Kameraden und stieŸ
ihn mit dem Ellenbogen an.
     Der  Gefragte  brummte  irgend  etwas  ver¤chtlich,  kramte  in  seinem
Strohsack, holte ein schwarzes Papier hervor und legte es auf den Boden.
     Dann schìttete er aus dem Krug ein  wenig Wasser darauf, kniete nieder,
bespiegelte sich darin  und  k¤mmte  sich  mit den Fingern das Haar  in  die
Stirn.
     Hierauf  trocknete  er  das  Papier  mit  z¤rtlicher  Sorgfalt  ab  und
versteckte es wieder unter der Pritsche.
     "Pan  Pernath,  Pan   Pernath",  murmelte  Loisa  dabei  best¤ndig  mit
aufgerissenen Augen vor sich hin, wie jemand, der ein Gespenst sieht.
     "Die  Herrschaften  kennen  einand,  wie  ich   bemerkæ",   sagte   der
Ungek¤mmte,   dem   dies  auffiel,   in  dem   geschraubten  Dialekt   eines
tschechischen  Wieners  und machte  mir  spættisch  eine  halbe  Verbeugung:
"Erlaubens mich vorzustellen: Vãssatka ist mein Name. Der schwarze Vãssatka.
- Brandstiftung", setzte er eine Oktave tiefer stolz hinzu.
     Der Frisierte spuckte  zwischen den  Z¤hnen durch,  blickte  mich  eine
Weile ver¤chtlich an, deutete sich dann auf die Brust und sagte lakonisch:
     "Einbruch."
     Ich schwieg.
     "No, und zweng wos fìr einen Verdachtæ sin Sie hier, Herr Graf?" fragte
der Wiener nach einer Pause.
     Ich ìberlegte einen Moment, dann sagte ich ruhig: "Wegen Raubmord".
     Die beiden  fuhren verblìfft  auf, der  spættische  Ausdruck  auf ihren
Gesichtern machte einer Miene grenzenloser Hochachtung Platz, und sie riefen
fast wie aus einem Munde:
     "R¤schp¤kt, R¤schp¤kt."
     Als sie sahen, daŸ ich keine Notiz  von ihnen nahm,  zogen sie sich  in
die Ecke zurìck und unterhielten sich flìsternd miteinander.
     Nur einmal stand  der Frisierte  auf, kam zu mir, prìfte schweigend die
Muskeln meines  Oberarms und  ging  dann  kopfschìttelnd  zu  seinem  Freund
zurìck.
     "Sie sind doch auch unter  dem Verdacht hier, den  Zottmann ermordet zu
haben?" fragte ich Loisa unauff¤llig.
     Er nickte. "Ja, schon lang."
     Wieder vergingen einige Stunden.
     Ich schloŸ die Augen und stellte mich schlafend.
     "Herr  Pernath. Herr Pernath!" hærte  ich  plætzlich ganz  leise Loisas
Stimme.
     "Ja?" - - - Ich tat, als erwachte ich.
     "Herr  Pernath?, bitte entschuldigen Sie,  - bitte - bitte, wissen  Sie
nicht, was  die  Rosina macht?  -  Ist sie zu  Hause?", stotterte  der  arme
Bursche. Er tat  mir unendlich leid, wie er mit seinen entzìndeten  Augen an
meinen Lippen hing und vor Aufregung die H¤nde verkrampfte.
     "Es geht ihr gut. Sie - sie ist jetzt Kellnerin beim - - alten Ungelt",
log ich.
     Ich sah, wie er erleichtert aufatmete.
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     Zwei Str¤flinge hatten auf einem Brett Blechtæpfe mit heiŸem Wurstabsud
stumm hereingebracht  und drei davon in  die Zelle  gestellt,  dann knallten
nach einigen Stunden abermals  die  Riegel und der Aufseher fìhrte  mich zum
Untersuchungsrichter.
     Mir schlotterten die  Knie  vor  Erwartung,  wie wir  treppauf, treppab
schritten.
     "Glauben Sie, ist es mæglich, daŸ ich  heute noch freigelassen werde?",
fragte ich den Aufseher beklommen.
     Ich sah, wie er mitleidig ein L¤cheln unterdrìckte. "Hm. Heute noch? Hm
- - Gott, - mæglich ist ja alles." -
     Mir wurde eiskalt.
     Wieder las ich eine Porzellantafel an einer Tìr und einen Namen:


     Wieder  ein  schmuckloses  Zimmer und zwei  Schreibpulte mit meterhohen
Aufs¤tzen.
     Ein  alter,  groŸer  Mann mit  weiŸem,  geteiltem  Vollbart,  schwarzem
Gehrock, roten, wulstigen Lippen, knarrenden Stiefeln.
     "Sie sind Herr Pernath?"
     "Jawohl."
     "Gemmenschneider?"
     "Jawohl."
     "Zelle Nr. 70?"
     "Jawohl."
     "Des Mordes an Zottmann verd¤chtig?"
     "Ich bitte, Herr Untersuchungsrichter - -"
     "Des Mordes an Zottmann verd¤chtig?"
     "Wahrscheinlich. Wenigstens vermute ich es. Aber - -"
     "Gest¤ndig?"
     "Was  soll  ich denn gestehen, Herr Untersuchungsrichter, ich  bin doch
unschuldig!"
     "Gest¤ndig?"
     "Nein."
     "Dann  verh¤nge ich Untersuchungshaft ìber Sie. -  Fìhren Sie den  Mann
hinaus, Gefangenw¤rter."
     "Bitte, so hæren Sie mich doch an, Herr Untersuchungsrichter, - ich muŸ
unbedingt heute noch zu Hause sein. Ich habe wichtige Dinge zu veranlassen -
-"
     Hinter dem zweiten Schreibtisch meckerte jemand.
     Der Herr Baron schmunzelte. -
     "Fìhren Sie den Mann hinaus, Gefangenw¤rter."
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     Tag um Tag schlich dahin, Woche um Woche, und immer noch saŸ ich in der
Zelle.
     Um zwælf Uhr  durften wir t¤glich hinunter in den  Gef¤ngnishof und mit
anderen Untersuchungsgefangenen und Str¤flingen zu zweit 40 Minuten im Kreis
herumgehen auf der nassen Erde.
     Miteinander zu reden, war verboten.
     In der Mitte des Platzes stand ein  kahler, sterbender Baum, in  dessen
Rinde ein ovales Glasbild der Muttergottes eingewachsen war.
     An  den  Mauern  wuchsen kìmmerliche Ligusterstauden, die  Bl¤tter fast
schwarz vom fallenden RuŸ.
     Ringsum die  Gitter  der  Zellen, aus  denen  zuweilen  ein  kittgraues
Gesicht mit blutleeren Lippen herunterschaute.
     Dann ging's  wieder hinauf in die gewohnten  Grìfte zu Brot, Wasser und
Wurstabsud und sonntags zu faulenden Linsen.
     Erst einmal war ich wieder vernommen worden:
     Ob  ich  Zeugen  h¤tte,  daŸ mir  "Herr"  Wassertrum angeblich  die Uhr
geschenkt habe?
     "Ja: Herrn Schemajah Hillel  - - das heiŸt - nein" (ich erinnerte mich,
er  war nicht dabei gewesen) - - "aber Herr Charousek" - (nein, auch er  war
ja nicht dabei).
     "Kurz: also niemand war dabei?"
     "Nein, niemand war dabei, Herr Untersuchungsrichter."
     Wieder das Gemecker hinter dem Schreibtisch und wieder das:
     "Fìhren Sie den Mann hinaus, Gefangenw¤rter!" - - -
     Meine Besorgnis um Angelina war einer dumpfen Resignation gewichen: Der
Zeitpunkt, wo ich um sie zittern  muŸte,  war vorìber. Entweder  Wassertrums
Racheplan war l¤ngst geglìckt, oder Charousek hatte eingegriffen, sagte  ich
mir.
     Aber die Sorge um Mirjam trieb mich jetzt fast zum Wahnsinn.
     Ich stellte mir vor,  wie sie Stunde um Stunde darauf wartete, daŸ sich
das  Wunder  erneuere,  -  wie  sie frìh am  Morgen,  wenn  der B¤cker  kam,
hinauslief  und  mit  bebenden  H¤nden  das  Brot  untersuchte,  -  wie  sie
vielleicht um meinetwillen vor Angst verging.
     Oft  in  der Nacht peitschte es mich aus dem Schlaf, und ich  stieg auf
das  Wandbrett und starrte empor zu  dem  kupfernen  Gesicht der Turmuhr und
verzehrte  mich in dem Wunsch, meine Gedanken mæchten zu Hillel  dringen und
ihm ins Ohr  schreien, er solle Mirjam  helfen  und sie erlæsen von der Qual
des Hoffens auf ein Wunder.
     Dann wieder warf ich mich auf das Stroh und hielt den Atem an, bis  mir
die Brust fast  zersprang, -  um das  Bild meines  Doppelg¤ngers vor mich zu
zwingen, damit ich ihn zu ihr schicken kænnte als einen Trost.
     Und  einmal  war  er  auch  erschienen  neben  meinem  Lager  mit   den
Buchstaben: Chabrat Zereh  Aur  Bocher in Spiegelschrift auf der Brust,  und
ich wollte aufschreien vor Jubel, daŸ jetzt alles wieder gut wìrde,  aber er
war in den Boden versunken, noch ehe ich ihm den Befehl geben konnte, Mirjam
zu erscheinen. - - -
     DaŸ ich so gar keine Nachricht bekam von meinen Freunden!
     Ob  es denn verboten sei,  einem Briefe zu  schicken? fragte ich  meine
Zellengenossen.
     Sie wuŸten es nicht.
     Sie h¤tten noch nie welche bekommen - allerdings w¤re  auch niemand da,
der ihnen schreiben kænnte, sagten sie.
     Der Gefangenw¤rter versprach mir, sich gelegentlich zu erkundigen.
     Meine  N¤gel  waren  rissig  geworden   vom  AbbeiŸen   und  mein  Haar
verwildert, denn Schere, Kamm und Bìrste gab es nicht.
     Auch kein Wasser zum Waschen.
     Fast ununterbrochen k¤mpfte  ich mit Brechreiz, denn der Wurstabsud war
mit  Soda gewìrzt  statt  mit Salz.  - -  Eine  Gef¤ngnisvorschrift, um  dem
"œberhandnehmen des Geschlechtstriebs vorzubeugen."
     Die Zeit verging in grauer, furchtbarer Eintænigkeit.
     Drehte sich wie im Kreis wie ein Rad der Qual.
     Da gab es die gewissen  Momente, die jeder von uns kannte, wo plætzlich
einer oder der andere aufsprang und stundenlang auf und nieder lief  wie ein
wildes Tier, um sich dann wieder gebrochen auf die Pritsche fallen zu lassen
und stumpfsinnig weiter zu warten - zu warten - zu warten.
     Wenn der Abend kam, zogen die Wanzen in Scharen gleich Ameisen ìber die
W¤nde  und  ich  fragte mich  erstaunt, warum denn der  Kerl  in  S¤bel  und
Unterhosen mich  so gewissenhaft ausgeforscht  habe, ob ich kein  Ungeziefer
h¤tte.
     Fìrchtete  man  vielleicht  im Landesgericht,  es  kænne  eine Kreuzung
fremder Insektenrassen entstehen?
     Mittwoch  vormittags  kam  gewæhnlich  ein   Schweinskopf   herein  mit
Schlapphut  und zuckenden Hosenbeinen: der Gef¤ngnisarzt Dr. Rosenblatt, und
ìberzeugte sich, daŸ alle vor Gesundheit strotzten.
     Und wenn einer sich beschwerte, gleichgìltig worìber, so verschrieb  er
- Zinksalbe zum Einreiben der Brust.
     Einmal  kam auch der  Landgerichtspr¤sident  mit - ein hochgewachsener,
parfìmierter Halunke der "guten Gesellschaft",  dem die gemeinsten Laster im
Gesicht geschrieben standen,  und sah nach, ob - alles  in  Ordnung sei: "ob
sich noch immer kaner derhenkt hobe", wie sich der Frisierte ausdrìckte.
     Ich war auf ihn zugetreten, um ihm  eine Bitte vorzutragen, da hatte er
einen  Satz  hinter  den  Gefangenw¤rter  gemacht  und  mir  einen  Revolver
vorgehalten. - "Was ich denn wolle", schrie er mich an.
     Ob Briefe fìr  mich  da  seien, fragte ich hæflich. Statt  der  Antwort
bekam  ich einen StoŸ  vor die  Brust vom  Herrn Dr.  Rosenblatt, der gleich
darauf das Weite suchte. Auch der Herr Pr¤sident zog  sich zurìck und hæhnte
durch den Tìrausschnitt:  - ich solle  lieber den Mord gestehen. Eher bek¤me
ich in diesem Leben keine Briefe.
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     Ich hatte mich l¤ngst an  die  schlechte Luft und die Hitze gewæhnt und
fræstelte best¤ndig. Selbst, wenn die Sonne schien.
     Zwei  der  Gefangenen hatten schon  einige Male  gewechselt,  aber  ich
achtete  nicht  darauf.  Diese  Woche  waren  es  ein  Taschendieb  und  ein
Wegelagerer,  das  n¤chste  Mal  ein  Falschmìnzer  oder   ein  Hehler,  die
hereingefìhrt wurden.
     Was ich gestern erlebte, war heute vergessen.
     Gegen  das  Wìhlen  der   Sorge  um   Mirjam  verblaŸten  alle  ¤uŸeren
Begebenheiten.
     Nur ein Ereignis  hatte sich mir tiefer eingepr¤gt - es  verfolgte mich
zuweilen als Zerrbild bis in den Traum:
     Ich hatte  auf  dem Wandbrett gestanden,  um hinauf in  den  Himmel  zu
starren,  da fìhlte  ich plætzlich,  daŸ mich ein spitzer Gegenstand  in die
Hìfte  stach, und  als  ich nachsah,  bemerkte ich, daŸ es die Feile gewesen
war, die sich  mir durch die  Tasche zwischen Rock und Futter gebohrt hatte.
Sie  muŸte schon  lange dort gesteckt haben, sonst h¤tte sie der Mann in der
Flurstube gewiŸ bemerkt.
     Ich zog sie heraus und warf sie achtlos auf meinen Strohsack.
     Als  ich dann  herunterstieg, war  sie verschwunden, und ich  zweifelte
keinen Augenblick, daŸ nur Loisa sie genommen haben konnte.
     Einige Tage  sp¤ter  holte man ihn aus  der  Zelle,  um ihn einen Stock
tiefer unterzubringen.
     Es  dìrfe nicht  sein, daŸ zwei  Untersuchungsgefangene, die  desselben
Verbrechens beschuldigt w¤ren, wie er und ich,  in der gleichen Zelle s¤Ÿen,
hatte der Gefangenw¤rter gesagt.
     Aus ganzem Herzen wìnschte ich, es mæchte dem armen Burschen  gelingen,
sich mit Hilfe der Feile zu befreien.

     Auf meine Frage, welches Datum denn w¤re - die Sonne schien so warm wie
im  Hochsommer  und der mìde Baum im Hof trieb ein paar Knospen - hatte  der
Gefangenw¤rter zuerst  geschwiegen, dann aber mir  zugeflìstert, es  sei der
15. Mai. Eigentlich  dìrfe er es nicht sagen,  denn es sei verboten, mit den
Gefangenen  zu sprechen, - insbesondere solche,  die  noch  nicht  gestanden
h¤tten, mìŸten hinsichtlich der Zeit im unklaren gehalten werden.
     Drei volle Monate war ich  also schon im Gef¤ngnis und noch immer keine
Nachricht aus der Welt da drauŸen!
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     Wenn  es  Abend wurde,  drangen leise Kl¤nge eines  Klaviers durch  das
Gitterfenster, das jetzt an warmen Tagen offen war.
     Die  Tochter  des  BeschlieŸers  unten spiele,  hatte mir ein Str¤fling
gesagt.
     Tag und Nacht tr¤umte ich von Mirjam.
     Wie es ihr wohl ging?!
     Zuzeiten hatte ich das træstliche  Gefìhl, als seien meine  Gedanken zu
ihr gedrungen  und  stìnden an ihrem Bette, w¤hrend sie  schlief, und legten
ihr lindernd die Hand auf die Stirne.
     Dann wieder, in Momenten der  Hoffnungslosigkeit,  wenn einer nach  dem
andern meiner Zellengenossen  zum Verhær gefuhrt  wurde, - nur  ich nicht, -
drosselte mich eine dumpfe Furcht, sie sei vielleicht schon lange tot.
     Da stellte ich dann Fragen an  das Schicksal,  ob sie  noch  lebe  oder
nicht, krank sei oder gesund, und  die Anzahl einer Handvoll  Halme, die ich
aus dem Strohsack riŸ, sollte mir Antwort geben.
     Und fast jedesmal "ging  es  schlecht aus",  und ich  wìhlte in  meinem
Innern  nach einem Blick in die Zukunft; - suchte  meine Seele, die  mir das
Geheimnis verbarg, zu ìberlisten durch die scheinbar abseits liegende Frage,
ob wohl fìr mich dereinst noch ein Tag kommen wìrde,  wo ich heiter sein und
wieder lachen kænnte.
     Immer  bejahte das  Orakel in solchen  F¤llen, und  dann  war ich  eine
Stunde lang glìcklich und froh.
     Wie eine Pflanze heimlich w¤chst und sproŸt, war allm¤hlich in mir eine
unbegreifliche, tiefe  Liebe zu Mirjam erwacht, und ich faŸte es  nicht, daŸ
ich so  oft hatte bei  ihr  sitzen und mit ihr reden kænnen, ohne mir damals
schon klar darìber geworden zu sein.
     Der zitternde Wunsch, daŸ auch sie mit gleichen Gefìhlen an mich denken
mæchte,  steigerte  sich in  solchen  Augenblicken  oft  bis zur Ahnung  der
GewiŸheit,  und  wenn  ich  dann auf dem Gange  drauŸen einen Schritt hærte,
fìrchtete ich mich  beinahe  davor, man kænnte mich holen und freilassen und
mein  Traum  wìrde  in  der groben  Wirklichkeit  der  AuŸenwelt  in  nichts
zerrinnen.
     Mein Ohr war  in  der langen Zeit der Haft so scharf  geworden, daŸ ich
auch das leiseste Ger¤usch vernahm.
     Jedesmal  bei  Anbruch  der  Nacht  hærte ich in  der Ferne einen Wagen
fahren und zergrìbelte mir den Kopf, wer wohl dann sitzen mæchte.
     Es lag etwas seltsam Fremdartiges in dem Gedanken,  daŸ es Menschen gab
da drauŸen, die  tun und lassen durften, was sie wollten, -  die  sich  frei
bewegen  konnten  und  da und  dort  hingehen,  und  es  dennoch  nicht  als
unbeschreiblichen Jubel empfanden.
     DaŸ  auch ich jemals wieder so  glìcklich werden wìrde, im Sonnenschein
durch die StraŸen wandern zu kænnen; - - ich war nicht mehr imstande, es mir
vorzustellen.
     Der Tag, an dem ich Angelina in den Armen gehalten,  schien  mir  einem
l¤ngstverflossenen Dasein anzugehæren; - ich dachte daran  zurìck mit  jener
leisen Wehmut, wie sie einen beschleicht, wenn  man ein  Buch aufschl¤gt und
findet  dann welke Blumen, die einst  die Geliebte der Jugendjahre  getragen
hat.
     Ob wohl  der alte Zwakh  noch immer Abend fìr Abend mit Vrieslander und
Prokop  beim  "Ungelt" saŸ  und  der vertrockneten Eulalia  das  Hirn konfus
machte?
     Nein, es  war  doch Mai: - die Zeit, wo er mit seinem Marionettenkasten
durch  die Provinznester zog und  auf grìnen Wiesen vor den Toren den Ritter
Blaubart spielte.
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     Ich  saŸ  allein  in  der Zelle. -  Vãssatka,  der  Brandstifter,  mein
einziger  Gef¤hrte  seit   einer  Woche,  war  vor  ein  paar   Stunden  zum
Untersuchungsrichter geholt worden.
     Merkwìrdig lange dauerte diesmal sein Verhær.
     Da.   Die   eiserne  Vorlegestange  klirrte   an  der   Tìr.  Und   mit
freudestrahlender Miene stìrmte Vãssatka herein, warf ein Bìndel Kleider auf
die Pritsche und begann, sich mit Windeseile umzukleiden.
     Den  Str¤flingsanzug warf er Stìck  fìr  Stìck  mit einem Fluch auf den
Boden.
     "Nix hamms mer beweisen kænna, dæ Hallodri. - Brandstiftung! - Ja doder
-" er zog mit dem Zeigefinger an seinem unteren Augenlid. "Auf den schwarzen
Vãssatka sans jung. -  Der Wind war's, hab i g'sagt.  Und bi fest blimm. Den
kennens iazt eispirrn, wanns'n derwischen  - den Herrn von Wind. - No servus
heit abend!  - Do werd aufdraht. Beim  Loisitschek." - Er breitete die  Arme
aus und  tanzte einen "G'strampften". - "Nur einmahl  im Lebæhn blie-het der
Mai." Er stìlpte sich mit einem Krach einen steifen Deckel mit einer kleinen
blaugesprenkelten NuŸh¤herfeder darauf ìber den Sch¤del. - "Ja, richtig, das
wird Ihna intrissirn, Herr Graf: wissens was Neies?  Eana Freund, der Loisa,
is ausbrochen! - Grad hab i's erfahrehn oben bei die Hallodri. Schon vurigen
Monat -  gegen  Uldimoh  hat  er das Weide gesucht  und  ist  l¤ngst ieber -
pbhuit" - er  schlug sich mit den Fingern auf den  Handrìcken - "ieber  alle
Bergæh." -
     "Aha, die Feile", dachte ich mir und l¤chelte.
     "Alsdann  haltens   Ihna  jetzt  auch  bald   dazu,  Herr  Graf,"   der
Brandstifter streckte mir kameradschaftlich die Hand hin, "daŸ Sie mæglichst
bei Zeitæhn freikommen. -  Und wenn Sie  mal kein Geld  nicht habehn, fragen
Sie  sich  nur beim  Loisitschek nach  dem schwarzen Vãssatka. - Kennte mich
jedes  M¤del  durten.  So!  -  Alsdann  Servus,  Herr  Graf.  War   mir  ein
Vergniegen."
     Er  stand noch in der  Tìre,  da schob  der  W¤rter schon  einen  neuen
Untersuchungsgefangenen in die Zelle.
     Auf  den  ersten   Blick  erkannte  ich  in  ihm  den  Schlot  mit  der
Soldatenmìtze, der einmal  neben  mir  bei  Regenwetter in dem Torbogen  der
HahnpaŸgasse  gestanden hatte. Eine  freudige œberraschung! Vielleicht wuŸte
er zuf¤llig etwas ìber Hillel und Zwakh und alle die andern?
     Ich wollte  sofort  anfangen, ihn auszufragen, aber zu  meinem  græŸten
Erstaunen  legte  er mit geheimnisvoller Miene  den Finger an  den Mund  und
bedeutete mir, ich solle schweigen.
     Erst   als  die  Tìr  von  auŸen   abgesperrt   und  der   Schritt  des
Gefangenw¤rters auf dem Gange verhallt war, kam Leben in ihn.
     Mir schlug das Herz vor Aufregung.
     Was sollte das bedeuten?
     Kannte er mich denn, und was wollte er?
     Das erste, was der Schlot tat, war, daŸ er sich niedersetzte und seinen
linken Stiefel auszog.
     Dann zerrte er mit den Z¤hnen einen Stæpsel aus dem Absatz, entnahm dem
entstandenen Hohlraum  ein kleines gebogenes Eisenblech, riŸ die anscheinend
nur locker befestigte Schuhsohle ab und reichte mir beides mit stolzer Miene
hin. -
     Alles in  Windeseile und  ohne auf meine  erregten  Fragen auch  nur im
geringsten zu achten.
     "So! Einen schænen GruŸ vom Herrn Charousek."
     Ich war so verblìfft, daŸ ich kein Wort herausbringen konnte. -
     "Brauchens'  bloŸ Eisenblechl n¤hmen und Sohlen ausanand brechen in der
Nacht.  Oder wann  sunst niemand siecht. -  Ise  n¤mlich  hohl  inew¤ndig" -
erkl¤rte der Schlot mit ìberlegener Miene,  "und finden  Sie sich drinn eine
Brieffel von Herrn Charousek."
     Im œbermaŸ meines Entzìckens fiel ich  dem Schlot um den Hals, und  die
Tr¤nen stìrzten mir aus den Augen.
     Er wehrte mich voll Milde ab und sagte vorwurfsvoll:
     "Missen sich mehr zusammenn¤hmen, Herr von Pernath! Mir habens me nicht
eine Minutten zum Zeitverlieren. Es  kann sich soffort herauskommen, daŸ ich
in  der falschen  Zellen bin. Der Franzl und  ich habens me unt beim Pordjæh
die Nummern mitsamm vertauscht." -
     Ich muŸte wohl ein sehr  dummes Gesicht gemacht  haben, denn der Schlot
fuhr fort:
     "Wann Sie das  auch  nicht verst¤hn,  macht  nix. Kurz:  ich bin  hier,
Pasta!"
     "Sagen Sie doch," fiel ich ihm ins Wort, "sagen Sie doch, Herr - - Herr
- - -"
     "Wenzel," - half mir der Schlot aus, "ich heiŸe der schæne Wenzel."
     "Sagen Sie mir  doch,  Wenzel, was  macht der Archivar  Hillel, und wie
geht es seiner Tochter?"
     "Dazu ist jetz  keine Zeit  nicht", unterbrach  mich der  schæne Wenzel
ungeduldig. "Ich kann ich doch im n¤xen Augenblick herausgeschmissen werden.
- Also: ich bin ich hier, weil ich einen Raubanfall extra eingestanden hab -
-"
     "Was, Sie haben bloŸ meinetwegen, und um zu mir kommen zu kænnen, einen
Raubanfall begangen, Wenzel?" fragte ich erschìttert.
     Der Schlot schìttelte ver¤chtlich den  Kopf:  "Wenn ich  wirklich einen
Raub  anf all  begangen  h¤tt, mecht ich  ihm  doch  nicht  eingest¤hen. Was
glauben Sie von mir!?"
     Ich verstand allm¤hlich: - der brave Kerl hatte eine List gebraucht, um
mir den Brief Charouseks ins Gef¤ngnis zu schmuggeln.
     "So; zuverderscht" - er machte ein ¤uŸerst wichtiges Gesicht - "muŸ ich
Ihnen Unterricht in der Ebilebsie g¤ben."
     "Worin?"
     "In der Ebilebsie! - G¤bm S' amal  scharf Obacht und merkens Ihna alles
genau! - Alsdann schaugens h¤r: Zuerscht macht me Speichel  in der Goschen;"
- er blies die Backen auf und bewegte sie hin und her, wie  jemand, der sich
den Mund ausspìlt -  "dann kriegt  me Schaum vorm Maul, sengen S' so": -  er
machte auch dies. Mit widerw¤rtiger  Natìrlichkeit. "Nachhe  drehte  ma  die
Daumen  in  die Faust.  - Nachhe  kugelt  me  die Augen raus" - er  schielte
entsetzlich  - "und dann - das ise sich bisl schw¤r  - stoŸt me so  halbeten
Schrei aus. Segen S',  so: Bæ - bæ - bæ, und gleichzeitig fallt me sich um."
Er  lieŸ sich der L¤nge  nach  zu Boden fallen, daŸ  das  Haus zitterte, und
sagte beim Aufstehen:
     "Das  ise  sich  die natierliche  Ebilebsie, wie's uns der  Dr. Hulbert
gotts¤lig beim ›Bataljohn‹ gelernt hat."
     "Ja, ja,  es ist  t¤uschend ¤hnlich," gab ich zu, "aber wozu dient  das
alles?"
     "Weil  Sie sich zuerscht aus  der  Zellen  rausmissen!",  erkl¤rte  der
schæne  Wenzel.  "Der Dr. Rosenblatt is doch ein Mordsochs! Wenn einer schon
gar  kan Kopf  mehr  hat, sagt  der Rosenblatt immer noch: der Mann ise sich
pumperlgesund! - Nur vor die Ebilebsie hat e' an Viechsr¤schp¤kt.  Wann aner
daas gut  kann: gleich ise drieben  in der Krankenzelle. - - Und da ise sich
das Ausbrechen  dann ein Kinderspielzeug;" -  er wurde tief  geheimnisvoll -
"den  Fenstergitter  in  der  Krankenzelle ise  n¤mlich durchges¤gt  und nur
schwach  mit  Dreck  zusammengepappt.  - Es ise sich das ein  Geheimnis  vom
Bataljohn!  - Sie  brauchen dann  bloŸ ein paar N¤chte scharf aufpassen und,
wenn Sie eine Seilschlingen vom Dach herunter bis vors Fenster kommen segen,
heben Sie  leise  den Gitter aus, damit niemand nicht aufwacht, steckens die
Schultern in die Schlinge, und mir  ziegen Ihnen hinauf aufs Dach und lassen
Ihnen auf der andern Seiten hinunter auf die StraŸen. - Pasta."
     "Weshalb  soll  ich  denn aus dem  Gef¤ngnis  ausbrechen?"  wandte  ich
schìchtern ein, "ich bin doch unschuldig."
     "Das ise doch kein  Grund, um nicht auszubrechen!", widerlegte mich der
schæne Wenzel und machte vor Erstaunen kreisrunde Augen.
     Ich muŸte  meine ganze Beredsamkeit aufbieten,  um ihm  den  verwegenen
Plan, der, wie er sagte,  das Resultat eines  "Bataillons" beschlusses  war,
auszureden.
     DaŸ ich  "die Gabe Gottes" von der Hand wies und  lieber warten wollte,
bis ich von selbst freikommen wìrde, war ihm unbegreiflich.
     "Jedenfalls  danke  ich  Ihnen  und  Ihren  braven  Kameraden  auf  das
allerherzlichste,"  sagte ich gerìhrt und drìckte  ihm  die Hand. "Wenn  die
schwere Zeit  fìr  mich vorìber  ist, wird es mein erstes  sein,  mich Ihnen
allen erkenntlich zu zeigen."
     "Ise gar nicht n¤tig", lehnte Wenzel freundlich ab.  "Wann Sie ein paar
Glas  ›Pils‹  zahlen,  n¤hmen  wir  sich dankbar  an,  abe  sunst  nix.  Pan
Charousek, was ise jetz Schatzmistr vom Bataljohn hat  e' uns schon erz¤hlt,
was Sie fìr ein heimlicher Wohlt¤ter  sin. Soll ich ihm was ausrichten, wenn
ich in paar T¤g wieder herauskomm?"
     "Ja, bitte," fiel  ich rasch ein, "sagen Sie ihm, er mæchte  zu  Hillel
gehen und ihm mitteilen, ich h¤tte  soviel Angst wegen der Gesundheit seiner
Tochter Mirjam. Herr Hillel solle sie nicht aus den  Augen  lassen. - Werden
Sie sich den Namen merken?: Hillel!"
     "Hirr¤l?"
     "Nein: Hillel."
     "Hill¤r?"
     "Nein: Hill-el."
     Wenzel  zerbrach  sich  fast die  Zunge  an  dem  fìr  einen  Tschechen
unmæglichen  Namen,  aber  schlieŸlich  bew¤ltigte  er ihn doch unter wilden
Grimassen.
     "Und dann noch eins: Herr Charousek  mæge - ich lasse ihn herzlich drum
bitten - sich auch, soweit es in seiner Macht steht, der "vornehmen  Dame" -
er weiŸ schon, wer darunter zu verstehen ist - annehmen."
     "Sie meinen  sich  wahrscheinlich  die  adlige Flietschen,  die was  da
Gspusi  ghabt hat mit dem Niemetz - dem Dr. Sapoli? - No, die hat  sich doch
scheiden lassen und ise mit dem Kind und dem Sapoli fìrt."
     "Wissen Sie das bestimmt?"
     Ich fìhlte  meine Stimme  zittern. So sehr ich mich um Angelinas willen
freute, - es krampfte mir doch das Herz zusammen.
     Wieviel Sorge hatte  ich  ihretwegen getragen und  jetzt  - - - war ich
vergessen.
     Vielleicht glaubte sie, ich sei wirklich ein Raubmærder.
     Ein bitterer Geschmack stieg mir in die Kehle.
     Der  Schlot schien  mit  dem  Feingefìhl,  das  verwahrlosten  Menschen
seltsamerweise eigen ist bei allen Dingen, die sich um Liebe drehen, erraten
zu  haben,  wie  mir zumute  war, denn er  blickte scheu weg und  antwortete
nicht.
     "Wissen Sie vielleicht auch, wie es Herrn Hillels Tochter, dem Fr¤ulein
Mirjam geht? Kennen Sie sie?", fragte ich gepreŸt.
     "Mirjam? Mirjam?" - Wenzel legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten -
"Mirjam? - G¤ht sich die æfters in der Nacht zum Loisitschek?"
     Ich muŸte unwillkìrlich l¤cheln. "Nein. Ganz bestimmt nicht."
     "Dann kenn ich sie nicht", sagte Wenzel trocken.
     Wir schwiegen eine Weile.
     Vielleicht steht in dem Briefchen etwas ìber sie, hoffte ich.
     "DaŸ  den Wassertrum  der Deiwel  g'holt  hat",  fing  Wenzel plætzlich
wieder an, "w¤rden Sie sich wohl schon geh¤rt haben?"
     Ich fuhr entsetzt auf.
     "No ja." - Wenzel deutete auf seine Kehle. - "Murxi, murxi! Ich sag ich
Ihn¤n; es war Ihn¤n  schaislich. Wie sie den  Laden aufgebrochen haben, weil
er sich  paar T¤g nicht hat segen lassen, war  ich  natierlich  der  erschte
drin;  - wie denn nicht! - Und da hat e' durten g's¤ssen, der Wassertrum, in
einem  dreckigen L¤hnsessel,  die  Brust voller  Blut und die Augen  wie aus
Glas. -  -  - Wissen S',  ich bin ich  ein handfeste Kerl, aber mir hat sich
alles gedr¤ht,  sag ich Ihn¤n, und ich hab' gemeint, ich  hau ich ohnm¤chtig
hi-iin. Furt' a  furt' hab' ich  mir vorsagen missen:  Wenzel,  hab' ich mir
vorg'sagt, Wenzel, reg'  dich nicht auf, es is doch bloŸ ein toter Jud. - Er
hat  eine  Feile  in der Kehle stecken  gehabt und im Laden  war  sich alles
umedum geschmissen. - Ein Raubmord natierlich."
     "Die  Feile! Die  Feile!"  Ich fìhlte, wie mir der  Atem kalt wurde vor
Grausen. Die Feile! So hatte sie also doch ihren Weg gefunden!
     "Ich weiŸ ich auch, wer's war", fuhr Wenzel  nach  einer Pause halblaut
fort. "Niemand anders, sag  ich Ihn¤n,  als der blattersteppige Loiso. - Ich
hab'  ich  n¤mlich sein Taschenmesser auf dem  Boden  im Laden entdeckt  und
rasch eing'st¤ckt,  damit sich die Polizei nicht  draufkommt.  - Er ise sich
durch  einen unterirdischen Gang in den Laden - - -" er brach mit einem Ruck
seine Rede  ab und horchte ein paar Sekunden lang  angestrengt, dann warf er
sich auf die Pritsche und fing an, fìrchterlich zu schnarchen.
     Gleich  darauf klirrte das  Vorh¤ngeschloŸ und der Gef¤ngnisw¤rter  kam
herein und musterte mich argwæhnisch.
     Ich machte ein teilnahmsloses Gesicht und Wenzel war kaum zu erwecken.
     Erst  nach  vielen  Pìffen richtete er sich  g¤hnend auf und  taumelte,
gefolgt von dem W¤rter, schlaftrunken hinaus.
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     Fiebernd vor Spannung faltete ich Charouseks Brief auseinander und las:
     Den 12. Mai.
     "Mein lieber armer Freund und Wohlt¤ter!"
     Woche um Woche habe ich gewartet, daŸ  Sie endlich freikommen wìrden, -
immer   vergebens,   -   habe   alle   mæglichen   Schritte   versucht,   um
Entlastungsmaterial fìr Sie zu sammeln, aber ich fand keins.
     Ich bat den Untersuchungsrichter,  das Verfahren zu beschleunigen, aber
jedesmal  hieŸ es, er kænne nichts tun - es sei Sache der Staatsanwaltschaft
und nicht die seinige.
     Amtsschimmel!
     Eben erst, vor  einer Stunde, gelang mir jedoch etwas, von  dem ich mir
den  besten Erfolg erhoffe:  ich habe erfahren, daŸ  Jaromir  dem Wassertrum
eine goldene Taschenuhr, die er nach der damaligen Verhaftung seines Bruders
Loisa in dessen Bett gefunden hatte, verkauft hat.
     Beim ›Loisitschek‹, wo, wie  Sie wissen, die Detektivs verkehren,  geht
das Gerìcht,  man h¤tte die Uhr  des angeblich ermordeten  Zottmann - dessen
Leiche ìbrigens noch immer nicht entdeckt ist - als corpus delicti bei Ihnen
gefunden. Das ìbrige reimte ich mir zusammen: Wassertrum et cetera!
     Ich habe mir Jaromir sofort vorgenommen,  ihm 1000 fl gegeben -  -" Ich
lieŸ den Brief sinken, und die Freudentr¤nen traten mir in  die  Augen:  nur
Angelina konnte Charousek die Summe gegeben haben. Weder Zwakh, noch Prokop,
noch Vrieslander besaŸen  so viel  Geld.  Sie hatte  mich  also  doch  nicht
vergessen! - Ich las weiter:
     "- 1000 fl gegeben und ihm weitere 2000 fl versprochen, wenn er mit mir
sofort zur Polizei  ginge und eingestìnde,  die Uhr  seinem  Bruder zu Hause
entwendet und verkauft zu haben.
     Das alles  kann  aber erst  geschehen, wenn dieser  Brief durch  Wenzel
bereits an Sie unterwegs ist. Die Zeit reicht nicht aus.
     Aber seien Sie versichert: es  wird  geschehen.  Heute noch.  Ich bìrge
Ihnen dafìr.
     Ich zweifle keinen Augenblick, daŸ Loisa den Mord begangen  hat und die
Uhr die Zottmanns ist.
     Sollte sie es wider Erwarten nicht sein,  - nun, dann weiŸ Jaromir, was
er  zu tun  hat:  -  Jedenfalls  wird er  sie als die  bei  Ihnen  gefundene
agnoszieren.
     Also  harren Sie aus und verzweifeln Sie  nicht!  Der  Tag, wo Sie frei
sein werden, steht vielleicht bald bevor.
     Ob trotzdem ein Tag kommen wird, wo wir uns wiedersehen?
     Ich weiŸ es nicht.
     Fast mæchte ich sagen: ich glaube es nicht, denn mit  mir  geht's rasch
zu  Ende, und  ich muŸ auf  der  Hut sein, daŸ mich die letzte Stunde  nicht
ìberrascht.
     Aber eins halten Sie fest: wir werden uns wiedersehen.
     Wenn auch nicht in diesem Leben und nicht wie die Toten in jenem Leben,
aber an dem Tag, wo die Zeit zerbricht, - wo, wie es in der Bibel steht, der
HERR die ausspeien wird aus seinem Munde, die lau waren und weder  kalt noch
warm. - - -
     Wundern Sie  sich nicht, daŸ ich so  rede! Ich habe  nie mit Ihnen ìber
diese Dinge gesprochen und, als Sie einmal das Wort ›Kabbala‹ berìhrten, bin
ich Ihnen ausgewichen, aber - ich weiŸ, was ich weiŸ.
     Vielleicht verstehen Sie, was ich meine,  und wenn nicht, so  streichen
Sie, ich bitte Sie darum, das, was ich gesagt habe, aus Ihrem  Ged¤chtnis. -
- Einmal, in meinen Delirien, glaubte ich  - ein  Zeichen auf Ihrer Brust zu
sehen. - Mag sein, daŸ ich wach getr¤umt habe.
     Nehmen Sie  an, wenn Sie mich wirklich nicht verstehen sollten, daŸ ich
gewisse Erkenntnisse gehabt habe - innerlich! - fast schon von  Kindheit an,
die  mich einen seltsamen Weg gefìhrt haben; - Erkenntnisse, die  sich nicht
decken mit dem,  was die Medizin lehrt oder Gott sei  Dank  noch nicht weiŸ;
hoffentlich auch nie erfahren wird.
     Aber ich habe mich nicht dumm machen lassen von der Wissenschaft, deren
hæchstes Ziel es ist, einen - ›Wartesaal‹ auszustaffieren, den man am besten
niederrisse.
     Doch genug davon.
     Ich will Ihnen erz¤hlen, was sich inzwischen zugetragen hat:
     Ende  April  war  Wassertrum  so  weit, daŸ meine Suggestion anfing  zu
wirken.
     Ich sah es daran, daŸ er auf der Gasse best¤ndig gestikulierte und laut
mit sich selbst sprach.
     So etwas ist ein sicheres Zeichen, daŸ die Gedanken eines Menschen sich
zum Sturm rotten, um ìber ihren Herrn herzufallen.
     Dann kaufte er sich ein Taschenbuch und machte sich Notizen.
     Er schrieb!
     Er schrieb! DaŸ ich nicht lache! Er schrieb.
     Und dann ging er zu einem Notar. Unten vor dem Hause wuŸte  ich, was er
oben machte: - er machte sein Testament.
     DaŸ er mich zum Erben einsetzte, habe ich mir allerdings nicht gedacht.
Ich  h¤tte wahrscheinlich den  Veitstanz  bekommen vor Vergnìgen, wenn's mir
eingefallen w¤re.
     Er setzte mich zum Erben ein, weil ich der einzige auf der Erde bin, an
dem er  noch etwas gutmachen kænnte,  wie er glaubte. Das  Gewissen hat  ihn
ìberlistet.
     Vielleicht war's auch die Hoffnung, ich wìrde ihn segnen, wenn ich mich
nach seinem Tode  durch seine Huld plætzlich als Million¤r s¤he, und dadurch
den Fluch wettmachen, den er in Ihrem Zimmer aus meinem Mund hat mit anhæren
mìssen.
     Dreifach hat demnach meine Suggestion gewirkt.
     Rasend witzig,  daŸ er heimlich  also doch an eine Wiedervergeltung  im
Jenseits geglaubt  hat, w¤hrend  er sich's  das  ganze  Leben  lang mìhselig
ausreden wollte.
     Aber  so ist's  bei allen den Ganzgescheiten; man sieht es schon an der
wahnwitzigen Wut, in die sie geraten, wenn man's ihnen ins Gesicht sagt. Sie
fìhlen sich ertappt.
     Von dem Moment an, wo Wassertrum vom Notar kam, lieŸ ich ihn nicht mehr
aus dem Auge.
     Des  Nachts  horchte  ich an  den Verschlagbrettern seines Ladens, denn
jede Minute konnte die Entscheidung fallen. -
     Ich  glaube,  durch Mauern hindurch wìrde ich das  ersehnte schnalzende
Ger¤usch  gehært  haben,  wenn  er den Stæpsel  aus  der Giftflasche gezogen
h¤tte.
     Es  fehlte  vielleicht  nur  eine  Stunde,  und  mein   Lebenswerk  war
vollbracht.
     Da griff ein Unberufener ein und ermordete ihn. Mit einer Feile.
     Lassen Sie sich das N¤here von Wenzel  erz¤hlen, mir wird es zu bitter,
alles das niederschreiben zu mìssen.
     Nennen Sie  es Aberglaube,  - aber,  wie  ich  sah, daŸ Blut  vergossen
worden war - die Dinge im Laden waren befleckt  davon, - kam es mir vor, als
sei mir seine Seele entwischt.
     Etwas in  mir,  - ein feiner, untrìglicher Instinkt - sagt mir,  daŸ es
nicht dasselbe ist, ob ein Mensch von  fremder Hand stirbt oder von eigener:
- daŸ Wassertrum  sein  Blut mit sich in die  Erde h¤tte nehmen mìssen, dann
erst w¤re meine Mission erfìllt gewesen. - Jetzt, wo es anders gekommen ist,
fìhle  ich  mich als  AusgestoŸener,  als  ein  Werkzeug, das  nicht  wìrdig
befunden wurde in der Hand des Todesengels.
     Aber ich will mich nicht auflehnen. Mein HaŸ ist von der Art, die ìbers
Grab  hinaus geht, und noch habe ich ja mein eigenes Blut, das ich vergieŸen
kann, wie ich will, damit es dem seinigen nachgehe im Reich der Schatten auf
Schritt und Tritt. - - -
     Jeden Tag, seit sie Wassertrum verscharrt haben, sitze ich drauŸen  bei
ihm auf dem Friedhof und horche in meine Brust hinein, was ich tun soll.
     Ich glaube, ich  weiŸ  es bereits,  aber ich  will noch warten, bis das
innere Wort, das zu mir  spricht,  klar wird wie eine Quelle. - Wir Menschen
sind unrein,  und  oft bedarf  es  langen  Fastens und  Wachens, bis wir das
Flìstern unserer Seele verstehen. - - -
     In der verflossenen Woche wurde mir  offiziell vom Gericht  mitgeteilt,
daŸ mich Wassertrum zum Universalerben eingesetzt hat.
     DaŸ ich fìr mich  keinen Kreuzer  davon anrìhre, brauche ich Ihnen wohl
nicht  zu versichern,  Herr  Pernath. -  Ich werde mich  hìten, ›ihm‹ -  fìr
›drìben‹ eine Handhabe zu geben.
     Die  H¤user,  die  er  besessen  hat,   lasse   ich   versteigern,  die
Gegenst¤nde, die  er berìhrt  hat,  werden verbrannt, und  was  an Geld  und
Geldeswert sich dann ergibt, f¤llt nach meinem Tode zu  einem Drittel  Ihnen
zu. -
     Ich sehe im Geiste, wie Sie aufspringen und protestieren, aber ich kann
Sie  beruhigen.  Was Sie bekommen, ist Ihr  rechtm¤Ÿiges Eigentum mit Zinsen
und Zinseszinsen. Schon  lange  wuŸte ich,  daŸ Wassertrum vor Jahren  Ihren
Vater und seine Familie um alles  gebracht hat, - erst jetzt bin ich in  der
Lage, es aktenm¤Ÿig nachweisen zu kænnen.
     Ein zweites  Drittel wird  unter die zwælf Mitglieder  des "Bataillons"
verteilt, die den Dr. Hulbert noch  persænlich  gekannt haben. Ich will, daŸ
jeder  von  ihnen  reich  wird  und Zutritt  bekommt  zur  Prager  -  "guten
Gesellschaft".
     Das  letzte  Drittel  gehært  zu  gleichen Teilen den  n¤chsten  sieben
Raubmærdern  des  Landes, die  mangels  zureichender Beweise  freigesprochen
werden mìssen.
     Ich bin das dem æffentlichen „rgernis schuldig.
     So. Das w¤re wohl alles.
     Und  jetzt, mein lieber, lieber Freund, leben Sie wohl und gedenken Sie
zuweilen
     Ihres
     aufrichtigen und dankbaren
     Innocenz Charousek."
     Tief erschìttert  legte ich  den Brief aus der Hand.  Ich  konnte  mich
nicht freuen ìber die Nachricht von meiner bevorstehenden Enthaftung.
     Charousek! Armer Mensch!  Wie  ein  Bruder  kìmmerte er  sich  um  mein
Schicksal. BloŸ, weil ich ihm einst 100 fl geschenkt hatte. Wenn ich ihm nur
einmal noch die Hand drìcken kænnte!
     Ich fìhlte: ja, er hatte recht; der Tag wìrde nie kommen.
     Ich  sah  ihn vor  mir:  seine flackernden Augen, die  schwindsìchtigen
Schultern, die hohe, noble Stirn.
     Vielleicht, daŸ alles ganz  anders gekommen w¤re, wenn  eine hilfreiche
Hand rechtzeitig in dies verdorrte Leben eingegriffen h¤tte.
     Noch einmal las ich den Brief durch.
     Wieviel Methode in  Charouseks Irrsinn lag! Ob er  ìberhaupt  irrsinnig
war?
     Ich  sch¤mte mich beinahe, diesen  Gedanken  auch nur  einen Augenblick
geduldet zu haben.
     Sagten seine  Anspielungen nicht genug? Er war ein Mensch  wie  Hillel,
wie  Mirjam, wie ich selbst;  ein Mensch, ìber  den  die eigene Seele Gewalt
gewonnen hatte, - den sie durch  die wilden Schluchten und Klìfte des Lebens
emporfìhrte in die Firnenwelt eines unbetreten Landes.
     Er, der doch ein ganzes Leben auf Mord gesonnen,  stand er nicht reiner
da,  als irgendeiner von denen, die naserìmpfend  umhergehen  und angelernte
Gebote eines unbekannten, mythischen Propheten zu befolgen vorgeben?
     Er hielt das Gebot, das  ihm ein ìberm¤chtiger Trieb diktierte, ohne an
eine "Belohnung" hier oder jenseits auch nur zu denken.
     Was er getan hatte, war es etwas anderes als  fræmmste Pflichterfìllung
in des Wortes verborgenster Bedeutung?
     "Feig,  hinterlistig,  mordgierig,  krank, eine  problematische -  eine
Verbrechernatur"  -  ich  hærte færmlich, wie  das Urteil der Menge ìber ihn
lauten  muŸte,  wenn  sie  mit  ihren  blinden Stallaternen in  seine  Seele
hineinzuleuchten k¤me,  -  dieser  geifernden  Menge,  die  nie  und  nimmer
begreifen wird, daŸ die giftige Herbstzeitlose tausendfach schæner und edler
ist als der nìtzliche Schnittlauch. - - -
     Wieder  ging  das  TìrschloŸ drauŸen,  und  ich hærte,  daŸ  man  einen
Menschen hereinschob.
     Ich  drehte  mich  nicht einmal  um,  so sehr war ich  erfìllt von  dem
Eindruck des Briefes.
     Kein Wort ìber Angelina, nichts von Hillel stand darin.
     Freilich:  Charousek  muŸte  in  græŸter Eile  geschrieben  haben,  die
Schrift verriet es mir.
     Ob mir wohl noch ein Brief von ihm heimlich ìberbracht werden wìrde?
     Ich hoffte heimlich auf den  morgigen Tag, auf den gemeinsamen Rundgang
der Gefangenen im Hof. - Da war es noch am leichtesten, daŸ  mir irgendeiner
vom "Bataillon" etwas zusteckte.
     Eine leise Stimme schreckte mich aus meinen Grìbeleien:
     "Wìrden  Sie gestatten, mein Herr,  daŸ  ich mich Ihnen vorstelle? Mein
Name ist Laponder. Amadeus Laponder".
     Ich drehte mich um.
     Ein  kleiner, schm¤chtiger,  noch  ziemlich  junger  Mann in  gew¤hlter
Kleidung, nur  ohne  Hut,  wie alle Untersuchungsgefangenen,  verbeugte sich
korrekt vor mir.
     Er war glattrasiert  wie ein Schauspieler, und  seine  groŸen, hellgrìn
gl¤nzenden, mandelfærmigen Augen  hatten das Eigentìmliche  an sich, daŸ, so
geradeaus sie  auch auf mich gerichtet waren,  sie mich doch  nicht zu sehen
schienen. - Es lag so etwas wie - Geistesabwesenheit darin.
     Ich  murmelte meinen Namen und verbeugte mich ebenfalls und wollte mich
wieder umdrehen, konnte aber lange den  Blick von dem Menschen nicht wenden,
so fremdartig  wirkte er  auf mich mit  dem pagodenhaften  L¤cheln,  das die
aufw¤rts  gezogenen Mundwinkel der feingeschwungenen Lippen best¤ndig seinem
Gesicht aufdrìckten.
     Er sah  fast  aus wie eine chinesische Buddhastatue aus Rosenquarz, mit
seiner faltenlosen, durchsichtigen Haut,  der m¤dchenhaft schmalen  Nase und
den zarten Nìstern.
     "Amadeus Laponder, Amadeus Laponder", wiederholte ich vor mich hin.
     "Was er wohl begangen haben mag?"

     "Waren Sie schon beim Verhær", fragte ich nach einer Weile.
     "Ich komme  soeben  von dort. - Hoffentlich  werde  ich  Sie hier nicht
lange inkommodieren mìssen", antwortete Herr Laponder liebenswìrdig.
     "Armer   Teufel,"  dachte   ich   mir,  "er   ahnt   nicht,  was  einem
Untersuchungsgefangenen bevorsteht."
     Ich wollte ihn langsam vorbereiten:
     "Man  gewæhnt  sich allm¤hlich  an  das Stillsitzen,  wenn  einmal  die
ersten, schlimmsten Tage vorìber sind." - - -
     Er machte ein verbindliches Gesicht.
     Pause.
     "Hat das Verhær lange gedauert, Herr Laponder?"
     Er l¤chelte zerstreut:
     "Nein. Ich  wurde  bloŸ gefragt,  ob ich  gest¤ndig  sei, und muŸte das
Protokoll unterschreiben."
     "Sie haben unterschrieben, daŸ Sie gest¤ndig sind?" fuhr es mir heraus.
     "Allerdings."
     Er sagte es, als ob es sich von selbst verstìnde.
     Es  kann  nichts Schlimmes  sein, legte ich mir zurecht, weil er so gar
keine Aufregung  zeigt. Wahrscheinlich  eine Herausforderung zum  Duell oder
etwas „hnliches.
     "Ich bin leider schon  so lange hier, daŸ  es mir wie ein Menschenleben
vorkommt";  -  ich  seufzte   unwillkìrlich,  und  er  machte  sofort   eine
teilnehmende  Miene. "Ich  wìnsche  Ihnen,  daŸ  Sie  das nicht  mitzumachen
brauchen,  Herr  Laponder. Nach allem, was  ich sehe, werden  Sie  bald  auf
freiem FuŸ sein."
     "Wie  man's  nimmt",  antwortete  er  ruhig,  aber  es  klang  wie  ein
versteckter Doppelsinn.
     "Sie glauben nicht?", fragte ich l¤chelnd. Er schìttelte den Kopf.
     "Wie soll ich das verstehen? -  Was haben Sie denn gar so Schreckliches
begangen?  Verzeihen Sie, Herr  Laponder, es ist nicht Neugierde  von mir, -
lediglich Teilnahme, daŸ ich frage."
     Er zægerte  einen Augenblick,  dann  sagte  er, ohne mit der Wimper  zu
zucken:
     "Lustmord."
     Mir war, als h¤tte er mich mit einem Stock ìber den Kopf geschlagen.
     Vor Abscheu und Grausen konnte ich keinen Ton herausbringen.
     Er schien es zu bemerken und blickte diskret zur Seite, aber nicht  das
leiseste  Minenspiel in seinem automatenhaft l¤chelnden Gesicht verriet, daŸ
er ìber mein plætzlich ver¤ndertes Benehmen verletzt gewesen w¤re.
     Wir wechselten kein Wort weiter und blickten stumm aneinander vorbei. -
- -
     Als  ich  mich  nach Einbruch  der  Dunkelheit niederlegte,  folgte  er
sogleich meinem Beispiel, entkleidete  sich, h¤ngte sorgsam seine Kleider an
den  Wandnagel,  streckte sich aus und  schien,  nach seinen ruhigen, tiefen
Atemzìgen zu schlieŸen, unmittelbar darauf fest eingeschlafen zu sein.
     Die ganze Nacht konnte ich nicht zur Ruhe kommen.
     Das best¤ndige Gefìhl, ein solches Scheusal in meiner  n¤chsten N¤he zu
haben  und  dieselbe Luft mit ihm atmen zu  mìssen, war  mir so gr¤Ÿlich und
aufregend, daŸ die Eindrìcke des Tages, Charouseks Brief und all das erlebte
Neue tief in den Hintergrund traten.
     Ich hatte mich so gelegt, daŸ ich den Mærder best¤ndig im Auge behielt,
denn ich wìrde es nicht haben ertragen kænnen, ihn hinter mir zu wissen.
     Die Zelle war vom Schimmer des Mondes matt durchd¤mmert, und ich konnte
sehen, daŸ Laponder regungslos, fast starr, dalag.
     Seine  Zìge  hatten etwas Leichenhaftes bekommen, und der halbgeæffnete
Mund erhæhte diesen Eindruck.
     Viele Stunden hindurch ¤nderte er nicht ein einziges Mal seine Lage.
     Erst sp¤t nach Mitternacht, als ein dìnner Mondstrahl auf sein  Gesicht
fiel, kam eine leise Unruhe ìber ihn und er bewegte unaufhærlich die Lippen,
wie  jemand, der im Schlaf spricht. Es schien immer dasselbe Wort zu sein, -
ein zweisilbiger Satz vielleicht, - so wie:
     "LaŸ mich. LaŸ mich, LaŸ mich."
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     Die n¤chsten  paar Tage vergingen, ohne daŸ  ich Notiz von ihm genommen
h¤tte, und auch er brach niemals das Schweigen.
     Sein  Benehmen blieb nach wie  vor  gleich liebenswìrdig. Sooft ich auf
und ab gehen wollte, sah er es mir sofort  an und zog  hæflich,  wenn er auf
der Pritsche saŸ, die FìŸe zurìck, um mir nicht im Wege zu sein.
     Ich fing an, mir Vorwìrfe wegen  meiner Schroffheit  zu machen,  konnte
aber den Abscheu vor ihm beim besten Willen nicht loswerden.
     So sehr ich gehofft hatte, mich an seine  N¤he gewæhnen zu kænnen, - es
ging nicht.
     Selbst  in den  N¤chten hielt es  mich wach.  Kaum  eine  Viertelstunde
verbrachte ich im Schlaf.
     Abend fìr Abend wiederholte sich haargenau derselbe Vorgang: Er wartete
respektvoll, bis ich mich ausstreckte, zog dann seine Kleider aus, legte sie
pedantisch in Falten, h¤ngte sie auf, und so weiter und so weiter.
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     Eines  Nachts  -  es  mochte um die  zweite  Stunde  sein  -  stand ich
schlaftrunken  vor  Mìdigkeit  wieder  auf  dem  Wandbrett,  starrte in  den
Vollmond, dessen Strahlen sich wie glitzerndes  –l auf dem kupfernen Gesicht
der Turmuhr spiegelten, und dachte voll Trauer an Mirjam.
     Da hærte ich plætzlich leise ihre Stimme hinter mir.
     Sofort war ich wach, ìberwach, - fuhr herum und horchte.
     Eine Minute verging.
     Schon  glaubte  ich,  ich  h¤tte mich get¤uscht, da kam es  wieder. Ich
konnte die Worte nicht genau verstehen, aber es klang wie:
     "Frag' mich. Frag' mich."
     Es war bestimmt Mirjams Stimme.
     Schlotternd  vor  Aufregung  stieg ich,  so leise ich konnte, herab und
trat an das Bett Laponders.
     Das  Mondlicht schien voll auf sein  Gesicht, und ich  konnte  deutlich
unterscheiden, daŸ er die Lider offen hatte, doch nur das WeiŸe der Aug¤pfel
war sichtbar.
     An der Starre der Wangenmuskeln sah ich, daŸ er im Tiefschlaf lag.
     Nur  die  Lippen  bewegten  sich wieder  wie  neulich.  Und  allm¤hlich
verstand ich die Worte, die hinter seinen Z¤hnen hervordrangen:
     "Frag' mich. Frag' mich."
     Die Stimme war der von Mirjam t¤uschend ¤hnlich.
     "Mirjam? Mirjam?" rief  ich unwillkìrlich, d¤mpfte aber sofort den Ton,
um den Schl¤fer nicht zu erwecken.
     Ich  wartete,  bis  sein  Gesicht  wieder   starr  geworden  war,  dann
wiederholte ich leise:
     "Mirjam? Mirjam?"
     Sein Mund formte ein kaum vernehmbares, aber doch deutliches:
     "Ja."
     Ich legte mein Ohr dicht an seine Lippen.  Nach  einer Weile hærte  ich
Mirjams Stimme flìstern - so unverkennbar  ihre Stimme, daŸ mir K¤lteschauer
ìber die Haut liefen.
     Ich trank die Worte so gierig, daŸ ich nur den Sinn begriff. Sie sprach
von  Liebe zu mir und von dem unsagbaren Glìck, daŸ wir uns endlich gefunden
h¤tten  -  und  uns nie  wieder  trennen wìrden -  hastig  - ohne Pause, wie
jemand,  der  fìrchtet, unterbrochen  zu werden und jede  Sekunde  ausnìtzen
will.
     Dann wurde die Stimme stockend - erlosch zeitweilig ganz.
     "Mirjam?" fragte ich,  bebend vor  Angst  und  mit  eingezogenem  Atem,
"Mirjam, bist du gestorben?"
     Lange keine Antwort.
     Dann fast unverst¤ndlich:
     "Nein. - Ich lebe. - Ich schlafe."
     Nichts mehr.
     Ich lauschte und lauschte.
     Vergebens.
     Nichts mehr.
     Vor Ergriffenheit und Zittern muŸte ich mich auf die Kante der Pritsche
stìtzen, um nicht vornìber auf Laponder zu fallen.
     Die  T¤uschung war so  vollst¤ndig gewesen, daŸ ich  Mirjam momentelang
tats¤chlich  vor  mir  liegen  zu   sehen  glaubte  und  alle  meine   Kraft
zusammennehmen  muŸte,  um nicht einen KuŸ  auf die Lippen  des  Mærders  zu
drìcken.
     "Henoch! Henoch!"  -  hærte ich ihn plætzlich lallen, dann immer klarer
und artikulierter: "Henoch! Henoch!"
     Sofort erkannte ich Hillel.
     "Bist du es, Hillel?"
     Keine Antwort.
     Ich  erinnerte mich, gelesen zu haben, daŸ man Schlafenden, um  sie zum
Reden  zu bringen, die Fragen nicht ins Ohr stellen dìrfe, sondern gegen das
Nervengeflecht in der Magengrube richten mìsse.
     Ich tat es:
     "Hillel?"
     "Ja, ich hære dich!"
     "Ist Mirjam gesund? WeiŸt du alles?" fragte ich schnell.
     "Ja. Ich  weiŸ  alles. WuŸte es l¤ngst. - Sei ohne Sorge,  Henoch,  und
fìrchte dich nicht!"
     "Kannst du mir verzeihen, Hillel?"
     "Ich sage dir doch: sei ohne Sorge."
     "Werden wir  uns bald  wiedersehen?" - Ich fìrchtete, die Antwort nicht
mehr  verstehen  zu kænnen;  schon der  letzte  Satz war nur  noch  gehaucht
worden.
     "Ich  hoffe es.  Ich will  warten - auf dich - wenn ich kann - dann muŸ
ich - Land -"
     "Wohin? In welches Land?" - ich fiel beinahe auf Laponder - "In welches
Land? In welches Land?"
     "- Land - Gad - sìdlich - Pal¤stina -"
     Die Stimme erstarb.
     Hundert  Fragen  schæssen mir  in der Verwirrung durch den  Kopf: Warum
nennt  er  mich  Henoch?  Zwakh,  Jaromir,  die Uhr, Vrieslander,  Angelina,
Charousek.
     "Leben  Sie wohl und gedenken Sie meiner  zuweilen",  kam  es plætzlich
wieder laut und deutlich  von den  Lippen des Mærders. Diesmal in Charouseks
Tonfall, aber ¤hnlich so, als h¤tte ich selbst es gesagt.
     Ich  erinnerte  mich:  es war wærtlich  der  SchluŸsatz  aus Charouseks
Brief. -
     Das Gesicht Laponders lag bereits im Dunkel. Das Mondlicht fiel auf die
Kopfenden des  Strohsacks.  In einer Viertelstunde muŸte  es aus  der  Zelle
verschwunden sein.
     Ich stellte Frage auf Frage, bekam aber keine Antwort mehr:
     Der Mærder lag  unbeweglich  da wie  eine  Leiche  und hatte die  Lider
geschlossen.
     Ich machte mir die heftigsten Vorwìrfe, alle die Tage ìber  in Laponder
nur den Verbrecher und niemals den Menschen gesehen zu haben. -
     Nach dem, was ich soeben erlebt, war er offenbar ein Somnambuler -  ein
Geschæpf, das unter dem EinfluŸ des Vollmonds stand.
     Vielleicht hatte er  den Lustmord in einer  Art D¤mmerzustand begangen.
Bestimmt sogar. -
     Jetzt,  wo der  Morgen  graute,  war  die  Starrheit  aus  seinen Zìgen
gewichen und hatte dem Ausdruck seligen Friedens Platz gemacht.
     So ruhig  kann ein Mensch doch nicht schlummern, der einen Mord auf dem
Gewissen hat, sagte ich mir.
     Ich konnte den Moment, wo er aufwachen wìrde, kaum erwarten.
     Ob er wohl wìŸte, was geschehen war?
     Endlich schlug  er die Augen  auf,  begegnete meinem  Blick und sah zur
Seite.
     Sofort trat ich zu ihm und ergriff seine Hand: "Verzeihen Sie mir, Herr
Laponder,  daŸ  ich bisher so unfreundlich zu Ihnen gewesen bin. Es war  das
Ungewohnte, das -"
     "Seien Sie ìberzeugt,  mein Herr, ich begreife  vollkommen," unterbrach
er  mich  lebhaft,  "daŸ  es ein  scheuŸliches  Gefìhl  sein  muŸ, mit einem
Lustmærder beisammen zu sein."
     "Reden Sie nicht  mehr  davon", bat  ich. "Es ist  mir heute  nacht  so
mancherlei durch den  Kopf gegangen, und ich werde den  Gedanken  nicht los,
Sie kænnten vielleicht - - -" ich suchte nach Worten.
     "Sie halten mich fìr krank", half er mir heraus.
     Ich bejahte: "Ich glaube es aus gewissen Anzeichen schlieŸen zu dìrfen.
Ich - ich - darf ich Ihnen eine direkte Frage stellen, Herr Laponder?"
     "Ich bitte darum."
     "Es klingt  etwas  merkwìrdig, - aber - wìrden Sie mir  sagen,  was Sie
heute getr¤umt haben?"
     Er schìttelte l¤chelnd den Kopf: "Ich tr¤ume nie."
     "Aber Sie haben aus dem Schlaf gesprochen."
     Er blickte ìberrascht  auf.  Dachte  eine  Weile nach.  Dann  sagte  er
bestimmt:
     "Das kann nur geschehen sein, wenn Sie mich etwas gefragt haben." - Ich
gab es zu. "Denn wie gesagt,  ich tr¤ume nie. Ich -  ich wandere", setzte er
nach einer Pause halblaut hinzu.
     "Sie wandern? Wie soll ich das verstehen?"
     Er schien nicht recht mit  der Sprache heraus zu  wollen, und ich hielt
es fìr angezeigt, ihm die Grìnde zu nennen, die mich bewogen hatten, in  ihn
zu dringen, und erz¤hlte ihm in Umrissen, was nachts geschehen war.
     "Sie  kænnen sich fest darauf  verlassen," sagte  er ernst,  als ich zu
Ende war, "daŸ alles auf Richtigkeit beruht, was ich  im  Schlaf  gesprochen
habe. Wenn ich vorhin  bemerkte, daŸ ich nicht tr¤ume, sondern ›wandere‹, so
meine ich damit, daŸ  mein Traumleben anders  beschaffen ist als das - sagen
wir: normaler Menschen. Nennen Sie  es,  wenn Sie wollen,  ein Austreten aus
dem Kærper. - - So war ich  z.  B. heute nacht  in einem hæchst  sonderbaren
Zimmer, zu dem der Eingang von unten herauf durch eine Falltìr fìhrte."
     "Wie sah es aus?" fragte ich rasch. "War es unbewohnt? Leer?"
     "Nein; es standen  Mæbel darin; aber nicht viele. Und ein  Bett, in dem
ein junges  M¤dchen schlief  - oder  wie scheintot lag, -  und ein Mann  saŸ
neben  ihr und hielt seine Hand  ìber ihre Stirn." - Laponder schilderte die
Gesichter der beiden. Kein Zweifel, es waren Hillel und Mirjam.
     Ich wagte vor Spannung kaum zu atmen.
     "Bitte, erz¤hlen Sie weiter. War sonst noch jemand im Zimmer?"
     "Sonst  noch jemand? Warten  Sie -  - - nein: sonst war niemand mehr im
Zimmer. Ein siebenflammiger Leuchter brannte auf dem Tisch.  - Dann ging ich
eine Wendeltreppe hinunter."
     "Sie war zerbrochen?" fiel ich ein.
     "Zerbrochen? Nein, nein; sie war ganz in Ordnung. Und von  ihr  zweigte
seitlich eine Kammer ab, darin saŸ ein Mann mit  silbernen Schnallen an  den
Schuhen und von fremdartigem Typus, wie ich  noch nie einen Menschen gesehen
habe:  von gelber  Gesichtsfarbe  und  mit  schr¤gstehenden Augen; -  er war
vornìber  gebeugt  und  schien  auf  etwas  zu  warten.  Auf  einen  Auftrag
vielleicht."
     "Ein  Buch  -  ein  altes groŸes  Buch  haben  Sie  nirgends gesehen?",
forschte ich.
     Er rieb sich die Stirn:
     "Ein Buch sagen Sie? - Ja. Sehr richtig: ein Buch lag auf dem Boden. Es
war  aufgeschlagen, ganz aus Pergament, und mit  einem  groŸen, goldenen ›A‹
fing die Seite an."
     "Mit einem ›I‹, meinen Sie wohl?"
     "Nein, mit einem ›A‹."
     "Wissen Sie das bestimmt? War es nicht ein ›I‹?"
     "Nein, es war bestimmt ein ›A‹."
     Ich  schìttelte  den  Kopf  und  fing  an zu  zweifeln.  Offenbar hatte
Laponder im Halbschlaf  in meinem Vorstellungsinhalt gelesen  und alles wirr
durcheinander  gebracht: Hillel,  Mirjam, den Golem,  das Buch Ibbur und den
unterirdischen Gang.
     "Haben  Sie die  Gabe  zu ›wandern‹, wie Sie es  nennen, schon  lang?",
fragte ich.
     "Seit meinem  21. Jahr - -  -", er stockte, schien nicht gern davon  zu
reden; da  nahm  seine Miene plætzlich  den Ausdruck grenzenlosen Erstaunens
an, und er starrte auf meine Brust, als ob er dort etwas s¤he.
     Ohne auf meine Verwunderung zu achten, ergriff er hastig meine Hand und
bat - fast flehentlich:
     "Um Himmels  willen, sagen Sie mir alles. Es ist  heute der letzte Tag,
den ich  bei Ihnen verbringen darf.  Vielleicht  schon in einer Stunde werde
ich abgeholt, um mein Todesurteil anzuhæren - -."
     Ich unterbr¤che ihn entsetzt:
     "Dann mìssen Sie mich  mitnehmen als Zeugen! Ich  werde beschwæren, daŸ
Sie  krank sind.  -  Sie sind mondsìchtig. Es darf  nicht  sein, daŸ man Sie
hinrichtet,  ohne Ihren  Geisteszustand untersucht zu haben.  So  nehmen Sie
doch Vernunft an!"
     Er wehrte nervæs ab: "Das ist doch so nebens¤chlich, - bitte, sagen Sie
mir alles!"
     "Aber was  soll ich Ihnen denn sagen? - Reden wir doch lieber von Ihnen
und - -"
     "Sie mìssen,  ich weiŸ das jetzt, gewisse, seltsame Dinge erlebt haben,
die mich nah angehen, - n¤her als Sie ahnen kænnen; - - ich bitte Sie, sagen
Sie mir alles!", flehte er.
     Ich konnte es nicht fassen, daŸ ihn mein  Leben  mehr interessierte als
seine  eigenen, doch wahrhaftig genìgend dringenden Angelegenheiten;  um ihn
aber  zu  beruhigen,  erz¤hlte ich  ihm alles, was  mir  an  Unbegreiflichem
geschehen war.
     Bei jedem græŸeren Abschnitt nickte er  zufrieden, wie jemand, der eine
Sache bis zum Grund durchschaut.
     Als  ich  zu  der Stelle kam, wo  die  Erscheinung ohne  Kopf  vor  mir
gestanden und mir  die schwarzroten  Kærner hingehalten hatte, konnte er  es
kaum erwarten, den SchluŸ zu erfahren.
     "Also, aus der Hand geschlagen haben Sie sie ihm", murmelte er sinnend.
"Ich h¤tte nie gedacht, daŸ es einen dritten ›Weg‹ geben kænnte.
     "Es war  das  kein dritter  Weg", sagte ich, "es war derselbe, wie wenn
ich die Kærner abgelehnt h¤tte."
     Er l¤chelte.
     "Glauben Sie nicht, Herr Laponder?"
     "Wenn  Sie sie  abgelehnt  h¤tten,  w¤ren  Sie wohl  auch den  ›Weg des
Lebens‹ gegangen, aber die Kærner, die magische Kr¤fte bedeuten, w¤ren nicht
zurìckgeblieben. -  So sind sie  auf den  Boden gerollt, wie Sie sagen.  Das
heiŸt:  sie  sind hiergeblieben und  werden  von  Ihren Vorfahren  so  lange
gehìtet,  bis die Zeit des Keimens da ist.  Dann  werden  die Kr¤fte, die in
Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden."
     Ich verstand nicht: "Von meinen Vorfahren werden die Kærner behìtet?"
     "Sie mìssen es teilweise symbolisch auffassen, was Sie  erlebt  haben",
erkl¤rte  Laponder.  "Der Kreis der bl¤ulich  strahlenden  Menschen, der Sie
umstand,  war die  Kette  der  ererbten ›Iche‹, die  jeder  von einer Mutter
Geborene mit sich herumschleppt.  Die  Seele ist  nichts  ›Einzelnes‹, - sie
soll es erst  werden, und das nennt man dann: ›Unsterblichkeit‹;  Ihre Seele
ist  noch zusammengesetzt aus  vielen ›Ichen‹ - so, wie ein Ameisenstaat aus
vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler tausend Vorfahren  in
sich: - die  H¤upter Ihres  Geschlechtes. Bei  allen  Wesen ist es  so.  Wie
kænnte  denn  ein Huhn,  das  aus einem Ei kìnstlich  erbrìtet  wurde,  sich
sogleich  die  richtige  Nahrung  suchen,  wenn  nicht  die  Erfahrung   von
Jahrmillionen  in ihm  st¤ke? - Das Vorhandensein des ›Instinkts‹ verr¤t die
Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der Seele. - Aber, verzeihen Sie, ich
wollte Sie nicht unterbrechen."
     Ich  erz¤hlte   zu  Ende.  Alles.  Auch   das,   was  Mirjam  ìber  den
"Hermaphroditen" gesagt hatte.
     Als  ich innehielt  und  aufblickte, bemerkte ich,  daŸ  Laponder  weiŸ
geworden war wie der Kalk an der Wand und Tr¤nen ìber seine Wangen liefen.
     Rasch stand ich auf, tat, als s¤he  ich es nicht, und ging in der Zelle
auf und nieder, um abzuwarten, bis er sich beruhigt haben wìrde.
     Dann  setzte ich  mich ihm gegenìber und  bot meine ganze  Beredsamkeit
auf, ihn  zu ìberzeugen,  wie dringend nætig es w¤re, den Richtern gegenìber
auf seinen krankhaften Geisteszustand hinzuweisen.
     "Wenn Sie wenigstens den Mord nicht eingestanden h¤tten!", schloŸ ich.
     "Aber ich muŸte doch! Man hat mich auf mein Gewissen gefragt", sagte er
naiv.
     "Halten  Sie denn eine Lìge fìr schlimmer  als  - als einen Lustmord?",
fragte ich verblìfft.
     "Im allgemeinen  vielleicht  nicht,  in meinem Fall gewiŸ. - Sehen Sie:
als ich vom Untersuchungsrichter gefragt wurde,  ob ich  gestìnde, hatte ich
die Kraft, die Wahrheit zu  sagen. Es stand also  in  meiner Wahl, zu  lìgen
oder nicht zu lìgen. - Als ich den  Lustmord beging - -  bitte, ersparen Sie
mir  die Details: es  war so gr¤Ÿlich, daŸ ich  die  Erinnerung nicht wieder
aufleben lassen mæchte  - - als ich den  Lustmord beging, da hatte ich keine
Wahl. Wenn ich auch bei vollkommen  klarem BewuŸtsein handelte, so hatte ich
dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt
hatte, wachte auf und war  st¤rker als ich.  Glauben Sie, wenn ich  die Wahl
gehabt haben  wìrde,  ich  h¤tte gemordet? - Nie  habe ich  getætet -  nicht
einmal  das kleinste  Tier,  - und jetzt w¤re ich es  schon  gar nicht  mehr
imstande.
     Nehmen  Sie  an,  es  w¤re  Menschengesetz:  zu  morden,  und  auf  die
Unterlassung stìnde der  Tod  - ¤hnlich, wie  es im  Krieg  der Fall  ist, -
augenblicklich h¤tte ich mir den Tod verdient. - Weil mir keine Wahl bliebe.
Ich kænnte ganz  einfach nicht morden.  Damals, als ich den Lustmord beging,
lag die Sache umgekehrt."
     "Um so mehr, wo Sie sich jetzt quasi als ein anderer fìhlen, mìssen Sie
alles aufbieten, dem Richterspruch zu entgehen!", wandte ich ein.
     Laponder machte eine  abwehrende Handbewegung: "Sie  irren! Die Richter
haben  von ihrem Standpunkt  aus ganz recht. Sollen sie  einen Menschen  wie
mich vielleicht frei umherlaufen lassen? Damit morgen oder ìbermorgen wieder
das Unheil losbricht?"
     "Nein; aber  in  einer  Heilanstalt fìr Geisteskranke  sollte  man  Sie
internieren. Das ist es doch, was ich sage!"
     "Wenn  ich  irrsinnig  w¤re,  h¤tten  Sie  recht",  erwiderte  Laponder
gleichmìtig. "Aber ich  bin  nicht irrsinnig. Ich  bin etwas ganz anderes, -
etwas, was  dem Irrsinn sehr ¤hnlich sieht, aber gerade das  Gegenteil  ist.
Bitte,  hæren Sie zu. Sie werden mich sogleich verstehen. - -  - Was Sie mir
vorhin von dem Phantom ohne Kopf - ein Symbol natìrlich: dieses Phantom; den
Schlìssel kænnen Sie leicht finden, wenn Sie darìber nachdenken - erz¤hlten,
ist mir einst genauso passiert. Nur habe ich die Kærner angenommen. Ich gehe
also den ›Weg des Todes‹! - Fìr mich ist das Heiligste, das ich denken kann:
meine Schritte vom Geistigen in mir lenken zu lassen. Blind, vertrauensvoll,
wohin  der Weg auch fìhren  mag: ob zum Galgen  oder zum Thron, ob zur Armut
oder  zum Reichtum. Niemals habe ich gezægert, wenn die  Wahl in meine  Hand
gelegt war.
     Darum habe ich auch nicht gelogen, als die Wahl in meiner Hand lag.
     Kennen Sie die Worte des Propheten Micha:
     "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist,
     und was der Herr von dir fordert,"?
     Wìrde ich gelogen haben, h¤tte  ich eine  Ursache geschaffen, weil  ich
die Wahl hatte; -  - als ich den  Mord beging, schuf  ich keine Ursache; nur
die Wirkung  einer in mir  schlummernden,  l¤ngst gelegten Ursache, ìber die
ich keine Gewalt mehr besaŸ, wurde frei.
     Also sind meine H¤nde rein.
     Dadurch, daŸ  das Geistige in  mir mich zum  Mærder werden lieŸ, hat es
eine Hinrichtung an mir  vollzogen; dadurch, daŸ  mich  die  Menschen an den
Galgen knìpfen, wird mein Schicksal  losgelæst von dem ihrigen:  - ich komme
zur Freiheit."
     Er ist  ein Heiliger, fìhlte ich, und  das  Haar str¤ubte sich mir  vor
Schauder ìber meine eigene Kleinheit.
     "Sie haben mir  erz¤hlt,  daŸ Sie durch den hypnotischen Eingriff eines
Arztes  in Ihr BewuŸtsein  lange die Erinnerung an Ihre Jugendzeit vergessen
hatten", fuhr er  fort.  "Es ist das  das Kennzeichen - das Stigma  -  aller
derer,  die von  der  ›Schlange  des geistigen Reiches‹  gebissen  sind.  Es
scheint fast, als mìŸten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft  werden, wie
ein Edelreis auf den wilden Baum,  ehe  das  Wunder  der Erweckung geschehen
kann; -  was  sonst  durch  den  Tod  getrennt wird,  geschieht  hier  durch
Erlæschen der Erinnerung - manchmal nur durch eine plætzliche innere Umkehr.
     Bei mir war es so,  daŸ ich scheinbar ohne ¤uŸere Ursache in meinem 21.
Jahr  eines Morgens wie ver¤ndert erwachte.  Was mir bis dahin lieb gewesen,
erschien mir mit einemmal gleichgìltig: Das  Leben kam mir dumm vor wie eine
Indianergeschichte  und  verlor   an  Wirklichkeit;  die  Tr¤ume  wurden  zu
GewiŸheit - zu apodiktischer, beweiskr¤ftiger GewiŸheit, verstehen Sie wohl:
zu beweiskr¤ftiger,  realer GewiŸheit,  und das  Leben des Tages  wurde  zum
Traum.
     Alle  Menschen  kænnten  das,  wenn  sie den Schlìssel  h¤tten. Und der
Schlìssel liegt einzig  und allein darin, daŸ  man sich seiner ›Ichgestalt‹,
sozusagen seiner  Haut, im Schlaf bewuŸt wird,  - die schmale  Ritze findet,
durch die sich das BewuŸtsein zw¤ngt zwischen Wachsein und Tiefschlaf.
     Darum sagte ich vorhin: ›ich wandere‹ und nicht: ›ich tr¤ume‹.
     Das Ringen nach  der Unsterblichkeit ist ein  Kampf um das Zepter gegen
die  uns  innewohnenden  Kl¤nge  und  Gespenster;  und das  Warten  auf  das
Kænigwerden des eigenen ›Ichs‹ ist das Warten auf den Messias.
     Der schemenhafte  Habal Garmin, den Sie  gesehen haben, der ›Hauch  der
Knochen‹ der Kabbala, das war der Kænig. Wenn er gekrænt sein  wird, dann  -
reiŸt der  Strick  entzwei,  mit dem Sie  durch  die ¤uŸeren  Sinne  und den
Schornstein des Verstandes an die Welt gebunden sind.
     Wieso es  kommen konnte, daŸ ich trotz meinem Losgetrenntsein vom Leben
ìber Nacht zum Lustmærder werden konnte, fragen Sie mich? Der Mensch ist wie
ein Glasrohr, durch das bunte Kugeln laufen: bei fast allen im Leben nur die
eine. Ist die Kugel rot, heiŸt der Mensch: ›schlecht‹.  Ist sie  gelb,  dann
ist der Mensch:  ›gut‹. Laufen  zwei  hintereinander  - eine rote  und  eine
gelbe, dann hat ›man‹ einen ›ungefestigten‹ Charakter. Wir von der ›Schlange
Gebissenen‹,  machen in einem  Leben durch, was sonst an der ganzen Rasse in
einem  Weltenalter  geschieht: die farbigen Kugeln rasen  hintereinander her
durch das Glasrohr, und wenn sie zu Ende sind - - dann sind wir Propheten, -
sind die Spiegel Gottes geworden."
     Laponder schwieg.
     Lange konnte  ich  kein Wort  sprechen.  Seine  Rede  hatte  mich  fast
bet¤ubt.
     "Weshalb fragten Sie mich vorhin  so ¤ngstlich nach meinen Erlebnissen,
wo  Sie  doch so  viel, viel hæher stehen als ich?", fing ich endlich wieder
an.
     "Sie irren," sagte  Laponder, "ich stehe weit unter Ihnen. - Ich fragte
Sie, weil ich fìhlte, daŸ Sie den Schlìssel besitzen, der mir noch fehlte."
     "Ich? Einen Schlìssel. O Gott!"
     "Jawohl Sie! Und Sie  haben ihn mir gegeben. - Ich glaube nicht, daŸ es
einen glìcklicheren Menschen auf Erden gibt, als ich es heute bin."
     DrauŸen entstand ein  Ger¤usch; die  Riegel  wurden zurìckgeschoben,  -
Laponder achtete kaum darauf:
     "Das mit dem Hermaphroditen  war  der  Schlìssel.  Jetzt habe  ich  die
GewiŸheit.  Schon deshalb bin ich froh,  daŸ man mich holen kommt, denn bald
bin ich am Ziel."
     Vor Tr¤nen konnte  ich Laponders Gesicht  nicht mehr unterscheiden, ich
hærte nur das L¤cheln in seiner Stimme.
     "Und jetzt: Leben Sie wohl, Herr Pernath, und denken  Sie: das, was man
morgen  aufhenkt,  sind  nur  meine  Kleider;  Sie  haben mir  das  Schænste
eræffnet, - das Letzte, was ich noch nicht wuŸte.  Jetzt geht's zur Hochzeit
-  -  -," er  stand auf und folgte  dem Gefangenw¤rter - "es h¤ngt  mit  dem
Lustmord  eng  zusammen",  waren  die letzten  Worte, die ich  hærte und nur
dunkel begriff.
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     Sooft seit jener Nacht der Vollmond am Himmel  stand, glaubte ich immer
wieder  Laponders  schlafendes Gesicht  auf der grauen  Leinwand des  Bettes
liegen zu sehen.
     In den n¤chsten Tagen,  nachdem er weggefìhrt worden war, hatte ich ein
H¤mmern  und  Zimmern  aus  dem  Hinrichtungshof  heraufdræhnen  hæren,  das
manchmal bis zum Morgengrauen dauerte.
     Ich erriet, was es bedeutete,  und hielt  mir stundenlang die Ohren  zu
vor Verzweiflung.
     Monat um Monat verfloŸ. Ich sah, wie der Sommer zerrann, am Krankwerden
des kìmmerlichen Laubs im Hof; roch  es an dem pelzigen  Hauch,  der aus den
Mauern drang.
     Wenn mein Blick bei den Rundg¤ngen auf den sterbenden Baum fiel und das
eingewachsene  Glasbild der Heiligen in seiner Rinde,  zog ich unwillkìrlich
jedesmal den  Vergleich,  wie  tief sich  auch  Laponders  Gesicht  in  mich
eingegraben hatte.  Best¤ndig trug ich es in mir herum, dieses Buddhagesicht
mit der faltenlosen Haut und dem seltsamen, immerw¤hrenden L¤cheln.
     Ein   einziges   Mal   noch   -   im   September   -  hatte  mich   der
Untersuchungsrichter holen  lassen  und  miŸtrauisch  gefragt,  wie  ich  es
begrìnden  kænne, daŸ  ich bei  dem Bankschalter gesagt,  ich mìsse dringend
verreisen, und warum  ich  in den  Stunden vor meiner Verhaftung  so unruhig
gewesen w¤re und meine s¤mtlichen Edelsteine zu mir gesteckt h¤tte.
     Auf meine Antwort, ich sei mit der Absicht umgegangen, mir das Leben zu
nehmen, hatte es wieder hinter dem Schreibtisch hæhnisch gemeckert. -
     Bis  dahin  war  ich allein in  meiner Zelle gewesen und konnte  meinen
Gedanken, meiner  Trauer um Charousek, der, wie ich fìhlte, l¤ngst tot  sein
muŸte, und Laponder und meiner Sehnsucht nach Mirjam nachh¤ngen.
     Dann  kamen  wieder  neue  Gefangene:  diebische  Kommis mit  verlebten
Gesichtern, dickwanstige Bankkassierer,  - "Waisenkinder", wie der  schwarze
Vãssatka sie genannt  haben  wìrde, - und  verpesteten mir  die Luft und die
Stimmung.
     Eines  Tages gab einer von ihnen voll Entrìstung zum  besten,  daŸ  vor
geraumer Zeit ein Lustmord in der Stadt geschehen sei. Zum  Glìck h¤tte  man
den T¤ter sogleich erwischt und kurzen ProzeŸ mit ihm gemacht.
     "Laponder hat  er  geheiŸen,  der Schuft, der gottserb¤rmliche", schrie
ein Kerl mit  einer Raubtierschnauze, der  wegen  KindsmiŸhandlung  zu  - 14
Tagen  Gef¤ngnis  verurteilt  worden  war,  dazwischen.  "Auf  frischer  Tat
habn's'n g'faŸt. Die Lampen is umg'fallen bei dem  Krawall  und's  Zimmer is
ausbrennt. Die Leich'  von dem M¤del is  dabei so verkohlt, daŸ mer  bis zum
heutigen Tage noch  næt  hat  rausbringen  kænnen, wer sie  eigentlich  war.
Schwarze  Haar hat's  g'habt und a  schmal's G'sicht, dæs  is  alls, was mer
weiŸ. Und der Laponder hat  net ums Verrecken rausg'rìckt mit ihrem Namen. -
Wann's nach  mir gangen w¤r,  i h¤tt  ihm d'Haut ab'zogen und Pfeffer  drauf
g'streut. - Dæs san halt die feinen Herren! Mærder san's, alle z'samm. - - -
- Als ob's net anderne Mittel g'nua gebet, wann aner a M¤del los sein wìll",
setzte er mit zynischem L¤cheln hinzu.
     Die Wut kochte in mir, und am liebsten h¤tte  ich den Halunken zu Boden
geschlagen.
     Nacht fìr Nacht  schnarchte  er in dem  Bett, auf dem Laponder gelegen.
Ich atmete auf, als er endlich freigelassen wurde.
     Aber selbst  da war ich ihn  noch nicht los:  seine Rede hatte sich wie
ein Pfeil mit Widerhaken in mich eingebohrt.
     Fast best¤ndig, haupts¤chlich in der Dunkelheit, nagte jetzt in mir der
grausige Verdacht, Mirjam kænnte das Opfer Laponders gewesen sein.
     Je mehr ich dagegen ank¤mpfte, desto tiefer verstrickte ich mich in dem
Gedanken, bis er beinahe zur fixen Idee wurde.
     Manchmal, besonders wenn  der Mond grell durchs Gitter schien, wurde es
besser:  ich konnte mir  die Stunden,  die  ich  mit Laponder  verlebt, dann
lebendig machen, und das tiefe Gefìhl  fìr ihn verscheuchte mir die Qual,  -
aber nur zu oft kamen die gr¤Ÿlichen Minuten wieder,  wo ich Mirjam ermordet
und  verkohlt  im  Geiste  vor mir sah und glaubte,  vor Angst  den Verstand
verlieren zu mìssen.
     Die  schwachen  Anhaltspunkte,  die  ich  fìr  meinen  Verdacht  hatte,
verdichteten  sich  in  solchen  Zeiten zu einem geschlossenen  Ganzen, - zu
einem Gem¤lde voll unbeschreiblich entsetzenerregender Einzelheiten.
     Anfang  November gegen 10 Uhr abends,  es war bereits stockfinster  und
die Verzweiflung in mir hatte  einen  derartigen Hæhepunkt erreicht, daŸ ich
mich,  um  nicht laut aufzuschreien,  in  meinen Strohsack  verbiŸ  wie  ein
verdurstendes  Tier,  æffnete  plætzlich  der  Gefangenw¤rter die  Zelle und
forderte mich auf, mit  ihm  zum Untersuchungsrichter zu  kommen. Ich fìhlte
mich so schwach, daŸ ich mehr taumelte als ging.
     Die  Hoffnung, jemals dieses schreckliche Haus verlassen zu dìrfen, war
l¤ngst in mir gestorben.
     Ich machte  mich  darauf  gefaŸt, wieder  eine  kalte Frage gestellt zu
bekommen, das stereotype Gemecker  hinter dem Schreibtisch zu hæren und dann
zurìck in die Finsternis zu mìssen.
     Der  Herr Baron Leisetreter war bereits nach Hause gegangen und nur ein
alter, buckliger Schreiber mit Spinnenfingern stand im Zimmer.
     Dumpf wartete ich, was mit mir geschehen wìrde.
     Es fiel mir auf, daŸ der Gefangenw¤rter mit hereingekommen war und  mir
gutmìtig zublinzelte, aber ich war viel zu niedergeschlagen, als daŸ ich mir
ìber die Bedeutung alles dessen h¤tte klarwerden kænnen.
     "Die Untersuchung hat ergeben", fing der Schreiber  an, meckerte, stieg
auf  einen  Sessel  und  kramte   erst   lange  auf  dem   Bìcherbord   nach
Schriftstìcken,  ehe  er fortfuhr:  "hat ergeben, daŸ der  in Frage kommende
Karl Zottmann vor seinem Tode  anl¤Ÿlich  einer heimlichen Zusammenkunft mit
der unverehelichten ehemaligen Prostituierten Rosina Metzeles, die damaliger
Zeit  den  Spitznamen  ›die  rote Rosina‹  fìhrte,  dann  sp¤ter  von  einem
taubstummen,    nunmehr    unter     polizeilicher     Aufsicht    stehenden
Silhubettenschneider namens Jaromir Kw¡Ÿnitschka aus dem Weinsalon ›Kautsky‹
losgekauft wurde und seit einigen Monaten mit Seiner Durchlaucht dem Fìrsten
Ferri Athenst¤dt im gemeinsamen, wilden Konkubinate als Maiteresse lebt, von
hinterlistiger Hand in  ein unterirdisches, aufgelassenes  Kellergewælbe des
Hauses  Nummer  conscriptionis  21873,  gebrochen  durch  ræmisch  III,  der
HahnpaŸgasse, laufende Numero sieben, gelockt, dortselbst eingeschlossen und
sich selbst,  beziehungsweise  dem  Tode  durch  Verhungern  oder  Erfrieren
ìberlassen  wurde.  -  -  Der  obenerw¤hnte Zottmann n¤mlich",  erkl¤rte der
Schreiber mit einem Blick ìber die  Brille hinweg und bl¤tterte  ein paarmal
um.
     "Die  Untersuchung  hat  weiters  ergeben,  daŸ  der  obenerw¤hnte Karl
Zottmann  allem  Anscheine  nach  -  nach  eingetretenem  Ableben  -  seiner
s¤mtlichen  bei  ihm  getragenen  Habseligkeiten,  insbesondere  seiner  sub
faszikel  ræmisch P gebrochen durch ›B¤h‹ beigeschlossenen  doppelmanteligen
Taschenuhr" - der  Schreiber hob die Uhr an der Kette in die Hæhe - "beraubt
wurde.  Der  eidesstattlichen  Aussage  des   Silhubettenschnitzers  Jaromir
Kw¡Ÿnitschka,   verwaisten   Sohnes   des   vor   17   Jahren   verstorbenen
Hostienb¤ckers gleichen Namens:  die Uhr im Bette seines inzwischen flìchtig
gegangenen Bruders Loisa gefunden und an den Altwarenh¤ndler und mehrfachen,
inzwischen aus dem  Leben geschiedenen  Realit¤tenbesitzer Aaron  Wassertrum
gegen  Inempfangnahme  von  Geldeswert ver¤uŸert  zu  haben, konnte  mangels
Glaubwìrdigkeit kein Gewicht beigelegt werden.
     Die Untersuchung hat weiters ergeben, daŸ die Leiche des erw¤hnten Karl
Zottmann in der rìckw¤rtigen  Hosentasche  zur  Zeit  ihrer  Auffindung  ein
Notizbuch bei sich  trug,  in  der  sie  vermutlich bereits  einige Tage vor
erfolgtem Ableben  mehrere den Tatbestand erhellende und  die Ergreifung des
T¤ters durch  die  k.  k. Behærden  erleichternde  Eintragungen  vorgenommen
hatte.
     Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge
auf  den  nunmehr  durch  die  Zottmannschen letztwilligen Notizen  dringend
verd¤chtig  gewordenen  Loisa  Kw¡Ÿnitschka,  zurzeit  flìchtig, gelenkt und
unter  einem  verfìgt,   die  Untersuchungshaft  gegen  Athanasius  Pernath,
Gemmenschneider, dermalen noch  unbescholten, aufzuheben, und das  Verfahren
gegen ihn einzustellen.
     Prag im Juli
     gezeichnet
     Dr. Freiherr von Leisetreter."
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     Der Boden schwankte unter meinen FìŸen, und  ich verlor eine Minute das
BewuŸtsein.
     Als  ich erwachte,  saŸ  ich auf  einem  Stuhl, und der  Gefangenw¤rter
klopfte mir freundlich auf die Schulter.
     Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich
und sagte zu mir:
     "Die Verlesung der Verfìgung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr
Name mit einem ›P¤h‹  beginnt und naturgem¤Ÿ  im  Alphabet erst gegen SchluŸ
vorkommen kann." - Dann las er weiter:
     "œberdies ist der Athanasius  Pernath, Gemmenschneider,  in Kenntnis zu
setzen,  daŸ  ihm  laut  testamentarischer  Verfìgung des  im  Mai  mit  Tod
abgegangenen stud. med. Innocenz Charousek  ein Drittel  von dessen gesamter
Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und  ist er  zur Unterfertigung des
Protokolls hiermit anzuhalten."
     Der Schreiber  hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing
an zu schmieren.
     Ich erwartete gewohnheitsm¤Ÿig, daŸ  er meckern wìrde, aber er meckerte
nicht.
     "Innocenz Charousek", murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.
     Der Gefangenw¤rter beugte sich ìber mich und flìsterte mir ins Ohr:
     "Kurz vor seinem Tode war  er bei mir, der Herr  Dr. Charousek, und hat
sich nach Ihnen erkundigt. Er l¤Ÿt  Sie viel-vielmals grìŸen, hat er g'sagt.
Ich hab's natìrlich damals nicht ausrichten dìrfen. Es ist streng  verboten.
Ein schreckliches Ende hat  er ìbrigens genommen, der Herr Dr. Charousek. Er
hat  sich selbst  entleibt.  Man hat ihn  tot auf  dem Grabhìgel  des  Aaron
Wassertrum,  auf der Brust liegend, gefunden. - Er hat zwei  tiefe Læcher in
die  Erde  gegraben gehabt, sich  die Pulsadern aufgeschnitten  und dann die
Arme in  die Læcher gesteckt.  So ist  er verblutet. Er  ist  wahrscheinlich
wahnsinnig gewesen, der Herr Dr. Char - - -"
     Der Schreiber schob ger¤uschvoll seinen  Stuhl zurìck und  reichte  mir
die Feder zum Unterschreiben.
     Dann  richtete  er  sich stolz  auf  und sagte genau im Tonfall  seines
freiherrlichen Vorgesetzten:
     "Gefangenw¤rter, fìhren Sie den Mann hinaus."
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     Wie  vor  langer,  langer Zeit hatte wiederum  der Mann  mit  S¤bel und
Unterhosen im  Torzimmer seine  Kaffeemìhle vom  SchoŸ genommen; nur daŸ  er
mich diesmal  nicht untersuchte  und mir meine Edelsteine,  das Portemonnaie
mit den zehn Gulden darin, meinen Mantel und alles ìbrige zurìckgab. - - -
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     Dann stand ich auf der StraŸe.
     "Mirjam! Mirjam! Jetzt endlich naht das Widersehen!" - Ich unterdrìckte
einen Schrei wildesten Entzìckens.
     Es muŸte Mitternacht  sein.  Der  Vollmond schwebte  glanzlos  wie  ein
fahler Messingteller hinter Dunstschleiern.
     Das Pflaster war mit einer z¤hen Schicht von Schmutz bedeckt.
     Ich  wankte  auf  eine  Droschke  zu,  die  im  Nebel  aussah  wie  ein
zusammengebrochenes vorsintflutliches  Ungeheuer. Meine Beine versagten fast
den Dienst; ich hatte das Gehen verlernt und taumelte - auf empfindungslosen
Sohlen wie ein Rìckenmarkskranker. - -
     "Kutscher, fahren Sie mich, so rasch Sie kænnen, in die HahnpaŸgasse 7!
- Haben Sie mich verstanden?: - HahnpaŸgasse 7."

     Nach wenigen Metern Fahrt blieb die Droschke stehn.
     "HahnpaŸgass¤, gn¤' Herr?"
     "Ja, ja, nur rasch."
     Wieder fuhr der Wagen ein Stìck weiter. Wieder blieb er stehen.
     "Um Himmels willen, was gibt's denn?"
     "HahnpaŸgass¤ì, gn¤' Herr?"
     "Ja, ja. Ja doch."
     "In die HahnpaŸgass¤ kann me doch nicht fahrr¤hn!"
     "Warum denn nicht?"
     "Ise sich doch ieberall Pflaste aufgrissen, Judenstadt wirde sich  doch
assaniert."
     "Also fahren Sie eben, soweit Sie kænnen, aber jetzt rasch gef¤lligst."
     Die  Droschke machte  einen  einzigen Galoppsprung und  stolperte  dann
gem¤chlich weiter.
     Ich  lieŸ die  klapprigen Fenster  herunter und sog mit gierigen Lungen
die Nachtluft ein.
     Alles war mir so fremd geworden, so unbegreiflich  neu: die H¤user, die
StraŸen,  die  geschlossenen  L¤den.  Ein  weiŸer  Hund  trabte  einsam  und
miŸgelaunt  auf  dem  nassen  Trottoir  vorìber.  Ich sah  ihm  nach. -  Wie
sonderbar!! Ein Hund! Ich  hatte ganz  vergessen, daŸ es solche Tiere gab. -
Vor  Freude  kindisch rief ich ihm nach: "Aber,  aber!  Wie kann man nur  so
verdrossen sein." - - -
     Was Hillel wohl sagen wìrde!? - Und Mirjam?
     Nur noch wenige Minuten  und ich war  bei ihnen. Nicht eher wollte  ich
aufhæren, an ihre Tìr zu klopfen, bis ich sie aus den Federn getrieben.
     Jetzt war ja alles gut - all der Jammer dieses Jahres vorìber! -
     Wìrde das ein Weihnachten werden!
     Diesmal durfte ich es nicht verschlafen, wie das letztemal.
     Einen Augenblick lahmte mich wieder  das alte  Entsetzen: die Worte des
Str¤flings mit der Raubtierschnauze fielen mir ein. Das verbrannte Gesicht -
der  Lustmord  - aber nein,  nein! - Ich schìttelte  es gewaltsam ab:  nein,
nein, es  konnte, es konnte nicht sein. - Mirjam lebte!  Ich hatte doch ihre
Stimme aus Laponders Mund gehært.
     Nur noch eine Minute - eine halbe - - und dann -
     Die   Droschke  hielt   vor   einem   Trìmmerhaufen.   Barrikaden   aus
Pflastersteinen ìberall!
     Rote Laternen brannten darauf.
     Beim Schein von Fackeln grub und schaufelte ein Heer von Arbeitern.
     Halden von  Schutt und Mauerbrocken  versperrten den Weg. Ich kletterte
umher, versank bis ans Knie.
     Das hier, das muŸte doch die HahnpaŸgasse sein?!
     Mìhsam orientierte ich mich. Nichts als Ruinen ringsum.
     Stand denn da nicht das Haus, in dem ich gewohnt hatte?
     Die Vorderseite war eingerissen.
     Ich kletterte  auf einen Erdhìgel; tief unter mir  lief ein  schwarzer,
gemauerter Gang die ehemalige Gasse  entlang. Ich schaute empor: wie riesige
Bienenzellen hingen die  bloŸgelegten Wohnr¤ume nebeneinander in  der  Luft,
halb vom Fackelschein, halb von dem trìben Mondlicht beschienen.
     Das dort  oben,  das muŸte mein Zimmer sein  -  ich erkannte es  an der
Bemalung der W¤nde.
     Nur noch ein Streifen davon war ìbrig.
     Und daranstoŸend das Atelier - Saviolis. Mir wurde  plætzlich ganz leer
im Herzen. Wie seltsam! Das Atelier! - Angelina! - - So weit,  so unabsehbar
fern lag das alles hinter mir!
     Ich drehte mich um: von dem Haus, in dem Wassertrum gewohnt, kein Stein
mehr auf dem andern. Alles dem Erdboden gleichgemacht: der Trædlerladen, die
Kellerwohnung Charouseks - - - alles, alles.
     "Der Mensch geht dahin wie  ein Schatten"  - fiel mir ein Satz ein, den
ich einmal irgendwo gelesen.
     Ich fragte  einen  Arbeiter,  ob er  nicht wisse,  wo  die  Leute jetzt
wohnten, die hier  ausgezogen seien; ob er vielleicht den Archivar Schemajah
Hillel kenne.
     "Nix daitsch", war die Antwort.
     Ich schenkte dem  Mann  einen Gulden: er verstand zwar sofort  deutsch,
konnte mir aber keine Auskunft geben.
     Auch von seinen Kameraden niemand.
     Vielleicht, daŸ beim "Loisitschek" etwas zu erfahren w¤re?
     Der "Loisitschek" sei gesperrt, hieŸ es, das Haus wìrde renoviert.
     Also irgend jemand in der Nachbarschaft wecken! - Ging das nicht?
     "Weit a  breit  wohnt  sich  keine Katz," sagte der Arbeiter; "weil ise
beh¤rdlich verbotten. Von w¤gen Typhus."
     "Der ›Ungelt‹? Der wird doch offen haben?"
     "Ungelt ise sich geschlossen."
     "Bestimmt?"
     "Bestimmt!"
     Aufs   Geratewohl   nannte  ich   ein  paar   Namen  von  Hæcklern  und
Tabaktrafikantinnen,  die in der N¤he gewohnt hatten; dann die  Namen Zwakh,
Vrieslander, Prokop - -
     Bei allen schìttelte der Mann den Kopf.
     "Vielleicht kennen Sie den Jaromir Kw¡Ÿnitschka?"
     Der Arbeiter horchte auf.
     "Jaromir? Ise sich taubstumm?"
     Ich jubelte. Gott sei Dank. Wenigstens ein Bekannter.
     "Ja, er ist taubstumm. Wo wohnt er?"
     "Schneid 'e sich Bildeln aus? Aus schwarzem Pappjir?"
     "Ja. Er ist es schon. Wo kann ich ihn wohl treffen?"
     So umst¤ndlich wie mæglich  bezeichnete mir  der Mann ein Nachtcaf©haus
in der inneren Stadt und fing sofort wieder an zu schaufeln.
     œber eine Stunde lang  watete  ich durch Schuttfelder, balancierte ìber
schwankende  Bretter  und  kroch  unter  Querbalken  durch, die  die StraŸen
versperrten. Das ganze Judenviertel war  eine  einzige Steinwìste, als h¤tte
ein Erdbeben die Stadt zerstært.
     Atemlos vor  Aufregung, schmutzbedeckt und mit zerrissenen Schuhen fand
ich mich endlich aus dem Labyrinth heraus.
     Ein paar H¤userreihen, und ich stand vor der gesuchten Spelunke.
     "Cafe Chaos" stand darìber geschrieben.
     Ein  menschenleeres,  winziges  Lokal, das kaum genìgend Platz lieŸ fìr
die paar Tische, die an die W¤nde gerìckt waren.
     In der Mitte auf  einem  dreibeinigen Billard schlief  ein  Kellner und
schnarchte.
     Ein Marktweib, mit einem  Gemìsekorb  vor  sich, saŸ  in der  Ecke  und
nickte ìber einem Glase Caj.
     Endlich geruhte  der Kellner  aufzustehen und mich  zu  fragen, was ich
wìnschte. Bei dem  frechen  Blick,  mit  dem  er  mich  vom Kopf bis zu  FuŸ
musterte, kam mir erst zum BewuŸtsem, wie abgerissen ich aussehen muŸte.
     Ich warf  einen Blick in  den Spiegel und entsetzte mich: ein  fremdes,
blutleeres  Gesicht, faltig, grau wie Kitt, mit struppigem Bart  und wirrem,
langem Haar starrte mir entgegen.
     Ob der Silhouettenschneider Jaromir nicht dagewesen sei, fragte ich und
bestellte schwarzen Kaffee.
     "WoaŸ net, wo er so lang bleibt", war die geg¤hnte Antwort.
     Dann legte sich der Kellner wieder auf das Billard und schlief weiter.
     Ich nahm das "Prager Tagblatt" von der Wand und - wartete.
     Die  Buchstaben  liefen wie Ameisen ìber  die  Seiten,  und ich begriff
nicht ein einziges Wort von dem, was ich las.
     Die Stunden  vergingen, und hinter den Scheiben zeigte sich bereits das
verd¤chtige tiefe Dunkelblau, das den Einbruch der  Morgend¤mmerung  fìr ein
Lokal mit Gasbeleuchtung anzeigt.
     Hie und  da  sp¤hten ein  paar Schutzleute  mit  grìnlich  schillernden
Federbìschen herein und gingen in langsamem, schwerem Schritt wieder weiter.
     Drei ìbern¤chtig aussehende Soldaten traten ein.
     Ein StraŸenkehrer nahm einen Schnaps.
     Endlich, endlich: Jaromir.
     Er  hatte   sich  so  ver¤ndert,   daŸ  ich  ihn   anfangs  gar   nicht
wiedererkannte: die  Augen erloschen, die Vorderz¤hne ausgefallen,  das Haar
schìtter und tiefe Hæhlen hinter den Ohren.
     Ich war so froh, nach so langer  Zeit  wieder ein  bekanntes Gesicht zu
sehen, daŸ ich aufsprang, ihm entgegenging und seine Hand faŸte.
     Er benahm  sich auŸerordentlich scheu und blickte immerw¤hrend nach der
Tìre. Durch alle mæglichen Gesten suchte ich ihm begreiflich  zu machen, daŸ
ich mich  freute, ihn getroffen zu haben. - Er  schien es mir lange nicht zu
glauben.
     Aber,  was fìr  Fragen  ich  auch stellte, stets die  gleiche  hilflose
Handbewegung des Nichtverstehens bei ihm.
     Wie konnte ich mich nur verst¤ndlich machen?!
     Halt! Eine Idee!
     Ich  lieŸ  mir einen  Bleistift geben und  zeichnete  nacheinander  die
Gesichter von Zwakh, Vrieslander und Prokop auf.
     "Was? Alle nicht mehr in Prag?"
     Er  fuchtelte  lebhaft  in  der  Luft  herum,  machte  die Geb¤rde  des
Geldz¤hlens, marschierte mit den Fingern ìber den Tisch, schlug sich auf den
Handrìcken. Ich erriet: alle drei hatten wahrscheinlich von  Charousek  Geld
bekommen und zogen  jetzt als  kaufm¤nnische Kompagnie mit dem  vergræŸerten
Marionettentheater durch die Welt.
     "Und Hillel? Wo wohnt er jetzt?" - Ich zeichnete sein Gesicht, ein Haus
dazu und ein Fragezeichen.
     Das  Fragezeichen verstand Jaromir nicht; - er konnte nicht lesen, aber
er begriff, was ich wollte, - nahm ein Streichholz, warf es scheinbar in die
Hæhe und lieŸ es nach Taschenspielerart geschickt verschwinden.
     Was bedeutete das? Hillel sollte auch verreist sein?
     Ich zeichnete das jìdische Rathaus auf.
     Der Taubstumme schìttelte heftig den Kopf.
     "Hillel ist also nicht mehr dort?"
     "Nein!" (Kopfschìtteln.)
     "Wo ist er denn?"
     Wieder das Spiel mit dem Streichholz.
     "Er meint halt, daŸ  der Herr weg  ist, und niem'd  weiŸ nicht, wohin",
mischte sich der  StraŸenkehrer, der uns die  ganze  Zeit  ìber interessiert
zugesehen hatte, belehrend ein.
     Vor Schreck krampfte sich  mir das Herz  zusammen: Hillel fort! - Jetzt
war ich  ganz allein auf der Welt. - - Die  Gegenst¤nde im Zimmer fingen vor
meinen Augen an zu flimmern.
     "Und Mirjam?"
     Meine Hand zitterte so stark, daŸ ich ihr Gesicht  lange  nicht ¤hnlich
zeichnen konnte.
     "Ist Mirjam auch verschwunden?"
     "Ja. Auch verschwunden. Spurlos."
     Ich stæhnte laut auf, lief im Zimmer hin und her, daŸ die drei Soldaten
einander fragend anblickten.
     Jaromir  suchte  mich zu  beruhigen und bemìhte  sich,  mir noch  etwas
anderes  mitzuteilen, was er erfahren zu haben schien: er legte den Kopf auf
den Arm, wie jemand, der schl¤ft.
     Ich hielt  mich an der  Tischplatte: "Um Gottes Christi  willen, Mirjam
ist gestorben?"
     Kopfschìtteln. Jaromir wiederholte die Geb¤rde des Schlafens.
     "War Mirjam krank gewesen?" Ich zeichnete eine Medizinflasche.
     Kopfschìtteln. Wieder legte Jaromir die Stirn auf den Arm. - - -
     Das Zwielicht  kam, eine  Gasflamme nach  der  andern erlosch und  noch
immer konnte ich nicht herausbringen, was die Geste bedeuten sollte.
     Ich gab es auf. Dachte nach.
     Das einzige, was mir zu tun blieb, war, in aller Frìhe auf das jìdische
Rathaus zu gehen, um dort Erkundigungen einzuziehen, wohin Hillel mit Mirjam
gereist sein kænne.
     Ich muŸte ihm nach. - - -
     Wortlos saŸ ich neben Jaromir. Stumm und taub wie er.
     Als ich nach einer  langen Zeit  aufblickte, sah ich, daŸ er mit  einer
Schere an einer Silhouette herumschnitt.
     Ich erkannte  das  Profil Rosinas. Er reichte  mir  das Blatt ìber  den
Tisch herìber, legte die Hand auf die Augen und - weinte still vor sich hin.
- -
     Dann sprang er plætzlich auf und taumelte ohne GruŸ zur Tìr hinaus.
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     Der Archivar Schemajah Hillel sei  eines Tages ohne Grund  ausgeblieben
und nicht mehr wiedergekommen; seine Tochter habe er jedenfalls mitgenommen,
denn auch sie sei von niemand mehr gesehen worden seit jener Zeit, hatte man
mir  auf  dem jìdischen Rathaus  gesagt.  Das  war alles,  was  ich erfahren
konnte.
     Keine Spur, wohin sie sich gewandt haben mochten.
     Auf der Bank hieŸ es, mein Geld sei gerichtlich immer noch mit Beschlag
belegt, man erwarte aber t¤glich den Bescheid, es mir auszahlen zu dìrfen.
     Also auch  die Erbschaft  Charouseks muŸte noch  den Amtsweg gehen, und
ich  wartete  doch  mit  brennender  Ungeduld  auf  das Geld, um  dann alles
aufzubieten, Hillels und Mirjams Spur zu suchen.
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     Ich hatte meine Edelsteine verkauft, die ich noch in der Tasche gehabt,
und mir  zwei  kleine,  mæblierte,  aneinanderstoŸende  Dachkammern  in  der
Altschulgasse -  die einzige  Gasse, die von der Assanierung der  Judenstadt
verschont geblieben, - gemietet.
     Sonderbarer Zufall: es war dasselbe wohlbekannte Haus, von dem die Sage
ging, der Golem sei einst darin verschwunden.
     Ich  hatte mich  bei  den  Bewohnern  - zumeist  kleine  Kaufleute oder
Handwerker - erkundigt, was  denn Wahres an dem Gerìcht von dem "Zimmer ohne
Zugang"  sei, und war ausgelacht  worden. -  Wie man einen derartigen Unsinn
denn glauben kænne!
     Meine eigenen Erlebnisse,  die sich darauf bezogen, hatten im Gef¤ngnis
die  Bl¤sse eines  l¤ngst verwehten  Traumbildes  angenommen und ich sah  in
ihnen nur noch Symbole ohne Blut und Leben, - strich sie aus dem Buch meiner
Erinnerungen.
     Die Worte Laponders, die ich zuweilen so klar in mir hærte, als s¤Ÿe er
mir gegenìber wie damals in der Zelle und  spr¤che  zu mir,  best¤rkten mich
darin, daŸ ich rein innerlich geschaut haben mìsse, was mir ehedem greifbare
Wirklichkeit geschienen.
     War denn nicht alles vergangen und verschwunden, was ich einst besessen
hatte? Das Buch  Ibbur, das  phantastische  Tarockspiel, Angelina  und sogar
meine alten Freunde Zwakh, Vrieslander und Prokop! - - -
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     Es war Weihnachtsabend, und  ich hatte mir einen kleinen Baum mit roten
Kerzen  nach  Hause  gebracht.  Ich  wollte  noch  einmal   jung  sein   und
Lichterglanz um mich  haben  und  den  Duft von Tannennadeln  und brennendem
Wachs.
     Ehe das Jahr noch zu Ende  ging, war ich vielleicht schon unterwegs und
suchte in St¤dten und Dærfern, oder  wohin  es mich innerlich  ziehen wìrde,
nach Hillel und Mirjam.
     Alle Ungeduld,  alles  Warten war allm¤hlich von mir  gewichen und alle
Furcht, Mirjam kænne ermordet worden sein, und mit dem Herzen wuŸte ich, ich
wìrde sie beide finden.
     Es  war ein best¤ndiges glìckliches L¤cheln in mir,  und wenn ich meine
Hand auf etwas legte, kam  mir's vor, als ginge ein Heilen von ihr aus.  Die
Zufriedenheit eines Menschen,  der nach  langer Wanderung  heimkehrt und die
Tìrme seiner  Vaterstadt von weitem blinken  sieht,  erfìllte  mich auf ganz
sonderbare Weise.
     Einmal war ich noch in dem kleinen  Kaffeehaus gewesen, um  Jaromir zum
Weihnachtsabend zu mir  zu  holen. - Er  habe sich  nie mehr blicken lassen,
erfuhr ich,  und schon wollte ich  betrìbt  wieder gehen,  da kam  ein alter
Tabulettkr¤mer herein und bot kleine, wertlose Antiquit¤ten zum Kauf an.
     Ich  kramte in  seinem Kasten  unter  all  den  Uhranh¤ngseln,  kleinen
Kruzifixen, Kammnadeln und  Broschen herum, da  fiel mir ein  Herz aus rotem
Stein an  einem verschossenen Seidenbande in die Hand, und  ich erkannte  es
voll Erstaunen als das Andenken, das mir Angelina, als  sie noch ein kleines
M¤dchen gewesen, einst beim Springbrunnen in ihrem SchloŸ geschenkt hatte.
     Und mit einem Schlag  stand meine Jugendzeit  vor mir, als  s¤he ich in
einen Guckkasten tief hinein in ein kindlich gemaltes Bild. -
     Lange, lange stand ich erschìttert da und starrte auf das  kleine, rote
Herz in meiner Hand. - - -
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     Ich saŸ in  der Dachkammer und lauschte dem  Knistern der Tannennadeln,
wenn hie und da ein kleiner Zweig ìber den Wachskerzen zu glimmen begann.
     "Vielleicht  spielt gerade  jetzt  in  dieser  Stunde  der  alte  Zwakh
irgendwo in der Welt  seinen  ›Marionettenweihnachtsabend‹",  malte  ich mir
aus,  -  "und  deklamiert  mit  geheimnisvoller  Stimme die  Strophe  seines
Lieblingsdichters Oskar Wiener":
     Wo ist das Herz aus rotem Stein?
     Es h¤ngt an einem Seidenbande.
     O du, o gib das Herz nicht her;
     Ich war ihm treu und hatt' es lieb,
     Und diente sieben Jahre schwer
     Um dieses Herz, und hatt' es lieb!"
     Eigentìmlich feierlich wurde mir plætzlich zumute.
     Die  Kerzen  waren heruntergebrannt. Nur eine  einzige flackerte  noch.
Rauch ballte sich im Zimmer.
     Als ob mich eine Hand zæge, wandte ich mich plætzlich um und:
     Da  stand mein Ebenbild auf der Schwelle. Mein  Doppelg¤nger.  In einem
weiŸen Mantel. Eine Krone auf dem Kopf.
     Nur einen Augenblick.
     Dann  brachen  Flammen  durch  das  Holz   der  Tìr,   und  eine  Wolke
erstickenden heiŸen Qualms schlug herein:
     Feuersbrunst im Haus! Feuer! Feuer!
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     Ich reiŸe das Fenster auf. Klettere auf das Dach hinaus.
     Von weitem rast schon das gellende Klingeln der Feuerwehr heran.
     Blitzende Helme und abgehackte Kommandorufe.
     Dann das gespenstische,  rhythmische, schlapfende Atmen der Pumpen, wie
die  D¤monen des  Wassers  sich  ducken  zum  Sprung auf ihren Todfeind: das
Feuer.
     Glas klirrt und rote Lohe schieŸt aus allen Fenstern.
     Matratzen  werden hinuntergeworfen, die ganze StraŸe  liegt voll davon,
Menschen springen nach, werden verwundet weggetragen.
     In mir aber jauchzt  etwas auf  in wilder jubelnder Ekstase;  ich  weiŸ
nicht warum. Das Haar str¤ubt sich mir.
     Ich laufe auf den Schornstein zu, um nicht versengt zu werden, denn die
Flammen greifen nach mir.
     Das Seil eines Rauchfangkehrers ist herumgewickelt.
     Ich rolle es  auf, schlinge es um Handgelenk und Bein, wie  ich es  als
Knabe  beim  Turnen  gelernt  habe, und lasse mich ruhig  an der Fassade des
Hauses hinab. -
     Komme an einem Fenster vorbei. Blicke hinein:
     Drin ist alles blendend erleuchtet.
     Und  da sehe ich  - - - da sehe ich - -  - mein ganzer Kærper wird  ein
einziger hallender Freudenschrei:
     "Hillel! Mirjam! Hillel!"
     Ich will auf die Gitterst¤be losspringen.
     Greife daneben. Verliere den Halt am Seil.
     Einen  Augenblick h¤nge ich, Kopf abw¤rts, die Beine gekreuzt, zwischen
Himmel und Erde.
     Das Seil singt bei dem Ruck. Knirschend dehnen sich die Fasern.
     Ich falle.
     Mein BewuŸtsein erlischt.
     Noch im Sturz greife ich nach dem Fenstersims, aber ich gleite ab. Kein
Halt:
     der Stein ist glatt.
     Glatt wie ein Stìck Fett.
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     "- - - wie ein Stìck fett!"
     Das ist der Stein, der aussieht wie ein Stìck Fett.
     Die  Worte gellen mir  noch in  den Ohren. Dann richte ich mich auf und
muŸ mich besinnen, wo ich bin.
     Ich liege im Bett und wohne im Hotel.
     Ich heiŸe doch gar nicht Pernath.
     Habe ich das alles nur getr¤umt?
     Nein! So tr¤umt man nicht.
     Ich schaue auf die  Uhr: kaum eine Stunde habe ich  geschlafen.  Es ist
halb drei.
     Und dort h¤ngt der fremde  Hut, den ich heute  im Dom auf dem Hradschin
verwechselt habe, als ich beim Hochamt auf der Betbank saŸ.
     Steht ein Name darin?
     Ich  nehme  ihn  und  lese  in   goldenen  Buchstaben  auf  dem  weiŸen
Seidenfutter den fremden und doch so bekannten Namen:

     Jetzt l¤Ÿt  es mir keine  Ruhe mehr; ich ziehe mich hastig an und laufe
die Treppe hinunter.
     "Portier! Aufmachen! Ich gehe noch eine Stunde spazieren."
     "Wohin, bitt sch¤n?"
     "In  die Judenstadt. In die HahnpaŸgasse. Gibt's ìberhaupt eine StraŸe,
die so heiŸt?"
     "Freilich,  freilich"  -  der Portier  l¤chelt malitiæs - "aber in  der
Judenstadt, ich mache aufmerksam: ist nicht mehr viel los. Alles neu gebaut,
bitte."
     "Macht nichts. Wo liegt die HahnpaŸgasse?"
     Der dicke Finger des Portiers deutet auf die Karte: "Hier, bitte."
     "Und die Schenke ›Zum Loisitschek‹?"
     "Hier, bitte."
     "Geben Sie mir ein groŸes Stìck Papier."
     "Hier, bitte."
     Ich  wickle Pernaths Hut  hinein. Merkwìrdig: er ist fast neu, tadellos
sauber und doch so brìchig, als w¤re er uralt. -
     Unterwegs ìberlege ich:
     Alles, was  dieser Athanasius  Pernath erlebt  hat, habe  ich  im Traum
miterlebt, in einer Nacht mitgesehen, mitgehært, mitgefìhlt, als w¤re ich er
gewesen. Warum  weiŸ ich denn aber nicht,  was er in dem Augenblick, als der
Strick  riŸ und er "Hillel, Hillel!" rief, hinter dem Gitterfenster erblickt
hat?
     Er hat sich in diesem Augenblick von mir getrennt, begreife ich.
     Ich muŸ diesen Athanasius Pernath auffinden, und wenn ich drei Tage und
drei N¤chte herumlaufen sollte, nehme ich mir vor. - - -
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     Also das ist die HahnpaŸgasse?
     Nicht ann¤hernd so habe ich sie im Traum gesehen! -
     Lauter neue H¤user.
     Eine  Minute  sp¤ter  sitze  ich im  Caf©  Loisitschek.  Ein stilloses,
ziemlich sauberes Lokal.
     Im Hintergrund  allerdings eine Estrade mit  Holzgel¤nder; eine gewisse
„hnlichkeit mit dem alten getr¤umten "Loisitschek" ist nicht zu leugnen.
     "Befehlen,  bitt' schæn?",  fragt die Kellnerin, ein dralles  M¤del, in
einen rotsamtenen Frack buchst¤blich hineingeknallt.
     "Kognak, Fr¤ulein. - So, danke."
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     "- Hm. Fr¤ulein!"
     "Bitte?"
     "Wem gehært das Kaffeehaus?"
     "Dem Herrn Kommerzialrat Loisitschek. -  Das ganze Haus gehært ihm. Ein
sehr feiner reicher Herr."
     - Aha, der Kerl  mit  den Schweinsz¤hnen  an der Uhrkette! erinnere ich
mich. -
     Ich habe einen guten Einfall, der mich orientieren wird:
     "Fr¤ulein!"
     "Bitte?"
     "Wann ist die steinerne Brìcke eingestìrzt?"
     "Vor dreiunddreiŸig Jahren."
     "Hm. Vor  dreiunddreiŸig  Jahren!" -  ich ìberlege: der Gemmenschneider
Pernath muŸ also jetzt fast neunzig sein.
     "Fr¤ulein!"
     "Bitte?"
     "Ist  hier niemand unter den  G¤sten, der sich noch erinnern kann,  wie
die alte Judenstadt  von damals ausgesehen hat? Ich bin  Schriftsteller  und
interessiere mich dafìr."
     Die Kellnerin denkt nach: "Von den G¤sten? Nein. - Aber warten S':  der
Billardmarqueur,  der dort  mit einem Studenten Carambol spielt, - sehen Sie
ihn? Der  mit der Hakennase, der Alte, - der hat  immer hier gelebt und wird
Ihnen alles sagen. Soll ich ihn rufen, wenn er fertig ist?"
     Ich folgte dem Blick des M¤dchens:
     Ein  schlanker,  weiŸhaariger, alter Mann lehnt drìben  am Spiegel  und
kreidet seine Queue.  Ein verwìstetes, aber seltsam vornehmes Gesicht. Woran
erinnert er mich nur?
     "Fr¤ulein, wie heiŸt der Marqueur?"
     Die Kellnerin  stìtzt sich im Stehen mit dem Ellenbogen auf  den Tisch,
leckt  an einem Bleistift,  schreibt in Windeseile ihren Vornamen  unz¤hlige
Male  auf die  Marmorplatte  und læscht ihn jedesmal mit nassem Finger rasch
wieder aus.  Dazwischen  wirft sie mir mehr oder  minder sengende Glutblicke
zu;  -  je  nachdem   sie  ihr  gelingen.   Unerl¤Ÿlich  ist  natìrlich  das
gleichzeitige  Emporziehen der Augenbrauen, denn es erhæht  das M¤rchenhafte
des Blickes.
     "Fr¤ulein,  wie heiŸt der  Marqueur?", wiederhole ich meine Frage.  Ich
sehe ihr an, sie h¤tte lieber  gehært: Fr¤ulein, warum tragen  Sie nicht nur
einen  Frack? oder  etwas „hnliches, aber ich frage es nicht;  mir geht mein
Traum zu sehr im Kopf herum.
     "No,  wie  wird  er denn heiŸen," schmollt sie, "Ferri  heiŸt  er halt.
Ferri Athenst¤dt."
     "So so? Ferri Athenst¤dt! - Hm, - also wieder ein alter Bekannter."
     "Erz¤hlen Sie mir doch recht, recht viel von ihm, Fr¤ulein," girre ich,
muŸ mich aber sofort mit einem Kognak st¤rken, "Sie plaudern gar so herzig!"
(Ich ekle mich vor mir selber.)
     Sie neigt  sich geheimnisvoll  dicht  zu mir, damit mich ihre  Haare im
Gesicht kitzeln, und flìstert:
     "Der Ferri, der war Ihnen frìher ein ganz ein Geriebener. - Er soll von
uraltem Adel gewesen  sein  - es ist natìrlich nur so  ein  Gerede, weil  er
keinen  Bart  nicht  tr¤gt -  und  furchtbar  viel Geld  g'habt  habn.  Eine
rothaarige Jìdin, die schon von Jugend auf eine  ›Person‹ war" - sie schrieb
wieder rasch ein paarmal ihren Namen auf -  "hat ihn dann ganz ausgezogen. -
Punkto  Geld mein'  ich natìrlich. No, und wie er  dann kein Geld nicht mehr
gehabt hat, ist sie weg und hat sich von einem  hohen Herrn heiraten lassen:
von dem  ..."  -  sie flìsterte  mir  einen Namen  ins  Ohr,  den  ich nicht
verstehe.  "Der hohe Herr hat dann natìrlich auf alle Ehre verzichten mìssen
und  sich von da an nur mehr Ritter von D¤mmerich nennen dìrfen. No ja. Aber
daŸ sie  frìher eine  ›Person‹  g'wesen ist,  hat  er  ihr  halt doch  nicht
wegwaschen kænnen. Ich sag immer -."
     "Fritzi! Zahlen!" ruft jemand von der Estrade herab. -
     Ich lasse  meine Blicke durch das Lokal  wandern, da hære ich plætzlich
ein leises metallisches Zirpen, wie von einer Grille, hinter mir.
     Ich drehe mich neugierig um. Traue meinen Augen nicht:
     Das Gesicht zur  Wand gekehrt, alt wie  Methusalem,  eine Spieldose, so
klein  wie  eine Zigarettenschachtel, in zitternden Skeletth¤nden sitzt ganz
in sich  zusammengesunken - der blinde, greise Nephtali Schaffranek  in  der
Ecke und leiert mit der winzigen Kurbel.
     Ich trete zu ihm.
     Im Flìsterton singt er konfus vor sich hin:
     "Frau Pick,
     Frau Hock.
     Und rote, blaue Stern
     die schmusen allerhand.
     Von Messinung, an R¤ucherl und Rohn."
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     "Wissen Sie, wie der alte Mann heiŸt?" frage ich  einen  vorbeieilenden
Kellner.
     "Nein, mein Herr, niemand kennt weder ihn noch seinen Namen. Er  selbst
hat ihn vergessen. Er ist ganz allein auf der Welt. Bitte, er ist  110 Jahre
alt! Er kriegt bei uns jede Nacht einen sogenannten Gnadenkaffee."
     Ich  beugte  mich  ìber  den  Greis,  -  rufe  ihm  ein  Wort ins  Ohr:
"Schaffranek!"
     Es durchf¤hrt  ihn  wie  ein Blitz. Er  murmelt  etwas,  streicht  sich
sinnend ìber die Stirn.
     "Verstehen Sie mich, Herr Schaffranek?"
     Er nickt.
     "Passen Sie mal gut  auf!  Ich mæchte Sie etwas fragen, aus alter Zeit.
Wenn  Sie mir alles  gut beantworten, bekommen Sie den Gulden, den ich  hier
auf den Tisch lege."
     "Gulden",  wiederholt der Greis und  f¤ngt sofort an, wie ein  Rasender
auf seiner zirpenden Spieldose zu kurbeln.
     Ich halte seine Hand fest:  "Denken Sie einmal nach! - Haben Sie  nicht
vor etwa 33 Jahren einen Gemmenschneider namens Pernath gekannt?"
     "Hadrbolletz!  Hosenschneider!"  - lallt er  asthmatisch auf und  lacht
ìbers ganze Gesicht,  in der  Meinung,  ich  h¤tte  ihm  einen  famosen Witz
erz¤hlt.
     "Nein, nicht Hadrbolletz: - - Pernath!"
     "Pereles?!" - er jubelt færmlich.
     "Nein, auch nicht Pereies. - Per-nath!"
     "Pascheies?!" - er kr¤ht vor Freude. - -
     Ich gebe entt¤uscht meinen Versuch auf.
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     "Sie  wollten   mich  sprechen,  mein  Herr?",  -  der  Marqueur  Ferri
Athenst¤dt steht vor mir und verbeugt sich kìhl.
     "Ja. Ganz richtig. - Wir kænnen dabei eine Partie Billard spielen."
     "Spielen Sie um Geld, mein Herr? Ich gebe Ihnen 90 auf 100 vor."
     "Also gut: um einen Gulden. Fangen Sie vielleicht an, Marqueur."
     Seine Durchlaucht nimmt das Queue, zielt, gickst, macht ein ¤rgerliches
Gesicht.  Ich kenne das:  er l¤Ÿt  mich bis 9 kommen,  und dann  macht er in
einer Serie "aus".
     Mir wird immer kurioser zumute. Ich gehe direkt auf mein Ziel los:
     "Entsinnen  Sie  sich,  Herr  Marqueur: vor  langer Zeit,  etwa in  den
Jahren, als die  steinerne  Brìcke einstìrzte,  in der damaligen  Judenstadt
einen gewissen - Athanasius Pernath gekannt zu haben?"
     Ein Mann in einer rotweiŸgestreiften Leinwandjacke, mit Schielaugen und
kleinen goldenen  Ohrringen, der auf einer Bank an  der  Wand sitzt und eine
Zeitung liest, f¤hrt auf, stiert mich an und bekreuzigt sich.
     "Pernath? Pernath?" wiederholt der Marqueur und  denkt angestrengt nach
-  "Pernath?  -  War  er  nicht  groŸ,   schlank?  Braunes  Haar,  melierten
kurzgeschnittenen Spitzbart?"
     "Ja. Ganz richtig."
     "Etwa vierzig Jahre alt damals?  Er sah  aus wie --", Seine Durchlaucht
starrt  mich plætzlich  ìberrascht an.  - "Sie sind  ein Verwandter von ihm,
mein Herr?!"
     Der Schiel¤ugige bekreuzigt sich.
     "Ich? Ein Verwandter? Komische Idee. - Nein. Ich interessiere  mich nur
fìr  ihn. Wissen Sie  noch mehr?", sage  ich gelassen,  fìhle aber, daŸ  mir
eiskalt im Herzen wird.
     Ferri Athenst¤dt denkt wieder nach.
     "Wenn  ich  nicht irre, galt  er  seinerzeit  fìr  verrìckt.  -  Einmal
behauptete  er, er hieŸe - warten Sie mal,  - ja:  Laponder! Und dann wieder
gab er sich fìr einen gewissen - Charousek aus."
     "Kein Wort  wahr!" f¤hrt  der Schiel¤ugige dazwischen.  "Den  Charousek
hat's wirklich gegeben. Mein Vater hat doch mehrere 1000 fl von ihm geerbt."
     "Wer ist dieser Mann?", fragte ich den Marqueur halblaut.
     "Er ist  F¤hrmann und heiŸt  Tschamrda. - Was den Pernath betrifft,  so
erinnere ich mich nur, oder glaube es wenigstens - daŸ er in sp¤teren Jahren
eine sehr schæne, dunkelh¤utige Jìdin geheiratet hat."
     "Mirjam!"  sage  ich  mir  und werde  so aufgeregt, daŸ  mir  die H¤nde
zittern und ich nicht mehr weiterspielen kann.
     Der F¤hrmann bekreuzigt sich.
     "Ja,  was  ist denn  heute mit  Ihnen los, Herr  Tschamrda?", fragt der
Marqueur erstaunt.
     "Der Pernath hat  niemals  nicht gelebt", schreit der Schiel¤ugige los.
"Ich glaub's nicht."
     Ich  schenke  dem Mann sofort einen Kognak  ein, damit  er gespr¤chiger
wird.
     "Es gibt ja wohl Leut', die sagen, der Pernath  lebt noch immer", rìckt
der  F¤hrmann endlich heraus, "er is, hær  ich. Kammschneider und wohnt  auf
dem Hradschin."
     "Wo auf dem Hradschin?"
     Der F¤hrmann bekreuzigt sich:
     "Das  ist es ja eben! Er wohnt, wo kein lebender Mensch wohnen kann: an
der Mauer zur letzten Latern."
     "Kennen Sie sein Haus, Herr - Herr - Tschamrda?"
     "Nicht  um die  Welt  mæcht  ich  dort  hinaufgehen!",  protestiert der
Schiel¤ugige. "Wofìr halten Sie mich? Jesus, Maria und Josef!"
     "Aber  den  Weg hinauf  kænnten Sie mir  doch  von  weitem zeigen, Herr
Tschamrda?"
     "Das  schon", brummte der F¤hrmann.  "Wenn Sie warten wollen bis  6 Uhr
frìh; dann geh ich zur Moldau  hinunter. Aber ich rat Ihnen ab! Sie  stìrzen
in den Hirschgraben und brechen Hals und Knochen! Heilige Muttergottes!"
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     Wir gehen zusammen durch den Morgen; frischer Wind weht vom Flusse her.
Ich fìhle vor Erwartung kaum den Boden unter mir.
     Plætzlich taucht das Haus in der Altschulgasse vor mir auf.
     Jedes  Fenster  erkenne  ich wieder:  die  geschweifte  Dachrinne,  das
Gitter, die fettig gl¤nzenden Steinsimse - alles, alles!
     "Wann ist  dieses Haus  abgebrannt?",  frage ich den Schiel¤ugigen.  Es
braust mir in den Ohren vor Spannung.
     "Abgebrannt? Niemals nicht!"
     "Doch! Ich weiŸ es bestimmt."
     "Nein."
     "Aber ich weiŸ es doch! Wollen Sie wetten?"
     "Wieviel?"
     "Einen Gulden."
     "Gemacht!" -  Und Tschamrda holt den  Hausmeister  heraus.  "Ist dieses
Haus jemals abgebrannt?"
     "I woher denn!" Der Mann lacht. -
     Ich kann und kann es nicht glauben.
     "Schon  siebzig  Jahr' wohn  ich drin," beteuert der  Hausmeister, "ich
mìŸt's doch wahrhaftig wissen."
     - - - Sonderbar, sonderbar! - - -
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     Der  F¤hrmann  rudert mich in  seinem  Kahn, der  aus acht ungehobelten
Brettern besteht, mit komischen schiefen Zuckbewegungen ìber die Moldau. Die
gelben Wasser  sch¤umen gegen  das Holz. Die D¤cher  des Hradschins glitzern
rot in  der Morgensonne.  Ein  unbeschreiblich  feierliches Gefìhl  ergreift
Besitz von mir.  Ein leise d¤mmerndes Gefìhl wie aus  einem frìheren Dasein,
als sei die Welt  um mich her verzaubert -  eine traumhafte Erkenntnis,  als
lebte ich zuweilen an mehreren Orten zugleich.
     Ich steige aus.
     "Wieviel bin ich schuldig, Herr Tschamrda?"
     "Einen  Kreuzer.  Wenn Sie  mitg'holfen  h¤tten rudern,  - h¤tt's  zwei
Kreuzer 'kost."
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     Denselben Weg, den ich  heute  nacht im Schlaf  schon  einmal gegangen,
wandere ich wieder empor: die kleine,  einsame SchloŸstiege.  Mir klopft das
Herz und ich weiŸ voraus: jetzt kommt der kahle Baum, dessen  „ste ìber  die
Mauer herìbergreifen.
     Nein: er ist mit weiŸen Blìten bes¤t.
     Die Luft ist voll von sìŸem Fliederhauch.
     Zu meinen  FìŸen liegt die Stadt im ersten  Licht wie  eine  Vision der
VerheiŸung.
     Kein Laut. Nur Duft und Glanz.
     Mit geschlossenen  Augen kænnte ich  mich  hinauffinden in die  kleine,
kuriose Alchimistengasse, so vertraut ist mir plætzlich jeder Schritt.
     Aber,  wo  heute  nacht  das  Holzgitter  vor  dem weiŸschimmemden Haus
gestanden  hat,  schlieŸt  jetzt  ein  prachtvolles, gebauchtes, vergoldetes
Gitter die Gasse ab.
     Zwei Eibenb¤ume ragen aus blìhendem,  niederem Gestr¤uch und flankieren
das Eingangstor der Mauer, die hinter dem Gitter entlang l¤uft.
     Ich  strecke  mich, um  ìber  das  Strauchwerk  hinìberzusehen, und bin
geblendet von neuer Pracht:
     Die Gartenmauer  ist ganz mit Mosaik bedeckt. Tìrkisblau mit  goldenen,
eigenartig gemuschelten Fresken, die den  Kult des ¤gyptischen Gottes Osiris
darstellen.
     Das Flìgeltor ist  der Gott selbst: ein  Hermaphrodit aus zwei H¤lften,
die  die Tìre bilden, - die rechte weiblich, die linke m¤nnlich. -  Er sitzt
auf einem kostbaren, flachen Thron aus Perlmutter - im Halbrelief - und sein
goldener  Kopf ist der  eines Hasen. Die Ohren sind in die Hæhe gestellt und
dicht  aneinander,  daŸ   sie  aussehen   wie   die  beiden   Seiten   eines
aufgeschlagenen Buches. -
     Es riecht nach Tau, und Hyazinthenduft weht ìber die Mauer herìber. - -
-
     Lange stehe ich wie versteinert da und staune. Mir wird, als tr¤te eine
fremde Welt  vor  mich,  und ein  alter G¤rtner  oder Diener  mit  silbernen
Schnallenschuhen,  Jabot und sonderbar zugeschnittenem  Rock kommt von links
hinter dem  Gitter auf mich  zu  und  fragt mich durch  die  St¤be, was  ich
wìnsche.
     Ich reiche ihm stumm den eingewickelten Hut Athanasius Pernaths hinein.
     Er nimmt ihn und geht durch das Flìgeltor.
     Als es sich æffnet, sehe ich dahinter ein tempelartiges, marmornes Haus
und auf seinen Stufen:

     und an ihn gelehnt:

     und beide schauen hinab in die Stadt.
     Einen  Augenblick wendet  sich Mirjam  um,  erblickt mich, l¤chelt  und
flìstert Athanasius Pernath etwas zu.
     Ich bin gebannt von ihrer Schænheit.
     Sie ist so jung, wie ich sie heut nacht im Traum gesehen.
     Athanasius  Pernath dreht  sich  langsam  zu mir,  und mein Herz bleibt
stehen:
     Mir ist,  als s¤he ich mich im Spiegel, so ¤hnlich ist sein Gesicht dem
meinigen.
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     Dann  fallen die  Flìgel  des  Tores zu, und ich erkenne nur  noch  den
schimmernden Hermaphroditen.
     Der  alte Diener gibt mir meinen Hut und sagt  -  ich hære seine Stimme
wie aus den Tiefen der Erde -:
     "Herr Athanasius  Pernath l¤Ÿt  verbindlichst  danken  und  bittet, ihn
nicht fìr  ungastfreundlich zu halten,  daŸ  er  Sie nicht einl¤dt,  in  den
Garten zu kommen, aber es ist strenges Hausgesetz so von alters her.
     Ihren  Hut, soll ich ausrichten, habe  er nicht aufgesetzt, da ihm  die
Verwechslung sofort aufgefallen sei.
     Er  wolle  nur  hoffen,  daŸ  der  seinige  Ihnen  keine  Kopfschmerzen
verursacht habe."


Last-modified: Tue, 21 Jan 2003 08:55:12 GMT
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