Gustav Meyrink. Der Golem
---------------------------------------------------------------
ƒãáâ ¢ Œ ©à¨ª. ƒ®«¥¬. ¥¬¥æª®¬ ï§ëª¥).
„ â ᮧ¤ ¨¥ ¯à®¨§¢¥¤¥¨ï: 1915 £.
¥ç âë© ¨áâ®ç¨ª: Gustav Meyrink. Der Golem, Leipzig, 1916
OCR, Spellcheck: Serge Winitzki
---------------------------------------------------------------
Leipzig
Kurt Wolff Verlag
1916
Vierter Abdruck. Dezember 1915
Copyright 1915 by Kurt Wolff Verlag Leipzig
Kapitelverzeichnis
Schlaf
Tag
I
Prag
Punsch
Nacht
Wach
Schnee
Spuk
Licht
Not
Angst
Trieb
Weib
List
Qual
Mai
Mond
Frei
SchluŸ
Schlaf
Das Mondlicht f¤llt auf das FuŸende meines Bettes und liegt dort wie
ein groŸer, heller, flacher Stein.
Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine
rechte Seite f¤ngt an zu verfallen, - wie ein Gesicht, das dem Alter
entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten zeigt und abmagert, - dann
bem¤chtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine trìbe, qualvolle
Unruhe.
Ich schlafe nicht und wache nicht, und im Halbtraum vermischt sich in
meiner Seele Erlebtes mit Gelesenem und Gehærtem, wie Stræme von
verschiedener Farbe und Klarheit zusammenflieŸen.
Ich hatte ìber das Leben des Buddha Gotama gelesen, ehe ich mich
niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz immer wieder von vorne
beginnend durch meinen Sinn:
"Eine Kr¤he flog zu einem Stein hin, der wie ein Stìck Fett aussah, und
dachte: vielleicht ist hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die Kr¤he dort
nichts Wohlschmeckendes fand, flog sie fort. Wie die Kr¤he, die sich dem
Stein gen¤hert, so verlassen wir - wir, die Versucher, - den Asketen Gotama,
da wir den Gefallen an ihm verloren haben."
Und das Bild von dem Stein, der aussah wie ein Stìck Fett, w¤chst ins
Ungeheuerliche in meinem Hirn:
Ich schreite durch ein ausgetrocknetes FluŸbett und hebe glatte Kiesel
auf.
Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, ìber die ich nachgrìble
und nachgrìble und doch mit ihnen nichts anzufangen weiŸ, - dann schwarze
mit schwefelgelben Flecken wie die steingewordenen Versuche eines Kindes,
plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.
Und ich will sie weit von mir werfen, diese Kiesel, doch immer fallen
sie mir aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich meiner Augen nicht
bannen.
Alle jene Steine, die je in meinem Leben eine Rolle gespielt, tauchen
auf rings um mich her.
Manche qu¤len sich schwerf¤llig ab, sich aus dem Sande ans Licht
emporzuarbeiten - wie groŸe schieferfarbene Taschenkrebse, wenn die Flut
zurìckkommt, - und als wollten sie alles daransetzen, meine Blicke auf sich
zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu sagen.
Andere - erschæpft - fallen kraftlos zurìck in ihre Læcher und geben es
auf, je zu Worte zu kommen.
Zuweilen fahre ich empor aus dem D¤mmer dieser halben Tr¤ume und sehe
fìr einen Augenblick wiederum den Mondschein auf dem gebauschten FuŸende
meiner Decke liegen wie einen groŸen, hellen, flachen Stein, um blind von
neuem hinter meinem schwindenden BewuŸtsein herzutappen, ruhelos nach jenem
Stein suchend, der mich qu¤lt - der irgendwo verborgen im Schutte meiner
Erinnerung liegen muŸ und aussieht wie ein Stìck Fett.
Eine Regenræhre muŸ einst neben ihm auf der Erde gemìndet haben, male
ich mir aus - stumpfwinklig abgebogen, die R¤nder von Rost zerfressen, - und
trotzig will ich mir im Geiste ein solches Bild erzwingen, um meine
aufgescheuchten Gedanken zu belìgen und in Schlaf zu lullen.
Es gelingt mir nicht.
Immer wieder und immer wieder mit alberner Beharrlichkeit behauptet
eine eigensinnige Stimme in meinem Innern - unermìdlich wie ein
Fensterladen, den der Wind in regelm¤Ÿigen Zwischenr¤umen an die Mauer
schlagen l¤Ÿt: es sei das ganz anders, das sei gar nicht der Stein, der wie
Fett aussehe.
Und es ist von der Stimme nicht loszukommen.
Wenn ich hundertmal einwende, alles das sei doch ganz nebens¤chlich, so
schweigt sie wohl eine kleine Weile, wacht aber dann unvermerkt wieder auf
und beginnt hartn¤ckig von neuem: gut, gut, schon recht, es ist aber doch
nicht der Stein, der wie ein Stìck Fett aussieht. -
Langsam beginnt sich meiner ein unertr¤gliches Gefìhl von Hilflosigkeit
zu bem¤chtigen.
Wie es weiter gekommen ist, weiŸ ich nicht. Habe ich freiwillig jeden
Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich ìberw¤ltigt und geknebelt, meine
Gedanken?
Ich weiŸ nur, mein Kærper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind
losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden. -
Wer ist jetzt "ich", will ich plætzlich fragen; da besinne ich mich,
daŸ ich doch kein Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen kænnte;
dann fìrchte ich, die dumme Stimme werde wieder aufwachen und von neuem das
endlose Verhær ìber den Stein und das Fett beginnen.
Und so wende ich mich ab.
Da stand ich plætzlich in einem dìsteren Hofe und sah durch einen
rætlichen Torbogen gegenìber - jenseits der engen, schmutzigen StraŸe -
einen jìdischen Trædler an einem Gewælbe lehnen, das an den Mauerr¤ndern mit
altem Eisengerìmpel, zerbrochenen Werkzeugen, verrosteten Steigbìgeln und
Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war.
Und dieses Bild trug das qu¤lend Eintænige an sich, das alle jene
Eindrìcke kennzeichnet, die tagt¤glich so und so oft wie Hausierer die
Schwelle unserer Wahrnehmung ìberschreiten, und rief in mir weder Neugierde
noch œberraschung hervor.
Ich wurde mir bewuŸt, daŸ ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung
zu Hause war.
Auch diese Empfindung hinterlieŸ mir trotz ihres Gegensatzes zu dem,
was ich doch vor kurzem noch wahrgenommen und wie ich hierher gelangt,
keinerlei tieferen Eindruck. - -
Ich muŸ einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und
einem Stìck Fett gehært oder gelesen haben, dr¤ngte sich mir plætzlich der
Einfall auf, als ich die ausgetretenen Stufen zu meiner Kammer emporstieg
und mir ìber das speckige Aussehen der Steinschwellen flìchtige Gedanken
machte.
Da hærte ich Schritte die oberen Treppen ìber mir vorauslaufen, und als
ich zu meiner Tìr kam, sah ich, daŸ es die vierzehnj¤hrige, rothaarige
Rosina des Trædlers Aaron Wassertrum gewesen war.
Ich muŸte dicht an ihr vorbei, und sie stand mit dem Rìcken gegen das
Stiegengel¤nder und bog sich lìstern zurìck.
Ihre schmutzigen H¤nde hatte sie um die Eisenstange gelegt, - zum Halt
- und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem trìben Halbdunkel
hervorleuchteten.
Ich wich ihren Blicken aus.
Mich ekelte vor ihrem zudringlichen L¤cheln und diesem w¤chsernen
Schaukelpferdgesicht.
Sie muŸ schwammiges, weiŸes Fleisch haben wie der Axolotl, den ich
vorhin im Salamanderk¤fig bei dem Vogelh¤ndler gesehen habe, fìhlte ich.
Die Wimpern Rothaariger sind mir widerw¤rtig wie die eines Kaninchens.
Und ich sperrte auf und schlug rasch die Tìr hinter mir zu. - -
Von meinem Fenster aus konnte ich den Trædler Aaron Wassertrum vor
seinem Gewælbe stehen sehen.
Er lehnte am Eingang der dunklen Wælbung und zwickte mit einer
BeiŸzange an seinen Fingern¤geln herum.
War die rothaarige Rosina seine Tochter oder seine Nichte? Er hatte
keine „hnlichkeit mit ihr.
Unter den Judengesichtern, die ich Tag fìr Tag in der HahnpaŸgasse
auftauchen sehe, kann ich deutlich verschiedene St¤mme unterscheiden, die
sich so wenig durch die nahe Verwandtschaft der einzelnen Individuen
verwischen lassen, wie sich æl und Wasser vermengen wird. Da darf man nicht
sagen: die dort sind Brìder oder Vater und Sohn.
Der gehært zu jenem Stamm und dieser zu einem andern, das ist alles,
was sich aus den Gesichtszìgen lesen l¤Ÿt.
Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem Trædler ¤hnlich s¤he!
Diese St¤mme hegen einen heimlichen Ekel und Abscheu voreinander, der
sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft durchbricht, - aber sie
verstehen ihn geheimzuhalten vor der AuŸenwelt, wie man ein gef¤hrliches
Geheimnis hìtet.
Kein einziges l¤Ÿt ihn durchblicken, und in dieser œbereinstimmung
gleichen sie haŸerfìllten Blinden, die sich an ein schmutzgetr¤nktes Seil
klammern: der eine mit beiden F¤usten, ein anderer nur widerwillig mit einem
Finger, alle aber von abergl¤ubischer Furcht besessen, daŸ sie dem Untergang
verfallen mìssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben und sich von den
ìbrigen trennen.
Rosina ist von jenem Stamme, dessen rothaariger Typus noch abstoŸender
ist, als der der andern. Dessen M¤nner engbrìstig sind und lange Hìhnerh¤lse
haben mit vorstehendem Adamsapfel.
Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr ganzes Leben leiden sie
unter brìnstigen Qualen, diese M¤nner, - und k¤mpfen heimlich gegen ihre
Gelìste einen ununterbrochenen, erfolglosen Kampf, von immerw¤hrender
widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert.
Ich war mir nicht klar, wieso ich Rosina ìberhaupt in
verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Trædler Wassertrum bringen konnte.
Nie habe ich sie doch in der N¤he des Alten gesehen oder bemerkt, daŸ
sie jemals einander etwas zugerufen h¤tten.
Auch war sie fast immer in unserem Hofe oder drìckte sich in den
dunklen Winkeln und G¤ngen unseres Hauses umher.
Sicherlich halten sie alle meine Mitbewohner fìr eine nahe Verwandte
oder zumindest Schutzbefohlene des Trædlers, und doch bin ich ìberzeugt, daŸ
kein einziger einen Grund fìr solche Vermutungen anzugeben vermæchte.
Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreiŸen und sah von dem offenen
Fenster meiner Stube hinab auf die HahnpaŸgasse.
Als habe Aaron Wassertrum meinen Blick gefìhlt, wandte er plætzlich
sein Gesicht zu mir empor.
Sein starres, gr¤Ÿliches Gesicht mit den runden Fischaugen und der
klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist.
Wie eine menschliche Spinne kam er mir vor, die die feinste Berìhrung
ihres Netzes spìrt, so teilnahmslos sie sich auch stellt.
Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben?
Ich wuŸte es nicht.
An den Mauerr¤ndern seines Gewælbes h¤ngen unver¤ndert Tag fìr Tag,
jahraus jahrein dieselben toten wertlosen Dinge.
Mit geschlossenen Augen h¤tte ich sie hinzeichnen kænnen: hier die
verbogene Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier gemalt,
mit den so sonderbar zusammengestellten Soldaten. Dann eine Girlande
verrosteter Sporen an einem schimmligen Lederriemen und anderes halb
vermodertes Gerìmpel.
Und vorne auf dem Boden, dicht nebeneinander geschichtet, so daŸ
niemand die Schwelle des Gewælbes ìberschreiten kann, eine Reihe runder
eiserner Herdplatten. -
Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier
und da einmal ein Vorìbergehender stehen und fragte nach dem Preis des einen
oder andern, geriet der Trædler in heftige Erregung.
In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippen mit der Hasenscharte
empor und sprudelte gereizt irgend etwas Unverst¤ndliches in einem
gurgelnden, stolpernden BaŸ hervor, daŸ dem K¤ufer die Lust weiter zu fragen
verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte.
Der Blick des Aaron Wassertrum war blitzschnell von meinen Augen
abgeglitten und ruhte jetzt mit gespanntem Interesse an den kahlen Mauern,
die vom Nebenhause an mein Fenster stoŸen.
Was konnte er dort nur sehen?
Das Haus steht doch mit dem Rìcken gegen die HahnpaŸgasse, und seine
Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die StraŸe gekehrt.
Zuf¤llig schienen die R¤ume, die nebenan in derselben Stockhæhe wie die
meinigen liegen - ich glaube, sie gehæren zu einem winkligen Atelier - in
diesem Moment betreten worden zu sein, denn durch die Mauern hærte ich
plætzlich eine m¤nnliche und eine weibliche Stimme miteinander reden.
Unmæglich konnte das aber der Trædler von unten aus wahrgenommen haben!
- -
Vor meiner Tìr bewegte sich jemand, und ich erriet: es ist immer noch
Rosina, die drauŸen im Dunkeln steht in begehrlichem Warten, daŸ ich sie
doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle.
Und unten, ein halbes Stockwerk tiefer, lauert der blatternarbige,
halbwìchsige Loisa auf den Stiegen mit angehaltenem Atem, ob ich die Tìr
æffnen werde, und ich spìre færmlich den Hauch seines Hasses und seine
sch¤umende Eifersucht bis herauf zu mir.
Er fìrchtet sich n¤her zu kommen und von Rosina bemerkt zu werden. Er
weiŸ sich von ihr abh¤ngig wie ein hungriger Wolf von seinem W¤rter und
mæchte doch am liebsten aufspringen und besinnungslos seiner Wut die Zìgel
schieŸen lassen! - - -
Ich setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten und
Stichel hervor.
Aber ich konnte nichts fertigbringen und meine Hand war nicht ruhig
genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern.
Das trìbe, dìstere Leben, das an diesem Hause h¤ngt, l¤Ÿt mein Gemìt
nicht stillwerden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf.
Loisa und sein Zwillingsbruder Jaromir sind wohl kaum ein Jahr ¤lter
als Rosina.
An ihren Vater, der Hostienb¤cker gewesen, konnte ich mich kaum mehr
erinnern, und jetzt sorgt fìr sie, glaube ich, ein altes Weib.
Ich wuŸte nur nicht, welche es war unter den vielen, die versteckt im
Hause wohnen wie Kræten in ihrem Schlupfwinkel.
Sie sorgt fìr die beiden Jungen, das heiŸt: sie gew¤hrt ihnen
Unterkunft; dafìr mìssen sie ihr abliefern, was sie gelegentlich stehlen
oder erbetteln. -
Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich konnte es mir nicht denken,
denn erst sp¤t abends kommt die Alte heim.
Leichenw¤scherin soll sie sein.
Loisa, Jaromir und Rosina sah ich, als sie noch Kinder waren, oft
harmlos im Hof zu dritt spielen.
Die Zeit aber ist lang vorbei.
Den ganzen Tag ist Loisa jetzt hinter dem rothaarigen Judenm¤del her.
Zuweilen sucht er sie lange umsonst, und wenn er sie nirgends finden
kann, dann schleicht er sich vor meine Tìr und wartet mit verzerrtem
Gesicht, daŸ sie heimlich hierher komme.
Da sehe ich ihn, wenn ich bei meiner Arbeit sitze, im Geiste drauŸen in
dem winkligen Gange lauern, den Kopf mit dem ausgemergelten Genick horchend
vorgebeugt.
Manchmal bricht dann durch die Stille plætzlich ein wilder L¤rm.
Jaromir, der taubstumm ist, und dessen ganzes Denken eine
ununterbrochene wahnsinnige Gier nach Rosina erfìllt, irrt wie ein wildes
Tier im Hause umher, und sein unartikuliertes heulendes Gebell, das er, vor
Eifersucht und Argwohn halb von Sinnen, ausstæŸt, klingt so schauerlich, daŸ
einem das Blut in den Adern stockt.
Er sucht die beiden, die er stets beieinander vermutet - irgendwo in
einem der tausend schmutzigen Schlupfwinkel versteckt - in blinder Raserei,
immer von dem Gedanken gepeitscht, seinem Bruder auf den Fersen sein zu
mìssen, daŸ nichts mit Rosina vorgehe, von dem er nicht wisse.
Und gerade diese unaufhærliche Qual des Krìppels ist, ahnte ich, das
Reizmittel, das Rosina antreibt, sich stets von neuem mit dem andern
einzulassen.
Wird ihre Neigung oder Bereitwilligkeit schw¤cher, so ersinnt Loisa
immer wieder besondere ScheuŸlichkeiten, um Rosinas Gier von neuem zu
entfachen.
Da lassen sie sich scheinbar oder wirklich von dem Taubstummen ertappen
und locken den Rasenden heimtìckisch hinter sich her in dunkle G¤nge, wo sie
aus rostigen FaŸreifen, die in die Hæhe schnellen, wenn man auf sie tritt,
und eisernen Rechen - mit den Spitzen nach oben gekehrt - bæsartige Fallen
errichtet haben, in die er stìrzen muŸ und sich blutig f¤llt.
Von Zeit zu Zeit denkt sich Rosina, um die Folter aufs ¤uŸerste
anzuspannen, auf eigene Faust etwas Hællisches aus.
Dann ¤ndert sie mit einem Schlage ihr Benehmen zu Jaromir und tut, als
f¤nde sie plætzlich Gefallen an ihm.
Mit ihrer ewig l¤chelnden Miene teilt sie dem Krìppel hastig Dinge mit,
die ihn in eine fast irrsinnige Erregung versetzen, und sie hat sich dazu
eine geheimnisvoll scheinende, nur halbverst¤ndliche Zeichensprache
ersonnen, die den Taubstummen rettungslos in ein unentwirrbares Netz von
UngewiŸheit und verzehrenden Hoffnungen verstricken muŸ. -
Einmal sah ich ihn im Hofe vor ihr stehen, und sie sprach mit so
heftigen Lippenbewegungen und Gestikulationen auf ihn ein, daŸ ich glaubte,
jeden Augenblick wìrde er in wilder Aufregung zusammenbrechen.
Der SchweiŸ lief ihm ìbers Gesicht vor ìbermenschlicher Anstrengung,
den Sinn der absichtlich so unklaren, hastigen Mitteilungen zu erfassen.
Und den ganzen folgenden Tag lauerte er dann fiebernd in Erwartung auf
den finsteren Stiegen eines halb versunkenen Hauses, das in der Fortsetzung
der engen, schmutzigen HahnpaŸgasse liegt, - bis er die Zeit vers¤umt hatte,
sich an den Ecken ein paar Kreuzer zu erbetteln.
Und als er sp¤t abends halbtot vor Hunger und Aufregung heim wollte,
hatte ihn die Pflegemutter l¤ngst ausgesperrt. - - -
Ein fræhliches Frauenlachen drang aus dem anstoŸenden Atelier durch die
Mauern herìber zu mir.
Ein Lachen! - In diesen H¤usern ein fræhliches Lachen? Im ganzen Getto
wohnt niemand, der fræhlich lachen kænnte.
Da fiel mir ein, daŸ mir vor einigen Tagen der alte Marionettenspieler
Zwakh anvertraute, ein junger, vornehmer Herr h¤tte ihm das Atelier teuer
abgemietet - offenbar, um mit der Erw¤hlten seines Herzens unbelauscht
zusammenkommen zu kænnen.
Nach und nach, jede Nacht, mìŸten nun, damit niemand im Hause etwas
merke, die kostbaren Mæbel des neuen Mieters heimlich Stìck fìr Stìck
hinaufgeschafft werden.
Der gutmìtige Alte hatte sich vor Vergnìgen die H¤nde gerieben, als er
es mir erz¤hlte, und sich kindlich gefreut, wie er alles so geschickt
angefangen habe: keiner der Mitbewohner kænne auch nur eine Ahnung von dem
romantischen Liebespaar haben.
Und von drei H¤usern aus sei es mæglich, unauff¤llig in das Atelier zu
gelangen. - Sogar durch eine Falltìre g¤be es einen Zugang!
Ja, wenn man die eiserne Tìr des Bodenraumes aufklinke, - und das sei
von drìben aus sehr leicht, - kænne man an meiner Kammer, vorbei zu den
Stiegen unseres Hauses gelangen und diese als Ausgang benìtzen ...
Wieder klingt das fræhliche Lachen herìber und l¤Ÿt in mir die
undeutliche Erinnerung an eine luxuriæse Wohnung und an eine adlige Familie
auftauchen, zu der ich oft gerufen wurde, um an kostbaren Altertìmern kleine
Ausbesserungen vorzunehmen. -
Plætzlich hære ich nebenan einen gellenden Schrei. Ich horche
erschreckt.
Die eiserne Bodentìr klirrt heftig, und im n¤chsten Augenblick stìrzt
eine Dame in mein Zimmer.
Mit aufgelæstem Haar, weiŸ wie die Wand, einen goldenen Brokatstoff
ìber die bloŸen Schultern geworfen.
"Meister Pernath, verbergen Sie mich, - um Gottes Christi willen! -
fragen Sie nicht, verbergen Sie mich hier!"
Ehe ich noch antworten konnte, wurde meine Tìr abermals aufgerissen und
sofort wieder zugeschlagen. -
Eine Sekunde lang hatte das Gesicht des Trædlers Aaron Wassertrum wie
eine scheuŸliche Maske hereingegrinst. -
Ein runder, leuchtender Fleck taucht vor mir auf, und im Schein des
Mondlichtes erkenne ich wiederum das FuŸende meines Bettes. Noch liegt der
Schlaf auf mir wie ein schwerer, wolliger Mantel und der Name Pernath steht
in goldenen Buchstaben vor meiner Erinnerung.
Wo nur habe ich diesen Namen gelesen? - Athanasius Pernath?
Ich glaube, ich glaube vor langer, langer Zeit habe ich einmal irgendwo
meinen Hut verwechselt, und ich wunderte mich damals, daŸ er mir so genau
passe, wo ich doch eine hæchst eigentìmliche Kopfform habe.
Und ich sah in den fremden Hut hinein - damals und - - ja, ja, dort
hatte es gestanden in goldenen Papierbuchstaben auf dem weiŸen Futter:
ATHANASIUS PERNATH.
Ich hatte mich vor dem Hut gescheut und gefìrchtet, ich wuŸte nicht
warum.
Da f¤hrt plætzlich die Stimme, die ich vergessen hatte, und die immer
von mir wissen wollte, wo der Stein ist, der wie Fett ausgesehen habe, auf
mich los, gleich einem Pfeil.
Schnell male ich mir das scharfe, sìŸlich grinsende Profil der roten
Rosina aus, und es gelingt mir auf diese Weise, dem Pfeil auszuweichen, der
sich sogleich in der Finsternis verliert.
Ja, das Gesicht der Rosina! Das ist doch noch st¤rker als die
stumpfsinnige plappernde Stimme; und gar, wo ich jetzt gleich wieder in
meinem Zimmer in der HahnpaŸgasse geborgen sein werde, kann ich ganz ruhig
sein.
Wenn ich mich nicht get¤uscht habe in der Empfindung, daŸ jemand in
einem gewissen, gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt,
in der Absicht, mich zu besuchen, so muŸ er jetzt ungef¤hr auf dem letzten
Stiegenabsatz stehen.
Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine
Wohnung hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur des
oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muŸ
er, mìhsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem Tìrschild lesen.
Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum
Eingang.
Da æffnete sich die Tìre, und er trat ein.
Nur wenige Schritte machte er auf mich zu und nahm weder den Hut ab,
noch sagte er ein Wort der BegrìŸung.
So benimmt er sich, wenn er zu Hause ist, fìhlte ich, und ich fand es
ganz selbstverst¤ndlich, daŸ er so und nicht anders handelte.
Er griff in die Tasche und nahm ein Buch heraus.
Dann bl¤tterte er lange drin herum.
Der Umschlag des Buches war aus Metall, und die Vertiefungen in Form
von Rosetten und Siegeln waren mit Farbe und kleinen Steinen ausgefìllt.
Endlich hatte er die Stelle gefunden, die er suchte, und deutete
darauf.
Das Kapitel hieŸ "Ibbur", "die Seelenschw¤ngerung", entzifferte ich.
Das groŸe, in Gold und Rot ausgefìhrte Initial "I" nahm fast die H¤lfte
der ganzen Seite ein, die ich unwillkìrlich ìberflog, und war am Rande
verletzt.
Ich sollte es ausbessern.
Das Initial war nicht auf das Pergament geklebt, wie ich es bisher in
alten Bìchern gesehen, schien vielmehr aus zwei Platten dìnnen Goldes zu
bestehen, die im Mittelpunkte zusammengelætet waren und mit den Enden um die
R¤nder des Pergaments griffen.
Also muŸte, wo der Buchstabe stand, ein Loch in das Blatt geschnitten
sein?
Wenn das der Fall war, muŸte auf der n¤chsten Seite das "I" verkehrt
stehen?
Ich bl¤tterte um und fand meine Annahme best¤tigt.
Unwillkìrlich las ich auch diese Seite durch und die gegenìberliegende.
Und ich las weiter und weiter.
Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, klarer nur und viel
deutlicher. Und es rìhrte mein Herz an wie eine Frage.
Worte stræmten aus einem unsichtbaren Munde, wurden lebendig und kamen
auf mich zu. Sie drehten sich und wandten sich vor mir wie buntgekleidete
Sklavinnen, sanken dann in den Boden oder verschwanden wie schillernder
Dunst in der Luft und gaben der n¤chsten Raum. Jede hoffte eine kleine
Weile, daŸ ich sie erw¤hlen wìrde und auf den Anblick der Kommenden
verzichten.
Manche waren unter ihnen, die gingen prunkend einher wie Pfauen, in
schimmernden Gew¤ndern, und ihre Schritte waren langsam und gemessen.
Manche wie Kæniginnen, doch gealtert und verlebt, die Augenlider
gef¤rbt, - mit dirnenhaftem Zug um den Mund und die Runzeln mit h¤Ÿlicher
Schminke verdeckt.
Ich sah an ihnen vorbei und nach den kommenden, und mein Blick glitt
ìber lange Zìge grauer Gestalten mit Gesichtern, so gewæhnlich und
ausdrucksarm, daŸ es unmæglich schien, sie dem Ged¤chtnis einzupr¤gen.
Dann brachten sie ein Weib geschleppt, das war splitternackt und
riesenhaft wie ein ErzkoloŸ.
Eine Sekunde blieb das Weib vor mir stehen und beugte sich nieder zu
mir.
Ihre Wimpern waren so lang wie mein ganzer Kærper, und sie deutete
stumm auf den Puls ihrer linken Hand.
Der schlug wie ein Erdbeben, und ich fìhlte, es war das Leben einer
ganzen Welt in ihr.
Aus der Ferne raste ein Korybantenzug heran.
Ein Mann und ein Weib umschlangen sich. Ich sah sie von weitem kommen,
und immer n¤her brauste der Zug.
Jetzt hærte ich den hallenden Gesang der Verzìckten dicht vor mir, und
meine Augen suchten das verschlungene Paar.
Das aber hatte sich verwandelt in eine einzige Gestalt und saŸ, halb
m¤nnlich, halb weiblich, - ein Hermaphrodit - auf einem Throne von
Perlmutter.
Und die Krone des Hermaphroditen endete in einem Brett aus rotem Holz;
darein hatte der Wurm der Zerstærung geheimnisvolle Runen genagt.
In einer Staubwolke kam eilig hinterdreingetrappelt eine Herde kleiner,
blinder Schafe: die Futtertiere, die der gigantische Zwitter in seinem
Gefolge fìhrte, seine Korybantenschar am Leben zu erhalten.
Zuweilen waren unter den Gestalten, die aus dem unsichtbaren Munde
stræmten, etliche, die kamen aus Gr¤bern, - Tìcher vor dem Gesicht.
Und blieben sie vor mir stehen, lieŸen sie plætzlich ihre Hìllen fallen
und starrten mit Raubtieraugen hungrig auf mein Herz, daŸ ein eisiger
Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zurìckstaute wie ein Strom, in
den Felsblæcke vom Himmel herniedergefallen sind - plætzlich und mitten in
sein Bette. -
Eine Frau schwebte an mir vorbei. Ich sah ihr Antlitz nicht, sie wandte
es ab, und sie trug einen Mantel aus flieŸenden Tr¤nen. -
Maskenzìge tanzten vorìber, lachten und kìmmerten sich nicht um mich.
Nur ein Pierrot sieht sich nachdenklich um nach mir und kehrt zurìck.
Pflanzt sich vor mich hin und blickt in mein Gesicht hinein, als sei es ein
Spiegel.
Er schneidet so seltsame Grimassen, hebt und bewegt seine Arme, bald
zægernd, bald blitzschnell, daŸ sich meiner ein gespenstiger Trieb
bem¤chtigt ihn nachzuahmen, mit den Augen zu zwinkern, mit den Achseln zu
zucken und die Mundwinkel zu verziehen.
Da stoŸen ihn ungeduldig nachdr¤ngende Gestalten zur Seite, die alle
vor meine Blicke wollen.
Doch keines der Wesen hat Bestand.
Gleitende Perlen sind sie, auf eine Seidenschnur gereiht, die einzelnen
Tæne nur einer Melodie, die dem unsichtbaren Mund entstræmen.
Das war kein Buch mehr, das zu mir sprach. Das war eine Stimme. Eine
Stimme, die etwas von mir wollte, was ich nicht begriff; wie sehr ich mich
auch abmìhte. Die mich qu¤lte mit brennenden, unverst¤ndlichen Fragen.
Die Stimme aber, die diese sichtbaren Worte redete, war abgestorben und
ohne Widerhall.
Jeder Laut, der in der Welt der Gegenwart erklingt, hat viele Echos,
wie jegliches Ding einen groŸen Schatten hat und viele kleine Schatten, doch
diese Stimme hatte keine Echos mehr, - lange, lange schon sind sie wohl
verweht und verklungen. - - -
Und bis zu Ende hatte ich das Buch gelesen und hielt es noch in den
H¤nden, da war mir, als h¤tte ich suchend in meinem Gehirn gebl¤ttert und
nicht in einem Buche! - -
Alles, was mir die Stimme gesagt, hatte ich, seit ich lebte, in mir
getragen, nur verdeckt war es gewesen und vergessen und hatte sich vor
meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag. -
Ich blickte auf.
Wo war der Mann, der mir das Buch gebracht hatte?
Fortgegangen!?
Wird er es holen, wenn es fertig ist?
Oder sollte ich es ihm bringen? -
Aber ich konnte mich nicht erinnern, daŸ er gesagt h¤tte, wo er wohne.
Ich wollte mir seine Erscheinung ins Ged¤chtnis zurìckrufen, doch es
miŸlang.
Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? - Und welche
Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?
Nichts, gar nichts mehr konnte ich mir vorstellen. - Alle Bilder, die
ich mir von ihm schuf, zerrannen haltlos, noch ehe ich sie im Geiste
zusammenzusetzen vermochte.
Ich schloŸ die Augen und preŸte die Hand auf die Lider, um einen
winzigen Teil nur seines Bildnisses zu erhaschen.
Nichts, nichts.
Ich stellte mich hin, mitten ins Zimmer, und blickte auf die Tìr, wie
ich es getan - vorhin, als er gekommen war, und malte mir aus: jetzt biegt
er um die Ecke, jetzt schreitet er ìber den Ziegelsteinboden, liest jetzt
drauŸen mein Tìrschild "Athanasius Pernath" und jetzt tritt er herein.
Vergebens.
Nicht die leiseste Spur einer Erinnerung, wie seine Gestalt ausgesehen,
wollte in mir erwachen.
Ich sah das Buch auf dem Tische liegen und wìnschte mir im Geiste die
Hand dazu, die es aus der Tasche gezogen und mir gereicht hatte.
Nicht einmal, ob sie einen Handschuh getragen, ob sie entblæŸt gewesen,
ob jung oder runzlig, mit Ringen geschmìckt oder nicht, konnte ich mich
entsinnen.
Da kam mir ein seltsamer Einfall.
Wie eine Eingebung war es, der man nicht widerstehen darf.
Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den
Gang und die Treppen hinab. Dann kam ich langsam wieder zurìck in mein
Zimmer.
Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. Und als ich die
Tìr æffnete, da sah ich, daŸ meine Kammer voll D¤mmerung lag. War es denn
nicht heller Tag noch gewesen, als ich soeben hinausging?
Wie lange muŸte ich da gegrìbelt haben, daŸ ich nicht bemerkte, wie
sp¤t es ist!
Und ich versuchte den Unbekannten nachzuahmen in Gang und Mienen und
konnte mich an sie doch gar nicht erinnern. -
Wie sollte es mir auch glìcken, ihn nachzuahmen, wenn ich keinen
Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte.
Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte.
Meine Haut, meine Muskeln, mein Kærper erinnerten sich plætzlich, ohne
es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht wìnschte
und nicht beabsichtigte.
Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehærten!
Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, als ich
ein paar Schritte im Zimmer machte.
Das ist der Gang eines Menschen, der best¤ndig im Begriffe ist,
vornìber zu fallen, sagte ich mir.
Ja, ja, ja, so war sein Gang!
Ganz deutlich wuŸte ich: so ist er.
Ich trug ein fremdes, bartloses Gesicht mit hervorstehenden
Backenknochen und schaute aus schr¤gstehenden Augen.
Ich fìhlte es und konnte mich doch nicht sehen.
Das ist nicht mein Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien, wollte es
betasten, doch meine Hand folgte meinem Willen nicht und senkte sich in die
Tasche und holte ein Buch hervor.
Ganz so, wie er es vorhin getan hatte. -
Da plætzlich sitze ich wieder ohne Hut, ohne Mantel, am Tische und bin
ich. Ich, ich.
Athanasius Pernath.
Grausen und Entsetzen schìttelten mich, mein Herz raste zum
Zerspringen, und ich fìhlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem
Gehirn herumgetastet, haben von mir abgelassen.
Noch spìrte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer Berìhrung. -
Nun wuŸte ich, wie der Fremde war, und ich h¤tte ihn wieder in mir
fìhlen kænnen, - jeden Augenblick - wenn ich nur gewollt h¤tte; aber sein
Bild mir vorzustellen, daŸ ich es vor mir sehen wìrde Auge in Auge - das
vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie kænnen.
Es ist wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren
Linien ich nicht erfassen kann - in die ich selber hineinschlìpfen muŸ, wenn
ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich bewuŸt werden will
- -
In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; - in diese
wollte ich das Buch sperren und erst, wenn der Zustand der geistigen
Krankheit von mir gewichen sein wìrde, wollte ich es wieder hervorholen und
an die Ausbesserung des zerbrochenen Initialen "I" gehen.
Und ich nahm das Buch vom Tisch.
Da war mir, als h¤tte ich es gar nicht angefaŸt; ich griff die Kassette
an: dasselbe Gefìhl. Als mìŸte das Tastempfinden eine lange, lange Strecke
voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem BewuŸtsein mìndete, als
seien die Dinge durch eine jahresgroŸe Zeitschicht von mir entfernt und
gehærten einer Vergangenheit an, die l¤ngst an mir vorìbergezogen!
Die Stimme, die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit
dem fettigen Stein zu qu¤len, ist an mir vorbeigekommen und hat mich nicht
gesehen. Und ich weiŸ, daŸ sie aus dem Reiche des Schlafes stammt. Aber was
ich erlebt, das war wirkliches Leben, - darum konnte sie mich nicht sehen
und sucht vergeblich nach mir, fìhle ich.
Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dìnnen,
fadenscheinigen œberziehers aufgeschlagen, und ich hærte, wie ihm vor K¤lte
die Z¤hne aufeinanderschlugen.
Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, sagte
ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinìber in meine Wohnung zu kommen.
Er aber lehnte ab.
"Ich danke Ihnen, Meister Pernath," murmelte er fræstelnd, "leider habe
ich nicht mehr so viel Zeit ìbrig; - ich muŸ eilends in die Stadt. - Auch
wìrden wir bis auf die Haut naŸ, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten
- schon nach wenigen Schritten! - - Der Platzregen will nicht schw¤cher
werden!"
Die Wasserschauer fegten ìber die D¤cher hin und liefen an den
Gesichtern der H¤user herunter wie ein Tr¤nenstrom.
Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drìben im vierten
Stock mein Fenster sehen, das, vom Regen ìberrieselt, aussah, als seien
seine Scheiben aufgeweicht, - undurchsichtig und hæckerig geworden wie
Hausenblase.
Ein gelber Schmutzbach floŸ die Gasse herab, und der Torbogen fìllte
sich mit Vorìbergehenden, die alle das Nachlassen des Unwetters abwarten
wollten.
"Dort schwimmt ein Brautbukett", sagte plætzlich Charousek und deutete
auf einen StrauŸ aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser vorbeigetrieben
kam.
Darìber lachte jemand hinter uns laut auf.
Als ich mich umdrehte, sah ich, daŸ es ein alter, vornehm gekleideter
Herr mit weiŸem Haar und einem aufgedunsenen, krætenartigen Gesicht gewesen
war.
Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zurìck und brummte etwas
vor sich hin.
Unangenehmes ging von dem Alten aus; - ich wandte meine Aufmerksamkeit
von ihm ab und musterte die miŸfarbigen H¤user, die da vor meinen Augen wie
verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten.
Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!
Ohne œberlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem
Boden dringt.
An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden
œberrest eines frìheren, langgestreckten Geb¤udes, hat man sie angelehnt -
vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rìcksicht auf die
ìbrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit
zurìckspringender Stirn; - ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.
Unter dem trìben Himmel sahen sie aus, als l¤gen sie im Schlaf, und man
spìlte nichts von dem tìckischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen
ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr
leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.
In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in
mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des
Nachts und im frìhesten Morgengrauen fìr sie g¤be, wo sie erregt eine
lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal f¤hrt da ein
schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erkl¤ren l¤Ÿt, Ger¤usche
laufen ìber ihre D¤cher und fallen in den Regenrinnen nieder, - und wir
nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu
forschen.
Oft tr¤umte mir, ich h¤tte diese H¤user belauscht in ihrem spukhaften
Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daŸ sie die heimlichen,
eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fìhlens ent¤uŸern
und es wieder an sich ziehen kænnen, - es tagsìber den Bewohnern, die hier
hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder
zurìckzufordern.
Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen,
wie Wesen - nicht von Mìttern geboren, - die in ihrem Denken und Tun wie aus
Stìcken wahllos zusammengefìgt scheinen, im Geiste an mir vorìberziehen, so
bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daŸ solche Tr¤ume in sich dunkle
Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie Eindrìcke von farbigen
M¤rchen in der Seele fortglimmen.
Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem
kìnstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein
kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem
gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches
Zahlenwort hinter die Z¤hne schob.
Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte,
in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so
mìŸten auch, dìnkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick
zusammenfallen, læschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein
nebens¤chliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen,
bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas g¤nzlich Unbestimmtes,
Haltloses - in ihrem Hirn aus.
Was ist dabei fìr ein immerw¤hrendes, schreckhaftes Lauern in diesen
Geschæpfen!
Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie
frìh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem
- wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.
Und hat es wirklich einmal den Anschein, als tr¤te jemand in ihren
Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern kænnten, dann f¤llt
plætzlich eine l¤hmende Angst ìber sie her, scheucht sie in ihre Winkel
zurìck und l¤Ÿt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.
Niemand scheint schwach genug, daŸ ihnen noch so viel Mut bliebe, sich
seiner zu bem¤chtigen.
"Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe
genommen ist", sagte Charousek zægernd und sah mich an. -
Wie konnte er wissen, woran ich dachte? -
So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, daŸ sie imstande sind,
auf das Gehirn des Nebenstehenden ìberzuspringen wie sprìhende Funken,
fìhlte ich.
"- - - wovon sie nur leben mægen?" sagte ich nach einer Weile.
"Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein Million¤r!"
Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen!
Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.
Fìr einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Torbogen
gestockt, und man hærte bloŸ das Zischen des Regens.
Was er nur damit sagen will: "Mancher unter ihnen ist ein Million¤r!?"
Wieder war es, als h¤tte Charousek meine Gedanken erraten. Er wies nach
dem Trædlerladen neben uns, an dem das Wasser den Rost des Eisengerìmpels in
flieŸenden, braunroten Pfìtzen vorbeispìlte.
"Aaron Wassertrum! Er zum Beispiel ist Million¤r, - fast ein Drittel
der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen Sie es denn nicht, Herr Pernath?!"
Mir blieb færmlich der Atem im Mund stecken. "Aaron Wassertrum! Der
Trædler Aaron Wassertrum Million¤r?!"
"Oh, ich kenne ihn genau", fuhr Charousek verbissen fort, und als h¤tte
er nur darauf gewartet, daŸ ich ihn frage. "Ich kannte auch seinen Sohn, den
Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm gehært? Von Dr. Wassory, dem - berìhmten
- Augenarzt? - Vor einem Jahr noch hat die ganze Stadt begeistert von ihm
gesprochen, - von dem groŸen - - Gelehrten. Niemand wuŸte damals, daŸ er
seinen Namen abgelegt und frìher Wassertrum geheiŸen. - Er spielte sich
gerne auf den weitabgewandten Mann der Wissenschaft hinaus, und wenn einmal
auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tiefbewegt so mit halben
Worten hin, daŸ sein Vater noch aus dem Getto stamme, - sich aus den
niedrigsten Anf¤ngen heraus unter Kummer aller Art und uns¤glichen Sorgen
empor ans Licht habe arbeiten mìssen.
Ja! Unter Kummer und Sorgen!
Unter wessen Kummer und uns¤glichen Sorgen aber und mit welchen
Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt!
Ich aber weiŸ, was es mit dem Getto fìr eine Bewandtnis hat!" Charousek
faŸte meinen Arm und schìttelte ihn heftig.
"Meister Pernath, ich bin so arm, daŸ ich es selbst kaum mehr begreife;
ich muŸ halbnackt gehen wie ein Vagabund, sehen Sie her, und ich bin doch
Student der Medizin, - bin doch ein gebildeter Mensch!"
Er riŸ seinen œberzieher auf und ich sah zu meinem Entsetzen, daŸ er
weder Hemd noch Rock anhatte und den Mantel ìber der nackten Haut trug.
"Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allm¤chtigen,
angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte, - und noch heute ahnt keiner, daŸ
ich, ich der eigentliche Urheber war.
Man meint in der Stadt, ein gewisser Dr. Savioli sei es gewesen, der
seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbstmord getrieben
hat. - Dr. Savioli war nichts als mein Werkzeug, sage ich Ihnen. Ich allein
habe den Plan erdacht und das Material zusammengetragen, habe die Beweise
geliefert und leise und unmerklich Stein um Stein in dem Geb¤ude Dr.
Wassorys gelockert, bis der Zustand erreicht war, wo kein Geld der Erde,
keine List des Gettos mehr vermocht h¤tten, den Zusammenbruch, zu dem es nur
noch eines unmerklichen AnstoŸes bedurfte, abzuwenden.
Wissen Sie, so - so wie man Schach spielt.
Gerade so wie man Schach spielt.
Und niemand weiŸ, daŸ ich es war!
Den Trædler Aaron Wassertrum, den l¤Ÿt wohl manchmal eine furchtbare
Ahnung nicht schlafen, daŸ einer, den er nicht kennt, der immer in seiner
N¤he ist und den er doch nicht fassen kann, - ein anderer als Dr. Savioli -
die Hand im Spiele gehabt haben mìsse.
Wiewohl Wassertrum einer von jenen ist, deren Augen durch Mauern zu
schauen vermægen, so faŸt er es doch nicht, daŸ es Gehirne gibt, die
auszurechnen imstande sind, wie man mit langen, unsichtbaren, vergifteten
Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an Gold und Edelsteinen
vorbei, um die verborgene Lebensader zu treffen."
Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wild.
"Aaron Wassertrum wird es bald erfahren; genau an dem Tage, an dem er
Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage!
Auch diese Schachpartie habe ich ausgerechnet bis zum letzten Zug. -
Diesmal wird es ein Kænigsl¤ufergambit sein. Da gibt es keinen einzigen Zug
bis zum bittern Ende, gegen den ich nicht eine verderbliche Entgegnung
wìŸte.
Wer sich mit mir in ein solches Kænigsl¤ufergambit einl¤Ÿt, der h¤ngt
in der Luft, sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an feinen F¤den, -
an F¤den, die ich zupfe, - hæren Sie wohl, die ich zupfe, und mit dessen
freiem Willen ist's dahin."
Der Student redete wie im Fieber, und ich sah ihm entsetzt ins Gesicht.
"Was haben Ihnen Wassertrum und sein Sohn denn getan, daŸ Sie so voll
HaŸ sind?"
Charousek wehrte heftig ab:
"Lassen wir das - fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals gebrochen
hat! - Oder wìnschen Sie, daŸ wir ein andres Mal darìber sprechen? - Der
Regen hat nachgelassen. Vielleicht wollen Sie nach Hause gehen?"
Er senkte seine Stimme, wie jemand, der plætzlich ganz ruhig wird. Ich
schìttelte den Kopf.
"Haben Sie jemals gehært, wie man heutzutage den grìnen Star heilt? -
Nicht? - So muŸ ich Ihnen das deutlich machen, damit Sie alles genau
verstehen, Meister Pernath!
Hæren Sie zu: Der ›grìne Star‹ also ist eine bæsartige Erkrankung des
Augeninnern, die mit Erblinden endet, und es gibt nur ein Mittel, dem
Fortschreiten des œbels Einhalt zu tun, n¤mlich die sogenannte Iridektomie,
die darin besteht, daŸ man aus der Regenbogenhaut des Auges ein keilfærmiges
Stìckchen herauszwickt.
Die unvermeidlichen Folgen davon sind wohl greuliche
Blendungserscheinungen, die fìrs ganze Leben bleiben; der ProzeŸ des
Erblindens jedoch ist meistens aufgehalten.
Mit der Diagnose des grìnen Stars hat es aber eine eigene Bewandtnis.
Es gibt n¤mlich Zeiten, besonders bei Beginn der Krankheit, wo die
deutlichsten Symptome scheinbar ganz zurìcktreten, und in solchen F¤llen
darf ein Arzt, obwohl er keine Spur einer Krankheit finden kann, dennoch
niemals mit Bestimmtheit sagen, daŸ sein Vorg¤nger, der andrer Meinung
gewesen, sich notwendigerweise geirrt haben mìsse.
Hat aber einmal die erw¤hnte Iridektomie, die sich natìrlich genauso an
einem gesunden Auge wie an einem kranken ausfìhren l¤Ÿt, stattgefunden, so
kann man unmæglich mehr feststellen, ob frìher wirklich grìner Star
vorgelegen hat oder nicht.
Und auf diese und noch andere Umst¤nde hatte Dr. Wassory einen
scheuŸlichen Plan aufgebaut.
Unz¤hlige Male - besonders an Frauen - konstatierte er grìnen Star, wo
harmlose Sehstærungen vorlagen, nur um zu einer Operation zu kommen, die ihm
keine Mìhe machte und viel Geld eintrug.
Da endlich hatte er vollkommen Wehrlose in der Hand; da gehærte zum
Ausplìndern auch keine Spur von Mut mehr!
Sehen Sie, Meister Pernath, da war das degenerierte Raubtier in jene
Lebensbedingungen versetzt, wo es auch ohne Waffe und Kraft seine Opfer
zerfleischen konnte.
Ohne etwas aufs Spiel zu setzen! - Begreifen Sie?! Ohne das geringste
wagen zu mìssen!
Durch eine Menge fauler Veræffentlichungen in Fachbl¤ttern hatte sich
Dr. Wassory in den Ruf eines hervorragenden Spezialisten zu setzen
verstanden und sogar seinen Kollegen, die viel zu arglos und anst¤ndig
waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu streuen gewuŸt.
Ein Strom von Patienten, die alle bei ihm Hilfe suchten, war die
natìrliche Folge.
Kam nun jemand mit geringfìgigen Sehstærungen zu ihm und lieŸ sich
untersuchen, so ging Dr. Wassory sofort mit tìckischer Planm¤Ÿigkeit zu
Werke.
Zuerst stellte er das ìbliche Krankenverhær an, notierte aber geschickt
immer nur, um fìr alle F¤lle gedeckt zu sein, jene Antworten, die eine
Deutung auf grìnen Star zulieŸen.
Und vorsichtig sondierte er, ob nicht schon eine frìhere Diagnose
vorl¤ge.
Gespr¤chsweise lieŸ er einflieŸen, daŸ ein dringender Ruf aus dem
Auslande behufs wichtiger wissenschaftlicher MaŸnahmen an ihn ergangen sei
und er daher schon morgen verreisen mìsse. -
Bei der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die er sodann
vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich so viel Schmerzen wie mæglich.
Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht!
Wenn das Verhær vorìber und die ìbliche bange Frage des Patienten, ob
Grund zur Befìrchtung vorhanden sei, erfolgt war, da tat Wassory seinen
ersten Schachzug.
Er setzte sich dem Kranken gegenìber, lieŸ eine Minute verstreichen und
sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz:
"Erblindung beider Augen ist bereits in der allern¤chsten Zeit wohl
unvermeidlich!"
Die Szene, die naturgem¤Ÿ folgte, war entsetzlich.
Oft fielen die Leute in Ohnmacht, weinten und schrien und warfen sich
in wilder Verzweiflung zu Boden.
Das Augenlicht verlieren, heiŸt alles verlieren.
Und wenn der wiederum ìbliche Moment eintrat, wo das arme Opfer die
Knie Dr. Wassorys umklammerte und flehte, ob es denn auf Gottes Erde gar
keine Hilfe mehr g¤be, da tat die Bestie den zweiten Schachzug und
verwandelte sich selbst in jenen - Gott, der helfen konnte!
Alles, alles in der Welt ist wie ein Schachzug, Meister Pernath! -
Schleunigste Operation, sagte Dr. Wassory dann nachdenklich, sei das
einzige, was vielleicht Rettung bringen kænne, und mit einer wilden,
gierigen Eitelkeit, die plætzlich ìber ihn kam, erging er sich mit einem
Redeschwall in weitschweifigem Ausmalen dieses und jenes Falles, die alle
mit dem vorliegenden eine ungemein groŸe „hnlichkeit gehabt h¤tten, - wie
unz¤hlige Kranke ihm allein die Erhaltung des Augenlichts verdankten und
dergleichen mehr.
Er schwelgte færmlich in dem Gefìhl, fìr eine Art hæheren Wesens
gehalten zu werden, in dessen H¤nde das Wohl und Wehe seines Mitmenschen
gelegt ist.
Das hilflose Opfer aber saŸ, das Herz voll brennender Fragen, gebrochen
vor ihm, AngstschweiŸ auf der Stirne, und wagte ihm nicht einmal in die Rede
zu fallen, aus Furcht: ihn - den einzigen, der noch Hilfe bringen konnte -
zu erzìrnen.
Und mit den Worten, daŸ er zur Operation leider erst in einigen Monaten
schreiten kænne, wenn er von seiner Reise wieder zurìck sei, schloŸ Dr.
Wassory seine Rede.
Hoffentlich - man solle in solchen F¤llen immer das Beste hoffen - sei
es dann nicht zu sp¤t, sagte er.
Natìrlich sprangen dann die Kranken entsetzt auf, erkl¤rten, daŸ sie
unter gar keinen Umst¤nden auch nur einen Tag l¤nger warten wollten, und
baten flehentlich um Rat, wer von den andern Augen¤rzten in der Stadt sonst
wohl als Operateur in Betracht kommen kænnte.
Da war der Augenblick gekommen, wo Dr. Wassory den entscheidenden
Schlag fìhrte.
Er ging in tiefem Nachdenken auf und ab, legte seine Stirn in Falten
des Grams und lispelte schlieŸlich bekìmmert, ein Eingriff seitens eines
andern Arztes bedinge leider eine abermalige Bespiegelung des Auges mit
elektrischem Licht, und das mìsse - der Patient wisse ja selbst, wie
schmerzhaft es sei - wegen der blendenden Strahlen geradezu verh¤ngnisvoll
wirken.
Ein andrer Arzt also, ganz abgesehen davon, daŸ so manchem von ihnen
gerade in der Iridektomie die nætige œbung fehle - dìrfe, eben weil er
wiederum von neuem untersuchen mìsse, gar nicht vor Ablauf l¤ngerer Zeit,
bis sich die Sehnerven wieder erholt h¤tten, zu einem chirurgischen Eingriff
schreiten."
Charousek ballte die F¤uste.
"Das nennen wir in der Schachsprache ›Zugzwang‹, lieber Meister
Pernath! - - Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, - ein erzwungener Zug
nach dem andern.
Halb wahnsinnig vor Verzweiflung beschwor nun der Patient den Dr.
Wassory, er mæge doch Erbarmen haben, einen Tag nur seine Abreise
verschieben und die Operation selber vornehmen. - Es handle sich doch um
mehr als um schnellen Tod, die grauenhafte, folternde Angst, jeden
Augenblick erblinden zu mìssen, sei ja das Schrecklichste, was es geben
kænne.
Und je mehr das Scheusal sich str¤ubte und jammerte: ein Aufschub
seiner Reise kænne ihm unabsehbaren Schaden bringen, desto hæhere Summen
boten freiwillig die Kranken.
Schien schlieŸlich die Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er nach und
fìgte bereits am selben Tage, ehe noch ein Zufall seinen Plan aufdecken
konnte, den Bedauernswerten an beiden gesunden Augen jenen unheilbaren
Schaden zu, jenes immerw¤hrende Gefìhl des Geblendetseins, das das Leben zu
stetiger Qual gestalten muŸte, die Spuren des Schurkenstreiches aber ein fìr
allemal verwischte.
Durch solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr. Wassory nicht
nur seinen Ruhm und seinen Ruf als unvergleichlicher Arzt, dem es noch
jedesmal gelungen sei, die drohende Erblindung aufzuhalten, - es befriedigte
gleichzeitig seine maŸlose Geldgier und frænte seiner Eitelkeit, wenn die
ahnungslosen, an Kærper und Vermægen gesch¤digten Opfer zu ihm wie zu einem
Helfer aufsahen und ihn als Retter priesen.
Nur ein Mensch, der mit allen Fasern im Getto und seinen zahllosen,
unscheinbaren, jedoch unìberwindlichen Hilfsquellen wurzelte und von
Kindheit an gelernt hat, auf der Lauer zu liegen wie eine Spinne, der jeden
Menschen in der Stadt kannte und bis ins kleinste seine Beziehungen und
Vermægensverh¤ltnisse erriet und durchschaute, - nur ein solcher -
"Halbhellseher" mæchte man es beinahe nennen, - konnte jahrelang derartige
ScheuŸlichkeiten verìben.
Und w¤re ich nicht gewesen, bis heute triebe er sein Handwerk noch,
wìrde es bis ins hohe Alter weiterbetrieben haben, um schlieŸlich als
ehrwìrdiger Patriarch im Kreise seiner Lieben, angetan mit hohen Ehren,
kìnftigen Geschlechtern ein leuchtendes Vorbild, seinen Lebensabend zu
genieŸen, bis - bis endlich auch ìber ihn das groŸe Verrecken hinweggezogen
w¤re.
Ich aber wuchs ebenfalls im Getto auf, und auch mein Blut ist mit jener
Atmosph¤re hællischer List ges¤ttigt, und so vermochte ich ihn zu Fall zu
bringen, - so wie die Unsichtbaren einen Menschen zu Fall bringen, - wie aus
heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft.
Dr. Savioli, ein junger deutscher Arzt, hat das Verdienst der
Entlarvung, - ihn schob ich vor und h¤ufte Beweis auf Beweis, bis der Tag
anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory ausstreckte.
Da beging die Bestie Selbstmord! - Gesegnet sei die Stunde!
Als h¤tte mein Doppelg¤nger neben ihm gestanden und ihm die Hand
gefìhrt, nahm er sich das Leben mit jener Phiole Amylnitrit, die ich
absichtlich in seinem Ordinationszimmer bei der Gelegenheit hatte
stehenlassen, als ich selbst ihn einmal verleitet, auch an mir die falsche
Diagnose des grìnen Stars zu stellen, - absichtlich und mit dem glìhenden
Wunsche, daŸ es dieses Amylnitrit sein mæchte, das ihm den letzten StoŸ
geben sollte.
Der Gehirnschlag h¤tte ihn getroffen, hieŸ es in der Stadt.
Amylnitrit tætet, eingeatmet, wie Gehirnschlag. Aber lange konnte das
Gerìcht nicht aufrechterhalten werden."
Charousek starrte plætzlich geistesabwesend, als habe er sich in ein
tiefes Problem verloren, vor sich hin, dann zuckte er mit der Achsel nach
der Richtung, wo Aaron Wassertrums Trædlerladen lag.
"Jetzt ist er allein," murmelte er, "ganz allein mit seiner Gier und -
und - und mit der Wachspuppe!"
Mir schlug das Herz bis zum Hals.
Ich sah Charousek voll Entsetzen an.
War er wahnsinnig? Es muŸten Fieberphantasien sein, die ihn diese Dinge
erfinden lieŸen.
GewiŸ, gewiŸ! Er hat alles erfunden, getr¤umt!
Es kann nicht wahr sein, was er da ìber den Augenarzt Grauenhaftes
erz¤hlt hat. Er ist schwindsìchtig, und die Fieber des Todes kreisen in
seinem Hirn.
Und ich wollte ihn mit ein paar scherzenden Worten beruhigen, seine
Gedanken in eine freundliche Richtung lenken.
Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine Erinnerung
das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe, wie es damals in mein
Zimmer mit runden Fischaugen durch die aufgerissene Tìr hereingeschaut
hatte.
Dr. Savioli! Dr. Savioli! - ja, ja, so war auch der Name des jungen
Mannes gewesen, den mir der Marionettenspieler Zwakh flìsternd anvertraut
als den des vornehmen Zimmerherrn, der von ihm das Atelier gemietet hatte.
Dr. Savioli! - Wie ein Schrei tauchte es in meinem Innern auf. Eine
Reihe nebelhafter Bilder zuckte durch meinen Geist, jagte sich mit
schreckhaften Vermutungen, die auf mich einstìrmten.
Ich wollte Charousek fragen, ihm voll Angst rasch alles erz¤hlen, was
ich damals erlebt, da sah ich, daŸ ein heftiger Hustenanfall sich seiner
bem¤chtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch unterscheiden, wie
er sich mìhsam mit den H¤nden an der Mauer stìtzend in den Regen
hinaustappte und mir einen flìchtigen GruŸ zunickte.
Ja, ja, er hat recht, er sprach nicht im Fieber, - fìhlte ich, - das
unfaŸbare Gespenst des Verbrechens ist es, das durch diese Gassen schleicht
Tag und Nacht und sich zu verkærpern sucht.
Es liegt in der Luft, und wir sehen es nicht. Plætzlich schl¤gt es sich
nieder in einer Menschenseele, - wir ahnen es nicht, - da, dort, und ehe wir
es fassen kænnen, ist es gestaltlos geworden und alles l¤ngst vorìber.
Und nur noch dunkle Worte ìber irgendein entsetzliches Geschehnis
kommen an uns heran.
Mit einem Schlage begriff ich diese r¤tselhaften Geschæpfe, die rings
um mich wohnten, in ihrem innersten Wesen: sie treiben willenlos durchs
Dasein von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt - - so, wie vorhin
das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vorìberschwamm.
Mir war, als starrten die H¤user alle mit tìckischen Gesichtern voll
namenloser Bosheit auf mich herìber, - die Tore: aufgerissene schwarze
M¤uler, aus denen die Zungen ausgefault waren, - Rachen, die jeden
Augenblick einen gellenden Schrei ausstoŸen konnten, so gellend und
haŸerfìllt, daŸ es uns bis ins Innerste erschrecken mìŸte.
Was hatte zum SchluŸ noch der Student ìber den Trædler gesagt? - Ich
flìsterte mir seine Worte vor: - Aaron Wassertrum sei jetzt allein mit
seiner Gier und - - seiner Wachspuppe.
Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben?
Es muŸ ein Gleichnis gewesen sein, beschwichtigte ich mich, - eines
jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen zu ìberfallen pflegt, die
man nicht versteht, und die einen, wenn sie sp¤ter unerwartet sichtbar
werden, so tieferschrecken kænnen wie die Dinge von ungewohnter Form, auf
die plætzlich ein greller Lichtstreif f¤llt.
Ich holte tief Atem, um mich zu beruhigen und den furchtbaren Eindruck,
den mir Charouseks Erz¤hlung verursacht hatte, abzuschìtteln.
Ich sah die Leute genauer an, die mit mir in dem Hausflur warteten:
Neben mir stand jetzt der dicke Alte. Derselbe, der vorhin so widerlich
gelacht hatte.
Er hatte einen schwarzen Gehrock an und Handschuhe und starrte mit
vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses gegenìber.
Sein glattrasiertes Gesicht mit den breiten, gemeinen Zìgen zuckte vor
Erregung.
Unwillkìrlich folgte ich seinen Blicken und bemerkte, daŸ sie wie
gebannt an der rothaarigen Rosina hingen, die drìben jenseits der Gasse
stand, ihr immerw¤hrendes L¤cheln um die Lippen.
Der Alte war bemìht, ihr Zeichen zu geben, und ich sah, daŸ sie es wohl
wuŸte, aber sich benahm, als verstìnde sie nicht.
Endlich hielt es der Alte nicht l¤nger aus, watete auf den FuŸspitzen
hinìber und hìpfte mit l¤cherlicher Elastizit¤t wie ein groŸer schwarzer
Gummiball ìber die Pfìtzen.
Man schien ihn zu kennen, denn ich hærte allerhand Glossen fallen, die
darauf hinzielten. Ein Strolch hinter mir, ein rotes, gestricktes Tuch um
den Hals, mit blauer Milit¤rmìtze, die Virginia hinter dem Ohr, machte mit
grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht verstand.
Ich begriff nur, daŸ sie den Alten in der Judenstadt den "Freimaurer"
nannten und in ihrer Sprache mit diesem Spitznamen jemand bezeichnen
wollten, der sich an halbwìchsigen M¤dchen zu vergehen pflegt, aber durch
intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe sicher ist. - - -
Dann waren das Gesicht Rosinas und der Alte drìben im Dunkel des
Hausflures verschwunden.
Wir hatten das Fenster geæffnet, um den Tabakrauch aus meinem kleinen
Zimmer stræmen zu lassen.
Der kalte Nachtwind blies herein und wehte an die zottigen M¤ntel, die
an der Tìre hingen, daŸ sie leise hin und her schwankten.
"Prokops wìrdige Haupteszierde mæchte am liebsten davonfliegen", sagte
Zwakh und deutete auf des Musikers groŸen Schlapphut, der die breite Krempe
bewegte wie schwarze Flìgel.
Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern.
"Er will," sagte er, "er will wahrscheinlich - - -"
"Er will zum ›Loisitschek‹ zur Tanzmusik", nahm ihm Vrieslander das
Wort vorweg.
Prokop lachte und schlug mit der Hand den Takt zu den Kl¤ngen, die die
dìnne Winterluft her ìber die D¤cher trug.
Dann nahm er meine alte, zerbrochene Gitarre von der Wand, tat, als
zupfe er die zerbrochenen Saiten und sang mit kreischendem Falsett und
gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied:
"An Bein-del von Ei-sen
recht alt
"An Stran-zen net gar
a so kalt
"Messinung, a' R¤ucherl
und Rohn
"und immerrr nurr putz-en - - -
"Wie groŸartig er mit einem Mal die Gaunersprache beherrscht!" und
Vrieslander lachte laut auf und brummte mit:
"Und stok-en sich Aufzug
und Pfiff
"Und schmallern an eisernes
G'sìff.
"Juch, -
"Und Handschuhkren, Harom net san - -
"Dieses kuriose Lied schnarrt jeden Abend beim ›Loisitschek‹ der
meschuggene Nephtali Schaffranek mit dem grìnen Augenschirm, und ein
geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und grælt den Text dazu", erkl¤rte
mir Zwakh. "Sie sollten auch einmal mit uns in diese Schenke gehen, Meister
Pernath. Sp¤ter vielleicht, wenn wir mit dem Punsch zu Ende sind, - was
meinen Sie? Zur Feier Ihres heutigen Geburtstages?"
"Ja, ja, kommen Sie nachher mit uns", sagte Prokop und klinkte das
Fenster zu, - "man muŸ so etwas gesehen haben."
Dann tranken wir den heiŸen Punsch und hingen unsern Gedanken nach.
Vrieslander schnitzte an einer Marionette.
"Sie haben uns færmlich von der AuŸenwelt abgeschnitten, Josua,"
unterbrach Zwakh die Stille, "seit Sie das Fenster geschlossen haben, hat
niemand mehr ein Wort gesprochen."
"Ich dachte nur darìber nach, als vorhin die M¤ntel so flogen, wie
seltsam es ist, wenn der Wind leblose Dinge bewegt," antwortete Prokop
schnell, wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen: "Es sieht gar
so wunderlich aus, wenn Gegenst¤nde plætzlich zu flattern anheben, die sonst
immer tot daliegen. Nicht? - Ich sah einmal auf einem menschenleeren Platz
zu, wie groŸe Papierfetzen, - ohne daŸ ich vom Winde etwas spìrte, denn ich
stand durch ein Haus gedeckt, - in toller Wut im Kreise herumjagten und
einander verfolgten, als h¤tten sie sich den Tod geschworen. Einen
Augenblick sp¤ter schienen sie sich beruhigt zu haben, aber plætzlich kam
wieder eine wahnwitzige Erbitterung ìber sie, und in sinnlosem Grimm rasten
sie umher, dr¤ngten sich in einen Winkel zusammen, um von neuem besessen
auseinander zu stieben und schlieŸlich hinter einer Ecke zu verschwinden.
Nur eine dicke Zeitung konnte nicht mitkommen; sie blieb auf dem
Pflaster liegen und klappte haŸerfìllt auf und zu, als sei ihr der Atem
ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.
Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was, wenn am Ende wir
Lebewesen auch so etwas „hnliches w¤ren wie solche Papierfetzen? - Ob nicht
vielleicht ein unsichtbarer, unbegreiflicher "Wind" auch uns hin und her
treibt und unsre Handlungen bestimmt, w¤hrend wir in unserer Einfalt glauben
unter eigenem, freiem Willen zu stehen?
Wie, wenn das Leben in uns nichts anderes w¤re als ein r¤tselhafter
Wirbelwind? Jener Wind, von dem die Bibel sagt: WeiŸt du, von wannen er
kommt und wohin er geht? - - - Tr¤umen wir nicht auch zuweilen, wir griffen
in tiefes Wasser und fingen silberne Fische, und nichts anderes ist
geschehen, als daŸ ein kalter Luftzug unsere H¤nde traf?"
"Prokop, Sie sprechen in Worten wie Pernath, was ist's mit Ihnen?"
sagte Zwakh und sah den Musiker miŸtrauisch an.
"Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erz¤hlt wurde, - schade, daŸ
Sie so sp¤t kamen und sie nicht mit anhærten, - hat ihn so nachdenklich
gestimmt", meinte Vrieslander.
"Eine Geschichte von einem Buche?"
"Eigentlich von einem Menschen, der ein Buch brachte und seltsam
aussah. - Pernath weiŸ nicht, wie er heiŸt, wo er wohnt, was er wollte, und
obwohl sein Aussehen sehr auffallend gewesen sein soll, lasse es sich doch
nicht recht schildern."
Zwakh horchte auf.
*"Das ist sehr merkwìrdig," sagte er nach einer Pause, "war der Fremde
vielleicht bartlos, und hatte er schr¤gstehende Augen?"
"Ich glaube," antwortete ich, "das heiŸt, ich - ich - weiŸ es ganz
bestimmt. Kennen Sie ihn denn?"
Der Marionettenspieler schìttelte den Kopf. "Er erinnerte mich nur an
den ›Golem‹."
Der Maler Vrieslander lieŸ sein Schnitzmesser sinken:
"Golem? - Ich habe schon so viel davon reden hæren. Wissen Sie etwas
ìber den Golem, Zwakh?"
"Wer kann sagen, daŸ er ìber den Golem etwas wisse?", antwortete Zwakh
und zuckte die Achseln. "Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines
Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plætzlich wieder
aufleben l¤Ÿt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und die
Gerìchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so ìbertrieben und aufgebauscht,
daŸ sie schlieŸlich an der eigenen Unglaubwìrdigkeit zugrunde gehen. Der
Ursprung der Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurìck, sagt
man. Nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner da
einen kìnstlichen Menschen - den sogenannten Golem - verfertigt haben, damit
er ihm als Diener helfe die Glocken in der Synagoge l¤uten, und allerhand
grobe Arbeit tue.
Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur ein
dumpfes, halbbewuŸtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heiŸt, auch das nur
tagsìber und kraft des Einflusses eines magischen Zettels, der ihm hinter
den Z¤hnen stak und die freien siderischen Kr¤fte des Weltalls herabzog.
Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem
Munde des Golem zu nehmen vers¤umt, da w¤re dieser in Tobsucht verfallen, in
der Dunkelheit durch die Gassen gerast und h¤tte zerschlagen, was ihm in den
Weg gekommen.
Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
Und da sei das Geschæpf leblos niedergestìrzt. Nichts blieb von ihm
ìbrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drìben in der
Altneusynagoge gezeigt wird."
"Derselbe Rabbiner soll einmal auch zum Kaiser auf die Burg berufen
worden sein und die Schemen der Toten beschworen und sichtbar gemacht
haben," warf Prokop ein, "moderne Forscher behaupten, er habe sich dazu
einer Laterna magica bedient."
"Jawohl, keine Erkl¤rung ist abgeschmackt genug, daŸ sie bei den
Heutigen nicht Beifall f¤nde," fuhr Zwakh unbeirrt fort. - "Eine Laterna
magica!! Als ob Kaiser Rudolf, der sein ganzes Leben solchen Dingen
nachging, einen so plumpen Schwindel nicht auf den ersten Blick h¤tte
durchschauen mìssen!
Ich kann freilich nicht wissen, worauf sich die Golemsage zurìckfìhren
l¤Ÿt, daŸ aber irgend etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel
sein Wesen treibt und damit zusammenh¤ngt, dessen bin ich sicher. Von
Geschlecht zu Geschlecht haben meine Vorfahren hier gewohnt, und niemand
kann wohl auf mehr erlebte und ererbte Erinnerungen an das periodische
Auftauchen des Golem zurìckblicken als gerade ich!"
Zwakh hatte plætzlich aufgehært zu reden, und man fìhlte mit ihm, wie
seine Gedanken in vergangene Zeiten zurìckwanderten.
Wie er, den Kopf aufgestìtzt, dort am Tische saŸ und beim Scheine der
Lampe seine roten, jugendlichen B¤ckchen fremdartig von dem weiŸen Haar
abstachen, verglich ich unwillkìrlich im Geiste seine Zìge mit den
maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er mir so oft gezeigt.
Seltsam, wie ¤hnlich ihnen der alte Mann doch sah!
Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!
Manche Dinge der Erde kænnen nicht loskommen voneinander, fìhlte ich,
und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorìberziehen lieŸ, da schien
es mir mit einemmal gespenstisch und ungeheuerlich, daŸ ein Mensch wie er,
obschon er eine bessere Erziehung als seine Vorfahren genossen hatte und
Schauspieler h¤tte werden sollen, plætzlich wieder zu dem sch¤bigen
Marionettenkasten zurìckkehren konnte, um nun abermals auf die Jahrm¤rkte zu
ziehen und dieselben Puppen, die schon seiner Vorv¤ter kìmmerliches
Erwerbsmittel gewesen, von neuem ihre ungelenken Verbeugungen machen und
schl¤frigen Erlebnisse vorfìhren zu lassen.
Er vermag es nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich; sie leben
mit von seinem Leben, und als er fern von ihnen war, da haben sie sich in
Gedanken verwandelt, haben in seinem Hirn gewohnt und ihn rast- und ruhelos
gemacht, bis er wieder heimkehrte. Darum h¤lt er sie jetzt so liebevoll und
kleidet sie stolz in Flitter.
"Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererz¤hlen?" forderte Prokop den Alten
auf und sah fragend nach Vrieslander und mir hin, ob auch wir gleichen
Wunsches seien.
"Ich weiŸ nicht, wo ich anfangen soll," meinte der Alte zægernd, "die
Geschichte mit dem Golem l¤Ÿt sich schwer fassen. So wie Pernath vorhin
sagte: er wisse genau, wie jener Unbekannte ausgesehen habe, und doch kænne
er ihn nicht schildern. Ungef¤hr alle dreiunddreiŸig Jahre wiederholt sich
ein Ereignis in unsern Gassen, das gar nichts besonders Aufregendes an sich
tr¤gt und dennoch ein Entsetzen verbreitet, fìr das weder eine Erkl¤rung
noch eine Rechtfertigung ausreicht:
Immer wieder begibt es sich n¤mlich, daŸ ein vollkommen fremder Mensch,
bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus, aus der Richtung
der Altschulgasse her, in altmodische, verschossene Kleider gehìllt,
gleichm¤Ÿigen und eigentìmlich stolpernden Ganges, so, als wolle er jeden
Augenblick vornìber fallen, durch die Judenstadt schreitet und plætzlich -
unsichtbar wird.
Gewæhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.
Ein andermal heiŸt es, er habe auf seinem Wege einen Kreis beschrieben
und sei zu dem Punkte zurìckgekehrt, von dem er ausgegangen: einem uralten
Hause in der N¤he der Synagoge.
Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie h¤tten ihn um eine Ecke auf
sich zukommen sehen. Wiewohl er ihnen aber ganz deutlich
entgegengeschritten, sei er dennoch, genau wie jemand, dessen Gestalt sich
in weiter Ferne verliert, immer kleiner und kleiner geworden und -
schlieŸlich ganz verschwunden.
Vor Sechsundsechzig Jahren nun muŸ der Eindruck, den er hervorgebracht,
besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich - ich war noch ein ganz
kleiner Junge -, daŸ man das Geb¤ude in der Altschulgasse damals von oben
bis unten durchsuchte.
Es wurde auch festgestellt, daŸ wirklich in diesem Hause ein Zimmer mit
Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.
Aus allen Fenstern hatte man W¤sche geh¤ngt, um von der Gasse aus einen
Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der Tatsache auf die Spur
gekommen.
Da es anders nicht zu erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an einem
Strick vom Dache herabgelassen, um hineinzusehen. Kaum aber war er in die
N¤he des Fensters gelangt, da riŸ das Seil, und der Unglìckliche
zerschmetterte sich auf dem Pflaster den Sch¤del. Und als sp¤ter der Versuch
nochmals wiederholt werden sollte, gingen die Ansichten ìber die Lage des
Fensters derart auseinander, daŸ man davon abstand.
Ich selber begegnete dem ›Golem‹ das erste Mal in meinem Leben vor
ungef¤hr dreiunddreiŸig Jahren.
Er kam in einem sogenannten Durchhause auf mich zu, und wir rannten
fast aneinander.
Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorgegangen sein
muŸ. Man tr¤gt doch um Gottes willen nicht immerw¤hrend, tagaus tagein die
Erwartung mit sich herum, man werde dem Golem begegnen.
In jenem Augenblick aber, bestimmt - ganz bestimmt, noch ehe ich seiner
ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: der Golem! Und im
selben Moment stolperte jemand aus dem Dunkel des Torflures hervor, und
jener Unbekannte ging an mir vorìber. Eine Sekunde sp¤ter drang eine Flut
bleicher, aufgeregter Gesichter mir entgegen, die mich mit Fragen
bestìrmten, ob ich ihn gesehen h¤tte.
Und als ich antwortete, da fìhlte ich, daŸ sich meine Zunge wie aus
einem Krampfe læste, von dem ich vorher nichts gespìrt hatte.
Ich war færmlich ìberrascht, daŸ ich mich bewegen konnte, und deutlich
kam mir zum BewuŸtsein, daŸ ich mich, wenn auch nur den Bruchteil eines
Herzschlags lang - in einer Art Starrkrampf befunden haben muŸte.
œber all das habe ich oft und lange nachgedacht, und mich dìnkt, ich
komme der Wahrheit am n¤chsten, wenn ich sage: Immer einmal in der Zeit
eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie durch die
Judenstadt, bef¤llt die Seelen der Lebenden zu irgendeinem Zweck, der uns
verhìllt bleibt, und l¤Ÿt wie eine Luftspiegelung die Umrisse eines
charakteristischen Wesens erstehen, das vielleicht vorjahrhunderten hier
gelebt hat und nach Form und Gestaltung dìrstet.
Vielleicht ist es mitten unter uns, Stunde fìr Stunde, und wir nehmen
es nicht wahr. Hæren wir doch auch den Ton einer schwirrenden Stimmgabel
nicht, bevor sie das Holz berìhrt und es mitschwingen macht.
Vielleicht ist es nur so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne
innewohnendes BewuŸtsein, - ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein Kristall
nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen herausw¤chst.
Wer weiŸ das?
Wie in schwìlen Tagen die elektrische Spannung sich bis zur
Unertr¤glichkeit steigert und endlich den Blitz gebiert, kænnte es da nicht
sein, daŸ auch auf die stetige Anh¤ufung jener niemals wechselnden Gedanken,
die hier im Getto die Luft vergiften, eine plætzliche, ruckweise Entladung
folgen muŸ? - eine seelische Explosion, die unser TraumbewuŸtsein ans
Tageslicht peitscht, um - dort den Blitz der Natur - hier ein Gespenst zu
schaffen, das in Mienen, Gang und Gehaben, in allem und jedem das Symbol der
Massenseele unfehlbar offenbaren mìŸte, wenn man die geheime Sprache der
Formen nur richtig zu deuten verstìnde?
Und wie mancherlei Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes ankìnden,
so verraten auch hier gewisse grauenhafte Vorzeichen das drohende
Hereinbrechen jenes Phantoms ins Reich der Tat. Der abbl¤tternde Bewurf
einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die einem schreitenden Menschen
gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich Zìge starrer Gesichter. Der
Sand vom Dache scheint anders zu fallen als sonst und dr¤ngt dem
argwæhnischen Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die
sich lichtscheu verborgen h¤lt, werfe ihn herab und ìbe sich in heimlichen
Versuchen, allerlei seltsame Umrisse hervorzubringen. - Ruht das Auge auf
eintænigem Geflecht oder den Unebenheiten der Haut, bem¤chtigt sich unser
die unerfreuliche Gabe, ìberall mahnende, bedeutsame Formen zu sehen, die in
unsern Tr¤umen ins RiesengroŸe auswachsen. Und immer zieht sich durch solche
schemenhaften Versuche der angesammelten Gedankenherden, die W¤lle der
Allt¤glichkeit zu durchnagen, fìr uns wie ein roter Faden die qualvolle
GewiŸheit, daŸ unser eigenstes Inneres mit Vorbedacht und gegen unsern
Willen ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms plastisch werden
kænne.
Wie ich nun vorhin Pernath best¤tigen hærte, daŸ ihm ein Mensch
begegnet sei, bartlos, mit schiefgestellten Augen, da stand der "Golem" vor
mir, wie ich ihn damals gesehen.
Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir.
Und eine gewisse dumpfe Furcht, es stehe wieder etwas Unerkl¤rliches
nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang; dieselbe Angst, die ich schon
einmal in meinen Kinderjahren verspìrt, als die ersten spukhaften „uŸerungen
des Golem ihre Schatten vorauswarfen.
Sechsundsechzig Jahre ist das wohl jetzt her und knìpft sich an einen
Abend, an dem der Br¤utigam meiner Schwester zu Besuch gekommen war, und in
der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt werden sollte.
Es wurde damals Blei gegossen - zum Scherz - und ich stand mit offenem
Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten habe, - in meiner wirren,
kindlichen Vorstellung brachte ich es in Zusammenhang mit dem Golem, von dem
ich meinen GroŸvater oft hatte erz¤hlen hæren, und bildete mir ein, jeden
Augenblick mìsse die Tìr aufgehen und der Unbekannte eintreten.
Meine Schwester leerte dann den Læffel mit dem flìssigen Metall in das
Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah, lustig an.
Mit welken, zitternden H¤nden holte mein GroŸvater den blitzenden
Bleiklumpen heraus und hielt ihn ans Licht. Gleich darauf entstand eine
allgemeine Erregung. Man redete laut durcheinander; ich wollte mich
hinzudr¤ngen, aber man wehrte mich ab.
Sp¤ter, als ich ¤lter geworden, erz¤hlte mir mein Vater, es w¤re damals
das geschmolzene Metall zu einem kleinen, ganz deutlichen Kopf erstarrt
gewesen, - glatt und rund, wie nach einer Form gegossen, und von
unheimlicher „hnlichkeit mit den Zìgen des "Golem", daŸ sich alle entsetzt
h¤tten.
Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah Hillel, der die Requisiten
der Altneusynagoge in Verwahrung hat und auch die gewisse Lehmfigur aus
Kaiser Rudolfs Zeiten, darìber. Er hat sich mit Kabbala befaŸt und meint,
jener Erdklumpen mit den menschlichen GliedmaŸen sei vielleicht nichts
anderes als ein ehemaliges Vorzeichen, ganz so wie in meinem Fall der
bleierne Kopf. Und der Unbekannte, der da umgehe, mìsse das Phantasie- oder
Gedankenbild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner zuerst lebendig
gedacht habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte, und das nun in
regelm¤Ÿigen Zeitabschnitten, bei den gleichen astrologischen
Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden - wiederkehre, vom Triebe
nach stofflichem Leben gequ¤lt.
Auch Hillels verstorbene Frau hatte den "Golem" von Angesicht zu
Angesicht erblickt und ebenso wie ich gefìhlt, daŸ man sich im Starrkrampf
befindet, solange das r¤tselhafte Wesen in der N¤he weilt.
Sie sagte, sie sei felsenfest ìberzeugt gewesen, daŸ es damals nur ihre
eigene Seele habe sein kænnen, die - aus dem Kærper getreten - ihr einen
Augenblick gegenìbergestanden und mit den Zìgen eines fremden Geschæpfes ins
Gesicht gestarrt h¤tte.
Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bem¤chtigt, habe
sie doch keine Sekunde die GewiŸheit verlassen, daŸ jener andere nur ein
Stìck ihres eignen Innern sein konnte." -
"Es ist unglaublich", murmelte Prokop in Gedanken verloren.
Auch der Maler Vrieslander schien ganz in Grìbeln versunken.
Da klopfte es an die Tìre und das alte Weib, das mir des Abends Wasser
bringt und was ich sonst noch nætig habe, trat ein, stellte den tænernen
Krug auf den Boden und ging stillschweigend wieder hinaus.
Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer umher, aber
noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.
Als sei ein neuer EinfluŸ mit der Alten zur Tìr hereingeschlìpft, an
den man sich erst gewæhnen muŸte.
"Ja! Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man nicht
loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder auftauchen sieht",
sagte plætzlich Zwakh ganz unvermittelt. "Dieses erstarrte, grinsende
L¤cheln kenne ich nun schon ein ganzes Menschenleben. Erst die GroŸmutter,
dann die Mutter! - Und stets das gleiche Gesicht, kein Zug anders! Derselbe
Name Rosina; - es ist immer eine die Auferstehung der andern."
"Ist Rosina nicht die Tochter des Trædlers Aaron Wassertrum?" fragte
ich.
"Man spricht so", meinte Zwakh, - - "Aaron Wassertrum aber hat manchen
Sohn und manche Tochter, von denen man nicht weiŸ. Auch bei Rosinas Mutter
wuŸte man nicht, wer ihr Vater gewesen, - auch nicht, was aus ihr geworden
ist. - Mit fìnfzehn Jahren hatte sie ein Kind geboren und war seitdem nicht
mehr aufgetaucht. Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen, soweit ich
mich entsinnen kann, der ihretwegen in diesem Hause begangen wurde.
Wie jetzt ihre Tochter, spukte damals sie den halbwìchsigen Jungen im
Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, - ich sehe ihn æfter, - doch sein Name ist
mir entfallen. Die andern sind bald gestorben, und ich meine, sie hat sie
alle frìhzeitig under die Erde gebracht. Ich erinnere mich aus jener Zeit
ìberhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie verblichene Bilder durch mein
Ged¤chtnis treiben. So hat es damals einen halbblædsinnigen Menschen
gegeben, der nachts von Schenke zu Schenke zog und den G¤sten gegen ein paar
Kreuzer Silhouetten aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken
machte, geriet er in eine uns¤gliche Traurigkeit, und unter Tr¤nen und
Schluchzen schnitzelte er, ohne aufzuhæren, immer das gleiche scharfe
M¤dchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war.
Aus Zusammenh¤ngen zu schlieŸen, die ich l¤ngst vergessen, hatte er -
fast ein Kind noch - eine gewisse Rosina, wohl die GroŸmutter der heutigen,
so heftig geliebt, daŸ er den Verstand darìber verlor.
Wenn ich die Jahre zurìckz¤hle, kann es keine andere als die GroŸmutter
der jetzigen Rosina gewesen sein." - - -
Zwakh schwieg und lehnte sich zurìck.
Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt immer
wieder zum selben Punkt zurìck, fuhr es mir durch den Sinn, und ein
h¤Ÿliches Bild, das ich einmal mit angesehen - eine Katze mit verletzter
Gehirnh¤lfte im Kreise herumtaumelnd - trat vor mein Auge.
"Jetzt kommt der Kopf", hærte ich plætzlich den Maler Vrieslander mit
heller Stimme sagen.
Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann an ihm zu
schnitzen.
Eine schwere Mìdigkeit legte sich mir ìber die Augen, und ich rìckte
meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
Das Wasser fìr den Punsch brodelte im Kessel, und Josua Prokop fìllte
wiederum die Gl¤ser. Leise, ganz leise klangen die Kl¤nge der Tanzmusik
durch das geschlossene Fenster; - manchmal verstummten sie vollends, dann
wiederum wachten sie ein wenig auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder
zu uns von der Gasse emportrug.
Ob ich denn nicht anstoŸen wolle, fragte mich nach einer Weile der
Musiker.
Ich aber gab keine Antwort, - so vollkommen war mir der Wille, mich zu
bewegen, abhanden gekommen, daŸ ich gar nicht auf den Gedanken, den Mund zu
æffnen, verfiel.
Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die sich
meiner bem¤chtigt hatte. Und ich muŸte hinìber auf Vrieslanders funkelndes
Messer blinzeln, das ruhelos aus dem Holz kleine Sp¤ne biŸ, - um die
GewiŸheit zu erlangen, daŸ ich wach sei.
In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erz¤hlte wieder allerlei
wunderliche Geschichten ìber Marionetten und krause M¤rchen, die er fìr
seine Puppenspiele erdacht.
Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen Dame, der
Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli zu
Besuch komme.
Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums hæhnische,
triumphierende Miene. -
Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, was sich damals ereignet hatte,
ìberlegte ich, - dann hielt ich es nicht der Mìhe fìr wert und fìr
belanglos. Auch wuŸte ich, daŸ mein Wille versagen wìrde, wollte ich jetzt
den Versuch machen zu sprechen.
Plætzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir herìber, und Prokop
sagte ganz laut: "Er ist eingeschlafen", - so laut, daŸ es fast klang, als
ob es eine Frage sein sollte.
Sie redeten mit ged¤mpfter Stimme weiter, und ich erkannte, daŸ sie von
mir sprachen.
Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht auf,
das von der Lampe niederfloŸ, und der spiegelnde Schein brannte mir in den
Augen.
Es fiel ein Wort wie: "irr sein", und ich horchte auf die Rede, die in
der Runde ging.
"Gebiete, wie das vom ›Golem‹ sollte man vor Pernath nie berìhren,"
sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, "als er vorhin von dem Buche Ibbur
erz¤hlte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich mæchte wetten,
er hat alles nur getr¤umt."
Zwakh nickte: "Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem
Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche Tìcher Decke
und W¤nde bespannen und der dìrre Zunder der Vergangenheit fuŸhoch den Boden
bedeckt; ein flìchtiges Berìhren nur und schon schl¤gt das Feuer aus allen
Ecken."
"War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst
vierzig sein", sagte Vrieslander.
"Ich weiŸ es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen
mag und was frìher sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein
altfranzæsischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem Spitzbart.
Vor vielen vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter Arzt gebeten, ich
mæchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in
diesen Gassen, wo sich niemand um ihn kìmmern und mit Fragen nach frìheren
Zeiten beunruhigen wìrde, aussuchen." - Wieder sah Zwakh bewegt zu mir
herìber. - "Seit jener Zeit lebt er hier, bessert Antiquit¤ten aus und
schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand gegrìndet. Es
ist ein Glìck fìr ihn, daŸ er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenh¤ngt,
vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen,
die die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen kænnten, - wie oft hat
mir das der alte Arzt ans Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer,
wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler Mìhe
eingemauert, mæchte ich's nennen, - so wie man eine Unglìcksst¤tte
einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knìpft." - - -
Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein
Schl¤chter auf ein wehrloses Tier und preŸte mir mit rohen, grausamen H¤nden
das Herz zusammen.
Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, - ein Ahnen, als w¤re
mir etwas genommen worden und als h¤tte ich in meinem Leben eine lange
Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und
nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergrìnden.
Jetzt lag des R¤tsels Læsung offen vor mir und brannte mich
unertr¤glich wie eine bloŸgelegte Wunde.
Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse
nachzuh¤ngen, - dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende
Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir unzug¤nglicher Gem¤cher
gesperrt, - das be¤ngstigende Versagen meines Ged¤chtnisses in Dingen, die
meine Jugendzeit betrafen, - alles das fand mit einem Male seine furchtbare
Erkl¤rung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte
das - "Zimmer" verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gem¤chern meines
Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden
Lebens gemacht.
Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern,
vergessenen Dasein verborgen, begriff ich, - nie wìrde ich sie erkennen
kænnen: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer fremden
Wurzel sproŸt. Gel¤nge es mir auch, den Eingang in jenes verschlossene
"Zimmer" zu erzwingen, mìŸte ich nicht abermals den Gespenstern, die man
darein gebannt, in die H¤nde fallen?!
Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde erz¤hlte, zog
mir durch den Sinn, und plætzlich erkannte ich einen riesengroŸen,
geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in
dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
Ja! auch in meinem Falle "wìrde der Strick reiŸen", wollte ich
versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas
unbeschreiblich Erschreckendes fìr mich an.
Ich fìhlte: es sind da Dinge - unfaŸbare - zusammengeschmiedet und
laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg fìhrt,
nebeneinander her.
Auch im Getto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden
kann, - ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die
Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen! - - -
Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz knirschte
unter der Klinge des Messers.
Es tat mir fast weh, wie ich es hærte, und ich sah hin, ob es denn
nicht bald zu Ende sei.
Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war es, als
habe er BewuŸtsein und sp¤he von Winkel zu Winkel. Dann ruhten seine Augen
lange auf mir, befriedigt, daŸ sie mich endlich gefunden.
Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte
unverwandt auf das hælzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zægernd etwas zu suchen, dann
ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plætzlich gewannen die Zìge des
Holzklotzes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch
gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine
Sekunde gedauert, und ich spìrte, daŸ mein Herz zu schlagen aufhærte und
¤ngstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir - wie damals - des Gesichtes bewuŸt.
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders SchoŸ und sp¤hte
umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte
meinen Sch¤del.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hærte seine
Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt
das Schnitzwerk entreiŸen, doch der wehrte sich und rief lachend:
"Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar miŸlungen." Und er wand sich
los, æffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
Da schwand mein BewuŸtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis,
die von schimmernden Goldf¤den durchzogen war, und als ich, wie es mir
schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hærte ich das Holz
klappernd auf das Pflaster fallen. - - -
"Sie haben so fest geschlafen, daŸ Sie nicht merkten, wie wir Sie
schìttelten," - sagte Josua Prokop zu mir, "der Punsch ist aus, und Sie
haben alles vers¤umt."
Der heiŸe Schmerz ìber das, was ich vorhin mitangehært, ìbermannte mich
wieder, und ich wollte aufschreien, daŸ ich nicht getr¤umt habe, als ich
ihnen von dem Buche Ibbur erz¤hlte - und es aus der Kassette nehmen und
ihnen zeigen kænne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung
allgemeinen Aufbruches, die meine G¤ste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
Zwakh h¤ngte mir mit Gewalt den Mantel und und rief:
"Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre
Lebensgeister erfrischen."
Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterfìhren lassen.
Ich spìrte den Geruch des Nebels, der von der StraŸe ins Haus drang,
deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige
Schritte vorausgegangen, und man hærte, wie sie drauŸen vor dem Torweg
mitsammen sprachen.
"Er muŸ rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum
Teufelholen."
Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bìckte
und die Marionette suchte.
"Freut mich, daŸ du den dummen Kopf nicht finden kannst", brummte
Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht leuchtete
grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen - wie er das Feuer eines
Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte
sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
"Still doch! Hært ihr denn nichts?"
Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte
horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten
in den Schacht hinab.
Nichts.
"Was war's denn?" flìsterte endlich der alte Marionettenspieler; doch
sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
Einen Augenblick - kaum einen Herzschlag lang - hatte es mir
geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte - fast
unhærbar. Wie ich eine Sekunde sp¤ter darìber nachdachte, war alles vorbei;
nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und læste sich
langsam in ein unbestimmtes Gefìhl des Grauens auf.
Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
"Gehen wir; was stehen wir da herum!" mahnte Vrieslander.
Wir schritten die H¤userreihe entlang.
Prokop folgte nur widerwillig.
"Meinen Hals mæcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in
Todesangst."
Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fìhlte, daŸ etwas wie leise
d¤mmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
Bald darauf standen wir vor einem rotverh¤ngten Schenkenfenster.
"Heinte groŸes Konzehr"
stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen
Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, æffnete sich die
Eingangstìr nach innen, und ein vierschrætiger Kerl mit gewichstem schwarzem
Haar, ohne Kragen - eine grìnseidene Krawatte um den bloŸen Hals geschlungen
und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinsz¤hnen geschmìckt - empfing
uns mit Bìcklingen.
"J¤, j¤, das sin mir G¤st¤h. - - - Pane Schaffranek, rasch einen
Tusch!" setzte er, ìber die Schulter in das von Menschen ìberfìllte Lokal
gewendet, hastig seinem WillkommensgruŸ hinzu.
Ein klimperndes Ger¤usch, wie wenn eine Ratte ìber Klaviersaiten liefe,
war die Antwort.
"J¤, j¤, das sin mir G¤st¤h, das sin mir G¤st¤h. Da schaut man",
murmelte der Vierschrætige immerw¤hrend eifrig vor sich hin, w¤hrend er uns
aus den M¤nteln half.
"Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir
versammelt", beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als
im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch Gel¤nder und eine
zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar
vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
Schwaden beiŸenden Tabakrauches lagerten ìber den Tischen, hinter denen
die langen Holzb¤nke an den W¤nden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten
waren: Dirnen von den Schanzen, ungek¤mmt, schmutzig, barfuŸ, die festen
Brìste kaum verhìllt von miŸfarbigen Umh¤ngetìchern, Zuh¤lter daneben mit
blauen Milit¤rmìtzen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehh¤ndler mit haarigen
F¤usten und schwerf¤lligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme
Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und
blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
"Ich stell' ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schæn
ungestært sein", kr¤chzte die feiste Stimme des Vierschrætigen, und eine
Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor
den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
Schnarrende Kl¤nge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer
verlæschen.
Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
Totenstille, als hielte alles den Atem an.
Mit erschreckender Deutlichkeit hærte man plætzlich wie die eisernen
Gasst¤be fauchend die flachen herzfærmigen Flammen aus ihren Mìndern in die
Luft bliesen - - dann fiel die Musik ìber das Ger¤usch her und verschlang
es.
Als w¤ren sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
Mit langem, wallendem, weiŸen Prophetenbart, ein schwarzseidenes
K¤ppchen - wie es die alten jìdischen Familienv¤ter tragen - auf dem
Kahlkopf, die blinden Augen milchbl¤ulich und gl¤sern - starr zur Decke
gerichtet - saŸ dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit
dìrren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in
speckgl¤nzendem, schwarzen Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals
und Armen - ein Sinnbild erheuchelter Bìrgermoral - ein schwammiges
Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem SchoŸ.
Ein wildes Gestolper von Kl¤ngen dr¤ngte sich aus den Instrumenten,
dann sank die Melodie ermattet zur bloŸen Begleitung herab.
Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riŸ den Mund weit
auf, daŸ man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust
herauf rang sich ihm, von seltsamen hebr¤ischen Ræchellauten begleitet, ein
wilder BaŸ:
"Roo - n - te, blau - we Stern - -"
"Rititit" (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die
keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)
"Roonte blaue Steern
Hærndlach ess i' ach geern";
"Rititit"
"Rotboart, Grienboart
allerlaj Stern" - -
"Rititit, rititit."
Die Paare traten zum Tanze an.
"Es ist das Lied vom ›chomezigen Borchu‹", erkl¤rte uns l¤chelnd der
Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlæffel, der sonderbarerweise
mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. "Vor wohl hundert Jahren
oder mehr noch hatten zwei B¤ckergesellen, Rotbart und Grìnbart, am Abend
des ›Schabbes Hagodel‹ das Brot - Sterne und Hærnchen - vergiftet, um ein
ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber der ›Meschores‹ -
der Gemeindediener - war infolge gættlicher Erleuchtung noch rechtzeitig
draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei ìberliefern.
Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals
die ›Landonim‹ und ›Bocherlech‹ jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als
Bordellquadrille hæren."
"Rititit - Rititit"
"Roote blaue Steern - - - -" immer hohler und fanatischer erscholl das
Gebell des Greises.
Plætzlich wurde die Melodie konfuser und ging allm¤hlich in den
Rhythmus des bæhmischen "Schlapak" - eines schleifenden Schiebetanzes -
ìber, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preŸten.
"So recht. Bravo. „h da! fang, hep, hep!" rief von der Estrade ein
schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten
zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberstìck in der Richtung. Es
erreichte sein Ziel nicht: ich sah noch, wie es ìber das Tanzgewìhl
hinblitzte; da war es plætzlich verschwunden. Ein Strolch - sein Gesicht kam
mir so bekannt vor; ich glaube, es muŸ derselbe gewesen sein, der neulich
bei dem RegenguŸ neben Charousek gestanden - hatte seine Hand hinter dem
Busentuch seiner T¤nzerin, wo er sie bisher hartn¤ckig ruhen gehabt,
hervorgezogen - ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne
auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die Mìnze war geschnappt.
Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in
der N¤he grinsten leise.
"Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹, nach der Geschicklichkeit zu
schlieŸen", sagte Zwakh lachend.
"Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehært",
fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem
Marionettenspieler zu, daŸ ich es nicht sehen sollte. - Ich verstand gar
wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich fìr krank.
Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erz¤hlen. Irgend etwas.
Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiŸ vom Herzen
in die Augen. Wenn er wìŸte, wie weh mir sein Mitleid tat!
Ich ìberhærte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine
Worte einleitete, - ich weiŸ nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir
wurde immer k¤lter und starrer, wie vorhin, als ich als hælzernes Gesicht
auf Vrieslanders SchoŸ gelegen hatte. Dann war ich plætzlich mitten drin in
der Erz¤hlung, die mich fremdartig umfing, - einhìllte, wie ein lebloses
Stìck aus einem Lesebuch.
Zwakh begann:
"Die Erz¤hlung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.
- - - No, was soll ich Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen
und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als Jìngling kannte er nichts als
Studium. Trockenes, entnervendes Studium. Von dem, was er sich durch
Stundengeben mìhsam erwarb, muŸte er noch seine kranke Mutter erhalten. Wie
grìne Wiesen aussehen und Hecken und Hìgel voll Blumen und W¤lder, erfuhr
er, glaube ich, nur aus Bìchern. Und wie wenig von Sonnenschein in Prags
schwarze Gassen f¤llt, wissen Sie ja selbst.
Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht; das war eigentlich
selbstverst¤ndlich.
Nun, und mit der Zeit wurde er ein berìhmter Rechtsgelehrter. So
berìhmt, daŸ alle Leute - Richter und alte Advokaten - zu ihm fragen kamen,
wenn sie irgend etwas nicht wuŸten. Dabei lebte er ¤rmlich wie ein Bettler
in einer Dachkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.
So vergingen Jahre um Jahre und Dr. Hulberts Ruf als Leuchte seiner
Wissenschaft wurde allm¤hlich Sprichwort im ganzen Lande. DaŸ ein Mann wie
er weichen Herzensempfindungen zug¤nglich sein konnte, zumal sein Haar schon
anfing weiŸ zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem
als von Jurisprudenz sprechen gehort zu haben, hatte wohl keiner geglaubt.
Doch gerade in solchen verschlossenen Herzen glìht die Sehnsucht am
heiŸesten.
An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als
Hæchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: - als n¤mlich Seine
Majest¤t der Kaiser von Wien aus ihn zum Rector magnificus an unserer
Universit¤t ernannte, da ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem
jungen, bildschænen Fr¤ulein aus zwar armer, aber adliger Familie verlobt.
Und wirklich schien von da an das Gluck bei Dr. Hulbert eingezogen zu
sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er doch seine junge
Gattin auf H¤nden, und jeden Wunsch zu erfìllen, den er ihr nur irgend von
den Augen abzulesen vermochte, war seine hæchste Freude.
In seinem Gluck vergaŸ er jedoch keineswegs, wie es wohl so mancher
andere getan hatte, seine leidenden Mitmenschen. "Mir hat Gott meine
Sehnsucht gestillt," soll er einmal gesagt haben, - "er hat mir ein
Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein Glanz vor mir
hergegangen ist seit Kindheit an: er hat mir das lieblichste Wesen zu eigen
gegeben, das die Erde tragt. Und so will ich, daŸ ein Schimmer von diesem
Gluck, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fallt." - - -
Und so kam es, daŸ er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm
wie seines eigenen Sohnes. Vermutlich in der Erw¤gung, wie wohl ihm selbst
ein solch gutes Werk getan hatte, w¤re es ihm am eigenen Leib und Leben in
den Tagen seiner kummervollen Jugendzeit passiert. Wie aber nun auf Erden
manche Tat, die dem Menschen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht
gleich der einer fluchwìrdigen, weil wir wohl doch nicht richtig
unterscheiden kænnen zwischen dem, was giftigen Samen in sich tragt und was
heilsamen, so begab es sich auch hier, daŸ aus Dr. Hulberts mitleidsvollem
Werk das bitterste Leid fìr ihn selbst sproŸ.
Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem
Studenten, und ein erbarmungsloses Schicksal wollte, daŸ sie der Rektor
gerade in dem Augenblicke, als er unerwartet nach Hause kam, um sie zum
Zeichen seiner Liebe mit einem StrauŸ Rosen als Geburtstagspr¤sent zu
ìberraschen, in den Armen dessen antraf, auf den er Wohltat ìber Wohltat
geh¤uft hatte.
Man sagt, daŸ die blaue Muttergottesblume fìr immer ihre Farbe
verlieren kann, wenn der fahle, schweflige Schein eines Blitzes, der ein
Hagelwetter verkìndet, plætzlich auf sie f¤llt; gewiŸ ist, daŸ die Seele des
alten Mannes fìr immer erblindete an dem Tage, wo sein Gluck in Scherben
ging. Am selben Abend noch saŸ er, er, der bis dahin nicht gewuŸt, was
Unm¤Ÿigkeit ist, hier beim "Loisitschek" - fast bewuŸtlos vom Fusel - bis
zum Morgengrauen. Und der "Loisitschek" wurde seine Heimst¤tte fìr den Rest
seines zerstærten Lebens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines
Neubaus, im Winter hier auf den hælzernen B¤nken.
Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte belieŸ man ihm
stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berìhmten
Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daŸ man „rgernis n¤hme an seinem Wandel.
Allm¤hlich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel in der
Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur Grìndung jener seltsamen
Gemeinschaft, die man noch heutigentags "das Bataillon" nennt.
Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk fìr alle
die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War irgendein
entlassener Str¤fling daran zu verhungern, schickte ihn Dr. Hulbert
splitternackt hinaus auf den Altstadter Ring - und das Amt auf der
sogenannten "Fischbanka" sah sich genætigt, einen Anzug beizustellen. Sollte
eine unterstandslose Dirne aus der Stadt gewiesen werden, so heiratete sie
schnell einen Strolch, der bezirkszust¤ndig war, und wurde dadurch ans¤ssig.
Hundert solcher Auswege wuŸte Dr. Hulbert, und seinem Rate gegenìber
stand die Polizei machtlos da. - Was diese AusgestoŸenen der menschlichen
Gesellschaft "verdienten", ìbergaben sie getreulich auf Heller und Kreuzer
der gemeinsamen Kassa, aus der der nætige Lebensunterhalt bestritten wurde.
Niemals lieŸ sich auch nur einer die geringste Unehrlichkeit zuschulden
kommen. Mag sein, daŸ angesichts dieser eisernen Disziplin der Name "das
Bataillon" entstand.
Pìnktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Unglìcks j¤hrte, das
den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim "Loisitschek" eine
seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedr¤ngt standen sie hier: Bettler,
Vagabunden, Zuh¤lter und Dirnen, Trunkenbolde und Lumpensammler, und eine
lautlose Stille herrschte wie beim Gottesdienst. - Und dann erz¤hlte ihnen
Dr. Hulbert dort von der Ecke aus, wo jetzt die beiden Musikanten sitzen,
gerade unter dem Krænungsbilde Seiner Majest¤t des Kaisers, seine
Lebensgeschichte: - wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben und
sp¤ter Rektor magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er mit
dem Busch Rosen in der Hand ins Zimmer seiner jungen Frau trat, - zur Feier
ihres Geburtstages und zugleich zum Ged¤chtnis jener Stunde, da er dereinst
um sie anhalten gekommen und sie seine liebe Braut geworden war, - da
versagte ihm jedesmal die Stimme, und weinend sank er am Tisch zusammen.
Dann geschah es wohl zuweilen, daŸ irgendein liederliches Frauenzimmer ihm
versch¤mt und heimlich, damit es keiner sehen sollte, eine halbwelke Blume
in die Hand legte.
Von den Zuhærern rìhrte sich dann noch lange Zeit keiner. Zum Weinen
sind diese Menschen zu hart, aber an ihren Kleidern blickten sie herunter
und drehten unsicher die Finger.
Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten an der
Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein.
Sein Leichenbeg¤ngnis sehe ich noch heute vor mir. Das "Bataillon"
hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie mæglich zu gestalten.
Voran ging der Pedell der Universit¤t in vollem Ornat: in den H¤nden
das purpurne Kissenpolster mit der gìldenen Kette darauf und hinter dem
Leichenwagen in unabsehbarer Reihe - - das "Bataillon" barfuŸ,
schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. Einer von ihnen hatte sein Letztes
verkauft und ging daher: Leib, Beine und Arme mit Lagen aus altem
Zeitungspapier umwickelt und umbunden.
So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
Auf seinem Grabe, drauŸen im Friedhof, steht ein weiŸer Stein, darein
sind drei Figuren gemeiŸelt: Der Heiland gekreuzigt zwischen zwei R¤ubern.
Von unbekannter Hand gestiftet. Man munkelt, Dr. Hulberts Frau habe das
Denkmal errichtet. - - -
Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vorgesehen,
danach bekommt jeder vom "Bataillon" mittags "beim Loisitschek" umsonst eine
Suppe; zu diesem Zwecke h¤ngen hier am Tisch die Læffel an den Ketten, und
die ausgehæhlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller. Um 12 Uhr kommt
die Kellnerin und spritzt mit einer groŸen, blechernen Spritze die Brìhe
hinein und, wenn sich einer nicht ausweisen kann als "vom Bataillon", so
zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zurìck.
Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz die Runde durch
die ganze Welt."
Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner Lethargie.
Die letzten S¤tze, die Zwakh gesprochen, wehten ìber mein BewuŸtsein hinweg.
Ich sah noch, wie er seine H¤nde bewegte, um das Vor- und Zurìckschieben
eines Spritzenkolbens klarzumachen, dann jagten die Bilder, die sich rings
um uns abrollten, so rasch und automatenhaft und dennoch mit so
gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vorìber, daŸ ich in Momenten ganz
mich selbst vergaŸ und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen Uhrwerk.
Das Zimmer war ein einziges Menschengewìhl geworden. Oben auf der
Estrade: dutzende Herren in schwarzen Fr¤cken. WeiŸe Manschetten, blitzende
Ringe. Eine Dragoneruniform mit Rittmeisterschnìren. Im Hintergrund ein
Damenhut mit lachsfarbigen StrauŸenfedern.
Durch die St¤be des Gel¤nders stierte das verzerrte Gesicht Loisas
hinauf. Ich sah: er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war da
und schaute unverwandt hinauf, mit dem Rìcken dicht, ganz dicht, an der
Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
Die Gestalten hielten plætzlich im Tanzen inne: der Wirt muŸte ihnen
etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch,
aber leise; sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte; man fìhlte es
deutlich. Und doch lag der Ausdruck h¤mischer wilder Freude in dem Gesicht
des Wirtes.
- - - - In der Eingangstìr steht mit einem Mal der Polizeikommiss¤r in
Uniform. Er hatte die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. Hinter
ihm ein Kriminalschutzmann.
"Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes? Ich sperre die Spelunke.
Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!"
Es klingt wie Kommandos.
Der Vierschrætige gibt keine Antwort, aber das h¤mische Grinsen bleibt
in seinen Zìgen.
BloŸ starrer ist es geworden.
Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch.
Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
Die Gesichter sind plætzlich alle im Profil zu sehen: sie glotzen
erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.
Und da kommt eine vornehme schwarze Gestalt gelassen die paar Stufen
herab und geht langsam auf den Kommiss¤r zu.
Die Augen des Kriminalschutzmannes h¤ngen gebannt an den
heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.
Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben
und l¤Ÿt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den FìŸen und wieder
zurìck schweifen.
Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich ìber das
Gel¤nder gebeugt und verbeiŸen das Lachen hinter ihren grauseidenen
Taschentìchern.
Der Dragonerrittmeister klemmt ein Goldstìck ins Auge und spuckt einem
M¤dchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.
Der Polizeikommiss¤r hat sich verf¤rbt und starrt in der Verlegenheit
immerw¤hrend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.
Er kann den gleichgìltigen, glanzlosen Blick dieses glattrasierten,
unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.
Er bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
Die Totenstille im Lokal wird immer qu¤lender.
"So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten H¤nden auf den
Steins¤rgen liegen in den gotischen Kirchen", flìstert der Maler Vrieslander
mit einem Blick auf den Kavalier.
Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: "„h - Hm." - - - er
kopiert die Stimme des Wirtes: "J¤, j¤, das sin mir G¤st¤h - da schaut man."
Ein schallendes Gejohle explodiert im Lokal, daŸ die Gl¤ser klirren; die
Strolche halten sich den Bauch vor Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand
und zerschellt. Der vierschrætige Wirt meckert uns erl¤uternd und
ehrfurchtsvoll zu: "Seine Durchlaucht Exzellenz Fìrst Ferri Athenst¤dt."
Der Fìrst hat dem Beamten eine Visitkarte hingehalten. Der „rmste nimmt
sie, salutiert wiederholt und schl¤gt die Hacken zusammen.
Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter
geschehen wird.
Der Kavalier spricht wieder:
"Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, - ¤h - sind meine
lieben G¤ste." Seine Durchlaucht deutet mit einer nachl¤ssigen Armbewegung
auf das Gesindel, "wìnschen Sie, Herr Kommiss¤r, - ¤h - vielleicht
vorgestellt zu werden?"
Der Kommiss¤r verneint mit erzwungenem L¤cheln, stottert verlegen etwas
von "leidiger Pflichterfìllung" und rafft sich schlieŸlich zu den Worten
auf: "Ich sehe ja, daŸ es hier anst¤ndig zugeht."
Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hintergrund
auf den Damenhut mit der StrauŸenfeder zu und zerrt im n¤chsten Augenblick
unter dem Jubel der jungen Adligen - Rosina am Arm herunter in den Saal.
Sie schwankt vor Trunkenheit und h¤lt die Augen geschlossen. Der groŸe,
kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa Strìmpfe
und - einen Herrenfrack auf dem bloŸen Kærper.
Ein Zeichen: Die Musik fallt ein wie rasend - - - "Rititit - Rititit" -
- - und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als
er Rosina gesehen, an der Wand drìben ausgestoŸen hat. - -
Wir wollen gehen.
Zwakh ruft nach der Kellnerin.
Der allgemeine L¤rm verschlingt seine Worte.
Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
Der Rittmeister h¤lt die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich
langsam mit ihr im Takt.
Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
Dann murmelt es von den B¤nken: "Der Loisitschek, der Loisitschek", die
H¤lse werden lang und zu dem tanzenden Paar gesellt sich ein zweites noch
seltsameres. Ein weibisch aussehender Bursche in rosa Trikots, mit langem
blondem Haar bis zu den Schultern, Lippen und Wangen geschminkt wie eine
Dirne und die Augen niedergeschlagen in koketter Verwirrung, - h¤ngt
schmachtend an der Brust des Fìrsten Athenst¤dt.
Ein sìŸlicher Walzer quillt aus der Harfe.
Wilder Ekel vor dem Leben schnìrt mir die Kehle zusammen.
Mein Blick sucht voll Angst die Ture: der Kommiss¤r steht dort
abgewendet, um nichts zu sehen, und flìstert hastig mit dem
Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.
Die beiden sp¤hen hinìber auf den blatternarbigen Loisa, der einen
Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gel¤hmt - das Gesicht kalkweiŸ
und verzerrt vor Entsetzen - stehen bleibt.
Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: Das
Bild, wie "Prokop lauscht, wie ich es vor einer Stunde gesehen, - ìber das
Kanalgitter gebeugt - und ein Todesschrei gellt aus der Erde empor."
Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und
biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderz¤hne, daŸ es wie ein
Klumpen meinen Gaumen erfìllt und ich kein Wort hervorbringen kann.
Ich kann die Finger nicht sehen, weiŸ, daŸ sie unsichtbar sind, und
doch empfinde ich sie wie etwas Kærperliches.
Und klar steht es in meinem BewuŸtsein: sie gehæren zu der
gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der HahnpaŸgasse das Buch
"Ibbur" gegeben hat.
"Wasser, Wasser!" schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den Kopf und
leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.
"In seine Wohnung schaffen, Arzt holen - der Archivar Hillel kennt sich
aus in solchen Dingen - - zu ihm bringen!" beraten sie murmelnd.
Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre und Prokop und
Vrieslander tragen mich hinaus.
Zwakh war vor uns die Treppen hinaufgelaufen, und ich hærte, wie
Mirjam, die Tochter des Archivars Hillel, ihn ¤ngstlich ausfragte und er sie
zu beruhigen trachtete.
Ich gab mir keine Mìhe hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen, und
erriet mehr, als ich es in Worten verstand, daŸ Zwakh erz¤hlte, mir sei ein
Unfall zugestoŸen und sie k¤men bitten, mir die erste Hilfe zu leisten und
mich wieder zu BewuŸtsein zu bringen.
Noch immer konnte ich kein Glied rìhren, und die unsichtbaren Finger
hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher und das Gefìhl des
Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wuŸte genau, wo ich war und was mit
mir geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, daŸ man mich wie
einen Toten hinauftrug, samt der Bahre im Zimmer Schemajah Hillels
niedersetzte und - allein lieŸ.
Eine ruhige, natìrliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach
einer langen Wanderung genieŸt, erfìllte mich.
Es war finster in der Stube, und mit verschwimmenden Umrissen hoben
sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem mattleuchtenden Dunst ab,
der von der Gasse heraufschimmerte.
Alles kam mir selbstverst¤ndlich vor und ich wunderte mich weder
darìber, daŸ Hillel mit einem jìdischen siebenflammigen Sabbatleuchter
eintrat, noch, daŸ er mir gelassen "guten Abend" wìnschte wie jemandem,
dessen Kommen er erwartet hatte.
Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas
Besonderes bemerkt hatte, - trotzdem wir einander oft drei- bis viermal in
der Woche auf den Stiegen begegnet waren, - fiel mir plætzlich stark an ihm
auf, wie er so hin und her ging, einige Gegenst¤nde auf der Kommode
zurechtrìckte und schlieŸlich mit dem Leuchter einen zweiten, gleichfalls
siebenflammigen anzìndete.
N¤mlich: sein EbenmaŸ an Leib und Gliedern und der schmale, feine
Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.
Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen sah, nicht ¤lter sein
als ich: hæchstens 45 Jahre z¤hlen.
"Du bist um einige Minuten frìher gekommen", - begann er nach einer
Weile - "als anzunehmen war, sonst h¤tte ich die Lichter schon vorher
angezìndet." - Er deutete auf die beiden Leuchter, trat an die Bahre und
richtete seine dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf jemand, der
mir zu H¤upten stand oder kniete, den ich aber nicht zu sehen vermochte.
Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.
Sofort lieŸen die unsichtbaren Finger meine Zunge los und der
Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte hinter mich:
Niemand auŸer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.
Sein "Du" und die Bemerkung, daŸ er mich erwartet habe, hatten also mir
gegolten!?
Viel befremdender als diese beiden Umst¤nde an sich wirkte es auf mich,
daŸ ich nicht imstande war, auch nur die geringste Verwunderung darìber zu
empfinden.
Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er l¤chelte freundlich,
wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen Sessel
wies, und sagte:
"Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die
gespenstischen Dinge - die Kischuph - auf den Menschen; das Leben kratzt und
brennt wie ein h¤rener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt
sind mild und erw¤rmend."
Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm h¤tte erwidern sollen.
Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir gegenìber
und fuhr gelassen fort: "Auch ein silberner Spiegel, h¤tte er Empfindung,
litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und gl¤nzend geworden, gibt
er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung."
"Wohl dem Menschen", setzte er leise hinzu, "der von sich sagen kann:
Ich bin geschliffen." - Einen Augenblick versank er in Nachdenken, und ich
hærte ihn einen hebr¤ischen Satz murmeln: "Lischuos¨cho Kiwisi Adoschem."
Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:
"Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich wach
gemacht. Im Psalm David heiŸt es:
"Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist
es, welche diese Ver¤nderung gemacht hat."
Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerst¤tten, so w¤hnen sie, sie
h¤tten den Schlaf abgeschìttelt, und wissen nicht, daŸ sie ihren Sinnen zum
Opfer fallen und die Beute eines neuen viel tieferen Schlafes werden, als
der war, dem sie soeben entronnen sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und
das ist das, dem Du dich jetzt n¤herst. Sprich den Menschen davon und sie
werden sagen, Du seist krank, denn sie kænnen dich nicht verstehen. Darum
ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.
Sie fahren dahin wie ein Strom -
Und sind wie ein Schlaf,
Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird -
Das des Abends abgehauen wird und verdorret."
"Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht hat und mir
das Buch "Ibbur" gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?", wollte
ich fragen, doch Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte
fassen konnte:
"Nimm an, der Mann, der zu Dir kam und den Du den Golem nennst, bedeute
die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben. Jedes Ding auf
Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!
Wie denkst Du mit dem Auge? Jede Form, die Du siehst, denkst Du mit dem
Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst."
Ich fìhlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert gewesen,
sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in ein
uferloses Meer.
Ruhevoll fuhr Hillel fort:
"Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben; Schlaf und Tod
sind dasselbe."
"- - kann nicht mehr sterben?" - Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.
"Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und der Weg
des Todes. Du hast das Buch "Ibbur" genommen und darin gelesen. Deine Seele
ist schwanger geworden vom Geist des Lebens", hærte ich ihn reden.
"Hillel, Hillel, laŸ mich den Weg gehen, den alle Menschen gehen: den
des Sterbens!", schrie alles wild in mir auf.
Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.
"Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch den des
Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: "Ehe Gott die
Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie die
geistigen Leiden des Daseins und die Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen
die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich, und diese
strich Gott aus dem Buche der Lebenden." Du aber gehst einen Weg und hast
ihn aus freiem Willen beschritten, - wenn Du es jetzt auch selbst nicht mehr
weiŸt: Du bist berufen von dir selbst. Gr¤m' dich nicht: allm¤hlich, wenn
das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind
dasselbe."
Der freundliche, fast liebenswìrdige Ton, in den Hillels Rede
ausgeklungen war, gab mir meine Ruhe wieder, und ich fìhlte mich geborgen
wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiŸ.
Ich blickte auf und sah, daŸ mit einemmal viele Gestalten im Zimmer
waren und uns im Kreis umstanden: einige in weiŸen Sterbegew¤ndern, wie sie
die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an
den Schuhen - aber Hillel fuhr mir mit der Hand ìber die Augen, und die
Stube war wieder leer.
Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine brennende
Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten kænne in mein Zimmer.
Ich legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer kam
nicht, und ich geriet stattdessen in einen sonderbaren Zustand, der weder
Tr¤umen war, noch Wachen, noch Schlafen.
Das Licht hatte ich ausgelæscht, aber trotzdem war alles in der Stube
so deutlich, daŸ ich jede einzelne Form genau unterscheiden konnte. Dabei
fìhlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der gewissen qualvollen
Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in ¤hnlicher Verfassung befindet.
Nie vorher in meinem Leben w¤re ich imstande gewesen, so scharf und
pr¤zis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchstræmte
meine Nerven und ordnete meine Gedanken in Reih' und Glied wie eine Armee,
die nur auf meine Befehle wartete.
Ich brauchte bloŸ zu rufen, und sie traten vor mich und erfìllten, was
ich wìnschte.
Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein zu
schneiden versucht hatte, - ohne damit zurechtzukommen, da sich die vielen
zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den Gesichtszìgen decken
wollten, die ich mir vorgestellt, - fiel mir ein, und im Nu sah ich die
Læsung vor mir und wuŸte genau, wie ich den Stichel zu fìhren hatte, um der
Struktur der Masse gerecht zu werden.
Ehedem Sklave einer Horde phantastischer Eindrìcke und Traumgesichter,
von denen ich oft nicht gewuŸt: waren es Ideen oder Gefìhle, sah ich mich
jetzt plætzlich als Herr und Kænig im eigenen Reich.
Rechenexempel, die ich frìher nur mit „chzen und auf dem Papier h¤tte
bew¤ltigen kænnen, fìgten sich mir mit einem Mal im Kopf spielend zum
Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten F¤higkeit, das zu
sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: Ziffern, Formen,
Gegenst¤nde oder Farben. Und wenn es sich um Fragen handelte, die durch
derlei Werkzeuge nicht zu læsen waren: - philosophische Probleme und
¤hnliches -, so trat an Stelle des inneren Sehens das Gehær, wobei die
Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers ìbernahm.
Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloŸes Wort an meinem Ohr hatte
vorìbergehen lassen, stand wertgetr¤nkt bis in die tiefste Faser vor mir;
was ich "auswendig" gelernt, "erfaŸte" ich mit einem Schlag als mein
"Eigen"tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor
mir.
Die "hohen" Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzienr¤tlich
biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden bekleckst, mich von oben herab
behandelt hatten, - demìtig nahmen sie jetzt die Maske von der Fratze und
entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin Krìcken
fìr - einen noch frecheren Schwindel.
Tr¤umte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel
gesprochen?
Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte; und
selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich ìberzeugt hat,
daŸ der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, wìhlte
ich mich wieder in die Kissen.
Und wie ein Spìrhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen
R¤tsel, die mich rings umgaben.
Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurìckzugelangen, bis
zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus - glaubte ich - kænnte es
mir mæglich sein, jenen Teil meines Daseins zu ìberblicken, der fìr mich,
durch eine seltsame Fìgung des Schicksals in Finsternis gehìllt lag.
Aber wie sehr ich mich auch bemìhte, ich kam nicht weiter, als daŸ ich
mich wie einst in dem dìsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den
Torbogen den Trædlerladen des Aaron Wassertrum unterschied - als ob ich ein
Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt h¤tte, immer
gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiter zu schìrfen in
den Sch¤chten der Vergangenheit, da begriff ich plætzlich mit leuchtender
Klarheit, daŸ in meiner Erinnerung wohl die breite HeerstraŸe der
Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig
schmaler FuŸsteige, die wohl bisher den Hauptpfad st¤ndig begleitet hatten,
von mir jedoch nicht beachtet worden waren. "Woher", schrie es mir fast in
die Ohren, "hast du denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben
fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt - und Gravieren und all das
andere? Lesen, schreiben, sprechen - und essen - und gehen, atmen, denken
und fìhlen?"
Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein
Leben zurìck.
Ich zwang mich in verkehrter aber ununterbrochener Reihenfolge zu
ìberlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag
vor diesem und so weiter?
Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt - - jetzt! Jetzt!
Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem Vergessen
trennte, muŸte ìberflogen sein - da trat ein Bild vor mich, das ich auf der
Rìckwanderung meiner Gedanken ìbersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit
der Hand ìber die Augen - genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.
Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die Reihe
der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch
zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind's, die in die
verlorene Heimat zurìckfìhren: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift
in unserem Kærper eingraviert ist, und nicht die scheuŸliche Narbe, die die
Raspel des ¤uŸeren Lebens hinterlaŸt, - birgt die Læsung der letzten
Geheimnisse.
So, wie ich zurìckfinden kænnte in die Tage meiner jugend, wenn ich in
der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vorn¤hme von Z bis A, um dort
anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen, - so, begriff ich,
muŸte ich auch wandern kænnen in die andere ferne Heimat, die jenseits allen
Denkens liegt.
Eine Weltkugel an Arbeit w¤lzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules
trug eine Zeitlang das Gewælbe des Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein,
und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus der Sage entgegen. Und wie
Herkules wieder loskam durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: "LaŸ
mich nur einen Bausch von Stricken um den Kopf binden, damit mir die
entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt", so g¤be es vielleicht einen
dunklen Weg - d¤mmerte mir - von dieser Klippe weg.
Ein tiefer Argwohn, der Fìhrerschaft meiner Gedanken weiter blind zu
vertrauen, beschlich mich plætzlich. Ich legte mich gerade und verschloŸ mit
den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu werden durch die Sinne.
Um jeden Gedanken zu tæten.
Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur
einen Gedanken durch einen anderen vertreiben, und starb der eine, schon
m¤stete sich der n¤chste an seinem Fleische. Ich flìchtete in den brausenden
Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem FuŸ; ich verbarg
mich im H¤mmerwerk meines Herzens: nur eine kleine Weile, und sie hatten
mich entdeckt.
Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte:
"Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der Schlìssel zur Kunst des
Vergessens gehært unseren Brìdern, die den Pfad des Todes wandeln; du aber
bist geschw¤ngert vom Geiste des - Lebens."
Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin
auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, m¤chtig,
gleich einem Erdbeben, - der andere in unendlicher Ferne: der Hermaphrodit
auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.
Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand ìber meine
Augen, und ich schlummerte ein.
"Mein lieber und verehrter Meister Pernath!
Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und hæchster Angst.
Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben, - oder
besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. - Ich h¤tte keine Ruhe
sonst.
Sagen Sie keiner Menschenseele, daŸ ich Ihnen geschrieben habe. Auch
nicht, wohin Sie heute gehen werden!
Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir - "neulich" - (Sie werden durch
diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie waren, erraten,
wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fìrchte mich, meinen Namen
darunter zu setzen) - so viel Vertrauen eingeflæŸt, und weiter, daŸ Ihr
lieber, seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat, - alles das gibt mir
den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen Menschen, der noch helfen
kann, zu wenden.
Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die Domkirche
auf dem Hradschin."
Eine Ihnen bekannte Dame.
Wohl eine Viertelstunde lang saŸ ich da und hielt den Brief in der
Hand. Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern nacht her
umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen, - weggeweht von dem
frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages. Ein junges Schicksal kam
l¤chelnd und verheiŸungsvoll - ein Frìhlingskind - auf mich zu. Ein
Menschenherz suchte Hilfe bei mir. - Bei mir! Wie sah meine Stube plætzlich
so anders aus! Der wurmstichige, geschnitzte Schrank blickte so zufrieden
drein, und die vier Sessel kamen mir vor wie alte Leute, die um den Tisch
herumsitzen und behaglich kichernd Tarock spielen.
Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum
und Glanz.
So sollte der morsche Baum noch Frìchte tragen?
Ich fìhlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher
schlafen gelegen in mir - verborgen gewesen in den Tiefen meiner Seele,
verschìttet von dem Geræll, das der Alltag h¤uft, wie eine Quelle losbricht
aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.
Und ich wuŸte so gewiŸ, wie ich den Brief in der Hand hielt, daŸ ich
wìrde helfen kænnen, um was es auch ginge. Der Jubel in meinem Herzen gab
mir die Sicherheit.
Wieder und wieder las ich die Stelle: "und weiter, daŸ Ihr lieber
seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat - - -"; - mir stand der Atem
still. Klang das nicht wie VerheiŸung: "Heute noch wirst du mit mir im
Paradiese sein?" Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe suchend, hielt
mir das Geschenk entgegen: die Rìckerinnerung, nach der ich dìrstete, -
wìrde mir das Geheimnis offenbaren, den Vorhang heben helfen, der sich
hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!
"Ihr lieber seliger Vater" - -, wie fremdartig die Worte klangen, als
ich sie mir vorsagte! - Vater! - Einen Augenblick sah ich das mìde Gesicht
eines alten Mannes mit weiŸem Haar in dem Lehnstuhl neben meiner Truhe
auftauchen - fremd, ganz fremd und doch so schauerlich bekannt; - - dann
kamen meine Augen wieder zu sich, und die Hammerlaute meines Herzens
schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.
Erschreckt fuhr ich auf: hatte ich die Zeit vertr¤umt? Ich blickte auf
die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fìnf.
Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel und
schritt die Treppen hinab. Was kìmmerte mich heute das Geraune der dunklen
Winkel, die bæsartigen, engherzigen, verdrossenen Bedenken, die immer von
ihnen aufstiegen: "Wir lassen dich nicht, - du bist unser, - wir wollen
nicht, daŸ du dich freust - das w¤re noch schæner, Freude hier im Haus!"
Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen G¤ngen und
Ecken her um mich gelegt mit wìrgenden H¤nden: heute wich er vor dem
lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an Hillels
Tìr.
Sollte ich eintreten?
Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz anders
heute, - so, als dìrfe ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb mich die
Hand des Lebens vorw¤rts, die Stiegen hinab. - -
Die Gasse lag weiŸ im Schnee.
Ich glaube, daŸ viele Leute mich gegrìŸt haben; ich erinnere mich
nicht, ob ich ihnen gedankt. Immer wieder fìhlte ich an die Brust, ob ich
den Brief auch bei mir trìge:
Es ging eine W¤rme von der Stelle aus. - -
Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten Laubeng¤nge auf dem
Altst¤dter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes Gitter voll
Eiszapfen hing, hinìber ìber die steinerne Brìcke mit ihren Heiligenstatuen
und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.
Unten sch¤umte der FluŸ voll HaŸ gegen die Fundamente.
Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehæhlten Sandstein der heiligen
Luitgard mit "den Qualen der Verdammten" darin: dicht lag der Schnee auf den
Lidern der BìŸenden und den Ketten an ihren betend erhobenen H¤nden.
Torbogen nahmen mich auf und entlieŸen mich, Pal¤ste zogen langsam an
mir vorìber, mit geschnitzten, hochmìtigen Portalen, darinnen Læwenkæpfe in
bronzene Ringe bissen.
Auch hier ìberall Schnee, Schnee. Weich, weiŸ wie das Fell eines
riesigen Eisb¤ren.
Hohe, stolze Fenster, die Simse beglitzert und vereist, schauten
teilnahmslos zu den Wolken empor.
Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vægel war.
Als ich die unz¤hligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin, jede so
breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank Schritt um Schritt
die Stadt mit ihren D¤chern und Giebeln vor meinem Sinn. - - -
Schon schlich die D¤mmerung die H¤userreihen entlang, da trat ich auf
den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der Engel.
FuŸstapfen - die R¤nder mit Krusten aus Eis - fìhrten hin zum Nebentor.
Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene Tæne
eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. Wie Tr¤nentropfen der Schwermut
fielen sie in die Verlassenheit.
Ich hærte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, wie die
Kirchentìre mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel, und der goldene Altar
blinkte in starrer Ruhe herìber zu mir durch den grìnen und blauen Schimmer
sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster auf die Betstìhle
niedersank. Funken sprìhten aus roten, gl¤sernen Ampeln.
Welker Duft von Wachs und Weihrauch.
Ich lehnte mich in eine Bank. Mein Blut ward seltsam still in diesem
Reich der Regungslosigkeit.
Ein Leben ohne Herzschlag erfìllte den Raum - ein heimliches,
geduldiges Warten.
Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.
Da! - Aus weiter, weiter Ferne drang das Ger¤usch von Pferdehufen
ged¤mpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte n¤her kommen und verstummte.
Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zuf¤llt. - - -
Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen, und eine
zarte, schmale Damenhand hatte leicht meinen Arm berìhrt.
"Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler; es widerstrebt
mir, hier in den Betstìhlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen sagen
muŸ."
Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu nìchterner Klarheit. Der
Tag hatte mich plætzlich angefaŸt.
"Ich weiŸ gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath, daŸ
Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht
haben."
Ich stotterte ein paar banale Worte.
"- - Aber ich wuŸte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor
Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns gewiŸ
niemand nachgegangen."
Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.
Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang
ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die damals voll
Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der HahnpaŸgasse flìchtete. Ich
war auch nicht erstaunt darìber, denn ich hatte niemand anderen erwartet.
Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der D¤mmerung der
Mauernische wohl noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein mochte.
Ihre Schænheit benahm mir fast den Atem, und ich stand wie gebannt. Am
liebsten w¤re ich vor ihr niedergefallen und h¤tte ihre FìŸe gekìŸt, daŸ sie
es war, der ich helfen sollte, daŸ sie mich dazu erw¤hlt hatte.
"Vergessen Sie, ich bitte Sie von Herzen darum, - wenigstens solange
wir hier sind - die Situation, in der Sie mich damals gesehen haben", sprach
sie gepreŸt weiter, "ich weiŸ auch gar nicht, wie Sie ìber solche Dinge
denken - -"
"Ich bin ein alter Mann geworden, aber kein einziges Mal in meinem
Leben war ich so vermessen, daŸ ich mich Richter gedìnkt h¤tte ìber meine
Mitmenschen", war das einzige, was ich hervorbrachte.
"Ich danke Ihnen, Meister Pernath", sagte sie warm und schlicht. "Und
jetzt hæren Sie mich geduldig an, ob Sie mir in meiner Verzweiflung nicht
helfen oder wenigstens einen Rat geben kænnen." - Ich fìhlte, wie eine wilde
Angst sie packte, und hærte ihre Stimme zittern. - "Damals - - im Atelier -
- - damals brach die schreckliche GewiŸheit ìber mich herein, daŸ jener
grauenhafte Oger mir mit Vorbedacht nachgespìrt hat. - Schon durch Monate
war mir aufgefallen, daŸ, wohin ich auch immer ging, - ob allein, oder mit
meinem Gatten, oder mit - - - mit - mit Dr. Savioli, - stets das
entsetzliche Verbrechergesicht dieses Trædlers irgendwo in der N¤he
auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielenden Augen.
Noch macht sich ja kein Zeichen bemerkbar, was er vorhat, aber um so
qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir die Schlinge um
den Hals!
Anfangs wollte mich Dr. Savioli damit beruhigen, was denn so ein
armseliger Trædler wie dieser Aaron Wassertrum ìberhaupt vermæchte -
schlimmsten Falles kænnte es sich nur um eine geringfìgige Erpressung oder
dergleichen handeln, aber jedesmal wurden seine Lippen weiŸ, wenn der Name
Wassertrum fiel. Ich ahne: Dr. Savioli h¤lt mir etwas geheim, um mich zu
beruhigen, - irgend etwas Furchtbares, was ihn oder mich das Leben kosten
kann.
Und dann erfuhr ich, was er mir sorgsam verheimlichen wollte: daŸ ihn
der Trædler mehrere Male des Nachts in seiner Wohnung besucht hat! - Ich
weiŸ es, ich spìre es in jeder Faser meines Kærpers: es geht etwas vor, das
sich langsam um uns zusammenzieht wie die Ringe einer Schlange. - Was hat
dieser Mærder dort zu suchen? Warum kann Dr. Savioli ihn nicht abschìtteln?
Nein, nein, ich sehe das nicht l¤nger mit an; ich muŸ etwas tun. Irgend
etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt."
Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie lieŸ mich
nicht zu Ende sprechen.
"Und in den letzten Tagen nahm der Alp, der mich zu erwìrgen droht,
immer greifbarere Formen an. Dr. Savioli ist plætzlich erkrankt, - ich kann
mich nicht mehr mit ihm verst¤ndigen - darf ihn nicht besuchen, wenn ich
nicht stìndlich gew¤rtigen soll, daŸ meine Liebe zu ihm entdeckt wird -; er
liegt in Delirien, und das einzige, was ich erkunden konnte, ist, daŸ er
sich im Fieber von einem Scheusal verfolgt w¤hnt, dessen Lippen von einer
Hasenscharte gespalten sind: - Aaron Wassertrum!
Ich weiŸ, wie mutig Dr. Savioli ist; um so entsetzlicher - kænnen Sie
sich das vorstellen? - wirkt es auf mich, ihn jetzt gel¤hmt vor einer
Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle N¤he eines grauenhaften Wìrgengels
empfinde, zusammengebrochen zu sehen.
Sie werden sagen, ich sei feige, und warum ich mich denn nicht offen zu
Dr. Savioli bekenne, alles von mir wìrfe, wenn ich ihn doch so liebe -:
alles, Reichtum, Ehre, Ruf und so weiter, aber -" sie schrie es færmlich
heraus, daŸ es widerhallte von den Chorgalerien, - "ich kann nicht! - Ich
hab' doch mein Kind, mein liebes, blondes, kleines M¤del! Ich kann doch mein
Kind nicht hergeben! - Glauben Sie denn, mein Mann lieŸe es mir?! Da, da,
nehmen Sie das, Meister Pernath" - sie riŸ im Wahnwitz ein T¤schchen auf,
das vollgestopft war mit Perlenschnìren und Edelsteinen - "und bringen Sie
es dem Verbrecher; - ich weiŸ, er ist habsìchtig - er soll sich alles holen,
was ich besitze, aber mein Kind soll er mir lassen. - Nicht wahr, er wird
schweigen? - So reden Sie doch um Jesu Christi willen, sagen Sie nur ein
Wort, daŸ Sie mir helfen wollen!"
Es gelang mir mit græŸter Mìhe, die Rasende wenigstens so weit zu
beruhigen, daŸ sie sich auf eine Bank niederlieŸ.
Ich sprach zu ihr, wie es mir der Augenblick eingab. Wirre,
zusammenhanglose S¤tze.
Gedanken jagten dabei in meinem Hirn, so daŸ ich selbst kaum verstand,
was mein Mund redete, - Ideen phantastischer Art, die zusammenbrachen, kaum
daŸ sie geboren waren.
Geistesabwesend haftete mein Blick auf einer bemalten Mænchsstatue in
der Wandnische. Ich redete und redete. Allm¤hlich verwandelten sich die Zìge
der Statue, die Kutte wurde ein fadenscheiniger œberzieher mit
hochgeklapptem Kragen, und ein jugendliches Gesicht mit abgezehrten Wangen
und hektischen Flecken wuchs daraus empor.
Ehe ich die Vision verstehen konnte, war der Mænch wieder da. Meine
Pulse schlugen zu laut.
Die unglìckliche Frau hatte sich ìber meine Hand gebeugt und weinte
still.
Ich gab ihr von der Kraft, die in mich eingezogen war in der Stunde,
als ich den Brief gelesen hatte, und mich jetzt abermals ìberm¤chtig
erfìllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.
"Ich will Ihnen sagen, warum ich mich gerade an Sie gewendet habe,
Meister Pernath", fing sie nach langem Schweigen leise wieder an. "Es waren
ein paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben - und die ich nie vergessen
konnte die vielen Jahre hindurch - -"
Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut.
"- - Sie nahmen Abschied von mir - ich weiŸ nicht mehr, weshalb und
wieso, ich war ja noch ein Kind, - und Sie sagten so freundlich und doch so
traurig:
›Es wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, wenn Sie
je im Leben nicht aus noch ein wissen. Vielleicht gibt mir Gott der Herr,
daŸ ich es dann sein darf, der Ihnen hilft.‹ - Ich habe mich damals
abgewendet und rasch meinen Ball in den Springbrunnen fallen lassen, damit
Sie meine Tr¤nen nicht sehen sollten. Und dann wollte ich Ihnen das rote
Korallenherz schenken, das ich an einem Seidenband um den Hals trug, aber
ich sch¤mte mich, weil das gar so l¤cherlich gewesen w¤re." - - -
Erinnerung!
- Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein Schimmer
wie aus einem vergessenen, fernen Land der Sehnsucht trat vor mich -
unvermittelt und schreckhaft: Ein kleines M¤dchen in weiŸem Kleid und
ringsum die dunkle Wiese eines SchloŸparks, von alten Ulmen ums¤umt.
Deutlich sah ich es wieder vor mir. - -
Ich muŸte mich verf¤rbt haben; ich merkte es an der Hast, mit der sie
fortfuhr: "Ich weiŸ ja, daŸ Ihre Worte damals nur der Stimmung des Abschieds
entsprangen, aber sie waren mir oft ein Trost und - und ich danke Ihnen
dafìr."
Mit aller Kraft biŸ ich die Z¤hne zusammen und jagte den heulenden
Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurìck.
Ich verstand: Eine gn¤dige Hand war es gewesen, die die Riegel vor
meiner Erinnerung zugeschoben hatte. Klar stand jetzt in meinem BewuŸtsein
geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen herìbergetragen: Eine
Liebe, die fìr mein Herz zu stark gewesen, hatte fìr Jahre mein Denken
zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der Balsam fìr meinen wunden
Geist geworden.
Allm¤hlich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins ìber mich und kìhlte
die Tr¤nen hinter meinen Augenlidern. Der Hall von Glocken zog ernst und
stolz durch den Dom, und ich konnte freudig l¤chelnd der in die Augen sehen,
die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.
Wieder hærte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das Trappen der
Hufe. - - -
Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.
Die Laternen staunten mich an mit zwinkernden Augen, und aus
geschichteten Bergen von Tannenb¤umen raunte es von Flitter und silbernen
Nìssen und vom kommenden Christfest.
Auf dem Rathausplatz an der Mariens¤ule murmelten bei Kerzenglanz die
alten Bettelweiber mit den grauen Kopftìchern der Muttergottes ihren
Rosenkranz.
Vor dem dunklen Eingang zur Judenstadt hockten die Buden des
Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete grell,
von schwelenden Fackeln beschienen, die offene Bìhne eines
Marionettentheaters.
Zwakhs Policcinell in Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand und
daran an der Schnur einen Totensch¤del, ritt klappernd auf hælzernem
Schimmel ìber die Bretter.
In Reihen fest aneinander gedr¤ngt starrten die Kleinen - die
Pelzmìtzen tief ìber die Ohren gezogen - mit offenem Munde hinauf und
lauschten gebannt den Versen des Prager Dichters Oskar Wiener, die mein
Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach:
"Ganz vorne schritt ein Hampelmann,
Der Kerl war mager wie ein Dichter
Und hatte bunte Lappen an
Und torkelte und schnitt Gesichter." - - -
Ich bog in die Gasse ein, die schwarz und winklig auf den Platz
mìndete. Dicht, Kopf an Kopf, stand lautlos eine Menschenmenge da in der
Finsternis vor einem Anschlagzettel.
Ein Mann hatte ein Streichholz angezìndet, und ich konnte einige Zeilen
bruchstìckweise lesen. Mit dumpfen Sinnen nahm mein BewuŸtsein ein paar
Worte auf:
VermiŸt!
1000 fl Belohnung
„lterer Herr... schwarz gekleidet...
......... Signalement:
... fleischiges, glattrasiertes Gesicht......
...... Haarfarbe: weiŸ.........
.. Polizeidirektion... Zimmer Nr....
Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam hinein
in die lichtlosen H¤userreihen.
Eine Handvoll winziger Sterne glitzerte auf dem schmalen, dunklen
Himmelsweg ìber den Giebeln.
Friedvoll schweiften meine Gedanken zurìck in den Dom, und die Ruhe
meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom Platz herìber,
schneidend klar - als stìnde sie dicht an meinem Ohr - die Stimme des
Marionettenspielers durch die Winterluft:
"Wo ist das Herz aus rotem Stein?
Es hing an einem Seidenbande
Und funkelte im Frìhrotschein." - - -
Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir
das Gehirn zermartert, wie ich "ihr" Hilfe bringen kænnte.
Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu gehen,
ihm zu erz¤hlen, was mir anvertraut worden, und ihn um Rat zu bitten. Aber
jedesmal verwarf ich den EntschluŸ.
Er stand im Geist so riesengroŸ vor mir, daŸ es eine Entweihung schien,
ihn mit Dingen, die das ¤uŸere Leben betrafen, zu behelligen, dann wieder
kamen Momente, wo mich brennende Zweifel befielen, ob ich in Wirklichkeit
alles das erlebt h¤tte, was nur eine kurze Spanne Zeit zurìcklag und doch so
seltsam verblaŸt schien, verglichen mit den lebenstrotzenden Erlebnissen des
verflossenen Tages.
Hatte ich nicht doch getr¤umt? Durfte ich - ein Mensch, dem das
Unerhærte geschehen war, daŸ er seine Vergangenheit vergessen hatte, - auch
nur eine Sekunde lang als GewiŸheit annehmen, wofìr als einziger Zeuge bloŸ
meine Erinnerung die Hand aufhob?
Mein Blick fiel auf die Kerze Hillels, die immer noch auf dem Sessel
lag. Gott sei Dank, wenigstens das eine stand fest: ich war mit ihm in
persænlicher Berìhrung gewesen!
Sollte ich nicht ohne Besinnen hinunterlaufen zu ihm, seine Knie
umfassen und wie Mensch zu Mensch ihm klagen, daŸ ein uns¤gliches Weh an
meinem Herzen fraŸ?
Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da lieŸ ich wieder los; ich sah
voraus, was kommen wìrde: Hillel wìrde mir mild ìber die Augen fahren und -
- - nein, nein, nur das nicht! Ich hatte kein Recht, Linderung zu begehren.
"Sie" vertraute auf mich und meine Hilfe, und wenn die Gefahr, in der sie
sich fìhlte, mir in Momenten auch klein und nichtig erscheinen mochte, - sie
empfand sie sicherlich als riesengroŸ!
Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit - ich zwang mich, kalt und
nìchtern zu denken; - ihn jetzt - mitten in der Nacht zu stæren? - es ging
nicht an. So wìrde nur ein Verrìckter handeln.
Ich wollte die Lampe anzìnden; dann lieŸ ich es wieder sein: der
Abglanz des Mondlichts fiel von den D¤chern gegenìber herein in mein Zimmer
und gab mehr Helle, als ich brauchte. Und ich fìrchtete, die Nacht kænnte
noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte.
Es lag so viel Hoffnungslosigkeit in dem Gedanken, die Lampe
anzuzìnden, nur um den Tag zu erwarten, - eine leise Angst sagte mir, der
Morgen rìcke dadurch in unerlebbare Ferne.
Ich trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft schwebender
Friedhof lagen die Reihen verschnærkelter Giebel dort oben - Leichensteine
mit verwitterten Jahreszahlen, getìrmt ìber die dunklen Modergrìfte, diese
"Wohnst¤tten", darein sich das Gewimmel der Lebenden Hæhlen und G¤nge
genagt.
Lange stand ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise
zu wundern begann, warum ich denn nicht aufschr¤ke, wo doch ein Ger¤usch von
verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein Ohr drang.
Ich horchte hin: Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch. Das kurze
„chzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zægernd schlich.
Mit einem Schlage war ich ganz bei mir. Ich wurde færmlich kleiner, so
preŸte sich alles in mir zusammen unter dem Druck des Willens, zu hæren.
Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart.
Noch ein rasches Knistern, das vor sich selbst erschrak und hastig
abbrach. Dann Totenstille. Jene lauernde, grauenhafte Stille, die ihr
eigener Verr¤ter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht.
Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedrìckt, das drohende Gefìhl
in der Kehle, daŸ drìben einer stand, genauso wie ich und dasselbe tat.
Ich lauschte und lauschte:
Nichts.
Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben.
Lautlos - auf den Zehenspitzen - stahl ich mich an den Sessel bei
meinem Bett, nahm Hillels Kerze und zìndete sie an.
Dann ìberlegte ich: Die eiserne Speichertìre drauŸen auf dem Gang, die
zum Atelier Saviolis fìhrte, ging nur von drìben aufzuklinken.
Aufs Geratewohl ergriff ich ein hakenfærmiges Stìck Draht, das unter
meinen Graviersticheln auf dem Tische lag: derlei Schlæsser springen leicht
auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder!
Und was wìrde dann geschehen?
Nur Aaron Wassertrum konnte es sein, der da nebenan spionierte, -
vielleicht in K¤sten wìhlte, um neue Waffen und Beweise in die Hand zu
bekommen, legte ich mir zurecht.
Ob es viel nìtzen wìrde, wenn ich dazwischen trat?
Ich besann mich nicht lang: handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare
Warten auf den Morgen zerfetzen!
Und schon stand ich vor der eisernen Bodentìre, drìckte dagegen, schob
vorsichtig den Haken ins SchloŸ und horchte. Richtig: Ein schleifendes
Ger¤uch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht.
Im n¤chsten Augenblick schnellte der Riegel zurìck.
Ich konnte das Zimmer ìberblicken und sah, obwohl es fast finster war
und meine Kerze mich nur blendete, wie ein Mann in langem schwarzem Mantel
entsetzt vor einem Schreibtisch aufsprang, - eine Sekunde lang unschlìssig,
wohin sich wenden, - eine Bewegung machte, als wolle er auf mich losstìrzen,
sich dann den Hut vom Kopf riŸ und hastig damit sein Gesicht bedeckte.
"Was suchen Sie hier!" wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor:
"Pernath! Sie sind's? Gotteswillen! Das Licht weg!" Die Stimme kam mir
bekannt vor, war aber keinesfalls die des Trædlers Wassertrum.
Automatisch blies ich die Kerze aus.
Das Zimmer lag halbdunkel da - nur von dem schimmrigen Dunst, der aus
der Fensternische hereindrang, matt erhellt - genau wie meines, und ich
muŸte meine Augen aufs ¤uŸerste anstrengen, ehe ich in dem abgezehrten,
hektischen Gesicht, das plætzlich ìber dem Mantel auftauchte, die Zìge des
Studenten Charousek erkennen konnte.
"Der Mænch!" dr¤ngte es sich mir auf die Zunge und ich verstand mit
einem Mal die Vision, die ich gestern im Dom gehabt! Charousek! Das war der
Mann, an den ich mich wenden sollte! - Und ich hærte seine Worte wieder, die
er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt hatte: "Aaron Wassertrum wird
es schon erfahren, daŸ man mit vergifteten, unsichtbaren Nadeln durch Mauern
stechen kann. Genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will."
Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen? WuŸte er ebenfalls, was
sich zugetragen? Sein Hiersein zu so ungewæhnlicher Stunde lieŸ fast darauf
schlieŸen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu richten.
Er war ans Fenster geeilt und sp¤hte hinter dem Vorhang hinunter auf
die Gasse.
Ich erriet: er fìrchtete, Wassertrum kænne den Lichtschein meiner Kerze
wahrgenommen haben.
"Sie denken gewiŸ, ich sei ein Dieb, daŸ ich nachts hier in einer
fremden Wohnung herumsuche, Meister Pernath," fing er nach langem Schweigen
mit unsicherer Stimme an, "aber ich schwære Ihnen - -"
Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn.
Und um ihm zu zeigen, daŸ ich keinerlei MiŸtrauen gegen ihn hegte, in
ihm vielmehr einen Bundesgenossen sah, erz¤hlte ich ihm mit kleinen
Einschr¤nkungen, die ich fìr nætig hielt, welche Bewandtnis es mit dem
Atelier habe, und daŸ ich fìrchte, eine Frau, die mir nahestehe, sei in
Gefahr, den erpresserischen Gelìsten des Trædlers in irgendwelcher Art zum
Opfer zu fallen.
Aus der hæflichen Weise, mit der er mir zuhærte, ohne mich mit Fragen
zu unterbrechen, entnahm ich, daŸ er das meiste bereits wuŸte, wenn auch
vielleicht nicht in Einzelheiten.
"Es stimmt schon", sagte er grìbelnd, als ich zu Ende gekommen war.
"Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl will Savioli an die Gurgel
fahren, das ist klar, aber offenbar hat er noch nicht genug Material
beisammen. Weshalb wìrde er sich sonst noch hier immerw¤hrend herumdrìcken!
Ich ging n¤mlich gestern, sagen wir mal: ›zuf¤llig‹ durch die HahnpaŸgasse,"
erklarte er, als er meine fragende Miene bemerkte, "da fiel mir auf, daŸ
Wassertrum erst lange - scheinbar unbefangen - vor dem Tor unten auf und ab
schlenderte, dann aber, als er sich unbeobachtet glaubte, rasch ins Haus
bog. Ich ging ihm sofort nach und tat so, als wollte ich Sie besuchen, das
heiŸt, ich klopfte bei Ihnen an, und dabei ìberraschte ich ihn, wie er
drauŸen an der eisernen Bodentìr mit einem Schlìssel herumhantierte.
Natìrlich gab er es augenblicklich auf, als ich kam, und klopfte ebenfalls
als Vorwand bei Ihnen an. Sie schienen ìbrigens nicht zu Hause gewesen zu
sein, denn es æffnete niemand.
Als ich mich dann vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich,
daŸ jemand, der nach den Schilderungen nur Dr. Savioli sein konnte, hier
heimlich ein Absteigequartier bes¤Ÿe. Da Dr. Savioli schwerkrank liegt,
reimte ich mir das ìbrige zurecht.
Sehen Sie: und das da habe ich aus den Schubladen zusammengesucht, um
Wassertrum fìr alle F¤lle zuvorzukommen", schloŸ Charousek und deutete auf
ein Paket Briefe auf dem Schreibtisch; "es ist alles, was ich an
Schriftstìcken finden konnte. Hoffentlich ist sonst nichts mehr vorhanden.
Wenigstens habe ich in s¤mtlichen Truhen und Schr¤nken gestæbert, so gut das
in der Finsternis ging."
Meine Augen durchforschten bei seiner Rede das Zimmer und blieben
unwillkìrlich auf einer Falltìre am Boden haften. Ich entsann mich dabei
dunkel, daŸ Zwakh mir irgendwann erz¤hlt hatte, ein geheimer Zugang fìhre
von unten herauf ins Atelier.
Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff.
"Wo sollen wir die Briefe aufheben?", fing Charousek wieder an. "Sie,
Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Getto, die Wassertrum
harmlos vorkommen, - warum gerade ich, das - hat - seine - besonderen -
Grìnde", - (ich sah, daŸ sich seine Zìge in wildem HaŸ verzerrten, wie er so
den letzten Satz færmlich zerbiŸ -) "und Sie halt er fìr - -" Charousek
erstickte das Wort "verrìckt" mit einem raschen, erkìnstelten Husten, aber
ich erriet, was er hatte sagen wollen. Es tat mir nicht weh; das Gefìhl,
"ihr" helfen zu kænnen, machte mich so glìckselig, daŸ jede Empfindlichkeit
ausgelæscht war.
Wir kamen schlieŸlich ìberein, das Paket bei mir zu verstecken, und
gingen hinìber in meine Kammer.
Charousek war l¤ngst fort, aber immer noch konnte ich mich nicht
entschlieŸen, zu Bette zu gehen. Eine gewisse innere Unzufriedenheit nagte
an mir und hielt mich davon ab. Irgend etwas sollte ich noch tun, fìhlte
ich, aber was? was?
Einen Plan fìr den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen h¤tte?
Das allein konnte es nicht sein. Charousek lieŸ den Trædler sowieso
nicht aus den Augen, darìber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn ich
an den HaŸ dachte, der aus seinen Worten geweht hatte.
Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte?
Die seltsame innere Unruhe in mir wuchs und brachte mich fast zur
Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und ich verstand
nicht.
Ich kam mir vor wie ein Gaul, der dressiert wird, das ReiŸen am Zìgel
spìrt und nicht weiŸ, welches Kunststìck er machen soll, den Willen seines
Herrn nicht erfaŸt.
Hinuntergehen zu Schemajah Hillel?
Jede Faser in mir verneinte.
Die Vision des Mænchs in der Domkirche, auf dessen Schultern gestern
der Kopf Charouseks aufgetaucht war als Antwort auf eine stumme Bitte um
Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe Gefìhle nicht ohne weiteres
zu verachten. Geheime Kr¤fte keimten in mir auf seit geraumer Zeit, das war
gewiŸ: ich empfand es zu ìberm¤chtig, als daŸ ich auch nur den Versuch
gemacht h¤tte, es wegzuleugnen.
Buchstaben zu empfinden, sie nicht nur mit den Augen in Bìchern zu
lesen, - einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir ìbersetzt, was
die Instinkte ohne Worte raunen, darin muŸ der Schlìssel liegen, sich mit
dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verst¤ndigen, begriff ich.
"Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hæren nicht",
fiel mir eine Bibelstelle wie eine Erkl¤rung dazu ein.
"Schlìssel, Schlìssel, Schlìssel", wiederholten mechanisch meine
Lippen, derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte
ich plætzlich.
"Schlìssel, Schlìssel - -?" Mein Blick fiel auf den krummen Draht in
meiner Hand, der mir vorhin zum –ffnen der Speichertìre gedient hatte, und
eine heiŸe Neugier, wohin wohl die viereckige Falltìr aus dem Atelier fìhren
kænnte, peitschte mich auf.
Und ohne zu ìberlegen, ging ich nochmals hinìber in Saviolis Atelier
und zog an dem Griffring der Falltìre, bis es mir schlieŸlich gelang, die
Platte zu heben.
Zuerst nichts als Dunkelheit.
Dann sah ich: Schmale, steile Stufen liefen hinab in tiefste
Finsternis.
Ich stieg hinunter.
Eine Zeitlang tastete ich mich mit den H¤nden die Mauern entlang, aber
es wollte kein Ende nehmen: Nischen, feucht von Schimmel und Moder, -
Windungen, Ecken und Winkel, - G¤nge geradeaus, nach links und nach rechts,
Reste einer alten Holztìre, Wegteilungen und dann wieder Stufen, Stufen,
Stufen hinauf und hinab.
Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde ìberall.
Und noch immer kein Lichtstrahl. -
Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen h¤tte!
Endlich flacher, ebener Weg.
Aus dem Knirschen unter meinen FìŸen schloŸ ich, daŸ ich auf trockenem
Sand dahinschritt.
Es konnte nur einer jener zahllosen G¤nge sein, die scheinbar ohne
Zweck und Ziel unter dem Getto hinfìhren bis zum FluŸ.
Ich wunderte mich nicht: die halbe Stadt stand doch seit
unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen L¤uften, und die Bewohner
Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen.
Das Fehlen jeglichen Ger¤uschs zu meinen H¤upten sagte mir, daŸ ich
mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben
ist, befinden muŸte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebtere
StraŸen oder Pl¤tze ìber mir h¤tten sich durch fernes Wagenrasseln verraten.
Eine Sekunde lang wìrgte mich die Furcht: was, wenn ich im Kreise
herumging!? In ein Loch stìrzte, mich verletzte, ein Bein brach und nicht
mehr weiter gehen konnte?!
Was geschah dann mit ihren Briefen in meiner Kammer? Sie muŸten
unfehlbar Wassertrum in die H¤nde fallen.
Der Gedanke an Schemajah Hillel, mit dem ich vag den Begriff eines
Helfers und Fìhrers verknìpfte, beruhigte mich unwillkìrlich.
Vorsichtshalber ging ich aber doch langsamer und tastenden Schrittes
und hielt den Arm in die Hæhe, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen,
falls der Gang niedriger wìrde.
Von Zeit zu Zeit, dann immer æfter stieŸ ich oben mit der Hand an, und
endlich senkte sich das Gestein so tief herab, daŸ ich mich bìcken muŸte, um
durchzukommen.
Pætzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.
Ich blieb stehen und starrte hinauf.
Nach und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser, kaum
merklicher Schimmer von Licht.
Mìndete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter?
Ich richtete mich auf und tastete mit beiden H¤nden in Kopfeshæhe um
mich herum: die –ffnung war genau viereckig und ausgemauert.
Allm¤hlich konnte ich darin als AbschluŸ die schattenhaften Umrisse
eines wagerechten Kreuzes unterscheiden, und endlich gelang es mir, seine
St¤be zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzw¤ngen.
Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.
Offenbar endeten hier die œberbleibsel einer eisernen Wendeltreppe,
wenn mich das Gefìhl meiner Finger nicht t¤uschte?
Lang, unsagbar lang muŸte ich tappen, bis ich die zweite Stufe finden
konnte, dann klomm ich empor.
Es waren im ganzen acht Stufen. Eine jede fast in Mannshæhe ìber der
andern.
Sonderbar: die Treppe stieŸ oben gegen eine Art horizontalen Get¤fels,
das aus regelm¤Ÿigen, sich schneidenden Linien den Lichtschein
herabschimmern lieŸ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!
Ich duckte mich, so tief ich konnte, um aus etwas weiterer Entfernung
besser unterscheiden zu kænnen, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem
Erstaunen, daŸ sie genau die Form eines Sechsecks, wie man es auf den
Synagogen findet, bildeten.
Was mochte das nur sein?
Plætzlich kam ich dahinter: es war eine Falltìr, die an den Kanten
Licht durchlieŸ! Eine Falltìr aus Holz in Gestalt eines Sternes.
Ich stemmte mich mit den Schultern gegen die Platte, drìckte sie
aufw¤rts und stand im n¤chsten Moment in einem Gemach, das von grellem
Mondschein erfìllt war.
Es war ziemlich klein, vollst¤ndig leer bis auf einen Haufen Gerumpel
in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.
Eine Tìre oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben
benìtzt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern
immer wieder von neuem absuchte.
Die Gitterst¤be des Fensters standen zu eng, als daŸ ich den Kopf h¤tte
durchstecken kænnen, so viel aber sah ich:
Das Zimmer befand sich ungef¤hr in der Hæhe eines dritten Stockwerks,
denn die H¤user gegenìber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich
tiefer.
Das eine Ufer der StraŸe unten war fìr mich noch knapp sichtbar, aber
infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe
Schlagschatten getaucht, die es mir unmæglich machten, Einzelheiten zu
unterscheiden.
Zum Judenviertel muŸte die Gasse unbedingt gehæren, denn die Fenster
drìben waren s¤mtlich vermauert oder aus Simsen im Bau angedeutet, und nur
im Getto kehren die H¤user einander so seltsam den Rìcken.
Vergebens qu¤lte ich mich ab herauszubringen was das wohl fìr ein
sonderbares Bauwerk sein mochte, in dem ich mich befand.
Sollte es vielleicht ein aufgelassenes Seitentìrmchen der griechischen
Kirche sein? Oder gehærte es irgendwie zur Altneusynagoge?
Die Umgebung stimmte nicht.
Wieder sah ich mich im Zimmer um: nichts, was mir auch nur den
kleinsten AufschluŸ gegeben h¤tte. - Die W¤nde und die Decke waren kahl,
Bewurf und Kalk l¤ngst abgefallen und weder Nagellæcher, noch N¤gel, die
verraten h¤tten, daŸ der Raum einst bewohnt gewesen.
Der Boden lag fuŸhoch bedeckt mit Staub, als h¤tte ihn seit Jahrzehnten
kein lebendes Wesen betreten.
Das Gerìmpel in der Ecke zu durchsuchen, ekelte ich mich. Es lag in
tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es bestand.
Dem ¤uŸeren Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem Kn¤uel geballt.
Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer?
Ich tastete mit dem FuŸ hin, und es gelang mir, mit dem Absatz einen
Teil davon in die N¤he des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer ìbers
Zimmer warf. Es schien wie ein breites, dunkles Band, das sich da langsam
aufrollte.
Ein blitzender Punkt wie ein Auge!
Ein Metallknopf vielleicht?
Allm¤hlich wurde mir klar: ein „rmel von sonderbarem, altmodischem
Schnitt hing da aus dem Bìndel heraus.
Und eine kleine weiŸe Schachtel, oder dergleichen lag darunter,
lockerte sich unter meinem FuŸ und zerfiel in eine Menge fleckiger
Schichten.
Ich gab ihr einen leichten StoŸ: Ein Blatt flog ins Helle.
Ein Bild?
Ich bìckte mich: ein Pagad!
Was mir eine weiŸe Schachtel geschienen, war ein Tarockspiel.
Ich hob es auf.
Konnte es etwas L¤cherlicheres geben: Ein Kartenspiel hier an diesem
gespenstischen Ort!
Merkwìrdig, daŸ ich mich zum L¤cheln zwingen muŸte. Ein leises Gefìhl
von Grauen beschlich mich.
Ich suchte nach einer banalen Erkl¤rung, wie die Karten wohl
hierhergekommen sein kænnten, und z¤hlte dabei mechanisch das Spiel. Es war
vollst¤ndig: 78 Stìck. Aber schon w¤hrend des Z¤hlens fiel mir etwas auf:
Die Bl¤tter waren wie aus Eis.
Eine l¤hmende K¤lte ging von ihnen aus, und wie ich das Paket
geschlossen in der Hand hielt, konnte ich es kaum mehr loslassen: so
erstarrt waren meine Finger. Wieder haschte ich nach einer nìchternen
Erkl¤rung:
Mein dìnner Anzug, die lange Wanderung ohne Mantel und Hut in den
unterirdischen G¤ngen, die grimmige Winternacht, die Steinw¤nde, der
entsetzliche Frost, der mit dem Mondlicht durchs Fenster hereinfloŸ: -
sonderbar genug, daŸ ich erst jetzt anfing zu frieren. Die Erregung, in der
ich mich die ganze Zeit befunden, muŸte mich darìber hinwegget¤uscht haben.
-
Ein Schauer nach dem andern jagte mir ìber die Haut. Schicht um Schicht
drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen Kærper ein.
Ich fìhlte mein Skelett zu Eis werden und wurde mir jedes einzelnen
Knochens bewuŸt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch festfror.
Kein Umherlaufen half, kein Stampfen mit den FìŸen und nicht das
Schlagen mit den Armen. Ich biŸ die Z¤hne zusammen, um ihr Klappern nicht zu
hæren.
Das ist der Tod, sagte ich mir, der dir die kalten H¤nde auf den
Scheitel legt.
Und ich wehrte mich wie ein Rasender gegen den bet¤ubenden Schlaf des
Erfrierens, der, wollig und erstickend, mich wie mit einem Mantel einhìllen
kam.
Die Briefe, in meiner Kammer - ihre Briefe! brìllte es in mir auf: man
wird sie finden, wenn ich hier sterbe. Und sie hofft auf mich! Hat ihre
Rettung in meine H¤nde gelegt! - Hilfe! - Hilfe! Hilfe! -
Und ich schrie durch das Fenstergitter hinunter auf die æde Gasse, daŸ
es widerhallte: Hilfe, Hilfe, Hilfe!
Warf mich zu Boden und sprang wieder auf. Ich durfte nicht sterben,
durfte nicht! ihretwegen, nur ihretwegen! Und wenn ich Funken aus meinen
Knochen schlagen sollte, um mich zu erw¤rmen.
Da fiel mein Blick auf die Lumpen in der Ecke, und ich stìrzte darauf
zu und zog sie mit schlotternden H¤nden ìber meine Kleider.
Es war ein zerschlissener Anzug aus dickem, dunklem Tuch von
uraltmodischem, seltsamem Schnitt.
Ein Geruch nach Moder ging von ihm aus.
Dann kauerte ich mich in dem gegenìberliegenden Mauerwinkel zusammen
und spìrte meine Haut langsam, langsam w¤rmer werden. Nur das schauerliche
Gefìhl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen. Regungslos
saŸ ich da und lieŸ meine Augen wandern: die Karte, die ich zuerst gesehen,
- der Pagad, - lag noch immer inmitten des Zimmers in dem Lichtstreifen.
Unverwandt muŸte ich sie anstarren.
Sie schien, soweit ich auf die Entfernung hin erkennen konnte, in
Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt, und stellte den hebr¤ischen
Buchstaben Aleph dar, in Form eines Mannes, altfr¤nkisch gekleidet, den
grauen Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm erhoben, w¤hrend der
andere abw¤rts deutete.
Hatte das Gesicht des Mannes nicht eine seltsame „hnlichkeit mit
meinem, d¤mmerte mir ein Verdacht auf? - Der Bart - er paŸte so gar nicht zu
einem Pagad, - - ich kroch auf die Karte zu und warf sie in die Ecke zu dem
Rest des Gerìmpels, um den qu¤lenden Anblick los zu sein.
Dort lag sie jetzt und schimmerte - ein grauweiŸer, unbestimmter Fleck
- zu mir herìber aus dem Dunkel.
Mit Gewalt zwang ich mich zu ìberlegen, was ich zu beginnen h¤tte, um
wieder in meine Wohnung zu kommen:
Den Morgen abwarten! Unten die Vorìbergehenden vom Fenster aus anrufen,
damit sie mir von auŸen mit einer Leiter Kerzen oder eine Laterne
heraufbr¤chten! - Ohne Licht die endlosen, sich ewig kreuzenden G¤nge
zurìckzufinden, wìrde mir nie gelingen, empfand ich als beklemmende
GewiŸheit. - Oder, falls das Fenster zu hoch l¤ge, daŸ sich jemand vom Dach
mit einem Strick - -? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl durchfuhr es mich:
jetzt wuŸte ich, wo ich war: Ein Zimmer ohne Zugang - nur mit einem
vergitterten Fenster - das altertìmliche Haus in der Altschulgasse, das
jeder mied! - schon einmal vor vielen Jahren hatte sich ein Mensch an einem
Strick vom Dach herabgelassen, um durchs Fenster zu schauen, und der Strick
war gerissen und - Ja: ich war in dem Haus, in dem der gespenstische Golem
jedesmal verschwand!
Ein tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich wehrte, das ich nicht
einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederk¤mpfen konnte, l¤hmte
jedes Weiterdenken und mein Herz fing an, sich zu krampfen.
Hastig sagte ich mir vor mit steifen Lippen, es sei nur der Wind, der
da so eisig aus der Ecke herìberwehte, sagte es mir vor, schneller und
schneller, mit pfeifendem Atem - es half nicht mehr: dort drìben der
weiŸliche Fleck - die Karte - sie quoll auf zu blasigem Klumpen, tastete
sich hin zum Rande des Mondstreifens und kroch wieder zurìck in die
Finsternis. - Tropfende Laute - halb gedacht, geahnt, halb wirklich - im
Raum und doch auŸerhalb um mich herum und doch anderswo, - tief im eigenen
Herzen und wieder mitten im Zimmer - erwachten: Ger¤usche, wie wenn ein
Zirkel f¤llt und mit der Spitze im Holz stecken bleibt!
Immer wieder: Der weiŸliche Fleck - - - der weiŸliche Fleck - -! Eine
Karte, eine erb¤rmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie ich mir
ins Hirn hinein - - - umsonst - - jetzt hat er sich dennoch - dennoch
Gestalt erzwungen - der Pagad - und hockt in der Ecke und stiert herìber zu
mir mit meinem eigenen Gesicht.
Stunden und Stunden kauerte ich da - unbeweglich - in meinem Winkel,
ein frosterstarrtes Gerippe in fremden, modrigen Kleidern! - Und er drìben:
ich selbst.
Stumm und regungslos.
So starrten wir uns in die Augen, - einer das gr¤Ÿliche Spiegelbild des
andern. - - -
Ob er es auch sieht, wie sich die Mondstrahlen mit schneckenhafter
Tr¤gheit ìber den Boden hinsaugen und wie Zeiger eines unsichtbaren Uhrwerks
in der Unendlichkeit die Wand emporkriechen und fahler und fahler werden? -
Ich bannte ihn fest mit meinem Blick und es half ihm nichts, daŸ er
sich auflæsen wollte in dem Morgend¤mmerschein, der ihm vom Fenster her zu
Hilfe kam.
Ich hielt ihn fest.
Schritt vor Schritt habe ich mit ihm gerungen um mein Leben - um das
Leben, das mein ist, weil es nicht mehr mir gehært. - -
Und wie er kleiner und kleiner wurde und sich bei Tagesgrauen wieder in
sein Kartenblatt verkroch, da stand ich auf, ging hinìber zu ihm und steckte
ihn in die Tasche - den Pagad.
Immer noch war die Gasse unten æd und menschenleer.
Ich durchstæberte die Zimmerecke, die jetzt im stumpfen Morgenlichte
lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne, morsche Fetzen, ein Flaschenhals.
Tote Dinge und doch so merkwìrdig bekannt.
Und auch die Mauern - wie die Risse und Sprìnge dann deutlich wurden! -
wo hatte ich sie nur gesehen?
Ich nahm das Kartenp¤ckchen zur Hand - es d¤mmerte mir auf: hatte ich
die nicht einst selbst bemalt? Als Kind? Vor langer, langer Zeit?
Es war ein uraltes Tarockspiel. Mit hebr¤ischen Zeichen. - Nummer 12
muŸ der "Gehenkte" sein, ìberkam's mich wie halbe Erinnerung. - Mit dem Kopf
abw¤rts? Die Arme auf dem Rìcken? - Ich bl¤tterte nach: Da! Da war er.
Dann wieder, halb Traum, halb GewiŸheit, tauchte ein Bild vor mir auf:
Ein geschw¤rztes Schulhaus, bucklig, schief, ein mìrrisches Hexengeb¤ude,
die linke Schulter hochgezogen, die andere mit einem Nebenhaus verwachsen. -
- - Wir sind mehrere halbwìchsige Jungen - ein verlassener Keller ist
irgendwo - - -
Dann sah ich an meinem Kærper herab und wurde wieder irre: Der
altmodische Anzug war mir vællig fremd.
Der L¤rm eines holpernden Karrens schreckte mich auf, doch als ich
hinabblickte: Keine Menschenseele. Nur ein Fleischerhund stand versonnen an
einem Eckstein.
Da! Endlich! Stimmen! menschliche Stimmen!
Zwei alte Weiber kamen langsam die StraŸe dahergetrottet, und ich
zw¤ngte den Kopf halb durch das Gitter und rief sie an.
Mit offenem Mund glotzten sie in die Hæhe und berieten sich. Aber als
sie mich sahen, stieŸen sie ein gellendes Geschrei aus und liefen davon.
Sie haben mich fìr den Golem gehalten, begriff ich.
Und ich erwartete, daŸ ein Zusammenlauf von Menschen entstehen wìrde,
denen ich mich verst¤ndlich machen kænnte, aber wohl eine Stunde verging,
und nur hie und da sp¤hte unten vorsichtig ein blasses Gesicht herauf zu
mir, um sofort in Todesschreck wieder zurìckzufahren.
Sollte ich warten, bis vielleicht nach Stunden oder gar erst morgen
Polizisten kamen - die Staatsfalotten, wie Zwakh sie zu nennen pflegte?
Nein, lieber wollte ich einen Versuch machen, die unterirdischen G¤nge
ein Stìck weit auf ihre Richtung hin zu untersuchen.
Vielleicht fiel jetzt bei Tag durch Ritzen im Gestein eine Spur von
Licht hinab?
Ich kletterte die Leiter hinunter, setzte den Weg, den ich gestern
gekommen war, fort - ìber ganze Halden zerbrochener Ziegelsteine und durch
versunkene Keller - erklomm eine Treppenruine und stand plætzlich - - im
Hausflur des schwarzen Schulhauses, das ich vorhin wie im Traum gesehen.
Sofort stìrzte eine Flutwelle von Erinnerungen auf mich ein: B¤nke,
bespritzt mit Tinte von oben bis unten, Rechenhefte, pl¤rrender Gesang, ein
Junge, der Maik¤fer in der Klasse losl¤Ÿt, Lesebìcher mit zerquetschten
Butterbroten darin und der Geruch nach Orangenschalen. Jetzt wuŸte ich mit
GewiŸheit: Ich war einst als Knabe hier gewesen. - Aber ich lieŸ mir keine
Zeit nachzudenken und eilte heim.
Der erste Mensch, der mir in der Salnitergasse begegnete, war ein
verwachsener alter Jude mit weiŸen Schl¤fenlocken. Kaum hatte er mich
erblickt, bedeckte er sein Gesicht mit den H¤nden und heulte laut hebr¤ische
Gebete herunter.
Auf den L¤rm hin muŸten wahrscheinlich viele Leute aus ihren Hæhlen
gestìrzt sein, denn es brach ein unbeschreibliches Gezeter hinter mir los.
Ich drehte mich um und sah ein wimmelndes Heer totenblasser,
entsetzenverzerrter Gesichter sich mir nachw¤lzen.
Erstaunt blickte ich an mir herunter und verstand: - ich trug noch
immer die seltsam mittelalterlichen Kleider von nachts her ìber meinem
Anzug, und die Leute glaubten, den "Golem" vor sich zu haben.
Rasch lief ich um die Ecke hinter ein Haustor und riŸ mir die modrigen
Fetzen vom Leibe.
Gleich darauf raste die Menge mit geschwungenen Stæcken und geifernden
M¤ulern schreiend an mir vorìber.
Einigemal im Lauf des Tages hatte ich an Hillels Tìre geklopft; - es
lieŸ mir keine Ruhe: ich muŸte ihn sprechen und fragen, was alle diese
seltsamen Erlebnisse bedeuteten; aber immer hieŸ es, er sei noch nicht zu
Hause.
Sowie er heimk¤me vom jìdischen Rathaus, wollte mich seine Tochter
sofort verst¤ndigen. -
Ein sonderbares M¤dchen ìbrigens, diese Mirjam!
Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.
Eine Schænheit, so fremdartig, daŸ man sie im ersten Moment gar nicht
fassen kann, - eine Schænheit, die einen stumm macht, wenn man sie ansieht,
und ein unerkl¤rliches Gefìhl, so etwas, wie leise Mutlosigkeit in einem
erweckt.
Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden verlorengegangen sein
mìssen, ist dieses Gesicht geformt, grìbelte ich mir zurecht, wie ich es so
im Geiste wieder vor mir sah.
Und ich dachte nach, welchen Edelstein ich w¤hlen mìŸte, um es als
Gemme festzuhalten und dabei den kìnstlerischen Ausdruck richtig zu wahren:
Schon an dem rein „uŸerlichen; dem blauschwarzen Glanz des Haares und der
Augen, der alles ìbertraf, worauf ich auch riet, scheiterte es. - Wie erst
die unirdische Schmalheit des Gesichtes sinn- und visionsgem¤Ÿ in eine Kamee
bannen, ohne sich in die stumpfsinnige „hnlichkeitsmacherei der kanonischen
"Kunst"richtung festzurennen!
Nur durch ein Mosaik lieŸ es sich læsen, erkannte ich klar, aber was
fìr Material w¤hlen? Ein Menschenleben gehærte dazu, das passende zusammen
zu finden. - -
Wo nur Hillel blieb!
Ich sehnte mich nach ihm wie nach einem lieben, alten Freunde.
Merkwìrdig, wie er mir in den wenigen Tagen - und ich hatte ihn doch,
genaugenommen, nur ein einziges Mal im Leben gesprochen, - ins Herz
gewachsen war.
Ja, richtig: die Briefe - ihre Briefe - wollte ich doch besser
verstecken. Zu meiner Beruhigung, falls ich wieder einmal l¤nger von zu
Hause fort sein sollte.
Ich nahm sie aus der Truhe: - in der Kassette wìrden sie sicherer
aufbewahrt sein.
Eine Photographie glitt zwischen den Briefen heraus. Ich wollte nicht
hinschauen, aber es war zu sp¤t.
Den Brokatstoff um die bloŸen Schultern gelegt - so wie ich ›sie‹ das
erste Mal gesehen, als sie in mein Zimmer flìchtete aus Saviolis Atelier -
blickte sie mir in die Augen.
Ein wahnsinniger Schmerz bohrte sich in mich ein. Ich las die Widmung
unter dem Bilde, ohne die Worte zu erfassen, und den Namen:
Deine Angelina.
Angelina!!!
Wie ich den Namen aussprach, zerriŸ der Vorhang, der meine Jugendjahre
vor mir verbarg, von oben bis unten.
Vor Jammer glaubte ich zusammenbrechen zu mìssen. Ich krallte die
Finger in die Luft und winselte, - biŸ mich in die Hand: - - nur wieder
blind sein, Gott im Himmel, - den Scheintot weiterleben, wie bisher, flehte
ich.
Das Weh stieg mir in den Mund. - Quoll. - Schmeckte seltsam sìŸ, - wie
Blut. - -
Angelina!!
Der Name kreiste in meinen Adern und wurde - zu unertr¤glicher
gespenstischer Liebkosung.
Mit einem gewaltsamen Ruck riŸ ich mich zusammen und zwang mich - mit
knirschenden Z¤hnen - das Bild anzustarren, bis ich langsam Herr darìber
wurde!
Herr darìber!
Wie heute nacht ìber das Kartenblatt.
Endlich: Schritte! M¤nnertritte.
Er kam!
Voll Jubel eilte ich zur Tìr und riŸ sie auf.
Schemajah Hillel stand StrauŸen und hinter ihm - ich machte mir leise
Vorwìrfe, daŸ ich es als Entt¤uschung empfand - mit roten B¤ckchen und
runden Kinderaugen: der alte Zwakh.
"Wie ich zu meiner Freude sehe, sind Sie wohlauf, Meister Pernath",
fing Hillel an.
Ein kaltes "Sie"?
Frost. Schneidender, ertætender Frost lag plætzlich im Zimmer.
Bet¤ubt, mit halbem Ohr, hærte ich hin, was Zwakh, atemlos vor
Aufregung, auf mich losplapperte:
"Wissen Sie schon, der Golem geht wieder um? Neulich erst sprachen wir
davon, wissen Sie noch, Pernath? Die ganze Judenstadt ist auf. Vrieslander
hat ihn selbst gesehen, den Golem. Und wieder hat es, wie immer, mit einem
Mord begonnen" - Ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?
Zwakh schìttelte mich: "Ja, wissen Sie denn von gar nichts, Pernath?
Unten h¤ngt doch groŸm¤chtig ein Polizeiaufruf an den Ecken: den dicken
Zottmann, den ›Freimaurer‹ - na, ich meine doch den
Lebensversicherungsdirektor Zottmann, - soll man ermordet haben. Der Loisa -
hier im Haus - ist bereits verhaftet. Und die rote Rosina: spurlos
verschwunden. - Der Golem - der Golem - es ist ja haarstr¤ubend."
Ich gab keine Antwort und suchte in Hillels Augen: warum blickte er
mich so unverwandt an?
Ein verhaltenes L¤cheln zuckte plætzlich um seine Mundwinkel.
Ich verstand. Es galt mir.
Am liebsten w¤re ich ihm um den Hals gefallen vor jauchzender Freude.
AuŸer mir in meinem Entzìcken, lief ich planlos im Zimmer umher. Was
zuerst bringen? Gl¤ser? Eine Flasche Burgunder? (Ich hatte doch nur eine.)
Zigarren? - Endlich fand ich Worte: "Aber warum setzt ihr euch denn nicht?!"
- Rasch schob ich meinen beiden Freunden Sessel unter. - - -
Zwakh fing an, sich zu ¤rgern: "Warum l¤cheln Sie denn immerw¤hrend,
Hillel? Glauben Sie vielleicht nicht, daŸ der Golem spukt? Mir scheint. Sie
glauben ìberhaupt nicht an den Golem?"
"Ich wìrde nicht an ihn glauben, selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor
mir s¤he", antwortete Hillel gelassen mit einem Blick auf mich. - Ich
verstand den Doppelsinn, der aus seinen Worten klang.
Zwakh hielt erstaunt im Trinken inne: "Das Zeugnis von Hunderten von
Menschen gilt Ihnen nichts, Hillel? - Aber warten Sie nur, Hillel, denken
Sie an meine Worte: Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt geben! Ich
kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft hinter sich her."
"Die H¤ufung gleichartiger Ereignisse ist nichts Wunderbares",
erwiderte Hillel. Er sprach im Gehen, trat ans Fenster und blickte durch die
Scheiben hinab auf den Trædlerladen - "Wenn der Tauwind weht, rìhrt sich's
in den Wurzeln. In den sìŸen wie, in den giftigen."
Zwakh zwinkerte mir lustig zu und deutete mit dem Kopf nach Hillel.
"Wenn der Rabbi nur reden wollte, der kænnte uns Dinge erz¤hlen, daŸ
einem die Haare zu Berge stìnden", warf er halblaut hin.
Schemajah drehte sich um.
"Ich bin nicht ›Rabbi‹, wenn ich auch den Titel tragen darf. Ich bin
nur ein armseliger Archivar im jìdischen Rathaus und fìhre die Register ìber
die Lebendigen und die Toten."
Eine verborgene Bedeutung lag in seiner Rede, fìhlte ich. Auch der
Marionettenspieler schien es unterbewuŸt zu empfinden, - er wurde still, und
eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort.
"Hæren Sie mal, Rabbi -, verzeihen Sie: ›Herr Hillel‹, wollte ich
sagen", - fing Zwakh nach einer Weile wieder an, und seine Stimme klang
auffallend ernst, "ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Sie brauchen mir
ja nicht drauf zu antworten, wenn Sie nicht mægen, oder nicht dìrfen - - -"
Schemajah trat an den Tisch und spielte mit dem Weinglas - er trank
nicht; vielleicht verbot es ihm das jìdische Ritual.
"Fragen Sie ruhig, Herr Zwakh."
"- - Wissen Sie etwas ìber die jìdische Geheimlehre, die Kabbala,
Hillel?"
"Nur wenig."
"Ich habe gehært, es soll ein Dokument geben, aus dem man die Kabbala
lernen kann: den ›Sohar‹ - -"
"Ja, den Sohar - das Buch des Glanzes."
"Sehen Sie, da hat man's", schimpfte Zwakh los. "Ist es nicht eine
himmelschreiende Ungerechtigkeit, daŸ eine Schrift, die angeblich die
Schlìssel zum Verst¤ndnis der Bibel und zur Glìckseligkeit enth¤lt -"
Hillel unterbrach ihn: "- nur einige Schlìssel."
"Gut, immerhin einige! - also, daŸ diese Schrift infolge ihres hohen
Wertes und ihrer Seltenheit wieder nur den Reichen zug¤nglich ist? In einem
einzigen Exemplar, das noch dazu im Londoner Museum steckt, wie ich mir habe
erz¤hlen lassen? Und ìberdies chald¤isch, aram¤isch, hebr¤isch - oder was
weiŸ ich wie - geschrieben? - Habe ich zum Beispiel je im Leben Gelegenheit
gehabt, diese Sprachen zu lernen oder nach London zu kommen?"
"Haben Sie denn alle Ihre Wìnsche so heiŸ auf dieses Ziel gerichtet?"
fragte Hillel mit leisem Spott.
"Offen gestanden - nein", gab Zwakh einigermaŸen verwirrt zu.
"Dann sollten Sie sich nicht beklagen", sagte Hillel trocken, "wer
nicht nach dem Geist schreit mit allen Atomen seines Leibes, - wie ein
Erstickender nach Luft, - der kann die Geheimnisse Gottes nicht schauen."
"Es sollte trotzdem ein Buch geben, in dem s¤mtliche Schlìssel zu den
R¤tseln der anderen Welt stehen, nicht nur einige", schoŸ es mir durch den
Kopf, und meine Hand spielte automatisch mit dem Pagad, den ich immer noch
in der Tasche trug, aber ehe ich die Frage in Worte kleiden konnte, hatte
Zwakh sie bereits ausgesprochen.
Hillel l¤chelte wieder sphinxhaft: "Jede Frage, die ein Mensch tun
kann, ist im selben Augenblick beantwortet, in dem er sie geistig gestellt
hat."
"Verstehen Sie, was er damit meint?", wandte sich Zwakh an mich.
Ich gab keine Antwort und hielt den Atem an, um kein Wort von Hillels
Rede zu verlieren.
Schemajah fuhr fort:
"Das ganze Leben ist nichts anderes als formgewordene Fragen, die den
Keim der Antwort in sich tragen - und Antworten, die schwanger gehen mit
Fragen. Wer irgend etwas anderes drin sieht, ist ein Narr."
Zwakh schlug mit der Faust auf den Tisch:
"Jawohl: Fragen, die jedesmal anders lauten, und Antworten, die jeder
anders versteht."
"Gerade darauf kommt es an", sagte Hillel freundlich. "Alle Menschen
ìber einen Læffel zu - kurieren, ist lediglich Vorrecht der „rzte. Der
Fragende erh¤lt die Antwort, die ihm not tut: sonst ginge nicht die Kreatur
den Weg ihrer Sehnsucht. Glauben Sie denn, unsere jìdischen Schriften sind
bloŸ aus Willkìr nur in Konsonanten geschrieben? - Jeder hat sich selbst die
geheimen Vokale dazu zu finden, die ihm den nur fìr ihn allein bestimmten
Sinn erschlieŸen, - soll nicht das lebendige Wort zum toten Dogma
erstarren."
Der Marionettenspieler wehrte heftig ab:
"Das sind Worte, Rabbi, Worte! Pagad Ultimo will ich heiŸen, wenn ich
daraus klug werde."
Pagad!! - Das Wort schlug in mich ein wie der Blitz. Ich fiel vor
Entsetzen beinahe vom Stuhl.
Hillel wich meinen Augen aus.
"Pagad ultimo? Wer weiŸ, ob Sie nicht wirklich so heiŸen, Herr Zwakh!"
- schlug Hillels Rede wie aus weiter Ferne an mein Ohr. "Man soll seiner
Sache niemals allzu sicher sein. - œbrigens, da wir gerade von Karten
sprechen: Herr Zwakh, spielen Sie Tarock?"
"Tarock? Natìrlich. Von Kindheit an."
"Dann wundert's mich, wieso Sie nach einem Buche fragen kænnen, in dem
die ganze Kabbala steht, wo Sie es doch selbst Tausende Male in der Hand
gehabt haben."
"Ich? In der Hand gehabt? Ich?" - Zwakh griff sich an den Kopf.
"Jawohl, Sie! Ist es Ihnen niemals aufgefallen, daŸ das Tarockspiel 22
Trìmpfe hat, - genausoviel, wie das hebr¤ische Alphabet Buchstaben? Zeigen
unsere bæhmischen Karten nicht zum œberfluŸ noch Bilder dazu, die
offenkundig Symbole sind: Der Narr, der Tod, der Teufel, das Letzte Gericht?
- Wie laut, lieber Freund, wollen Sie eigentlich, daŸ Ihnen das Leben die
Antworten in die Ohren schreien soll? - - Was Sie allerdings nicht zu wissen
brauchen, ist, daŸ ›Tarok‹ oder ›Tarot‹ soviel bedeutet wie die jìdische
›Tora‹ = das Gesetz, oder das alt¤gyptische ›Tarut‹ = ›die Befragte‹, und in
der uralten Zendsprache das Wort: ›tarisk‹ = ›ich verlange die Antwort‹. -
Aber die Gelehrten sollten es wissen, bevor sie die Behauptung aufstellen,
das Tarock stamme aus der Zeit Karls des Sechsten. - Und so, wie der Pagad
die erste Karte im Spiel ist, so ist der Mensch die erste Figur in seinem
eignen Bilderbuch, sein eigner Doppelg¤nger: - - der hebr¤ische Buchstabe
Aleph, der, nach der Form des Menschen gebaut, mit der einen Hand zum Himmel
zeigt und mit der andern abw¤rts: das heiŸt also: ›So wie es oben ist, ist
es auch unten; so wie es unten ist, ist es auch oben.‹ - Darum sagte ich
vorhin: Wer weiŸ, ob Sie wirklich Zwakh heiŸen und nicht: ›Pagad‹ - berufen
Sie's nicht," - Hillel blickte mich dabei unverwandt an, und ich ahnte, wie
sich unter seinen Worten ein Abgrund immer neuer Bedeutung auftat - "berufen
Sie's nicht, Herr Zwakh! Man kann da in finstere G¤nge geraten, aus denen
noch keiner zurìckfand, der nicht - einen Talisman bei sich trug. Die
œberlieferung erz¤hlt, daŸ einmal drei M¤nner hinabgestiegen seien ins Reich
der Dunkelheit, der eine wurde wahnsinnig, der zweite blind, nur der dritte,
Rabbi ben Akiba, kam heil wieder heim und sagte, er sei sich selbst
begegnet. Schon so mancher, werden Sie sagen, ist sich selbst begegnet, z.
B. Goethe, gewæhnlich auf einer Brìcke, oder sonst einem Steig, der von
einem Ufer eines Flusses zum andern fìhrt, - hat sich selbst ins Auge
geblickt und ist nicht wahnsinnig geworden. Aber dann war's eben nur eine
Spiegelung des eigenen BewuŸtseins und nicht der wahre Doppelg¤nger: nicht
das, was man ›den Hauch der Knochen‹, den ›Habal Garmin‹ nennt, von dem es
heiŸt: Wie er in die Grube fuhr, unverweslich, im Gebein, so wird er
auferstehn am Tage des Letzten Gerichts." - Hillels Blick bohrte sich immer
tiefer in meine Augen - "Unsere GroŸmìtter sagen von ihm: ›er wohnt hoch
ìber der Erde in einem Zimmer ohne Tìre, nur mit einem Fenster, von dem aus
eine Verst¤ndigung mit den Menschen unmæglich ist. Wer ihn zu bannen und zu
- - verfeinern versteht, der wird gut Freund mit sich selbst." - - - Was
schlieŸlich das Tarock betrifft, so wissen Sie so gut wie ich: Fìr jeden
Spieler liegen die Karten anders, wer aber die Trìmpfe richtig verwendet,
der gewinnt die Partie - - -. Aber kommen Sie jetzt, Herr Zwakh! Gehen wir,
Sie trinken sonst Meister Pernaths ganzen Wein aus, und es bleibt nichts
mehr ìbrig fìr ihn selbst."
Eine Flockenschlacht tobte vor meinem Fenster. Regimenterweise jagten
die Schneesterne - winzige Soldaten in weiŸen, zottigen M¤ntelchen -
hintereinander her an den Scheiben vorìber - minutenlang - immer in
derselben Richtung, wie auf gemeinsamer Flucht vor einem ganz besonders
bæsartigen Gegner. Dann hatten sie das Davonlaufen mit einemmal dick satt,
schienen aus r¤tselhaften Grìnden einen Wutanfall zu bekommen und sausten
wieder zurìck, bis ihnen von oben und unten neue feindliche Armeen in die
Flanken fielen und alles in ein heilloses Gewirbel auflæsten.
Monate schien mir zurìckzuliegen, was ich an Seltsamem erst vor kurzem
erlebt hatte, und w¤ren nicht t¤glich einigemal immer neue krause Gerìchte
ìber den Golem zu mir gedrungen, die alles wieder frisch aufleben lieŸen,
ich glaube, ich h¤tte mich in Augenblicken des Zweifels verd¤chtigen kænnen,
das Opfer eines seelischen D¤mmerzustandes gewesen zu sein.
Aus den bunten Arabesken, die die Ereignisse um mich gewoben, stach in
schreienden Farben hervor, was mir Zwakh ìber den noch immer unaufgekl¤rten
Mord an dem sogenannten "Freimaurer" erz¤hlt hatte.
Den blatternarbigen Loisa damit in Zusammenhang zu bringen, wollte mir
nicht recht einleuchten, obwohl ich einen dunklen Verdacht nicht abschìtteln
konnte, - fast unmittelbar darauf, als Prokop in jener Nacht aus dem
Kanalgitter ein unheimliches Ger¤usch gehært zu haben geglaubt, hatten wir
den Burschen beim "Loisitschek" gesehen. Allerdings lag kein AnlaŸ vor, den
Schrei unter der Erde, der ìberdies geradesogut eine Sinnest¤uschung gewesen
sein konnte, als Hilferuf eines Menschen zu deuten. - - -
Das Schneegestæber vor meinen Augen blendete mich und ich fing an,
alles in tanzenden Streifen zu sehen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder
auf die Gemme vor mir. Das Wachsmodell, das ich von Mirjams Gesicht
entworfen hatte, muŸte sich vortrefflich auf den bl¤ulich leuchtenden
Mondstein da ìbertragen lassen. - Ich freute mich: es war ein angenehmer
Zufall, daŸ sich etwas so Geeignetes unter meinem Mineralienvorrat gefunden
hatte. Die tiefschwarze Matrix von Hornblende gab dem Stein gerade das
richtige Licht und die Konturen paŸten so genau, als habe ihn die Natur
eigens geschaffen, ein bleibendes Abbild von Mirjams feinem Profil zu
werden.
Anfangs war meine Absicht gewesen, eine Kamee daraus zu schneiden, die
den ¤gyptischen Gott Osiris darstellen sollte, und die Vision des
Hermaphroditen aus dem Buche Ibbur, die ich mir jederzeit mit auffallender
Deutlichkeit ins Ged¤chtnis zurìckrufen konnte, regte mich kìnstlerisch
stark an, aber allm¤hlich entdeckte ich nach den ersten Schnitten eine
solche „hnlichkeit mit der Tochter Schemajah Hillels, daŸ ich meinen Plan
umstieŸ. - - -
- Das Buch Ibbur! -
Erschìttert legte ich den Stahlgriffel weg. UnfaŸbar, was in der kurzen
Spanne Zeit in mein Leben getreten war!
Wie jemand, der sich plætzlich in eine unabsehbare Sandwìste versetzt
sieht, wurde ich mir mit einem Schlage der tiefen, riesengroŸen Einsamkeit
bewuŸt, die mich von meinen Nebenmenschen trennte.
Konnte ich je mit einem Freund - Hillel ausgenommen - davon reden, was
ich erlebt?
Wohl war mir in den stillen Stunden der verflossenen N¤chte die
Erinnerung wiedergekehrt, daŸ mich all meine Jugendjahre - von frìher
Kindheit angefangen - ein unsagbarer Durst nach dem Wunderbaren, dem
jenseits aller Sterblichkeit Liegenden, bis zur Todespein gefoltert hatte,
aber die Erfìllung meiner Sehnsucht war wie ein Gewittersturm gekommen und
erdrìckte den Jubelaufschrei meiner Seele mit ihrer Wucht.
Ich zitterte vor dem Augenblick, wo ich zu mir selbst kommen und das
Geschehene in seiner vollen markverbrennenden Lebendigkeit als Gegenwart
empfinden muŸte.
Nur jetzt sollte es noch nicht kommen! Erst den GenuŸ auskosten:
Unaussprechliches an Glanz auf sich zukommen zu sehen!
Ich hatte es doch in meiner Macht! Brauchte nur hinìber zu gehen in
mein Schlafzimmer und die Kassette aufzusperren, in der das Buch Ibbur, das
Geschenk der Unsichtbaren, lag!
Wie lang war's her, da hatte es meine Hand berìhrt, als ich Angelinas
Briefe dazuschloŸ!
Dumpfes Dræhnen drauŸen, wie von Zeit zu Zeit der Wind die angeh¤uften
Schneemassen von den D¤chern hinab vor die H¤user warf, gefolgt von Pausen
tiefer Stille, da die Flockendecke auf dem Pflaster jeden Laut verschlang.
Ich wollte weiterarbeiten, - da plætzlich stahlscharfe Hufschl¤ge unten
die Gasse entlang, daŸ man's færmlich Funken sprìhen sah.
Das Fenster zu æffnen und hinauszuschauen, war unmæglich: Muskeln aus
Eis verbanden seine R¤nder mit dem Mauerwerk, und die Scheiben waren bis zur
H¤lfte weiŸ verweht. Ich sah nur, daŸ Charousek scheinbar ganz friedlich
neben dem Trædler Wassertrum stand - sie muŸten soeben ein Gespr¤ch
mitsammen gefìhrt haben - sah, wie die Verblìffung, die sich in ihrer beider
Mienen malte, wuchs und sie sprachlos offenbar den Wagen, der meinen Blicken
entzogen war, anstarrten.
Angelinas Gatte ist es, fuhr es mir durch den Kopf. - Sie selbst konnte
es nicht sein! Mit ihrer Equipage hier bei mir vorzufahren - in der
HahnpaŸgasse! - vor aller Leute Augen! Es w¤re hellichter Wahnsinn gewesen.
- Aber was sollte ich zu ihrem Gatten sagen, wenn er's w¤re und mich auf den
Kopf zu fragte?
Leugnen, natìrlich leugnen.
Hastig legte ich mir die Mæglichkeiten zurecht: es kann nur ihr Gatte
sein. Er hat einen anonymen Brief bekommen, - von Wassertrum - daŸ sie hier
gewesen sei zu einem Rendezvous, und sie hat eine Ausrede gebraucht:
wahrscheinlich, daŸ sie eine Gemme oder sonst etwas bei mir bestellt habe. -
- - Da! wìtendes Klopfen an meiner Tìr und - Angelina stand vor mir.
Sie konnte kein Wort hervorbringen, aber der Ausdruck ihres Gesichtes
verriet mir alles: sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Das Lied war
aus.
Dennoch lehnte sich irgend etwas in mir auf gegen diese Annahme. Ich
brachte es nicht fertig, zu glauben, daŸ das Gefìhl, ihr helfen zu kænnen,
mich belogen haben sollte.
Ich fìhrte sie in meinen Lehnstuhl. Streichelte ihr stumm das Haar; und
sie verbarg, todmìde wie ein Kind, ihren Kopf an meiner Brust.
Wir hærten das Knistern der brennenden Scheite im Ofen und sahen, wie
der rote Schein ìber die Dielen huschte, aufflammte und erlosch - aufflammte
und erlosch - aufflammte und erlosch - - -
"Wo ist das Herz aus rotem Stein - - -" klang es in meinem Innern. Ich
fuhr auf: Wo bin ich! Wie lang sitzt sie schon hier?
Und ich forschte sie aus, - vorsichtig, leise, ganz leise, daŸ sie
nicht aufwache und ich mit der Sonde die schmerzende Wunde nicht berìhre.
Bruchstìckweise erfuhr ich, was ich zu wissen brauchte, und setzte es
mir zusammen wie ein Mosaik:
"Ihr Gatte weiŸ - -?"
"Nein, noch nicht; er ist verreist."
Also um Dr. Saviolis Leben drehte sich's; - Charousek hatte es richtig
erraten. Und weil's um Saviolis Leben ging, und nicht mehr um ihres, war sie
hier. Sie denkt nicht mehr daran, irgend etwas zu verbergen, begriff ich.
Wassertrum war abermals bei Dr. Savioli gewesen. Hatte sich mit
Drohungen und Gewalt den Weg erzwungen bis zu seinem Krankenlager.
Und weiter! Weiter! Was wollte er von ihm?
Was er wollte? Sie hatte es halb erraten, halb erfahren: er wollte, daŸ
- - daŸ - er wollte, daŸ sich Dr. Savioli - - ein Leid antue.
Sie kenne jetzt auch die Grìnde von Wassertrums wildem besinnungslosem
HaŸ: "Dr. Savioli habe einst seinen Sohn, den Augenarzt Wassory, in den Tod
getrieben."
Sofort schlug ein Gedanke in mich ein wie der Blitz: hinunterlaufen,
dem Trædler alles verraten: daŸ Charousek den Schlag gefìhrt hatte - aus dem
Hinterhalt - und nicht Savioli, der nur das Werkzeug war - - -. "Verrat!
Verrat!" heulte es mir ins Hirn, "du willst also den armen schwindsìchtigen
Charousek, der dir helfen wollte und ihr, der Rachsucht dieses Halunken
preisgeben?" - Und es zerriŸ mich in blutende H¤lften. - Dann sprach ein
Gedanke eiskalt und gelassen die Losung aus: "Narr! Du hast es doch in der
Hand! Brauchst ja nur die Feile dort auf dem Tisch zu nehmen, hinunter zu
laufen und sie dem Trædler durch die Gurgel zu jagen, daŸ die Spitze hinten
zum Genick herausschaut."
Mein Herz jauchzte einen Dankesschrei zu Gott.
Ich forschte weiter:
"Und Dr. Savioli?"
Kein Zweifel, daŸ er Hand an sich legen wird, wenn sie ihn nicht
rettete. Die Krankenschwestern lieŸen ihn nicht aus den Augen, hatten ihn
mit Morphium bet¤ubt, aber vielleicht erwacht er plætzlich - vielleicht
gerade jetzt - und - und - nein, nein, sie mìsse fort, dìrfe keine Sekunde
Zeit mehr vers¤umen, - sie wolle ihrem Gatten schreiben, ihm alles
eingestehen, - solle er ihr das Kind nehmen, aber Savioli sei gerettet, denn
sie h¤tte Wassertrum damit die einzige Waffe aus der Hand geschlagen, die er
bes¤Ÿe und mit der er drohe.
Sie wolle das Geheimnis selbst enthìllen, ehe er es verraten kænne.
"Das werden Sie nicht tun, Angelina!" schrie ich und dachte an die
Feile und die Stimme versagte mir in jubelnder Freude ìber meine Macht.
Angelina wollte sich losreiŸen: ich hielt sie fest.
"Nur noch eins: œberlegen Sie, wird Ihr Gatte denn dem Trædler so ohne
weiteres glauben?"
"Aber Wassertrum hat doch Beweise, offenbar meine Briefe, vielleicht
auch ein Bild von mir, - alles, was im Schreibtisch nebenan im Atelier
versteckt war."
Briefe? Bild? Schreibtisch? - ich wuŸte nicht mehr, was ich tat: ich
riŸ Angelina an meine Brust und kìŸte sie. Auf den Mund, auf die Stirn, auf
die Augen.
Ihr blondes Haar lag wie ein goldner Schleier vor meinem Gesicht.
Dann hielt ich sie an ihren schmalen H¤nden und erz¤hlte ihr mit
fliegenden Worten, daŸ der Todfeind Wassertrums - ein armer bæhmischer
Student - die Briefe und alles in Sicherheit gebracht h¤tte und sie in
meinem Besitz seien und fest verwahrt.
Und sie fiel mir um den Hals und lachte und weinte in einem Atem. KìŸte
mich. Rannte zur Tìr. Kehrte wieder um und kìŸte mich wieder.
Dann war sie verschwunden.
Ich stand wie bet¤ubt und fìhlte noch immer den Atem ihres Mundes an
meinem Gesicht.
Ich hærte wie die Wagenr¤der ìber das Pflaster donnerten und den
rasenden Galopp der Hufe. Eine Minute sp¤ter war alles still. Wie ein Grab.
Auch in mir.
Plætzlich knarrte die Tìr leise hinter mir, und Charousek stand im
Zimmer:
"Verzeihen Sie, Herr Pernath, ich habe lange geklopft, aber Sie
schienen es nicht zu hæren."
Ich nickte nur stumm.
"Hoffentlich nehmen Sie nicht an, daŸ ich mich mit Wassertrum versæhnt
habe, weil Sie mich vorhin mit ihm sprechen sahen?" - Charouseks hohnisches
L¤cheln sagte mir, daŸ er nur einen grimmigen SpaŸ machte. - "Sie mìssen
n¤mlich wissen: Das Gluck ist mir hold; die Kanaille da unten f¤ngt an, mich
in ihr Herz zu schlieŸen, Meister Pernath. - - Es ist eine seltsame Sache,
das mit der Stimme des Blutes", setzte er leise - halb fìr sich - hinzu.
Ich verstand nicht, was er damit meinen konnte, und nahm an, ich h¤tte
etwas ìberhært. Die ausgestandene Erregung zitterte noch zu stark in mir.
"Er wollte mir einen Mantel schenken", fuhr Charousek laut fort. "Ich
habe natìrlich dankend abgelehnt. Mich brennt schon meine eigene Haut genug.
- Und dann hat er mir Geld aufgedr¤ngt."
"Sie haben es angenommen?!", wollte es mir herausfahren, aber ich hielt
noch rasch meine Zunge im Zaum.
Die Wangen des Studenten bekamen kreisrunde rote Flecken:
"Das Geld habe ich selbstverst¤ndlich angenommen."
Mir wurde ganz wirr im Kopf!
"- an - genommen?", stammelte ich.
"Ich h¤tte nie gedacht, daŸ man auf Erden eine so reine Freude
empfinden kann!" - Charousek hielt einen Augenblick inne und schnitt eine
Fratze. - "Ist es nicht ein erhebendes Gefìhl, im Haushalt der Natur
›Mìtterchens Vorsehung‹ ækonomischen Finger allenthalben in Weisheit und
Umsicht walten zu sehen!?" - Er sprach wie ein Pastor und klimperte dabei
mit dem Geld in seiner Tasche, - "wahrlich, als hehre Pflicht empfinde ich
es, den Schatz, mir anvertraut von milder Hand, auf Heller und Pfennig
dereinst dem edelsten aller Zwecke zuzufìhren."
War er betrunken? Oder wahnsinnig?
Charousek ¤nderte plætzlich den Ton:
"Es liegt eine satanische Komik darin, daŸ Wassertrum sich die - Arznei
selber bezahlt. Finden Sie nicht?"
Eine Ahnung d¤mmerte mir auf, was sich hinter Charouseks Rede verbarg,
und mir graute vor seinen fiebernden Augen.
"œbrigens lassen wir das jetzt, Meister Pernath. Erledigen wir erst die
laufenden Gesch¤fte. Vorhin, die Dame, das war ›sie‹ doch? Was ist ihr denn
eingefallen, hier æffentlich vorzufahren?"
Ich erz¤hlte Charousek, was geschehen war.
"Wassertrum hat bestimmt keine Beweise in den H¤nden", unterbrach er
mich freudig, "sonst h¤tte er nicht heute morgen abermals das Atelier
durchsucht. - Merkwìrdig, daŸ Sie ihn nicht gehært haben!? Eine volle Stunde
lang war er drìben."
Ich staunte, woher er alles so genau wissen kænne, und sagte es ihm.
"Darf ich?" - als Erkl¤rung nahm er sich eine Zigarette vom Tisch,
zìndete sie an und erl¤uterte: "Sehen Sie, wenn Sie jetzt die Tìr æffnen,
bringt die Zugluft, die vom Stiegenhaus hereinweht, den Tabakrauch aus der
Richtung. Es ist das vielleicht das einzige Naturgesetz, das Herr Wassertrum
genau kennt, und fìr alle F¤lle hat er in der StraŸenmauer des Ateliers -
das Haus gehært ihm, wie Sie wissen - eine kleine, versteckte, offene Nische
anbringen lassen: eine Art Ventilation, und darin ein rotes F¤hnchen. Wenn
nun jemand das Zimmer betritt oder verl¤Ÿt, das heiŸt: die Zugtìr æffnet, so
merkt es Wassertrum unten an dem heftigen Flattern des F¤hnchens. Allerdings
weiŸ ich es ebenfalls," setzte Charousek trocken hinzu, "wenn's mir drum zu
tun ist, und kann es von dem Kellerloch vis- -vis, in dem zu hausen ein
gn¤diges Schicksal mir huldreichst gestattet, genau beobachten. - Der
niedliche Scherz mit der Ventilation ist zwar ein Patent des wìrdigen
Patriarchen, aber auch mir seit Jahren gel¤ufig."
"Was fìr einen ìbermenschlichen HaŸ Sie gegen ihn haben mìssen, daŸ Sie
so jeden seiner Schritte belauern. Und noch dazu seit langem, wie Sie
sagen!" warf ich ein.
"HaŸ?" Charousek l¤chelte krampfhaft. "HaŸ? - HaŸ ist kein Ausdruck.
Das Wort, das meine Gefìhle gegen ihn bezeichnen kænnte, muŸ erst geschaffen
werden. - Ich hasse, genaugenommen, auch gar nicht ihn. Ich hasse sein Blut.
Verstehen Sie das? Ich wittere wie ein wildes Tier, wenn auch nur ein
Tropfen von seinem Blut in den Adern eines Menschen flieŸt, - und" - er biŸ
die Z¤hne zusammen - "das kommt ›zuweilen‹ vor hier im Getto." Unf¤hig
weiter zu sprechen vor Aufregung lief er ans Fenster und starrte hinaus. -
Ich hærte wie er sein Keuchen unterdrìckte. Wir schwiegen beide eine Weile.
"Hallo, was ist denn das?" fuhr er plætzlich auf und winkte mir hastig:
"Rasch, rasch! Haben Sie nicht einen Operngucker oder so etwas?"
Wir sp¤hten vorsichtig hinter den Vorh¤ngen hinunter:
Der taubstumme Jaromir stand vor dem Eingang des Trædlerladens und bot,
soviel wir aus seiner Zeichensprache erraten konnten, Wassertrum einen
kleinen blitzenden Gegenstand, den er in der Hand halb verbarg, zum Kauf an.
Wassertrum fuhr danach wie ein Geier und zog sich damit in seine Hæhle
zurìck.
Gleich darauf stìrzte er wieder hervor - totenblaŸ - und packte Jaromir
an der Brust: Es entspann sich ein heftiges Ringen. - Mit einem Mal lieŸ
Wassertrum los und schien zu ìberlegen. Nagte wìtend an seiner gespaltenen
Oberlippe. Warf einen grìbelnden Blick zu uns herauf und zog dann Jaromir am
Arm friedlich in seinen Laden.
Wir warteten wohl eine Viertelstunde lang: sie schienen nicht fertig
werden zu kænnen mit ihrem Handel.
Endlich kam der Taubstumme mit befriedigter Miene wieder heraus und
ging seines Weges.
"Was halten Sie davon?", fragte ich. "Es scheint nichts Wichtiges zu
sein? Vermutlich hat der arme Bursche irgendeinen erbettelten Gegenstand
versilbert."
Der Student gab keine Antwort und setzte sich schweigend wieder an den
Tisch.
Offenbar legte auch er dem Geschehnis keine Bedeutung bei, denn er fuhr
nach einer Pause da fort, wo er stehen geblieben war:
"Ja. Also ich sagte, ich hasse sein Blut. - Unterbrechen Sie mich,
Meister Pernath, wenn ich wieder heftig werde. Ich will kalt bleiben. Ich
darf meine besten Empfindungen nicht so vergeuden. Es packt mich sonst
nachher wie Ernìchterung. Ein Mensch mit Schamgefìhl soll in kìhlen Worten
reden, nicht mit Pathos wie eine Prostituierte oder - oder ein Dichter. -
Seit die Welt steht, w¤r's niemand eingefallen, vor Leid die ›H¤nde zu
ringen‹, wenn nicht die Schauspieler diese Geste als besonders ›plastisch‹
ausgetìftelt h¤tten."
Ich begriff, daŸ er mit Absicht blind drauflos redete, um innerlich
Ruhe zu bekommen.
Es wollte ihm nicht recht gelingen. Nervæs lief er im Zimmer auf und
ab, faŸte alle mæglichen Gegenst¤nde an und stellte sie zerstreut zurìck an
ihren Platz.
Dann war er mit einem Ruck wieder mitten in seinem Thema:
"Aus den kleinsten unwillkìrlichen Bewegungen eines Menschen verr¤t
sich mir dieses Blut. Ich kenne Kinder, die ›ihm‹ ¤hnlich sehen und als
seine gelten, aber doch sind sie nicht vom selben Stamme - man kann mich
nicht t¤uschen. Jahrelang erfuhr ich nicht, daŸ Dr. Wassory sein Sohn ist,
aber ich habe es - ich mæchte sagen - gerochen.
Schon als kleiner Junge, als ich noch nicht ahnen konnte, in welchen
Beziehungen Wassertrum zu mir steht," - sein Blick ruhte eine Sekunde
forschend auf mir, - "besaŸ ich diese Gabe. Man hat mich mit FìŸen getreten,
mich geschlagen, daŸ es wohl keine Stelle an meinem Kærper gibt, die nicht
wìŸte, was rasender Schmerz ist, - hat mich hungern und dursten lassen, bis
ich halb wahnsinnig wurde und schimmlige Erde gefressen habe, aber niemals
konnte ich diejenigen hassen, die mich peinigten. Ich konnte einfach nicht.
Es war kein Platz mehr in mir fìr HaŸ. - Verstehen Sie? Und doch war mein
ganzes Wesen getr¤nkt damit.
Nie hat mir Wassertrum auch nur das geringste angetan - ich will damit
sagen, daŸ er mich jemals weder geschlagen oder beworfen, noch auch
irgendwie beschimpft hat, wenn ich mich als Gassenjunge unten herumtrieb:
ich weiŸ das genau, - und doch richtete sich alles, was an Rachsucht und Wut
in mir kochte, gegen ihn. Nur gegen ihn!
Merkwìrdig ist, daŸ ich ihm trotzdem nie als Kind einen Schabernack
gespielt habe. Wenn's die andern taten, zog ich mich sofort zurìck. Aber
stundenlang konnte ich im Torweg stehen und, hinter der Haustìr versteckt,
durch die Angelritzen sein Gesicht unverwandt anstieren, bis mir vor
unerkl¤rlichem HaŸgefìhl schwarz vor den Augen wurde.
Damals, glaube ich, habe ich den Grundstein zu dem Hellsehen gelegt,
das sofort in mir aufwacht, wenn ich mit Wesen, ja sogar mit Dingen in
Berìhrung komme, die in Verbindung mit ihm stehen. Ich muŸ wohl jede seiner
Bewegungen: seine Art, den Rock zu tragen und wie er Sachen anfaŸt, hustet
und trinkt, und all das Tausenderlei damals unbewuŸt auswendig gelernt
haben, bis sich's mir in die Seele fraŸ, daŸ ich ìberall die Spuren davon
auf den ersten Blick mit unfehlbarer Sicherheit als seine Erbstìcke erkennen
kann.
Sp¤ter wurde das manchmal fast zur Manie: ich warf harmlose Gegenst¤nde
von mir, bloŸ weil mich der Gedanke qu¤lte, seine Hand kænne sie berìhrt
haben, - andere wieder waren mir ans Herz gewachsen; ich liebte sie wie
Freunde, die ihm Bæses wìnschten."
Charousek schwieg einen Moment. Ich sah, wie er geistesabwesend ins
Leere blickte. Seine Finger streichelten mechanisch die Feile auf dem Tisch.
"Als dann ein paar mitleidige Lehrer fìr mich gesammelt hatten und ich
Philosophie und Medizin studierte - auch nebenbei selbst denken lernte -, da
kam mir langsam die Erkenntnis, was HaŸ ist:
Wir kænnen nur etwas so tief hassen, wie ich es tue, was ein Teil von
uns selbst ist.
Und wie ich sp¤ter dahinter kam, - nach und nach alles erfuhr: was
meine Mutter war - und - und noch sein muŸ, wenn - wenn sie noch lebt, - und
daŸ mein eigener Leib" - er wendete sich ab, damit ich sein Gesicht nicht
sehen sollte, - "voll ist von seinem eklen Blut - nun ja, Pernath, - warum
sollen Sie's nicht wissen: er ist mein Vater! - da wurde mir klar, wo die
Wurzel lag. - - - Zuweilen kommt's mir sogar wie ein geheimnisvoller
Zusammenhang vor, daŸ ich schwindsìchtig bin und Blut spucken muŸ: mein
Kærper wehrt sich gegen alles, was von ›ihm‹ ist, und stæŸt es mit Abscheu
von sich.
Oft hat mich mein HaŸ bis in den Traum begleitet und zu træsten gesucht
mit Geschichten von allen nur erdenklichen Foltern, die ich ›ihm‹ zufìgen
durfte, aber immer verscheuchte ich sie selber, weil sie den faden
Beigeschmack des - Unbefriedigtseins in mir hinterlieŸen.
Wenn ich ìber mich selbst nachdenke und mich wundern muŸ, daŸ es so gar
niemanden und nichts auf der Welt gibt, was ich zu hassen, - ja nicht einmal
als antipathisch zu empfinden imstande w¤re, auŸer ›ihn‹ und seinen Stamm, -
beschleicht mich oft das widerliche Gefìhl: ich kænnte das sein, was man
einen ›guten Menschen‹ nennt. Aber zum Glìck ist es nicht so. - Ich sagte
Ihnen schon: es ist kein Platz mehr in mir.
Und glauben Sie nur ja nicht, daŸ ein trauriges Schicksal mich
verbittert hat: (Was er meiner Mutter angetan hat, erfuhr ich ìberdies erst
in sp¤teren Jahren) - ich habe einen Freudentag erlebt, der weit in den
Schatten stellt, was sonst einem Sterblichen vergænnt ist. Ich weiŸ nicht,
ob Sie kennen, was innere, echte, heiŸe Fræmmigkeit ist, - ich hatte es bis
dahin auch nicht gekannt - als ich aber an jenem Tage, an dem Wassory sich
selbst ausgerottet hat, am Laden unten stand und sah, wie ›er‹ die Nachricht
bekam, - sie ›stumpfsinnig‹, wie ein Laie, der die echte Bìhne des Lebens
nicht kennt, h¤tte glauben mìssen, - hinnahm, wohl eine Stunde lang
teilnahmslos stehen blieb, seine blutrote Hasenscharte nur ein ganz klein
biŸchen hæher ìber die Z¤hne gezogen als sonst und den Blick so gewiŸ - - so
- so - so eigenartig nach innen gekehrt, - - - - da fìhlte ich den
Weihrauchduft von den Schwingen des Erzengels. - - Kennen Sie das Gnadenbild
der schwarzen Muttergottes in der Teinkirche? Dort warf ich mich nieder und
die Finsternis des Paradieses hìllte meine Seele ein." -
- - - Wie ich Charousek so dastehen sah, die groŸen, tr¤umerischen
Augen voll Tr¤nen, da fielen mir Hillels Worte ein von der Unbegreiflichkeit
des dunklen Pfades, den die Brìder des Todes gehen.
Charousek fuhr fort:
"Die ¤uŸeren Umstande, die meinen HaŸ ›rechtfertigen‹ oder in den
Gehirnen der amtlich besoldeten Richter begreiflich erscheinen lassen
kænnten, werden Sie vielleicht gar nicht interessieren: - Tatsachen sehen
sich an wie Meilensteine und sind doch nur leere Eierschalen. Sie sind das
aufdringliche Knallen der Champagnerpfropfen an den Tafeln der Protzen, das
nur der Schwachsinnige fìr das Wesentliche eines Gelages h¤lt. - Wassertrum
hat meine Mutter mit all den infernalischen Mitteln, die seinesgleichen
Gewohnheit sind, gezwungen, ihm zu Willen zu sein, - wenn es nicht noch viel
schlimmer war. Und dann - - nun ja - und dann hat er sie an - ein
Freudenhaus verkauft, - - - so etwas ist nicht schwer, wenn man Polizeir¤te
zu Gesch¤ftsfreunden hat, - aber nicht etwa, weil er ihrer ìberdrìssig
gewesen w¤re, o nein! Ich kenne die Schlupfwinkel seines Herzens: an dem
Tage hat er sie verkauft, wo er sich voll Schrecken bewuŸt wurde, wie heiŸ
er sie in Wirklichkeit liebte. So einer wie er handelt da scheinbar
widersinnig, aber immer gleich. Das Hamsterhafte in seinem Wesen quietscht
auf, sowie jemand kommt und kauft ihm irgend etwas ab aus seiner Trædlerbude
gegen noch so teures Geld: er empfindet nur den Zwang des ›Hergebenmìssens‹.
Er mæchte den Begriff ›haben‹ am liebsten in sich hineinfressen und kænnte
er sich ìberhaupt ein Ideal ausdenken, so w¤r's das, sich dereinst in den
abstrakten Begriff ›Besitz‹ aufzulæsen. - -
Und da ist es damals riesengroŸ in ihm gewachsen bis zu einem Berg von
Angst: "seiner selbst nicht mehr sicher" zu sein, - nicht: etwas an Liebe
geben zu wollen, sondern geben zu mìssen: die Gegenwart eines Unsichtbaren
in sich zu ahnen, das seinen Willen oder das, von dem er mæchte, daŸ es sein
Wille sein sollte, heimlich in Fesseln schlug. - So war der Anfang. Was dann
folgte, geschah automatisch. Wie der Hecht mechanisch zubeiŸen muŸ, - ob er
will oder nicht - wenn ein blitzender Gegenstand zu rechter Zeit
vorìberschwimmt.
Das Verschachern meiner Mutter ergab sich fìr Wassertrum als natìrliche
Folge. Es befriedigte den Rest der in ihm schlummernden Eigenschaften: die
Gier nach Gold und die perverse Wonne an der Selbstqual. - - - Verzeihen
Sie, Meister Pernath," - Charouseks Stimme klang plætzlich so hart und
nìchtern, daŸ ich erschrak, - "verzeihen Sie, daŸ ich so furchtbar gescheit
daherrede, aber wenn man an der Universit¤t ist, kommt einem eine Menge
vertrottelter Bìcher unter die H¤nde; unwillkìrlich verf¤llt man dann in
eine teppenhafte Ausdrucksweise." -
Ich zwang mich ihm zu Gefallen zu einem L¤cheln; innerlich verstand ich
gar wohl, daŸ er mit dem Weinen k¤mpfte.
Irgendwie muŸ ich ihm helfen, ìberlegte ich, wenigstens seine bitterste
Not zu lindern versuchen, soweit das in meiner Macht steht. Ich nahm
unauff¤llig die Hundertguldennote, die ich noch zu Hause hatte, aus der
Kommodenschublade und steckte sie in die Tasche.
"Wenn Sie sp¤ter einmal in eine bessere Umgebung kommen und Ihren Beruf
als Arzt ausìben, wird Frieden bei Ihnen einziehen, Herr Charousek"; sagte
ich, um dem Gespr¤ch eine versæhnliche Richtung zu geben, - "machen Sie bald
Ihr Doktorat?"
"Demn¤chst. Ich bin es meinen Wohlt¤tern schuldig. Zweck hat's ja
keinen, denn meine Tage sind gez¤hlt."
Ich wollte den ìblichen Einwand machen, daŸ er doch wohl zu schwarz
sehe, aber erwehrte l¤chelnd ab:
"Es ist das beste so. Es muŸ ìberdies kein Vergnìgen sein, den
Heilkomædianten zu mimen und sich zu guterletzt noch als diplomierter
Brunnenvergifter einen Adelstitel zuzuziehen. - - Andererseits", setzte er
mit seinem galligen Humor hinzu, "wird mir leider jedes weitere segensreiche
Wirken hier im Diesseits-Getto ein fìr allemal abgeschnitten sein." Er griff
nach seinem Hut. "Jetzt will ich aber nicht langer stæren. Oder w¤re noch
etwas zu besprechen in der Angelegenheit Savioli? Ich denke nicht. Lassen
Sie mich jedenfalls wissen, wenn Sie etwas Neues erfahren. Am besten, Sie
h¤ngen einen Spiegel hier ans Fenster, als Zeichen, daŸ ich Sie besuchen
soll. Zu mir in den Keller dìrfen Sie auf keinen Fall kommen: Wassertrum
wurde sofort Verdacht schæpfen, daŸ wir zusammenhalten. - Ich bin ìbrigens
sehr neugierig, was er jetzt tun wird, wo er gesehen hat, daŸ die Dame zu
Ihnen gekommen ist. Sagen Sie ganz einfach, sie h¤tte Ihnen ein Schmuckstìck
zu reparieren gebracht, und wenn er zudringlich wird, spielen Sie eben den
Rabiaten."
Es wollte sich keine passende Gelegenheit ergeben, Charousek die
Banknote aufzudr¤ngen; ich nahm daher das Modellierwachs wieder vom
Fensterbrett und sagte: "Kommen Sie, ich begleite Sie ein Stìck die Treppen
hinunter. - Hillel erwartet mich", log ich.
Er stutzte:
"Sie sind mit ihm befreundet?"
"Ein wenig. Kennen Sie ihn? - - Oder miŸtrauen Sie ihm", - ich muŸte
unwillkìrlich l¤cheln - "vielleicht auch?"
"Da sei Gott vor!"
"Warum sagen Sie das so ernst?"
Charousek zægerte und dachte nach:
"Ich weiŸ selbst nicht warum. Es muŸ etwas UnbewuŸtes sein: so oft ich
ihm auf der StraŸe begegne, mæchte ich am liebsten vom Pflaster
heruntertreten und das Knie beugen wie vor einem Priester, der die Hostie
tr¤gt. - Sehen Sie, Meister Pernath, da haben Sie einen Menschen, der in
jedem Atom das Gegenteil von Wassertrum ist. Er gilt z. B. bei den Christen
hier im Viertel, die, wie immer, so auch in diesem Fall falsch informiert
sind, als Geizhals und heimlicher Million¤r und ist doch unsagbar arm."
Ich fuhr entsetzt auf: "arm?"
"Ja, womæglich noch armer als ich. Das Wort ›nehmen‹ kennt er, glaub'
ich, ìberhaupt nur aus Bìchern; aber wenn er am Ersten des Monats aus dem
›Rathaus‹ kommt, dann laufen die jìdischen Bettler vor ihm davon, weil sie
wissen, er wìrde dem n¤chsten besten von ihnen seinen ganzen k¤rglichen
Gehalt in die Hand drìcken und ein paar Tage sp¤ter - samt seiner Tochter
selber verhungern. - Wenn's wahr ist, was eine uralte talmudische Legende
behauptet: daŸ von den zwælf jìdischen St¤mmen zehn verflucht sind und zwei
hellig, so verkærpert er die zwei heiligen und Wassertrum alle zehn andern
zusammen. - Haben Sie noch nie bemerkt, wie Wassertrum s¤mtliche Farben
spielt, wenn Hillel an ihm vorìber geht? Interessant, sag' ich Ihnen! Sehen
Sie, solches Blut kann sich gar nicht vermischen; da kamen die Kinder tot
zur Welt. Vorausgesetzt, daŸ die Mìtter nicht schon frìher vor Entsetzen
stìrben. - Hillel ist ìbrigens der einzige, an den sich Wassertrum nicht
herantraut; - er weicht ihm aus wie dem Feuer. Vermutlich, weil Hillel das
Unbegreifliche, das vollkommen Unentr¤tselbare, fìr ihn bedeutet. Vielleicht
wittert er in ihm auch den Kabballsten."
Wir gingen bereits die Stiegen hinab.
"Glauben Sie, daŸ es heutzutage noch Kabballsten gibt - daŸ ìberhaupt
an der Kabbala etwas sein konnte?", fragte ich, gespannt, was er wohl
antworten wìrde, aber er schien nicht zugehært zu haben.
Ich wiederholte meine Frage.
Hastig lenkte er ab und deutete auf eine Tìr des Treppenhauses, die aus
Kistendeckeln zusammengenagelt war:
"Sie haben da neue Mitbewohner bekommen, eine zwar jìdische aber arme
Familie: den meschuggenen Musikanten Nephtali Schaffranek mit Tochter,
Schwiegersohn und Enkelkindern. Wenn's dunkel wird und er allein ist mit den
kleinen M¤dchen, kommt der Rappel ìber ihn: dann bindet er sie an den Daumen
zusammen, damit sie ihm nicht davonlaufen, zw¤ngt sie in einen alten
Hìhnerk¤fig und unterweist sie im ›Gesang‹, wie er es nennt, damit sie
sp¤ter ihren Lebensunterhalt selbst erwerben kænnen, - das heiŸt, er lehrt
sie die verrìcktesten Lieder, die es gibt, deutsche Texte, Bruchstìcke, die
er irgendwo aufgeschnappt hat und im D¤mmer seines Seelenzustandes fìr -
preuŸische Schlachthymnen oder dergleichen h¤lt."
Wirklich tænte da eine sonderbare Musik leise auf den Gang heraus. Ein
Fiedelbogen kratzte fìrchterlich hoch und immerw¤hrend in ein und demselben
Ton die Umrisse eines Gassenhauers, und zwei fadendìnne Kinderstimmen sangen
dazu:
"Frau Pick,
Frau Hock,
Frau Kle - pe - tarsch,
se stehen beirenond
und schmusen allerhond - -"
Es war wie Wahnwitz und Komik zugleich, und ich muŸte wider Willen
hellaut auflachen.
"Schwiegersohn Schaffranek - seine Frau verkauft auf dem Eiermarkt
Gurkensaft gl¤schenweise an die Schuljugend - l¤uft den ganzen Tag in den
Bìros herum", fuhr Charousek grimmig fort, "und erbettelt sich alte
Briefmarken. Die sortiert er dann, und wenn er welche darunter findet, die
zuf¤llig nur am Rande gestempelt sind, so legt er sie aufeinander und
schneidet sie durch. Die ungestempelten H¤lften klebt er zusammen und
verkauft sie als neu. Anfangs blìhte das Gesch¤ft und warf manchmal fast
einen - Gulden im Tag ab, aber schlieŸlich kamen die Prager jìdischen
GroŸindustriellen dahinter - und machen es jetzt selber. Sie schæpfen den
Rahm ab."
"Wìrden Sie Not lindern, Charousek, wenn Sie ìberflìssiges Geld
h¤tten?" fragte ich rasch. - Wir standen vor Hillels Tìr und ich klopfte an.
"Halten Sie mich fìr so gemein, daŸ Sie glauben kænnen, ich t¤te es
nicht?", fragte er verblìfft zurìck.
Mirjams Schritte kamen n¤her, und ich wartete, bis sie die Klinke
niederdrìckte, dann schob ich ihm rasch die Banknote in die Tasche:
"Nein, Herr Charousek, ich halte Sie nicht dafìr, aber mich mìŸten Sie
fìr gemein halten, wenn ich's unterlieŸe."
Ehe er etwas erwidern konnte, hatte ich ihm die Hand geschìttelt und
die Tìr hinter mir zugezogen. W¤hrend mich Mirjam begrìŸte, lauschte ich,
was er tun wìrde.
Er blieb eine Weile stehen, dann schluchzte er leise auf und ging
langsam mit suchendem Schritt die Treppe hinunter. Wie jemand, der sich am
Gel¤nder halten muŸ. - - -
Es war das erste Mal, daŸ ich Hillels Zimmer besuchte.
Es sah schmucklos aus wie ein Gef¤ngnis. Der Boden peinlich sauber und
mit weiŸem Sand bestreut. Nichts an Mæbeln als zwei Stìhle und ein Tisch und
eine Kommode. Ein Holzpostament je links und rechts an den W¤nden. - - -
Mirjam saŸ mir gegenìber am Fenster, und ich bossierte an meinem
Modellierwachs.
"MuŸ man denn ein Gesicht vor sich haben, um die „hnlichkeit zu
treffen?", fragte sie schìchtern und nur, um die Stille zu unterbrechen.
Wir wichen einander scheu mit den Blicken aus. Sie wuŸte nicht, wohin
die Augen richten in ihrer Qual und Scham ìber die jammervolle Stube, und
mir brannten die Wangen von innerem Vorwurf, daŸ ich mich nicht l¤ngst darum
gekìmmert hatte, wie sie und ihr Vater lebten.
Aber irgend etwas muŸte ich doch antworten!
"Nicht so sehr, um die „hnlichkeit zu treffen, als um zu vergleichen,
ob man innerlich auch richtig gesehen hat", - ich fìhlte, noch w¤hrend ich
sprach, wie grundfalsch das alles war, was ich sagte.
Jahrelang hatte ich den irrigen Grundsatz der Maler, man mìsse die
¤uŸere Natur studieren, um kìnstlerisch schaffen zu kænnen, stumpfsinnig
nachgebetet und befolgt; erst, seit Hillel mich in jener Nacht erweckt, war
mir das innere Schauen aufgegangen: das wahre Sehenkænnen hinter
geschlossenen Lidern, das sofort erlischt, wenn man die Augen aufschl¤gt, -
die Gabe, die sie alle zu haben glauben und die doch unter Millionen keiner
wirklich besitzt.
Wie konnte ich auch nur von der Mæglichkeit sprechen, die unfehlbare
Richtschnur der geistigen Vision an den groben Mitteln des Augenscheins
nachmessen zu wollen!
Mirjam schien „hnliches zu denken, nach dem Erstaunen in ihren Mienen
zu schlieŸen.
"Sie dìrfen es nicht so wærtlich nehmen", entschuldigte ich mich.
Voll Aufmerksamkeit sah sie zu, wie ich mit dem Griffel die Form
vertiefte.
"Es muŸ unendlich schwer sein, alles dann haargenau auf Stein zu
ìbertragen?"
"Das ist nur mechanische Arbeit. So ziemlich wenigstens."
Pause.
"Darf ich die Gemme sehen, wenn sie fertig ist?" fragte sie.
"Sie ist doch fìr Sie bestimmt, Mirjam."
"Nein, nein; das geht nicht, - - das - das - -", - ich sah, wie ihre
H¤nde nervæs wurden.
"Nicht einmal diese Kleinigkeit wollen Sie von mir annehmen?",
unterbrach ich sie schnell, "ich wollte, ich dìrfte mehr fìr Sie tun."
Hastig wandte sie das Gesicht ab.
Was hatte ich da gesagt! Ich muŸte sie aufs tiefste verletzt haben. Es
hatte geklungen, als wollte ich auf ihre Armut anspielen.
Konnte ich es noch beschænigen? Wurde es dann nicht weit schlimmer?
Ich nahm einen Anlauf:
"Hæren Sie mich ruhig an, Mirjam! Ich bitte Sie darum. - Ich schulde
Ihrem Vater so unendlich viel, - Sie kænnen das gar nicht ermessen - -"
Sie sah mich unsicher an; verstand offenbar nicht.
"-ja ja: unendlich viel. Mehr als mein Leben."
"Weil er Ihnen damals beistand, als Sie ohnm¤chtig waren? Das war doch
selbstverst¤ndlich."
Ich fìhlte: sie wuŸte nicht, welches Band mich mit ihrem Vater
verknìpfte. Vorsichtig sondierte ich, wie weit ich gehen durfte, ohne zu
verraten, was er ihr verschwieg.
"Weit hæher als ¤uŸere Hilfe, dachte ich, ist die innere zu stellen. -
Ich meine die, die aus dem geistigen EinfluŸ eines Menschen auf den andern
ìberstrahlt. - Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Mirjam? - Man kann
jemand auch seelisch heilen, nicht nur kærperlich, Mirjam."
"Und das hat - -?"
"Ja, das hat Ihr Vater an mir getan!" - ich faŸte sie an der Hand, -
"begreifen Sie nicht, daŸ es mir da ein Herzenswunsch sein muŸ, wenn schon
nicht ihm, so doch jemand, der ihm so nahesteht, wie Sie, irgendeine Freude
zu bereiten? - Haben Sie nur ein ganz klein wenig Vertrauen zu mir! - Gibt's
denn gar keinen Wunsch, den ich Ihnen erfìllen kænnte?"
Sie schìttelte den Kopf: "Sie glauben, ich fìhle mich unglìcklich
hier?"
"GewiŸ nicht. Aber vielleicht haben Sie zuweilen Sorgen, die ich Ihnen
abnehmen konnte? Sie sind verpflichtet - hæren Sie! - verpflichtet, mich
daran teilnehmen zu lassen! Warum leben Sie denn beide hier in der finstern
traurigen Gasse, wenn Sie nicht mìŸten? Sie sind noch so jung, Mirjam, und -
-"
"Sie leben doch selbst hier, Herr Pernath", unterbrach sie mich
l¤chelnd, "was fesselt Sie an das Haus?"
Ich stutzte. - Ja. Ja, das war richtig. Warum lebte ich eigentlich
hier? Ich konnte es mir nicht erkl¤ren, was fesselt dich an das Haus?
wiederholte ich mir geistesabwesend. Ich konnte keine Erkl¤rung finden und
vergaŸ einen Augenblick ganz, wo ich war. - Dann stand ich plætzlich
entrìckt irgendwo hoch oben - in einem Garten - roch den zauberhaften Duft
von blìhenden Holunderdolden, - sah herab auf die Stadt - - -
"Habe ich eine Wunde berìhrt? Hab' ich Ihnen weh getan?", kam Mirjams
Stimme von weit, weit her zu mir.
Sie hatte sich ìber mich gebeugt und sah mir ¤ngstlich forschend ins
Gesicht.
Ich muŸte wohl lange starr dagesessen haben, daŸ sie so besorgt war.
Eine Weile schwankte es hin und her in mir, dann brach sich's plætzlich
gewaltsam Bahn, ìberflutete mich, und ich schìttete Mirjam mein ganzes Herz
aus.
Ich erz¤hlte ihr, wie einem lieben, alten Freund, mit dem man sein
ganzes Leben beisammen war und vor dem man kein Geheimnis hat, wie's um mich
stand und auf welche Weise ich aus einer Erz¤hlung Zwakhs erfahren hatte,
daŸ ich in frìheren Jahren wahnsinnig gewesen und der Erinnerung an meine
Vergangenheit beraubt worden war, - wie in letzter Zeit Bilder in mir wach
geworden, die in jenen Tagen wurzeln muŸten, immer h¤ufiger und h¤ufiger,
und daŸ ich vor dem Moment zitterte, wo mir alles offenbar werden und mich
von neuem zerreiŸen wìrde.
Nur, was ich mit ihrem Vater in Zusammenhang bringen muŸte: - meine
Erlebnisse in den unterirdischen G¤ngen und all das ìbrige, verschwieg ich
ihr.
Sie war dicht zu mir gerìckt und hærte mit einer tiefen atemlosen
Teilnahme zu, die mir uns¤glich wohl tat.
Endlich hatte ich einen Menschen gefunden, mit dem ich mich aussprechen
konnte, wenn mir meine geistige Einsamkeit zu schwer wurde. - GewiŸ wohl:
Hillel war ja noch da, aber fìr mich nur wie ein Wesen jenseits der Wolken,
das kam und verschwand wie ein Licht, an das ich nicht herankonnte, wenn ich
mich sehnte.
Ich sagte es ihr und sie verstand mich. Auch sie sah ihn so, trotzdem
er ihr Vater war.
Er hing mit unendlicher Liebe an ihr und sie an ihm - "und doch bin ich
wie durch eine Glaswand von ihm getrennt," vertraute sie mir an, "die ich
nicht durchbrechen kann. Solange ich denke, war es so. - Wenn ich ihn als
Kind im Traum an meinem Bette stehen sah, immer trug er das Gewand des
Hohenpriesters: die goldene Tafel des Moses mit den 12 Steinen darin auf der
Brust, und blaue leuchtende Strahlen gingen von seinen Schl¤fen aus. - Ich
glaube, seine Liebe ist von der Art, die ìbers Grab hinausgeht, und zu groŸ,
als daŸ wir sie fassen kænnten. - Das hat auch meine Mutter immer gesagt,
wenn wir heimlich ìber ihn sprachen." - - Sie schauderte plætzlich und
zitterte am ganzen Leib. Ich wollte aufspringen, aber sie hielt mich zurìck:
"Seien Sie ruhig, es ist nichts. BloŸ eine Erinnerung. Als meine Mutter
starb - nur ich weiŸ, wie er sie geliebt hat, ich war damals noch ein
kleines M¤dchen, - glaubte ich vor Schmerz ersticken zu mìssen, und ich lief
zu ihm hin und krallte mich in seinen Rock und wollte aufschreien und konnte
doch nicht, weil alles gel¤hmt war in mir - und - und da - - - - mir lauft's
wieder eiskalt ìber den Rìcken, wenn ich daran denke - sah er mich l¤chelnd
an, kìŸte mich auf die Stirn und fuhr mir mit der Hand ìber die Augen. - - -
- Und von dem Moment an bis heute war jedes Leid, daŸ ich meine Mutter
verloren hatte, wie ausgetilgt in mir. Nicht eine Tr¤ne konnte ich
vergieŸen, als sie begraben wurde; ich sah die Sonne als strahlende Hand
Gottes am Himmel stehen und wunderte mich, warum die Menschen weinten. Mein
Vater ging hinter dem Sarge her, neben mir, und wenn ich aufblickte,
l¤chelte er jedesmal leise und ich fìhlte, wie das Entsetzen durch die Menge
fuhr, als sie es sahen."
"Und sind Sie glìcklich, Mirjam? Ganz glìcklich? Liegt nicht zugleich
etwas Furchtbares fìr Sie in dem Gedanken, ein Wesen zum Vater zu haben, das
hinausgewachsen ist ìber alles Menschentum?", fragte ich leise.
Mirjam schìttelte freudig den Kopf:
"Ich lebe wie in einem seligen Schlaf dahin. - Als Sie mich vorhin
fragten, Herr Pernath, ob ich nicht Sorgen h¤tte und warum wir hier wohnten,
muŸte ich fast lachen. Ist denn die Natur schæn? Nun ja, die B¤ume sind grìn
und der Himmel ist blau, aber das alles kann ich mir viel schæner
vorstellen, wenn ich die Augen schlieŸe. MuŸ ich denn, um sie zu sehen, auf
einer Wiese sitzen? - Und das biŸchen Not und - und - und Hunger? Das wird
tausendfach aufgewogen durch die Hoffnung und das Warten."
"Das Warten?", fragte ich erstaunt.
"Das Warten auf ein Wunder. Kennen Sie das nicht? Nein? Da sind Sie
aber ein ganz, ganz armer Mensch. - DaŸ das so wenige kennen?! Sehen Sie,
das ist auch der Grund, weshalb ich nie ausgehe und mit niemand verkehre.
Ich hatte wohl frìher ein paar Freundinnen - Jìdinnen natìrlich, wie ich -,
aber wir redeten immer aneinander vorbei; sie verstanden mich nicht und ich
sie nicht. Wenn ich von Wundern sprach, glaubten sie anfangs, ich mache
SpaŸ, und als sie merkten, wie ernst es mir war und daŸ ich auch unter
Wundern nicht das verstand, was die Deutschen mit ihren Brillen so
bezeichnen: das gesetzm¤Ÿige Wachsen des Grases und dergleichen, sondern
eher das Gegenteil, - h¤tten sie mich am liebsten fìr verrìckt gehalten,
aber dagegen stand ihnen wieder im Wege, daŸ ich ziemlich gelenkig bin im
Denken, hebr¤isch und aram¤isch gelernt habe, die Targumim und Midraschim
lesen kann, und was dergleichen Nebens¤chlichkeiten mehr sind. SchlieŸlich
fanden sie ein Wort, das ìberhaupt nichts mehr ausdrìckt: sie nannten mich
›ìberspannt‹.
Wenn ich ihnen dann klarmachen wollte, daŸ das Bedeutsame - das
Wesentliche - fìr mich in der Bibel und anderen heiligen Schriften das
Wunder und bloŸ das Wunder sei und nicht Vorschriften ìber Moral und Ethik,
die nur versteckte Wege sein kænnen, um zum Wunder zu gelangen, - so wuŸten
sie nur mit Gemeinpl¤tzen zu erwidern, denn sie scheuten sich, offen
einzugestehen, daŸ sie aus den Religionsschriften nur das glaubten, was
ebensogut im bìrgerlichen Gesetzbuch stehen kænnte. Wenn sie das Wort
›Wunder‹ nur hærten, wurde ihnen schon unbehaglich. Sie verlæren den Boden
unter den FìŸen, sagten sie.
Als ob es etwas Herrlicheres geben kænnte, als den Boden unter den
FìŸen zu verlieren!
Die Welt ist dazu da, um von uns kaputt gedacht zu werden, hærte ich
einmal meinen Vater sagen, - dann, dann erst f¤ngt das Leben an. - Ich weiŸ
nicht, was er mit dem ›Leben‹ meinte, aber ich fìhle zuweilen, daŸ ich eines
Tages so wie: ›erwachen‹ werde. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, in
welchen Zustand hinein. Und Wunder mìssen dem vorhergehen, denke ich mir
immer.
›Hast du denn schon welche erlebt, daŸ du fortw¤hrend darauf wartest?‹
fragten mich oft meine Freundinnen, und wenn ich verneinte, wurden sie
plætzlich froh und siegesgewiŸ. Sagen Sie, Herr Pernath, kænnen Sie solche
Herzen verstehen? DaŸ ich doch Wunder erlebt habe, wenn auch nur kleine, -
winzig kleine -", - Mirjams Augen gl¤nzten, - "wollte ich ihnen nicht
verraten, - - -"
Ich hærte, wie Freudentr¤nen ihre Stimme fast erstickten.
"- aber Sie werden mich verstehen: oft, Wochen, ja Monate", - Mirjam
wurde ganz leise - "haben wir nur von Wundern gelebt. Wenn gar kein Brot
mehr im Hause war, aber auch nicht ein Bissen mehr, dann wuŸte ich: jetzt
ist die Stunde da! - Und dann saŸ ich hier und wartete und wartete, bis ich
vor Herzklopfen kaum mehr atmen konnte. Und - und dann, wenn's mich
plætzlich zog, lief ich hinunter und kreuz und quer durch die StraŸen, so
rasch ich konnte, um rechtzeitig wieder im Hause zu sein, ehe mein Vater
heimkam. Und - und jedesmal fand ich Geld. Einmal mehr, einmal weniger, aber
immer soviel, daŸ ich das Nætigste einkaufen konnte. Oft lag ein Gulden
mitten auf der StraŸe; ich sah ihn von weitem blitzen und die Leute traten
darauf, rutschten aus darìber, aber keiner bemerkte ihn. - Das machte mich
zuweilen so ìbermìtig, daŸ ich gar nicht erst ausging, sondern nebenan in
der Kìche den Boden durchsuchte wie ein Kind, ob nicht Geld oder Brot vom
Himmel gefallen sei."
- Ein Gedanke schoŸ mir durch den Kopf, und ich muŸte aus Freude
darìber l¤cheln. -
Sie sah es.
"Lachen Sie nicht, Herr Pernath", flehte sie. "Glauben Sie mir, ich
weiŸ, daŸ diese Wunder wachsen werden und daŸ sie eines Tages -"
Ich beruhigte sie: "Aber ich lache doch nicht, Mirjam! Was denken Sie
denn! Ich bin unendlich glìcklich, daŸ Sie nicht sind wie die andern, die
hinter jeder Wirkung die gewohnte Ursache suchen und bocken, wenn's - wir
rufen in solchen Fallen: Gott sei Dank! - einmal anders kommt."
Sie streckte mir die Hand hin:
"Und nicht wahr, Sie werden nie mehr sagen, Herr Pernath, daŸ Sie mir -
oder uns - helfen wollen? Jetzt, wo Sie wissen, daŸ Sie mir die Mæglichkeit,
ein Wunder zu erleben, rauben wìrden, wenn Sie es t¤ten?"
Ich versprach es. Aber im Herzen machte ich einen Vorbehalt.
Da ging die Tìr und Hillel trat ein.
Mirjam umarmte ihn; und er begrìŸte mich. Herzlich und voll
Freundschaft, aber wieder mit dem kìhlen "Sie".
Auch schien etwas wie leise Mìdigkeit oder Unsicherheit auf ihm zu
lasten. - Oder irrte ich mich?
Vielleicht kam es nur von der D¤mmerung, die in der Stube lag.
"Sie sind gewiŸ hier, mich um Rat zu fragen", fing er an, als Mirjam
uns allein gelassen hatte, "in der Sache, die die fremde Dame betrifft - -?"
Ich wollte ihn verwundert unterbrechen, aber er fiel mir in die Rede:
"Ich weiŸ es von dem Studenten Charousek. Ich sprach ihn auf der Gasse
an, weil er mir merkwìrdig ver¤ndert vorkam. Er hat mir alles erz¤hlt. In
der œberfìlle seines Herzens. Auch, daŸ - Sie ihm Geld geschenkt haben." Er
sah mich durchdringend an und betonte jedes seiner Worte auf hæchst seltsame
Weise, aber ich verstand nicht, was er damit wollte:
"GewiŸ, es hat dadurch ein paar Tropfen Glìck mehr vom Himmel geregnet
- und - und in diesem - Fall hat's vielleicht auch nicht geschadet, aber -,"
er dachte eine Weile nach, - "aber manchmal schafft man sich und anderen nur
Leid damit. Gar so leicht ist das Helfen nicht, wie Sie denken, mein lieber
Freund! Da w¤re es sehr, sehr einfach, die Welt zu erlæsen. - Oder glauben
Sie nicht?"
"Geben Sie denn nicht auch den Armen? Oft alles, was Sie besitzen,
Hillel?", fragte ich.
Er schìttelte l¤chelnd den Kopf: "Mir scheint, Sie sind ìber Nacht ein
Talmudist geworden, daŸ Sie eine Frage wieder mit einer Frage beantworten.
Da ist freilich schwer streiten."
Er hielt inne, als ob ich darauf antworten sollte, aber wiederum
verstand ich nicht, worauf er eigentlich wartete.
"œbrigens, um zu dem Thema zurìckzukommen", fuhr er in ver¤ndertem Tone
fort, "ich glaube nicht, daŸ Ihrem Schìtzling - ich meine die Dame -
augenblicklich Gefahr droht. Lassen Sie die Dinge an sich herantreten. Es
heiŸt zwar: ›der kluge Mann baut vor‹, aber der Klìgere, scheint mir, wartet
ab und ist auf alles gefaŸt. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, daŸ
Aaron Wassertrum mit mir zusammentrifft, aber das muŸ dann von ihm ausgehen,
- ich tue keinen Schritt, er muŸ herìberkommen. Ob zu Ihnen oder zu mir, ist
gleichgìltig - und dann will ich mit ihm reden. An ihm wird's sein, sich zu
entscheiden, ob er meinen Rat befolgen will oder nicht. Ich wasche meine
H¤nde in Unschuld."
Ich versuchte ¤ngstlich in seinem Gesicht zu lesen. So kalt und
eigentìmlich drohend hatte er noch nie gesprochen. Aber hinter diesem
schwarzen, tiefliegenden Auge schlief ein Abgrund.
"Es ist wie eine Glaswand zwischen ihm und uns", fielen mir Mirjams
Worte ein.
Ich konnte ihm nur wortlos die Hand drìcken und - gehen.
Er begleitete mich bis vor die Tìre und, als ich die Treppe hinaufging
und mich noch einmal umdrehte, sah ich, daŸ er stehen geblieben war und mir
freundlich nachwinkte, aber wie jemand, der noch gern etwas sagen mæchte und
nicht kann.
Ich hatte die Absicht, mir Mantel und Stock zu holen und in die kleine
Wirtsstube "Zum alten Ungelt" essen zu gehen, wo allabendlich Zwakh,
Vrieslander und Prokop bis sp¤t in die Nacht beisammen saŸen und einander
verrìckte Geschichten erz¤hlten; aber kaum betrat ich mein Zimmer, da fiel
der Vorsatz von mir ab, - wie wenn mir H¤nde ein Tuch oder sonst etwas, was
ich am Leibe getragen, abgerissen h¤tten.
Es lag eine Spannung in der Luft, ìber die ich mir keine Rechenschaft
geben konnte, die aber trotzdem vorhanden war wie etwas Greifbares und sich
im Verlauf weniger Sekunden derart heftig auf mich ìbertrug, daŸ ich vor
Unruhe anfangs kaum wuŸte, was ich zuerst tun sollte: Licht anzìnden, hinter
mir abschlieŸen, mich niedersetzen oder auf und ab gehen.
Hatte sich jemand in meiner Abwesenheit eingeschlichen und versteckt?
War's die Angst eines Menschen vor dem Gesehenwerden, die mich ansteckte?
War Wassertrum vielleicht hier?
Ich griff hinter die Gardinen, æffnete den Schrank, tat einen Blick ins
Nebenzimmer: - niemand.
Auch die Kassette stand unverrìckt an ihrem Platz.
Ob es nicht am besten war, ich verbrannte die Briefe kurz entschlossen,
um ein fìr allemal die Sorge um sie los zu sein?
Schon suchte ich nach dem Schlìssel in meiner Westentasche - aber muŸte
es denn jetzt geschehen? Es blieb mir doch Zeit genug bis morgen frìh.
Erst Licht machen!
Ich konnte die Streichhælzer nicht finden.
War die Tìr abgesperrt? - Ich ging ein paar Schritte zurìck. Blieb
wieder stehen.
Warum mit einemmal die Angst?
Ich wollte mir Vorwìrfe machen, daŸ ich feig sei: - die Gedanken
blieben stecken. Mitten im Satz.
Eine wahnwitzige Idee ìberfiel mich plætzlich: rasch, rasch auf den
Tisch steigen, einen Sessel packen und zu mir hinaufziehen und "dem" den
Sch¤del damit von oben herab einschlagen, das da auf dem Boden herumkroch, -
- wenn - wenn es in die N¤he kam.
"Es ist doch niemand hier," sagte ich mir laut und ¤rgerlich vor, "hast
du dich denn je im Leben gefìrchtet?"
Es half nichts. Die Luft, die ich einatmete, wurde dìnn und schneidend
wie „ther.
Wenn ich irgendetwas gesehen h¤tte: das Gr¤Ÿlichste, was man sich
vorstellen kann, - im Nu w¤re die Furcht von mir gewichen.
Es kam nichts.
Ich bohrte meine Augen in alle Winkel:
Nichts.
œberall lauter wohlbekannte Dinge: Mæbel, Truhen, die Lampe, das Bild,
die Wanduhr - leblose, alte, treue Freunde.
Ich hoffte, sie wìrden sich vor meinen Blicken ver¤ndern und mir Grund
geben, eine Sinnest¤uschung als Ursache fìr das wìrgende Angstgefìhl in mir
zu finden.
Auch das nicht. - Sie blieben ihrer Form starr getreu. Viel zu starr
fìr das herrschende Halbdunkel, als daŸ es natìrlich gewesen w¤re.
"Sie stehen unter demselben Zwang wie du selbst", fìhlte ich. "Sie
trauen sich nicht, auch nur die leiseste Bewegung zu machen."
Warum tickt die Wanduhr nicht? -
Das Lauern ringsum trank jeden Laut.
Ich rìttelte am Tisch und wunderte mich, daŸ ich das Ger¤usch hæren
konnte.
Wenn doch wenigstens der Wind ums Haus pfiffe! - Nicht einmal das! Oder
das Holz im Ofen aufknallen wollte: - das Feuer war erloschen.
Und immerw¤hrend dasselbe entsetzliche Lauern in der Luft - pausenlos,
lìckenlos, wie das Rinnen von Wasser.
Dieses vergebliche Auf-dem-Sprung-stehen aller meiner Sinne! Ich
verzweifelte daran, es je ìberdauern zu kænnen. - Der Raum voll Augen, die
ich nicht sehen, - voll von planlos wandernden H¤nden, die ich nicht greifen
konnte.
"Es ist das Entsetzen, das sich aus sich selbst gebiert, die l¤hmende
Schrecknis des unfaŸbaren Nicht-Etwas, das keine Form hat und unserm Denken
die Grenzen zerfriŸt", begriff ich dumpf.
Ich stellte mich steif hin und wartete.
Wartete wohl eine Viertelstunde: vielleicht lieŸ "es" sich verleiten
und schlich von rìckw¤rts an mich heran - und ich konnte es ertappen?!
Mit einem Ruck fuhr ich herum: wieder nichts.
Dasselbe markverzehrende "Nichts", das nicht war und doch das Zimmer
mit seinem grausigen Leben erfìllte.
Wenn ich hinausliefe? Was hinderte mich?
"Es wìrde mit mir gehen", wuŸte ich sofort mit unabweisbarer
Sicherheit. Auch, daŸ es mir nichts nìtzen kænnte, wenn ich Licht machte,
sah ich ein, - dennoch suchte ich so lange nach dem Feuerzeug, bis ich es
gefunden hatte.
Aber der Kerzendocht wollte nicht brennen und kam lang aus dem Glimmen
nicht heraus: die kleine Flamme konnte nicht leben und nicht sterben, und
als sie sich endlich doch ein schwindsìchtiges Dasein erk¤mpft hatte, blieb
sie glanzlos wie gelbes, schmutziges Blech. Nein, da war die Dunkelheit noch
besser.
Ich læschte wieder aus und warf mich angezogen ìbers Bett. Z¤hlte die
Schl¤ge meines Herzens: eins, zwei, drei - vier ... bis tausend, und immer
von neuem - Stunden, Tage, Wochen, wie mir schien, bis meine Lippen trocken
wurden und das Haar sich mir str¤ubte: keine Sekunde der Erleichterung.
Auch nicht eine einzige.
Ich fing an, mir Worte vorzusagen, wie sie mir gerade auf die Zunge
kamen: "Prinz", "Baum", "Kind", "Buch" - und sie krampfhaft zu wiederholen,
bis sie plætzlich als sinnlose, schreckhafte Laute aus barbarischer Vorzeit
nackt mir gegenìberstanden, und ich mit aller Kraft nachdenken muŸte, in
ihre Bedeutung zurìckzufinden: P-r-i-n-z? - B-u-ch?
War ich nicht schon wahnsinnig? Oder gestorben? - Ich tastete an mir
herum.
Aufstehen!
Mich in den Sessel setzen!
Ich lieŸ mich in den Lehnstuhl fallen.
Wenn doch endlich der Tod k¤me!
Nur dieses blutlose, furchtbare Lauern nicht mehr fìhlen! "Ich - will -
nicht - ich will - nicht!", schrie ich. "Hært ihr denn nicht?!"
Kraftlos fiel ich zurìck.
Konnte es nicht fassen, daŸ ich immer noch lebte.
Unf¤hig, irgend etwas zu denken oder zu tun, stierte ich geradeaus vor
mich hin.
"Weshalb er mir nur die Kærner so beharrlich hinreicht?", ebbte ein
Gedanke auf mich zu, zog sich zurìck und kam wieder. Zog sich zurìck. Kam
wieder.
Langsam wurde mir endlich klar, daŸ ein seltsames Wesen vor mir stand -
vielleicht schon, seit ich hier saŸ, dagestanden hatte - und mir die Hand
hinstreckte:
Ein graues, breitschultriges Geschæpf, in der GræŸe eines gedrungen
gewachsenen Menschen, auf einen spiralfærmig gedrehten Knotenstock aus
weiŸem Holz gestìtzt.
Wo der Kopf h¤tte sitzen mìssen, konnte ich nur einen Nebelballen aus
fahlem Dunst unterscheiden.
Ein trìber Geruch nach Sandelholz und nassem Schiefer ging von der
Erscheinung aus.
Ein Gefìhl vollkommenster Wehrlosigkeit raubte mir fast die Besinnung.
Was ich die ganze lange Zeit an nervenzernagender Qual mitgemacht, dr¤ngte
sich jetzt zu Todesschrecken zusammen und war in diesem Wesen zur Form
geronnen.
Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, ich wìrde wahnsinnig werden vor
Entsetzen und Furcht, wenn ich das Gesicht des Phantoms sehen kænnte, -
warnte mich davor, schrie es mir in die Ohren - und doch zog es mich wie ein
Magnet, daŸ ich den Blick von dem fahlen Nebelballen nicht wenden konnte und
darin forschte nach Augen, Nase und Mund.
Aber so sehr ich mich auch abmìhte: der Dunst blieb unbeweglich. Wohl
glìckte es mir, Kæpfe aller Art auf den Rumpf zu setzen, doch jedesmal wuŸte
ich, daŸ sie nur meiner Einbildungskraft entstammten.
Sie zerrannen auch stets - fast in derselben Sekunde, in der ich sie
geschaffen hatte.
Nur die Form eines ¤gyptischen Ibiskopfs blieb noch am l¤ngsten
bestehen.
Die Umrisse des Phantoms schleierten schemenhaft in der Dunkelheit,
zogen sich kaum merklich zusammen und dehnten sich wieder aus, wie unter
langsamen Atemzìgen, die die ganze Gestalt durchliefen, die einzige
Bewegung, die zu bemerken war. Statt der FìŸe berìhrten Knochenstumpen den
Boden, von denen das Fleisch - grau und blutleer - auf Spannenbreite zu
wulstigen R¤ndern emporgezogen war.
Regungslos hielt das Geschæpf mir seine Hand hin.
Kleine Kærner lagen dann. BohnengroŸ, von roter Farbe und mit schwarzen
Punkten am Rande.
Was sollte ich damit?!
Ich fìhlte dumpf: eine ungeheure Verantwortung lag auf mir - eine
Verantwortung, die weit hinausging ìber alles Irdische, - wenn ich jetzt
nicht das Richtige tat.
Zwei Waagschalen, jede belastet mit dem Gewicht des halben
Weltgeb¤udes, schweben irgendwo im Reich der Ursachen, ahnte ich - auf
welche von beiden ich ein St¤ubchen warf: die sank zu Boden.
Das war das furchtbare Lauern ringsum!, verstand ich. "Keinen Finger
rìhren!", riet mir mein Verstand, - "und wenn der Tod in alle Ewigkeit nicht
kommen sollte und mich erlæsen aus dieser Qual." -
Auch dann h¤ttest du deine Wahl getroffen: du h¤ttest die Kærner
abgelehnt, raunte es in mir. Hier gibt's kein Zurìck.
Hilfesuchend blickte ich um mich, ob mir denn kein Zeichen wurde, was
ich tun sollte. Nichts.
Auch in mir kein Rat, kein Einfall - alles tot, gestorben.
Das Leben von Myriaden Menschen wiegt leicht wie eine Feder in diesem
furchtbaren Augenblick, erkannte ich. - -
Es muŸte bereits tiefe Nacht sein, denn ich konnte die W¤nde meines
Zimmers nicht mehr unterscheiden.
Nebenan im Atelier stampften Schritte; ich hærte, daŸ jemand Schr¤nke
rìckte, Schubladen aufriŸ und polternd zu Boden warf, glaubte Wassertrums
Stimme zu erkennen, wie er in seinem ræchelnden BaŸ wilde Fluche ausstieŸ;
ich horchte nicht hin. Es war mir belanglos wie das Rascheln einer Maus. -
Ich schloŸ die Augen:
Menschliche Antlitze zogen in langen Reihen an mir vorìber. Die Lider
zugedrìckt - starre Totenmasken: - mein eigenes Geschlecht, meine eigenen
Vorfahren.
Immer dieselbe Sch¤delbildung, wie auch der Typus zu wechseln schien,
so stand es auf aus seinen Grìften, - mit glattem gescheiteltem Haar,
gelocktem und kurz geschnittenem, mit Allongeperìcken und in Ringe
gezw¤ngten Schæpfen - durch Jahrhunderte heran, bis die Zìge mir bekannter
und bekannter wurden und in ein letztes Gesicht zusammenflossen: - das
Gesicht des Golem, mit dem die Kette meiner Ahnen abbrach.
Dann læste die Finsternis mein Zimmer in einen unendlichen leeren Raum
auf, in dessen Mitte ich mich auf meinem Lehnstuhl sitzen wuŸte, vor mir der
graue Schatten wieder mit dem ausgestreckten Arm.
Und als ich die Augen aufschlug, standen in zwei sich schneidenden
Kreisen, die einen Achter bildeten, fremdartige Wesen um uns herum:
Die des einen Kreises gehìllt in Gew¤nder mit violettem Schimmer, die
des anderen mit rætlich schwarzem. Menschen einer fremden Rasse, von hohem,
unnatìrlich schm¤chtigem Wuchs, die Gesichter hinter leuchtenden Tìchern
verborgen.
Das Herzbeben in meiner Brust sagte mir, daŸ der Zeitpunkt der
Entscheidung gekommen war. Meine Finger zuckten nach den Kærnern: - und da
sah ich, wie ein Zittern durch die Gestalten des rætlichen Kreises ging. -
Sollte ich die Kærner zurìckweisen?: Das Zittern ergriff den bl¤ulichen
Kreis; - ich blickte den Mann ohne Kopf scharf an; er stand da - in
derselben Stellung: regungslos wie frìher.
Sogar sein Atem hatte aufgehært.
Ich hob den Arm, wuŸte noch immer nicht, was ich tun sollte, und -
schlug auf die ausgestreckte Hand des Phantoms, daŸ die Kærner ìber den
Boden hinrollten.
Einen Moment, so j¤h wie ein elektrischer Schlag, entglitt mir das
BewuŸtsein, und ich glaubte in endlose Tiefen zu stìrzen, - dann stand ich
fest auf den FìŸen.
Das graue Geschæpf war verschwunden. Ebenso die Wesen des rætlichen
Kreises.
Die bl¤ulichen Gestalten hingegen hatten einen Ring um mich gebildet;
sie trugen eine Inschrift aus goldnen Hieroglyphen auf der Brust und hielten
stumm - es sah aus wie ein Schwur - zwischen Zeigefinger und Daumen die
roten Kærner in die Hohe, die ich dem Phantom ohne Kopf aus der Hand
geschlagen hatte.
Ich hærte, wie drauŸen Hagelschauer gegen die Fenster tobten und
brìllender Donner die Luft zerriŸ:
Ein Wintergewitter in seiner ganzen besinnungslosen Wut raste ìber die
Stadt hinweg. Vom FluŸ her dræhnten durch das Heulen des Sturms in
rhythmischen Intervallen die dumpfen Kanonenschìsse, die das Brechen der
Eisdecke auf der Moldau verkìndeten. Die Stube loderte im Licht der
ununterbrochen aufeinanderfolgenden Blitze. Ich fìhlte mich plætzlich so
schwach, daŸ mir die Knie zitterten und ich mich setzen muŸte.
"Sei ruhig," sagte deutlich eine Stimme neben mir, "sei ganz ruhig, es
ist heute die Lelschimurim: die Nacht der Beschìtzung." -
Allm¤hlich lieŸ das Unwetter nach, und der bet¤ubende L¤rm ging ìber in
das eintænige Trommeln der SchloŸen auf die Dacher.
Die Mattigkeit in meinen Gliedern nahm derart zu, daŸ ich nur mehr mit
stumpfen Sinnen und halb im Traum wahrnahm, was um mich her vorging:
Jemand aus dem Kreis sagte die Worte:
"Den ihr suchet, der ist nicht hier."
Die andern erwiderten etwas in einer fremden Sprache.
Hierauf sagte der erste wieder leise einen Satz, dann kam der Name
"Henoch"
vor, aber ich verstand das ìbrige nicht: der Wind trug das Stæhnen der
berstenden Eisschollen zu laut vom Flusse herìber.
Dann læste sich einer aus dem Kreis, trat vor mich hin, deutete auf die
Hieroglyphen auf seiner Brust - sie waren dieselben Buchstaben wie die der
ìbrigen - und fragte mich, ob ich sie lesen kænne.
Und als ich - lallend vor Mìdigkeit, - verneinte, streckte er die
Handfl¤che gegen mich aus, und die Schrift erschien leuchtend auf meiner
Brust in Lettern, die zuerst lateinisch waren:
CHABRAT ZEREH AUR BOCHER
und sich langsam in die mir unbekannten verwandelten. - - - Und ich
fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, wie ich ihn seit jener Nacht, in
der Hillel mir die Zunge gelæst, nicht mehr gekannt hatte.
Wie im Fluge waren mir die Stunden der letzten Tage vergangen. Kaum,
daŸ ich mir Zeit zu den Mahlzeiten lieŸ.
Ein unwiderstehlicher Drang nach ¤uŸerer T¤tigkeit hatte mich von frìh
bis abends an meinen Arbeitstisch gefesselt.
Die Gemme war fertig geworden, und Mirjam hatte sich wie ein Kind
darìber gefreut.
Auch der Buchstabe "I" in dem Buche Ibbur war ausgebessert.
Ich lehnte mich zurìck und lieŸ ruhevoll all die kleinen Geschehnisse
der heutigen Stunden an mir vorìberziehen:
Wie das alte Weib, das mich bediente, am Morgen nach dem Ungewitter zu
mir ins Zimmer gestìrzt kam mit der Meldung, die steinerne Brìcke sei in der
Nacht eingestìrzt. -
Seltsam: - Eingestìrzt! Vielleicht gerade in der Stunde, wo ich die
Kærner - - - nein, nein, nicht daran denken; es kænnte einen Anstrich von
Nìchternheit bekommen, was damals geschehen war, und ich hatte mir
vorgenommen, es in meiner Brust begraben sein zu lassen, bis es von selbst
wieder erwachte, - nur nicht daran rìhren.
Wie lange war's her, da ging ich noch ìber die Brìcke, sah die
steinernen Statuen - und jetzt lag sie, die Brìcke, die Jahrhunderte
gestanden, in Trìmmern.
Es stimmte mich beinahe wehmìtig, daŸ ich nie mehr meinen FuŸ auf sie
setzen sollte. Wenn man sie auch wieder aufbaute, war es doch nicht mehr die
alte, geheimnisvolle, steinerne Brìcke.
Stundenlang hatte ich, w¤hrend ich an der Gemme schnitt, darìber
nachdenken mìssen, und so selbstverst¤ndlich, als h¤tte ich es nie vergessen
gehabt, war es lebendig in mir geworden: wie oft ich als Kind und auch in
sp¤tern Jahren zu dem Bildnis der heiligen Luitgard und all den andern, die
jetzt begraben lagen in den tosenden Wassern, aufgeblickt.
Die vielen, kleinen lieben Dinge, die ich in meiner Jugend mein eigen
genannt, hatte ich wieder gesehen im Geiste - und meinen Vater und meine
Mutter und die Menge Schulkameraden. Nur an das Haus, wo ich gewohnt, konnte
ich mich nicht mehr erinnern.
Ich wuŸte, es wìrde plætzlich, eines Tages, wenn ich es am wenigsten
erwartete, wieder vor mir stehen; und ich freute mich darauf.
Die Empfindung, daŸ sich mit einemmal alles natìrlich und einfach in
mir abwickelte, war so behaglich.
Als ich vorgestern das Buch Ibbur aus der Kassette geholt hatte, - es
war so gar nichts Erstaunliches daran gewesen, daŸ es aussah, nun, wie eben
ein altes, mit wertvollen Initialen geschmìcktes Pergamentbuch aussieht -
schien es mir ganz selbstverst¤ndlich.
Ich konnte nicht begreifen, daŸ es jemals gespenstisch auf mich gewirkt
hatte!
Es war in hebr¤ischer Sprache geschrieben, vollkommen unverst¤ndlich
fìr mich.
Wann wohl der Unbekannte es wieder holen kommen wurde?
Die Freude am Leben, die w¤hrend der Arbeit heimlich in mich eingezogen
war, erwachte von neuem in ihrer ganzen erquickenden Frische und
verscheuchte die Nachtgedanken, die mich hinterrìcks wieder ìberfallen
wollten.
Rasch nahm ich Angelinas Bild - ich hatte die Widmung, die darunter
stand, abgeschnitten - und kìŸte es.
Es war das alles so tæricht und widersinnig, aber warum nicht einmal
von - Glìck tr¤umen, die glitzernde Gegenwart festhalten und sich daran
freuen, wie ìber eine Seifenblase?
Konnte denn nicht vielleicht doch in Erfìllung gehen, was mir da die
Sehnsucht meines Herzens vorgaukelte? War es so ganz und gar unmæglich, daŸ
ich ìber Nacht ein berìhmter Mann wurde? Ihr ebenbìrtig, wenn auch nicht an
Herkunft? Zumindest Dr. Savioli ebenbìrtig? Ich dachte an die Gemme Mirjams:
wenn mir noch andere so gelangen wie diese - kein Zweifei, selbst die ersten
Kìnstler aller Zeiten hatten nie etwas Besseres geschaffen.
Und nur einen Zufall angenommen: der Gatte Angelinas stìrbe plætzlich?
Mir wurde heiŸ und kalt: ein winziger Zufall - und meine Hoffnung, die
verwegenste Hoffnung, gewann Gestalt. An einem dìnnen Faden, der stìndlich
reiŸen konnte, hing das Glìck, das mir dann in den SchoŸ fallen mìŸte.
War mir denn nicht schon tausendfach Wunderbareres geschehen? Dinge,
von denen die Menschheit gar nicht ahnte, daŸ sie ìberhaupt existierten?
War es kein Wunder, daŸ binnen weniger Wochen kìnstlerische F¤higkeiten
in mir erwacht waren, die mich jetzt schon weit ìber den Durchschnitt
erhoben?
Und ich stand doch erst am Anfang des Weges!
Hatte ich denn kein Anrecht auf Glìck?
Ist denn Mystik gleichbedeutend mit Wunschlosigkeit?
Ich ìbertænte das: "Ja" in mir: - nur noch eine Stunde tr¤umen - eine
Minute - ein kurzes Menschendasein!
Und ich tr¤umte mit offenen Augen:
Die Edelsteine auf dem Tisch wuchsen und wuchsen und umgaben mich von
allen Seiten mit farbigen Wasserf¤llen. B¤ume aus Opal standen in Gruppen
beisammen und strahlten die Lichtwellen des Himmels, der blau schillerte wie
der Flìgel eines gigantischen Tropenschmetterlings, in Funkensprìhregen ìber
unabsehbare Wiesen voll heiŸem Sommerduft.
Mich dìrstete, und ich kìhlte meine Glieder in dem eisigen Gischt der
B¤che, die ìber Felsblæcke rauschten aus schimmerndem Perlmutter.
Schwìler Hauch strich ìber H¤nge, ìbers¤t mit Blìten und Blumen, und
machte mich trunken mit den Gerìchen von Jasmin, Hyazinthen, Narzissen,
Seidelbast - - -
Unertr¤glich! Unertr¤glich! Ich verlæschte das Bild. - Mich dìrstete.
Das waren die Qualen des Paradieses.
Ich riŸ die Fenster auf und lieŸ den Tauwind an meine Stirne wehen.
Es roch nach kommendem Frìhling - - -
Mirjam!
Ich muŸte an Mirjam denken.
Wie sie sich vor Erregung an der Wand hatte halten mìssen, um nicht
umzufallen, als sie mir erz¤hlen gekommen, ein Wunder sei geschehen, ein
wirkliches Wunder: sie habe ein Goldstìck gefunden in dem Brotlaib, den der
B¤cker vom Gang aus durchs Gitter ins Kìchenfenster gelegt. - - -
Ich griff nach meiner Bærse. - Hoffentlich war es heute nicht schon zu
sp¤t, und ich kam noch zurecht, ihr wieder einen Dukaten zuzuzaubern!
T¤glich hatte sie mich besucht, um mir Gesellschaft zu leisten, wie sie
es nannte, dabei aber fast nicht gesprochen, so erfìllt war sie von dem
"Wunder" gewesen. Bis in die tiefsten Tiefen hatte das Erlebnis sie
aufgewìhlt und, wenn ich mir vorstellte, wie sie manchmal plætzlich ohne
¤uŸern Grund - nur unter dem EinfluŸ ihrer Erinnerung - totenblaŸ geworden
war bis in die Lippen, schwindelte mir bei dem bloŸen Gedanken, ich kænnte
in meiner Blindheit Dinge angerichtet haben, deren Tragweite bis ins
Grenzenlose ging.
Und wenn ich mir die letzten, dunklen Worte Hillels ins Ged¤chtnis rief
und in Zusammenhang damit brachte, ìberlief es mich eiskalt.
Die Reinheit des Motivs war keine Entschuldigung fìr mich, - der Zweck
heiligt die Mittel nicht, das sah ich ein.
Und was, wenn ìberdies das Motiv: "helfen zu wollen" nur scheinbar
"rein" war? Hielt sich nicht vielleicht doch eine heimliche Lìge dahinter
verborgen?: der selbstgef¤llige, unbewuŸte Wunsch, in der Rolle des Helfers
zu schwelgen?
Ich fing an, irre an mir selbst zu werden.
DaŸ ich Mirjam viel zu oberfl¤chlich beurteilt hatte, war klar.
Schon als die Tochter Hillels muŸte sie anders sein als andere M¤dchen.
Wie hatte ich nur so vermessen sein kænnen, auf solch tærichte Weise in
ein Innenleben einzugreifen, das vielleicht himmelhoch ìber meinem eigenen
stand!
Schon ihr Gesichtsschnitt, der hundertmal eher in die Zeit der sechsten
¤gyptischen Dynastie paŸte und selbst fìr diese noch viel zu vergeistigt
war, als in die unsrige mit ihren Verstandesmenschentypen, h¤tte mich warnen
mìssen.
"Nur der ganz Dumme miŸtraut dem ¤uŸern Schein", hatte ich irgendwo
einmal gelesen. - Wie richtig! Wie richtig!
Mirjam und ich waren jetzt gute Freunde; sollte ich ihr eingestehen,
daŸ ich es gewesen war, der die Dukaten Tag fìr Tag ins Brot geschmuggelt
hatte?
Der Schlag k¤me zu plætzlich. Wìrde sie bet¤uben.
Ich durfte das nicht wagen, muŸte behutsamer vorgehen.
Das "Wunder" irgendwie abschw¤chen? Statt das Geld ins Brot zu stecken,
es auf die Treppenstufe zu legen, daŸ sie es finden muŸte, wenn sie die Tìr
aufmachte, und so weiter, und so weiter? Etwas Neues, weniger Schroffes
wìrde sich schon ausdenken lassen, irgendein Weg, der sie aus dem
Wunderbaren allm¤hlich wieder ins Allt¤gliche herìberlenkte, træstete ich
mich.
Ja! Das war das Richtige.
Oder den Knoten zerhauen? Ihren Vater einweihen und zu Rate ziehen? Die
Schamræte stieg mir ins Gesicht. Zu diesem Schritt blieb Zeit genug, wenn
alle andern Mittel versagten.
Nur gleich ans Werk gehen, keine Zeit vers¤umen!
Ein guter Einfall kam mir: Ich muŸte Mirjam zu etwas ganz
Absonderlichem bewegen, sie fìr ein paar Stunden aus der gewohnten Umgebung
reiŸen, daŸ sie andere Eindrìcke bekam.
Wir wìrden einen Wagen nehmen und eine Spazierfahrt machen. Wer kannte
uns denn, wenn wir das Judenviertel mieden?
Vielleicht interessierte es sie, die eingestìrzte Brìcke zu
besichtigen?
Oder der alte Zwakh oder eine ihrer frìheren Freundinnen sollte mit ihr
fahren, wenn sie es ungeheuerlich finden wìrde, daŸ ich mit dabei sei.
Ich war fest entschlossen, keinen Widerspruch gelten zu lassen. - - -
An der Tìrschwelle rannte ich einen Mann beinahe ìber den Haufen.
Wassertrum!
Er muŸte durchs Schlìsselloch hereingesp¤ht haben, denn er stand
gebìckt, als ich mit ihm zusammengestoŸen war.
"Suchen Sie mich?", fragte ich barsch.
Er stammelte ein paar Worte der Entschuldigung in seinem unmæglichen
Jargon; dann bejahte er.
Ich forderte ihn auf, n¤her zu treten und sich zu setzen, aber er blieb
am Tisch stehen und drehte krampfhaft mit der Hutkrempe. Eine tiefe
Feindseligkeit, die er vergebens vor mir verbergen wollte, spiegelte aus
seinem Gesicht und jeder seiner Bewegungen.
Noch nie hatte ich den Mann in so unmittelbarer N¤he gesehen. Seine
grauenhafte H¤Ÿlichkeit war es nicht, die einen so abstieŸ; (sie machte mich
eher mitleidig gestimmt: er sah aus wie ein Geschæpf, dem die Natur selbst
bei seiner Geburt voll Wut und Abscheu mit dem FuŸ ins Gesicht getreten
hatte) - etwas anderes, Unw¤gbares, das von ihm ausging, trug die Schuld
daran.
Das "Blut", wie Charousek es treffend bezeichnet hatte.
Unwillkìrlich wischte ich mir die Hand ab, die ich ihm bei seinem
Eintritt gereicht hatte.
So wenig auff¤llig ich es machte, er schien es doch bemerkt zu haben,
denn er muŸte sich plætzlich mit Gewalt zwingen, das Aufflammen des Hasses
in seinen Zìgen zu unterdrìcken.
"Hìbsch ham Se's hier", fing er endlich stockend an, als er sah, daŸ
ich ihm nicht den Gefallen tat, das Gespr¤ch zu beginnen.
Im Widerspruch zu seinen Worten schloŸ er dabei die Augen, vielleicht,
um meinem Blick nicht zu begegnen. Oder glaubte er, daŸ es seinem Gesicht
einen harmloseren Ausdruck verleihen wìrde?
Man konnte ihm deutlich anhæren, welche Mìhe er sich gab, hochdeutsch
zu reden.
Ich fìhlte mich nicht zu einer Entgegnung verpflichtet und wartete, was
er weiter sagen wìrde.
In seiner Verlegenheit griff er nach der Feile, die - weiŸ Gott wieso -
noch seit Charouseks Besuch auf dem Tisch lag, fuhr aber unwillkìrlich
sofort wie von einer Schlange gebissen zurìck. Ich staunte innerlich ìber
seine unterbewuŸte seelische Feinfìhligkeit.
"Freilich, natìrlich, es gehært zum Gesch¤ft, daŸ man's fein hat,"
raffte er sich auf, zu sagen, "wenn man - so noble Besuche bekommt." Er
wollte die Augen aufschlagen, um zu sehen, welchen Eindruck die Worte auf
mich machten, hielt es aber offenbar noch fìr verfrìht und schloŸ sie
schnell wieder.
Ich wollte ihn in die Enge treiben: "Sie meinen die Dame, die neulich
hier vorfuhr? Sagen Sie doch offen, wo Sie hinauswollen!"
Er zægerte einen Moment, dann packte er mich heftig am Handgelenk und
zerrte mich ans Fenster.
Die sonderbare, unmotivierte Art, mit der er es tat, erinnerte mich
daran, wie er vor einigen Tagen den taubstummen Jaromir unten in seine Hæhle
gerissen hatte.
Mit krummen Fingern hielt er mir einen blitzenden Gegenstand hin:
"Was glauben Sie, Herr Pernath, laŸt sich da noch was machen?"
Es war eine goldene Uhr mit so stark verbeulten Deckeln, daŸ es fast
aussah, als h¤tte sie jemand mit Absicht verbogen.
Ich nahm ein VergræŸerungsglas: die Scharniere waren zur H¤lfte
abgerissen und innen - stand da nicht etwas eingraviert? Kaum mehr leserlich
und noch ìberdies mit einer Menge ganz frischer Schrammen zerkratzt. Langsam
entzifferte ich:
K-rl Zott-mann.
Zottmann? Zottmann? - Wo hatte ich diesen Namen doch gelesen? Zottmann?
Ich konnte mich nicht entsinnen. Zottmann?
Wassertrum schlug mir die Lupe beinahe aus der Hand:
"Im Werk is nix, da hab' ich schon selber geschaut. Aber mit'm Geh¤use,
da stinkt's."
"Braucht man nur gerade zu klopfen - hæchstens ein paar Lætstellen. Das
kann Ihnen ebensogut jeder beliebige Goldarbeiter machen, Herr Wassertrum."
"Ich leg' doch Wert darauf, daŸ es eine solide Arbeit wird. Was man so
sagt: kìnstlerisch", unterbrach er mich hastig. Fast ¤ngstlich.
"Nun gut, wenn Ihnen derart viel daran liegt -"
"Viel daran liegt!" Seine Stimme schnappte ìber vor Eifer. "Ich will
sie doch selber tragen, die Uhr. Und wenn ich sie jemandem zeig', will ich
sagen kænnen: schauen Sie mal her, so arbeitet der Herr von Pernath."
Ich ekelte mich vor dem Kerl; er spuckte mir seine widerw¤rtigen
Schmeicheleien færmlich ins Gesicht.
"Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen, wird alles fertig sein."
Wassertrum wand sich in Kr¤mpfen: "Das gibt's nicht. Das will ich
nicht. Drei Tag. Vier Tag. Die n¤chste Woche is Zeit genug. Das ganze Leben
mæcht' ich mir Vorwìrfe machen, daŸ ich Ihnen gedr¤ngt hab'."
Was wollte er nur, daŸ er so auŸer sich geriet? - Ich machte einen
Schritt ins Nebenzimmer und sperrte die Uhr in die Kassette. Angelinas
Photographie lag obenauf. Schnell schlug ich den Deckel wieder zu - fìr den
Fall, daŸ Wassertrum mir nachblicken sollte.
Als ich zurìckkam, fiel mir auf, daŸ er sich verf¤rbt hatte.
Ich musterte ihn scharf, lieŸ aber meinen Verdacht sofort fallen:
Unmæglich! Er konnte nichts gesehen haben.
"Also, dann vielleicht n¤chste Woche", sagte ich, um seinem Besuch ein
Ende zu machen.
Er schien mit einemmal keine Eile mehr zu haben, nahm einen Sessel und
setzte sich.
Im Gegensatz zu frìher hielt er seine Fischaugen jetzt beim Reden weit
offen und fixierte beharrlich meinen obersten Westenknopf.
Pause.
"Die Duksel hat Ihnen natìrlich gesagt, Sie sollen sich nix wissen
machen, wenn's heraus kommt. Waas?" sprudelte er plætzlich ohne jede
Einleitung auf mich los und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Es lag etwas merkwìrdig Schreckhaftes in der Abgerissenheit, mit der er
von einer Sprechweise in die andere ìbergehen - von Schmeicheltænen
blitzartig ins Brutale springen konnte, und ich hielt es fìr sehr
wahrscheinlich, daŸ die meisten Menschen, besonders Frauen, sich im
Handumdrehen in seiner Gewalt befinden muŸten, wenn er nur die geringste
Waffe gegen sie besaŸ.
Ich wollte auffahren, ihn am Hals packen und vor die Tìr setzen, war
mein erster Gedanke; dann ìberlegte ich, ob es nicht klìger sei, ihn
zuværderst einmal grìndlich auszuhorchen.
"Ich verstehe wahrhaftig nicht, was Sie meinen, Herr Wassertrum;" - ich
bemìhte mich, ein mæglichst dummes Gesicht zu machen - "Duksel? Was ist das:
Duksel?"
"Soll ich Ihnen vielleicht Deitsch lernen?", fuhr er mich grob an. "Die
Hand werden Sie aufheben mìssen bei Gericht, wenn's um die Wurscht geht.
Verstehen Sie mich?! Das sag ich Ihnen!" - Er fing an zu schreien: "Mir ins
Gesicht hinein werden Sie nicht abschwæren, daŸ ›sie‹ von da drìben" - er
deutete mit dem Daumen nach dem Atelier - "zu Ihnen heribber geloffen is mit
en Teppich an und - sonst nix!"
Die Wut stieg mir in die Augen; ich packte den Halunken an der Brust
und schìttelte ihn:
"Wenn Sie jetzt noch ein Wort in diesem Ton sagen, breche ich Ihnen die
Knochen im Leibe entzwei! Verstanden?"
Aschfahl sank er in den Stuhl zurìck und stotterte:
"Was is? Was is? Was wollen Sie? Ich mein' doch bloŸ."
Ich ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, um mich zu beruhigen.
Horchte nicht hin, was er alles zu seiner Entschuldigung herausgeiferte.
Dann setzte ich mich ihm dicht gegenìber, in der festen Absicht, die
Sache, soweit sie Angelina betraf, ein fìr allemal mit ihm ins reine zu
bringen und, sollte es im Frieden nicht gehen, ihn zu zwingen, endlich die
Feindseligkeiten zu eræffnen und seine paar schwachen Pfeile vorzeitig zu
verschieŸen.
Ohne seine Unterbrechungen im geringsten zu beachten, sagte ich ihm auf
den Kopf zu, daŸ Erpressungen irgendwelcher Art - ich betonte das Wort -
miŸglìcken mìŸten, da er auch nicht eine einzige Anschuldigung mit Beweisen
erh¤rten kænnte und ich mich einer Zeugenschaft (angenommen, es w¤re
ìberhaupt im Bereiche der Mæglichkeit, daŸ es je zu einer solchen k¤me) -
bestimmt zu entziehen wissen wìrde. Angelina stìnde mir viel zu nahe, als
daŸ ich sie nicht in der Stunde der Not retten wìrde, koste es, was es
wolle, sogar einen Meineid!
Jede Muskel in seinem Gesicht zuckte, seine Hasenscharte zog sich bis
zur Nase auseinander, er fletschte die Z¤hne und kollerte wie ein Truthahn
mir immer wieder in die Rede hinein: "Will ich denn was von die Duksel? So
hæren Sie doch zu!" - Er war auŸer sich vor Ungeduld, daŸ ich mich nicht
beirren lieŸ. - "Um den Savioli is mir's zu tun, um den gottverfluchten
Hund, - den - den -", fuhr es ihm plætzlich brìllend heraus.
Er japste nach Luft. Rasch hielt ich inne: endlich war er dort, wo ich
ihn haben wollte, aber schon hatte er sich gefaŸt und fixierte wieder meine
Weste.
"Hæren Sie zu, Pernath;" er zwang sich, die kìhle, abw¤gende
Sprechweise eines Kaufmanns nachzuahmen, "Sie reden fort von der Duk - - von
der Dame. Gut! sie ist verheiratet. Gut: sie hat sich eingelassen mit dem -
mit dem jungen Lauser. Was hab' ich damit zu tun?" Er bewegte die H¤nde vor
meinem Gesicht hin und her, die Fingerspitzen zusammengedrìckt, als hielte
er eine Prise Salz darin - "soll sie sich das selber abmachen, die Duksel. -
Ich bin e Weltmann und Sie sin auch e Weltmann. Wir kennen doch das beide.
Waas? Ich will doch nur zu meinem Geld kommen. Verstehen Sie, Pernath?!"
Ich horchte erstaunt auf:
"Zu welchem Geld? Ist Ihnen denn Dr. Savioli etwas schuldig?"
Wassertrum wich aus:
"Abrechnungen hab' ich mit ihm. Das kommt doch auf eins heraus."
"Sie wollen ihn ermorden!" schrie ich.
Er sprang auf. Taumelte. Gluckste ein paarmal.
"Jawohl! Ermorden! Wie lange wollen Sie mir noch Komædie vorspielen!"
Ich deutete auf die Tìr. "Schauen Sie, daŸ Sie hinauskommen."
Langsam griff er nach seinem Hut, setzte ihn auf und wandte sich zum
Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen und sagte mit einer Ruhe, deren ich
ihn nie fìr f¤hig gehalten h¤tte:
"Auch recht. Ich hab' Sie herauslassen wollen. Gut. Wenn nicht: Nicht.
Barmherzige Barbiere machen faule Wunden. Mein Zarbìchel ist voll. Wenn Sie
gescheit gewesen w¤ren -: der Savioli is Ihnen doch nur im Weg?! Jetzt -
mach - ich - mit - Ihnen allen dreien" - er deutete mit einer Geste des
Erdrosselns an, womit er es meinte - "PreŸcolleeh".
Seine Mienen drìckten eine so satanische Grausamkeit aus und er schien
seiner Sache so sicher zu sein, daŸ mir das Blut in den Adern erstarrte. Er
muŸte eine Waffe in H¤nden haben, von der ich nichts ahnte, die auch
Charousek nicht kannte. Ich fìhlte den Boden unter mir wanken.
"Die Feile! Die Feile!" hærte ich es in meinem Hirn flìstern. Ich
sch¤tzte die Entfernung ab: ein Schritt bis zum Tisch - zwei Schritte bis zu
Wassertrum - - ich wollte zuspringen - - - da stand wie aus dem Boden
gewachsen Hillel auf der Schwelle.
Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen.
Ich sah nur - wie durch Nebel -, daŸ Hillel unbeweglich stehen blieb
und Wassertrum Schritt fìr Schritt bis an die Wand zurìckwich.
Dann hærte ich Hillel sagen:
"Sie kennen doch, Aaron, den Satz: Alle Juden sind Bìrgen fìreinander?
Machen Sie's einem nicht zu schwer." - Er fìgte ein paar hebr¤ische Worte
hinzu, die ich nicht verstand.
"Was haben Sie das netig, an der Tìre zu schnìffeln?" geiferte der
Trædler mit bebenden Lippen.
"Ob ich gehorcht habe oder nicht, braucht Sie nicht zu kìmmern!" -
wieder schloŸ Hillel mit einem hebr¤ischen Satz, der diesmal wie eine
Drohung klang. Ich erwartete, daŸ es zu einem Zank kommen wìrde, aber
Wassertrum antwortete nicht eine Silbe, ìberlegte einen Augenblick und ging
dann trotzig hinaus.
Gespannt blickte ich Hillel an. Er winkte mir zu, ich solle schweigen.
Offenbar wartete er auf irgend etwas, denn er horchte angestrengt auf den
Gang hinaus. Ich wollte die Tìre schlieŸen gehen: er hielt mich mit einer
ungeduldigen Handbewegung zurìck.
Wohl eine Minute verging, dann kamen die schleppenden Schritte des
Trædlers wieder die Stufen herauf. Ohne ein Wort zu sprechen ging Hillel
hinaus und machte ihm Platz.
Wassertrum wartete, bis er auŸer Hærweite war, dann knurrte er mich
verbissen an:
"Geben Se mer meine Uhr zorìck."
Wo nur Charousek blieb?
Beinahe 24 Stunden waren vergangen, und noch immer lieŸ er sich nicht
blicken.
Sollte er das Zeichen vergessen haben, das wir verabredet hatten? Oder
sah er es vielleicht nicht?
Ich ging ans Fenster und richtete den Spiegel so, daŸ der Sonnenstrahl,
der darauf schien, genau auf das vergitterte Guckloch seiner Kellerwohnung
fiel.
Das Eingreifen Hillels - gestern - hatte mich ziemlich beruhigt.
Bestimmt wìrde er mich gewarnt haben, wenn eine Gefahr im Anzug w¤re.
œberdies: Wassertrum konnte nichts von Belang mehr unternommen haben;
gleich, nachdem er mich verlassen hatte, war er in seinen Laden
zurìckgekehrt, - ich warf einen Blick hinunter: richtig, da lehnte er
unbeweglich hinter seinen Herdplatten, genau so, wie ich ihn schon
frìhmorgens gesehen - - -
Unertr¤glich, das ewige Warten!
Die milde Frìhlingsluft, die durch das offene Fenster aus dem
Nebenzimmer hereinstræmte, machte mich krank vor Sehnsucht.
Dies schmelzende Tropfen von den D¤chern! Und wie die feinen
Wasserschnìre im Sonnenlicht gl¤nzten!
Es zog mich hinaus an unsichtbaren F¤den. Voll Ungeduld ging ich in der
Stube auf und ab. Warf mich in einen Sessel. Stand wieder auf.
Dieses sìchtige Keimen einer Ungewissen Verliebtheit in meiner Brust,
es wollte nicht weichen.
Die ganze Nacht ìber hatte es mich gequ¤lt. Einmal war es Angelina
gewesen, die sich an mich geschmiegt, dann wieder sprach ich scheinbar ganz
harmlos mit Mirjam, und kaum hatte ich das Bild zerrissen, kam abermals
Angelina und kìŸte mich; ich roch den Duft ihres Haares, und ihr weicher
Zobelpelz kitzelte mich am Hals, rutschte von ihren entblæŸten Schultern -
und sie wurde zu Rosina, die mit trunkenen, halbgeschlossenen Augen tanzte -
im Frack - nackt; - - - und alles in einem Halbschlaf, der doch genau so
gewesen war wie Wachsein. Wie ein sìŸes, verzehrendes, d¤mmeriges Wachsein.
Gegen Morgen stand dann mein Doppelg¤nger an meinem Bett, der
schattenhafte Habal Garmin, "der Hauch der Knochen", von dem Hillel
gesprochen, - und ich sah ihm an den Augen an: er war in meiner Macht, muŸte
mir jede Frage beantworten, die ich ihm stellen wìrde nach irdischen oder
jenseitigen Dingen, und er wartete nur darauf, aber der Durst nach dem
Geheimnisvollen konnte nicht an gegen die Schwìle meines Blutes und
versickerte im dìrren Erdreich meines Verstandes. - Ich schickte das Phantom
weg, es solle zum Spiegelbild Angelinas werden, und es schrumpfte zusammen
zu dem Buchstaben "Aleph", wuchs wieder empor, stand da als das KoloŸweib,
splitternackt, wie ich es einstens im Buche Ibbur gesehen, mit dem Pulse
gleich einem Erdbeben, und beugte sich ìber mich, und ich atmete den
bet¤ubenden Geruch ihres heiŸen Fleisches ein.
Kam denn Charousek immer noch nicht? - Die Glocken sangen von den
Kirchtìrmen.
Eine Viertelstunde wollte ich noch warten - dann aber hinaus! Durch
belebte StraŸen voll festt¤gig gekleideter Menschen schlendern, mich in das
frohe Gewimmel mischen in den Stadtteilen der Reichen, schæne Frauen sehen
mit koketten Gesichtern und schmalen H¤nden und FìŸen.
Vielleicht begegnete ich dabei Charousek zuf¤llig, entschuldigte ich
mich vor mir selbst.
Ich holte das altertìmliche Tarockspiel vom Bìcherbord, um mir die Zeit
rascher zu vertreiben. -
Vielleicht lieŸ sich aus den Bildern Anregung schæpfen zum Entwurf
einer Kamee?
Ich suchte nach dem Pagad.
Nicht zu finden. Wo konnte er hingeraten sein?
Ich bl¤tterte noch einmal die Karten durch und verlor mich in
Nachdenken ìber ihren verborgenen Sinn. Besonders der "Gehenkte", - was
konnte er nur bedeuten?:
Ein Mann h¤ngt an einem Seil zwischen Himmel und Erde, den Kopf nach
abw¤rts, die Arme auf den Rìcken gebunden, den rechten Unterschenkel ìber
das linke Bein verschr¤nkt, daŸ es aussieht wie ein Kreuz ìber einem
verkehrten Dreieck?
Unverst¤ndliches Gleichnis.
Da! - Endlich! Charousek kam.
Oder doch nicht?
Freudige œberraschung, es war Mirjam.
"Wissen Sie, Mirjam, daŸ ich soeben zu Ihnen hinuntergehen wollte und
Sie bitten, eine Spazierfahrt mit mir zu machen?" Es war nicht ganz die
Wahrheit, aber ich machte mir weiter keine Gedanken darìber. - "Nicht wahr,
Sie schlagen es mir nicht ab?! Ich bin heute so unendlich froh im Herzen,
daŸ Sie, gerade Sie, Mirjam, meiner Freude die Krone aufsetzen mìssen."
"- spazierenfahren?", wiederholte sie derart verblìfft, daŸ ich laut
auflachen muŸte.
"Ist denn der Vorschlag gar so wunderbar?"
"Nein, nein, aber - -," sie suchte nach Worten, "unerhært merkwìrdig.
Spazierenfahren!"
"Durchaus nicht merkwìrdig, wenn Sie sich vorhalten, daŸ es
Hunderttausende von Menschen tun - eigentlich ihr ganzes Leben nichts
anderes tun."
"Ja, andere Menschen!" gab sie, immer noch vollst¤ndig ìberrumpelt, zu.
Ich faŸte ihre beiden H¤nde:
"Was andere Menschen an Freude erleben dìrfen, mæchte ich, daŸ Sie,
Mirjam, in noch unendlich viel reicherem MaŸe genieŸen."
Sie wurde plætzlich leichenblaŸ, und ich sah an der starren Taubheit
ihres Blickes, woran sie dachte. Es gab mir einen Stich.
"Sie dìrfen es nicht immer mit sich herumtragen, Mirjam," redete ich
ihr zu, "das - das Wunder. Wollen Sie mir das nicht versprechen - aus - aus
Freundschaft?"
Sie hærte die Angst aus meinen Worten und blickte mich erstaunt an.
"Wenn es Sie nicht so angriffe, kænnte ich mich mit Ihnen freuen, aber
so? Wissen Sie, daŸ ich tief besorgt bin um Sie, Mirjam? - Um - um - wie
soll ich nur sagen? - um Ihre seelische Gesundheit! Fassen Sie es nicht
wærtlich auf, aber -: ich wollte, das Wunder w¤re nie geschehen."
Ich erwartete, sie wìrde mir widersprechen, aber sie nickte nur in
Gedanken versunken.
"Es verzehrt Sie. Habe ich nicht recht, Mirjam?" Sie raffte sich auf:
"Manchmal mæchte ich beinahe auch, es w¤re nicht geschehen."
Es klang wie ein Hoffnungsstrahl fìr mich. - "Wenn ich mir denken
soll," sie sprach ganz langsam und traumverloren, "daŸ Zeiten kommen
kænnten, wo ich ohne solche Wunder leben mìŸte - - -."
"Sie kænnen doch ìber Nacht reich werden und brauchen dann nicht mehr
-," fuhr ich ihr unbedacht in die Rede, hielt aber rasch inne, als ich das
Entsetzen in ihrem Gesicht bemerkte, - "ich meine: Sie kænnen plætzlich auf
natìrliche Weise Ihrer Sorgen enthoben werden, und die Wunder, die Sie dann
erleben, wìrden geistiger Art sein: - innere Erlebnisse."
Sie schìttelte den Kopf und sagte hart: "Innere Erlebnisse sind keine
Wunder. Erstaunlich genug, daŸ es Menschen zu geben scheint, die ìberhaupt
keine haben. - Seit meiner Kindheit, Tag fìr Tag, Nacht fìr Nacht, erlebe
ich -" (sie brach mit einem Ruck ab, und ich erriet, daŸ noch etwas anderes
in ihr war, von dem sie mir nie gesprochen hatte, vielleicht das Weben
unsichtbarer Geschehnisse, ¤hnlich den meinigen) - "aber das gehært nicht
hierher. Selbst, wenn einer aufstìnde und machte Kranke gesund durch
Handauflegen, ich kænnte es kein Wunder nennen. Erst, wenn der leblose Stoff
- die Erde - beseelt wird vom Geist und die Gesetze der Natur zerbrechen,
dann ist das geschehen, wonach ich mich sehne, seit ich denken kann. - Mir
hat einmal mein Vater gesagt: es g¤be zwei Seiten der Kabbala: eine magische
und eine abstrakte, die sich niemals zur Deckung bringen lieŸen. Wohl kænne
die magische die abstrakte an sich ziehen, aber nie und nimmer umgekehrt.
Die magische ist ein Geschenk, die andere kann errungen werden, wenn auch
nur mit Hilfe eines Fìhrers." Sie nahm den ersten Faden wieder auf: "Das
Geschenk ist es, nach dem ich dìrste; was ich mir erringen kann, ist mir
gleichgìltig und wertlos wie Staub. Wenn ich mir denken soll, es kænnten
Zeiten kommen, sagte ich vorhin, wo ich wieder ohne diese Wunder leben
mìŸte," - ich sah, wie sich ihre Finger krampften und Reue und Jammer
zerfleischten mich, - "ich glaube, ich sterbe jetzt schon angesichts der
bloŸen Mæglichkeit."
"Ist das der Grund, weshalb auch Sie wìnschten, das Wunder w¤re nie
geschehen?", forschte ich.
"Nur zum Teil. Es ist noch etwas anderes da. Ich - ich - ", sie dachte
einen Augenblick nach, "war noch nicht reif dazu, ein Wunder in dieser Form
zu erleben. Das ist es. Wie soll ich es Ihnen erkl¤ren? Nehmen Sie einmal
an, bloŸ als Beispiel, ich h¤tte seit Jahren jede Nacht ein und denselben
Traum, der sich immer weiter fortspinnt und in dem mich jemand - sagen wir:
ein Bewohner einer andern Welt - belehrt und mir nicht nur an einem
Spiegelbilde von mir selbst und seinen allm¤hlichen Ver¤nderungen zeigt, wie
weit ich von der magischen Reife, ein ›Wunder‹ erleben zu kænnen, entfernt
bin, sondern: mir auch in Verstandesfragen, wie sie mich einmal tagsìber
besch¤ftigen, derart AufschluŸ gibt, daŸ ich es jederzeit nachprìfen kann.
Sie werden mich verstehen: Ein solches Wesen ersetzt einem an Glìck alles,
was sich auf Erden ausdenken l¤Ÿt; es ist fìr mich die Brìcke, die mich mit
dem ›Drìben‹ verbindet, ist die Jakobsleiter, auf der ich mich ìber die
Dunkelheit des Alltags erheben kann ins Licht, - ist mir Fìhrer und Freund,
und alle meine Zuversicht, daŸ ich mich auf den dunkeln Wegen, die meine
Seele geht, nicht verirren kann in Wahnsinn und Finsternis, setze ich auf
›ihn‹, der mich noch nie belogen hat. - Da mit einem Mal, entgegen allem,
was er mir gesagt hat, kreuzt ein ›Wunder‹ mein Leben! Wem soll ich jetzt
glauben? War das, was mich die vielen Jahre ìber ununterbrochen erfìllt hat,
eine T¤uschung? Wenn ich daran zweifeln mìŸte, ich stìrzte kopfìber in einen
bodenlosen Abgrund. - Und doch ist das Wunder geschehen! Ich wìrde
aufjauchzen vor Freude, wenn -"
"Wenn - - -?" unterbrach ich sie atemlos. Vielleicht sprach sie selbst
das erlæsende Wort, und ich konnte ihr alles eingestehen.
"- wenn ich erfìhre, daŸ ich mich geirrt habe, - daŸ es gar kein Wunder
war! Aber ich weiŸ so genau, wie ich weiŸ, daŸ ich hier sitze, ich ginge
zugrunde daran"; (mir blieb das Herz stehen) - "zurìckgerissen werden, vom
Himmel wieder herab mìssen auf die Erde? Glauben Sie, daŸ das ein Mensch
ertragen kann?"
"Bitten Sie doch Ihren Vater um Hilfe", sagte ich ratlos vor Angst.
"Meinen Vater? Um Hilfe?" - sie blickte mich verst¤ndnislos an - "wo es
nur zwei Wege fìr mich gibt, kann er da einen dritten finden? - - Wissen
Sie, was die einzige Rettung fìr mich w¤re? Wenn mir das gesch¤he, was Ihnen
geschehen ist. Wenn ich in dieser Minute alles, was hinter mir liegt: mein
ganzes Leben bis zum heutigen Tag - vergessen kænnte. - Ist es nicht
merkwìrdig: was Sie als Unglìck empfinden, w¤re fìr mich das hæchste Glìck!"
Wir schwiegen beide noch eine lange Zeit. Dann ergriff sie plætzlich
meine Hand und l¤chelte. Beinahe fræhlich.
"Ich will nicht, daŸ Sie sich meinetwegen gr¤men;" - (sie træstete mich
- mich!) - "vorhin waren Sie so voll Freude und Glìck ìber den Frìhling
drauŸen, und jetzt sind Sie die Betrìbnis selbst. Ich h¤tte Ihnen ìberhaupt
nichts sagen sollen. ReiŸen Sie es aus Ihrem Ged¤chtnis und denken Sie
wieder so heiter wie vorhin! - Ich bin ja so froh -"
"Sie? Froh? Mirjam?", unterbrach ich sie bitter.
Sie machte ein ìberzeugtes Gesicht: "Ja! Wirklich! Froh! Als ich zu
Ihnen heraufging, war ich so unbeschreiblich ¤ngstlich, - ich weiŸ nicht
warum: ich konnte das Gefìhl nicht loswerden, daŸ Sie in einer groŸen Gefahr
schweben", - ich horchte auf - "aber, statt mich darìber zu freuen, Sie
gesund und wohlauf zu treffen, habe ich Sie angeunkt und - -"
Ich zwang mich zur Lustigkeit: "und das kænnen Sie nur gutmachen, wenn
Sie mit mir ausfahren." (Ich bemìhte mich, so viel œbermut wie mæglich in
meine Stimme zu legen:) "Ich mæchte doch einmal sehen, Mirjam, ob es mir
nicht gelingt, Ihnen die trìben Gedanken zu verscheuchen. Sagen Sie, was Sie
wollen: Sie sind noch lange kein ¤gyptischer Zauberer, sondern vorl¤ufig nur
ein junges M¤dchen, dem der Tauwind noch manchen bæsen Streich spielen
kann."
Sie wurde plætzlich ganz lustig:
"Ja, was ist denn das heute mit Ihnen, Herr Pernath? So hab' ich Sie
noch nie gesehen! - œbrigens ›Tauwind‹: bei uns Judenm¤dchen lenken
bekanntlich die Eltern den Tauwind, und wir haben nur zu gehorchen. Tuen es
natìrlich auch. Es steckt uns schon so im Blut. - Mir ja nicht", setzte sie
ernsthafter hinzu, "meine Mutter hat bæs gestreikt, als sie den gr¤Ÿlichen
Aaron Wassertrum heiraten sollte."
"Was? Ihre Mutter? Den Trædler da unten?"
Mirjam nickte. "Gott sei Dank ist es nicht zustande gekommen. - Fìr den
armen Menschen freilich war es ein vernichtender Schlag."
"Armer Mensch, sagen Sie?" fuhr ich auf. "Der Kerl ist ein Verbrecher."
Sie wiegte nachdenklich den Kopf: "GewiŸ, er ist ein Verbrecher. Aber
wer in einer solchen Haut steckt und kein Verbrecher wird, muŸ ein Prophet
sein."
Ich rìckte neugierig n¤her;
"Wissen Sie Genaueres ìber ihn? Mich interessiert das. Aus ganz
besonderen - -"
"Wenn Sie einmal seinen Laden von innen gesehen h¤tten, Herr Pernath,
wìŸten Sie sofort, wie es in seiner Seele ausschaut. Ich sage das, weil ich
als Kind sehr oft drin war. - Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Ist denn
das so merkwìrdig? - Gegen mich war er immer freundlich und gìtig. Einmal
sogar, erinnere ich mich, schenkte er mir einen groŸen blitzenden Stein, der
mir besonders unter seinen Sachen gefallen hatte. Meine Mutter sagte, es sei
ein Brillant, und ich muŸte ihn natìrlich sofort zurìcktragen.
Erst wollte er ihn lange nicht wiedernehmen, aber dann riŸ er ihn mir
aus der Hand und warf ihn voll Wut weit von sich. Ich habe aber dennoch
gesehen, wie ihm dabei die Tr¤nen aus den Augen stìrzten; ich konnte auch
damals schon genug Hebr¤isch, um zu verstehen, was er murmelte: ›Alles ist
verflucht, was meine Hand berìhrt.‹ - - Es war das letzte Mal, daŸ ich ihn
besuchen durfte. Nie wieder hat er mich seitdem aufgefordert, zu ihm zu
kommen. Ich weiŸ auch warum: H¤tte ich ihn nicht zu træsten versucht, w¤re
alles beim alten geblieben, so aber, weil er mir unendlich leid tat und ich
es ihm sagte, wollte er mich nicht mehr sehen. - - - Sie verstehen das
nicht, Herr Pernath? Es ist doch so einfach: er ist ein Besessener, - ein
Mensch, der sofort miŸtrauisch, unheilbar miŸtrauisch wird, wenn jemand an
sein Herz rìhrt. Er h¤lt sich fìr noch viel h¤Ÿlicher, als er in
Wirklichkeit ist, - wenn das ìberhaupt mæglich sein kann, und darin wurzelt
sein ganzes Denken und Handeln. Man sagt, seine Frau h¤tte ihn gern gehabt,
vielleicht war es mehr Mitleid als Liebe, aber immerhin glaubten es sehr
viele Leute. Der einzige, der vom Gegenteil tief durchdrungen war, war er.
œberall wittert er Verrat und HaŸ.
Nur bei seinem Sohn machte er eine Ausnahme. Ob es daher kam, daŸ er
ihn vom S¤uglingsalter an hatte heranwachsen sehen, also das Keimen jeder
Eigenschaft von Urbeginn in dem Kinde sozusagen miterlebte und daher nie zu
einem Punkte gelangte, wo sein MiŸtrauen h¤tte einsetzen kænnen, oder ob es
im jìdischen Blute lag: alles, was an Liebesf¤higkeit in ihm lebte, auf
seinen Nachkommen auszugieŸen - in jener instinktiven Furcht unserer Rasse:
wir kænnten aussterben und eine Mission nicht erfìllen, die wir vergessen
haben, die aber dunkel in uns fortlebt, - wer kann das wissen!
Mit einer Umsicht, die beinahe an Weisheit grenzte, und bei einem
unbelesenen Menschen, wie er, wunderbar ist, leitete er die Erziehung seines
Sohnes. Mit dem Scharfsinn eines Psychologen r¤umte er dem Kinde jedes
Erlebnis aus dem Wege, das zur Entwicklung der Gewissenst¤tigkeit h¤tte
beitragen kænnen, um ihm kìnftige seelische Leiden zu ersparen.
Er hielt ihm als Lehrer einen hervorragenden Gelehrten, der die Ansicht
verfocht, die Tiere seien empfindungslos und ihre Schmerz¤uŸerung ein
mechanischer Reflex.
Aus jedem Geschæpf so viel Freude und GenuŸ fìr sich selbst
herauspressen, wie nur irgend mæglich, und dann die Schale sofort als
nutzlos wegzuwerfen: das war ungef¤hr das Abc seines weitblickenden
Erziehungssystems.
DaŸ das Geld als Standarte und Schlìssel zur ›Macht‹ dabei eine erste
Rolle spielte, kænnen Sie sich denken, Herr Pernath. Und so wie er selbst
den eigenen Reichtum sorgsam geheim h¤lt, um die Grenzen seines Einflusses
in Dunkel zu hìllen, so ersann er sich ein Mittel, seinem Sohn „hnliches zu
ermæglichen, ihm aber gleichzeitig die Qual eines scheinbar ¤rmlichen Lebens
zu ersparen: er durchtr¤nkte ihn mit der infernalischen Lìge von der
›Schænheit‹, brachte ihm die ¤uŸere und innere Geb¤rde der „sthetik bei,
lehrte ihn ¤uŸerlich: die Lilie auf dem Felde heucheln und innerlich ein
Aasgeier sein.
Natìrlich war das mit der ›Schænheit‹ wohl kaum eigene Erfindung von
ihm - vermutlich die ›Verbesserung‹ eines Ratschlags, den ihm ein Gebildeter
gegeben hatte.
DaŸ ihn sein Sohn sp¤ter verleugnete, wo und wann er nur konnte, nahm
er niemals ìbel. Im Gegenteil, er machte es ihm zur Pflicht: denn seine
Liebe war selbstlos, und wie ich es schon einmal von meinem Vater sagte: -
von der Art, die ìbers Grab hinausgeht."
Mirjam schwieg einen Augenblick und ich sah ihr an, wie sie ihre
Gedanken stumm weiterspann, hærte es an dem ver¤nderten Klang ihrer Stimme,
als sie sagte:
"Seltsame Frìchte wachsen auf dem Baume des Judentums."
"Sagen Sie, Mirjam," fragte ich, "haben Sie nie davon gehært, daŸ
Wassertrum eine Wachsfigur in seinem Laden stehen hat? Ich weiŸ nicht mehr,
wer es mir erz¤hlt hat, - es war vielleicht nur ein Traum - -"
"Nein, nein, es ist schon richtig, Herr Pernath: eine lebensgroŸe
Wachsfigur steht in der Ecke, in der er, mitten unter dem tollsten Gerìmpel,
auf seinem Strohsack schl¤ft. Er hat sie vor Jahren einem Schaubudenbesitzer
abgewuchert, heiŸt es, bloŸ weil sie einem M¤dchen - einer Christin -
¤hnlich sah, die angeblich einmal seine Geliebte gewesen sein soll."
"Charouseks Mutter!" dr¤ngte es sich mir auf.
"Ihren Namen wissen Sie nicht, Mirjam?"
Mirjam schìttelte den Kopf. "Wenn Ihnen daran liegt, - soll ich mich
erkundigen?"
"Ach Gott, nein, Mirjam; es ist mir vollkommen gleichgìltig", (ich sah
an ihren blitzenden Augen, daŸ sie sich in Eifer geredet hatte. Sie durfte
nicht wieder zu sich kommen, nahm ich mir vor), "aber was mich viel mehr
interessiert, ist das Gebiet, von dem Sie vorhin flìchtig sprachen. Ich
meine das ›vom Tauwind‹. - Ihr Vater wìrde Ihnen doch gewiŸ nicht
vorschreiben, wen Sie heiraten sollen?"
Sie lachte lustig auf. "Mein Vater? Wo denken Sie hin!"
"Nun, das ist ein groŸes Glìck fìr mich."
"Wieso?" fragte sie arglos.
"Weil ich dann noch Chancen habe."
Es war nur ein Scherz, und sie nahm es auch nicht anders hin, aber doch
sprang sie rasch auf und ging ans Fenster, um mich nicht sehen zu lassen,
daŸ sie rot wurde.
Ich lenkte ein, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen:
"Das eine bitte ich mir aus als alter Freund: Mich mìssen Sie
einweihen, wenn's einmal so weit ist. - Oder gedenken Sie ìberhaupt ledig zu
bleiben?"
"Nein! nein! nein!" - sie wehrte so entschlossen ab, daŸ ich
unwillkìrlich l¤chelte - "einmal muŸ ich ja doch heiraten."
"Natìrlich! Selbstverst¤ndlich!"
Sie wurde nervæs wie ein Backfisch.
"Kænnen Sie denn nicht eine Minute ernsthaft bleiben, Herr Pernath?" -
Ich machte gehorsam ein Lehrergesicht, und sie setzte sich wieder. - "Also:
wenn ich sage, ich muŸ doch einmal heiraten, so meine ich damit, daŸ ich mir
zwar bis jetzt den Kopfìber die n¤heren Umst¤nde nicht zerbrochen habe, den
Sinn des Lebens aber gewiŸ nicht verstìnde, wenn ich annehmen wìrde, ich sei
als Weib auf die Welt gekommen, um kinderlos zu bleiben."
Das erste Mal, seit ich sie kannte, sah ich das Frauenhafte in ihren
Zìgen.
"Es gehært mit zu meinen Tr¤umen", fuhr sie leise fort, "mir
vorzustellen, daŸ es ein Endziel sei, wenn zwei Wesen zu einem verschmelzen,
- zu dem, was - - haben Sie nie von dem ¤gyptischen Osiriskult gehært? - zu
dem verschmelzen, was der ›Hermaphrodit‹ als Symbol bedeuten mag."
Ich horchte gespannt auf: "Der Hermaphrodit -?"
"Ich meine: Die magische Vereinigung von m¤nnlich und weiblich im
Menschengeschlecht zu einem Halbgott. Als Endziel! - Nein, nicht als
Endziel, als Beginn eines neuen Weges, der ewig ist - kein Ende hat."
"Und hoffen Sie, dereinst denjenigen zu finden," fragte ich
erschìttert, "den Sie suchen? - Kann es nicht sein, daŸ er in einem fernen
Land lebt, vielleicht gar nicht auf Erden ist?"
"Davon weiŸ ich nichts"; sagte sie einfach, "ich kann nur warten. Wenn
er durch Zeit und Raum von mir getrennt ist, - was ich nicht glaube, weshalb
w¤re ich dann hier im Getto angebunden? - oder durch die Klìfte
gegenseitigen Nichterkennens - und ich finde ihn nicht, dann hat mein Leben
keinen Zweck gehabt und war das gedankenlose Spiel eines idiotischen D¤mons.
- Aber, bitte, bitte, reden wir nicht mehr davon," flehte sie, "wenn man den
Gedanken nur ausspricht, bekommt er schon einen h¤Ÿlichen, irdischen
Beigeschmack, und ich mæchte nicht -"
Sie brach plætzlich ab.
"Was mæchten Sie nicht, Mirjam?"
Sie hob die Hand. Stand rasch auf und sagte:
"Sie bekommen Besuch, Herr Pernath!"
Seidenkleider raschelten auf dem Gang.
Ungestìmes Klopfen. Dann:
Angelina!
Mirjam wollte gehen; ich hielt sie zurìck:
"Darf ich vorstellen: die Tochter eines lieben Freundes - Frau Gr¤fin
-"
"Nicht einmal vorfahren kann man mehr. œberall das Pflaster
aufgerissen. Wann werden Sie einmal in eine menschenwìrdige Gegend siedeln,
Meister Pernath? DrauŸen schmilzt der Schnee und der Himmel jubelt, daŸ es
einem die Brust zersprengt, und Sie hocken hier in Ihrer Tropfsteingrotte
wie ein alter Frosch, - - ìbrigens wissen Sie, daŸ ich gestern bei meinem
Juwelier war und er gesagt hat: Sie seien der græŸte Kìnstler, der feinste
Gemmenschneider, den es heute gibt, wenn nicht einer der græŸten, die je
gelebt haben?!" - Angelina plauderte wie ein Wasserfall, und ich war
verzaubert. Sah nur mehr ihre strahlenden, blauen Augen, die kleinen FìŸe in
den winzigen Lackstiefeln, sah das kapriziæse Gesicht aus dem Wust von
Pelzwerk leuchten und die rosigen Ohrl¤ppchen.
Sie lieŸ sich kaum Zeit auszuatmen.
"An der Ecke steht mein Wagen. Ich hatte schon Angst, Sie nicht zu
Hause zu treffen. Sie haben doch hoffentlich noch nicht zu Mittag gegessen?
Wir fahren zuerst - ja, wohin fahren wir zuerst? Wir fahren zuerst einmal -
warten Sie - - ja: vielleicht in den Baumgarten, oder kurz: irgendwohin ins
Freie, wo man so recht das Keimen und heimliche Sprossen in der Luft ahnt.
Kommen Sie, kommen Sie, nehmen Sie Ihren Hut; und dann essen Sie bei mir, -
und dann schw¤tzen wir bis abends. Nehmen Sie doch Ihren Hut! Worauf warten
Sie denn? - Eine warme, ganz weiche Decke ist unten: da wickeln wir uns ein
bis an die Ohren und kuscheln uns zusammen, bis uns siedheiŸ wird."
Was sollte ich nur sagen?! "Soeben habe ich mit der Tochter meines
Freundes eine Spazierfahrt verabredet - -"
Mirjam hatte sich bereits hastig von Angelina verabschiedet, noch ehe
ich aussprechen konnte.
Ich begleitete sie bis vor die Tìr, obschon sie mich freundlich
abwehren wollte.
"Hæren Sie mich an, Mirjam, ich kann es Ihnen hier auf der Treppe nicht
so sagen, wie ich an Ihnen h¤nge - - und daŸ ich tausendmal lieber mit Ihnen
- -"
"Sie dìrfen die Dame nicht warten lassen, Herr Pernath," dr¤ngte sie,
"adieu und viel Vergnìgen!"
Sie sagte es voll Herzlichkeit und unverstellt und echt, aber ich sah,
daŸ der Glanz in ihren Augen erloschen war.
Sie eilte die Treppe hinunter, und das Leid schnìrte mir die Kehle
zusammen.
Mir war, als h¤tte ich eine Welt verloren.
Wie im Rausch saŸ ich an Angelinas Seite. Wir fuhren in rasendem Trab
durch die menschenìberfìllten StraŸen.
Eine Brandung des Lebens rings um mich, daŸ ich, halb bet¤ubt, nur noch
die kleinen Lichtflecke in dem Bilde, das an mir vorìberhuschte,
unterscheiden konnte: blitzende Juwelen in Ohrringen und Muffketten, blanke
Zylinderhìte, weiŸe Damenhandschuhe, einen Pudel mit rosa Halsschleife, der
kl¤ffend in die R¤der beiŸen wollte, sch¤umende Rappen, die uns
entgegensausten in silbernen Geschirren, ein Ladenfenster, drin schimmernde
Schalen voll Perlschnìren und funkelnden Geschmeiden, - Seidenglanz um
schlanke M¤dchenhìften.
Der scharfe Wind, der uns ins Gesicht schnitt, lieŸ mich die W¤rme von
Angelinas Kærper doppelt sinnverwirrend empfinden.
Die Schutzleute an den Kreuzungen sprangen respektvoll zur Seite, wenn
wir an ihnen vorìberjagten.
Dann ging's im Schritt ìber das Quai, das eine einzige Wagenreihe war,
an der eingestìrzten steinernen Brìcke vorbei, umstaut vom Gewìhl gaffender
Gesichter.
Ich blickte kaum hin: - das kleinste Wort aus dem Munde Angelinas, ihre
Wimpern, das eilige Spiel ihrer Lippen, - alles, alles war mir unendlich
viel wichtiger, als zuzusehen, wie die Felstrìmmer dort unten den
antaumelnden Eisschollen die Schultern entgegenstemmten. -
Parkwege. Dann - gestampfte, elastische Erde. Dann Laubrascheln unter
den Hufen der Pferde, nasse Luft, bl¤tterlose Baumriesen voll von
Kr¤hennestern, totes Wiesengrìn mit weiŸlichen Inseln schwindenden Schnees,
alles zog an mir vorbei wie getr¤umt.
Nur mit ein paar kurzen Worten, fast gleichgìltig, kam Angelina auf Dr.
Savioli zu sprechen.
"Jetzt, wo die Gefahr vorìber ist", sagte sie mit entzìckender,
kindlicher Unbefangenheit, "und ich weiŸ, daŸ es ihm auch wieder besser
geht, kommt mir alles das, was ich mitgemacht habe, so gr¤Ÿlich langweilig
vor. - Ich will mich endlich einmal wieder freuen, die Augen zumachen und
untertauchen in dem glitzernden Schaum des Lebens. Ich glaube, alle Frauen
sind so. Sie gestehen es bloŸ nicht ein. Oder sie sind so dumm, daŸ sie es
selbst nicht wissen. Meinen Sie nicht auch?" Sie hærte gar nicht hin, was
ich darauf antwortete. "œbrigens sind mir die Frauen vollst¤ndig
uninteressant. Sie dìrfen es natìrlich nicht als Schmeichelei auffassen:
aber - wahrhaftig, die bloŸe N¤he eines sympathischen Mannes ist mir im
kleinen Finger lieber als das anregendste Gespr¤ch mit einer noch so
gescheiten Frau. Es ist ja schlieŸlich doch alles dummes Zeug, was man da
zusammenschw¤tzt. - Hæchstens: das biŸchen Putz - na und! Die Moden wechseln
ja nicht gar so h¤ufig. - - Nicht wahr, ich bin leichtsinnig?", fragte sie
plætzlich kokett, daŸ ich mich, bestrickt von ihrem Reiz, zusammennehmen
muŸte, nicht ihr Kæpfchen zwischen meine H¤nde zu nehmen und sie in den
Nacken zu kìssen, - "sagen Sie, daŸ ich leichtsinnig bin!"
Sie schmiegte sich noch dichter an und h¤ngte sich in mich ein.
Wir fuhren aus der Allee heraus an Bosketts entlang mit
strohumwickelten Zierstauden, die aussahen in ihren Hìllen wie Rìmpfe von
Ungeheuern mit abgehauenen Gliedern und H¤uptern.
Leute saŸen auf B¤nken in der Sonne und blickten hinter uns drein und
steckten die Kæpfe zusammen.
Wir schwiegen eine Weile und hingen unseren Gedanken nach. Wie war
Angelina doch so vollst¤ndig anders, als sie bisher in meiner Einbildung
gelebt hatte! - Als sei sie erst heute fìr mich in die Gegenwart gerìckt!
War das wirklich dieselbe Frau, die ich damals in der Domkirche
getræstet hatte?
Ich konnte den Blick nicht wenden von ihrem halboffenen Mund.
Sie sprach noch immer kein Wort. Schien im Geiste ein Bild zu sehen.
Der Wagen bog ìber eine feuchte Wiese.
Es roch nach erwachender Erde.
"Wissen Sie, - - Frau - -?"
"Nennen Sie mich doch Angelina", unterbrach sie mich leise.
"Wissen Sie, Angelina, daŸ - daŸ ich heute die ganze Nacht von Ihnen
getr¤umt habe?", stieŸ ich gepreŸt hervor.
Sie machte eine kleine rasche Bewegung, als wolle sie ihren Arm aus
meinem ziehen, und sah mich groŸ an. "Merkwìrdig! Und ich von Ihnen! - Und
in diesem Moment habe ich dasselbe gedacht."
Wieder stockte das Gespr¤ch, und beide errieten wir, daŸ wir auch
dasselbe getr¤umt hatten.
Ich fìhlte es an dem Beben ihres Blutes. Ihr Arm zitterte kaum merklich
an meiner Brust. Sie blickte krampfhaft von mir weg aus dem Wagen hinaus. -
- -
Langsam zog ich ihre Hand an meine Lippen, streifte den weiŸen,
duftenden Handschuh zurìck, hærte, wie ihr Atem heftig wurde, und preŸte
toll vor Liebe meine Z¤hne in ihren Handballen.
- - Stunden sp¤ter ging ich wie ein Trunkener durch den Abendnebel
hinab der Stadt zu. Planlos w¤hlte ich die StraŸen und ging lange, ohne es
zu wissen, im Kreise herum.
Dann stand ich am FluŸ ìber eisernes Gel¤nder gebeugt und starrte hinab
in die tosenden Wellen.
Noch immer fìhlte ich Angelinas Arme um meinen Nacken, sah das
steinerne Becken des Springbrunnens, an dem wir schon einmal Abschied
voneinander genommen vor vielen Jahren, vor mir, mit den faulenden
Ulmenbl¤ttern darin, und sie wanderte wieder mit mir, wie soeben erst vor
kurzem, den Kopf an meine Schulter gelehnt, stumm durch den fræsteldnen,
d¤mmrigen Park ihres Schlosses.
Ich setzte mich auf eine Bank und zog den Hut tief ins Gesicht, um zu
tr¤umen.
Die Wasser brausten ìber das Wehr und ihr Rauschen verschlang die
letzten, aufmurrenden Ger¤usche der schlafengehenden Stadt.
Wenn ich von Zeit zu Zeit meinen Mantel fester um mich zog und
aufblickte, lag der FluŸ in immer tieferen Schatten, bis er endlich, von der
schweren Nacht erdrìckt, schwarzgrau dahinstræmte und der Gischt des
Staudamms als weiŸer, blendender Streifen schr¤g hinìber zum andern Ufer
lief.
Mich schauderte bei dem Gedanken, wieder zurìck zu mìssen in mein
trauriges Haus.
Der Glanz eines kurzen Nachmittags hatte mich fìr immer zum Fremdling
in meiner Wohnst¤tte gemacht.
Eine Spanne von wenigen Wochen, vielleicht nur von Tagen, dann muŸte
das Glìck vorìber sein - und nichts blieb davon als eine wehe, schæne
Erinnerung.
Und dann?
Dann war ich heimatlos hier und drìben, diesseits und jenseits des
Flusses.
Ich stand auf! Wollte noch durch das Parkgitter einen Blick auf das
SchloŸ werfen, hinter dessen Fenstern sie schlief, ehe ich in das finstere
Getto ging. - - - Ich schlug die Richtung ein, aus der ich gekommen war,
tappte mich durch den dichten Nebel an H¤userreihen entlang und ìber
schlummernde Pl¤tze, sah schwarze Monumente drohend auftauchen und einsame
Schilderh¤user und die Schnærkel von Barockfassaden. Der matte Schimmer
einer Laterne wuchs zu riesigen, phantastischen Ringen in verblichenen
Regenbogenfarben aus dem Dunst heraus, wurde zum fahlgelben, stechenden Auge
und zerging hinter mir in der Luft.
Mein FuŸ tastete breite, steinerne Stufenfl¤chen, mit Kies bestreut. Wo
war ich? Ein Hohlweg, der steil aufw¤rts fìhrt?
Glatte Gartenmauern links und rechts? Die kahlen „ste eines Baumes
h¤ngen herìber. Sie kommen vom Himmel herunter: der Stamm verbirgt sich
hinter der Nebelwand. -
Ein paar morsche, dìnne Zweige brechen krachend ab, wie mein Hut sie
streift, und fallen an meinem Mantel hinab in den nebligen grauen Abgrund,
der mir meine FìŸe verbirgt.
Dann ein strahlender Punkt: ein einsames Licht in der Ferne - irgendwo
- r¤tselhaft - zwischen Himmel und Erde. - - -
Ich muŸte fehlgegangen sein. Es konnte nur die "alte SchloŸstiege" sein
neben den H¤ngen der Fìrstenbergschen G¤rten - - -
Dann lange Strecken lehmiger Erde. - Ein gepflasterter Weg.
Ein massiger Schatten ragt hoch auf, den Kopf in einer schwarzen,
steifen Zipfelmìtze: "die Daliborka" = der Hungerturm, in dem Menschen einst
verschmachteten, derweilen Kænige unten im "Hirschgraben" das Wild hetzten.
Ein schmales, gewundenes G¤Ÿchen mit SchieŸscharten, ein Schneckengang,
kaum breit genug, die Schultern durchzulassen - und ich stand vor einer
Reihe von H¤uschen, keines hæher als ich.
Wenn ich den Arm ausstreckte, konnte ich auf die D¤cher greifen.
Ich war in die "Goldmachergasse" geraten, wo im Mittelalter die
alchimistischen Adepten den Stein der Weisen geglìht und die Mondstrahlen
vergiftet haben.
Es rìhrte kein anderer Weg hinaus als der, den ich gekommen war.
Aber ich fand die Mauerlìcke nicht mehr, die mich eingelassen, - stieŸ
an ein Holzgatter.
Es nìtzt nichts, ich muŸ jemand wecken, damit man mir den Weg zeigt,
sagte ich mir. Sonderbar, daŸ hier ein Haus die Gasse abschlieŸt - græŸer
als die andern und anscheinend wohnlich? Ich kann mich nicht entsinnen, es
je bemerkt zu haben.
Es muŸ wohl weiŸ getìncht sein, daŸ es so hell aus dem Nebel leuchtet?
Ich gehe durch das Gatter ìber den schmalen Gartenstreif, drìcke das
Gesicht an die Scheiben: - alles finster. Ich klopfe ans Fenster. - Da geht
drinnen ein steinalter Mann, eine brennende Kerze in der Hand, durch eine
Tìr mit greisenhaft wankenden Schritten bis mitten in die Stube, bleibt
stehen, dreht langsam den Kopf nach den verstaubten alchimistischen Retorten
und Kolben an der Wand, starrt nachdenklich auf die riesigen Spinnweben in
den Ecken und richtet dann seinen Blick unverwandt auf mich.
Der Schatten seiner Backenknochen f¤llt ihm auf die Augenhæhlen, daŸ es
aussieht, als seien sie leer wie die einer Mumie.
Er sieht mich offenbar nicht.
Ich klopfe ans Glas.
Er hært mich nicht. Geht lautlos wie ein Schlafwandler wieder aus dem
Zimmer.
Ich warte vergebens.
Klopfe ans Haustor: niemand æffnet. - - -
Es blieb mir nichts ìbrig, als so lange zu suchen, bis ich den Ausgang
aus der Gasse endlich fand.
Ob es nicht am besten w¤re, ich ginge noch unter Menschen, ìberlegte
ich. - Zu meinen Freunden: Zwakh, Prokop und Vrieslander ins "alte Ungelt",
wo sie bestimmt sein wìrden -, um meine verzehrende Sehnsucht nach Angelinas
Kìssen wenigstens fìr ein paar Stunden zu ìbert¤uben? Rasch mache ich mich
auf den Weg.
Wie ein Trifolium von Toten hockten sie um den wurmstichigen, alten
Tisch herum, - alle drei: weiŸe dìnnstielige Tonpfeifen zwischen den Z¤hnen,
und das Zimmer voll Rauch.
Man konnte kaum ihre Gesichtszìge unterscheiden, so schluckten die
dunkelbraunen W¤nde das sp¤rliche Licht der altmodischen H¤ngelampe ein.
In der Ecke die spindeldìrre, wortkarge, verwitterte Kellnerin mit
ihrem ewigen Strickstrumpf, dem farblosen Blick und der gelben
Entenschnabelnase!
Mattrote Decken hingen vor den geschlossenen Tìren, so daŸ die Stimmen
der G¤ste im Nebenzimmer nur wie das leise Summen eines Bienenschwarms
herìberdrangen.
Vrieslander, seinen kegelfærmigen Hut mit der geraden Krempe auf dem
Kopf, mit seinem Knebelbart, der bleigrauen Gesichtsfarbe und der Narbe
unter dem Auge, sah aus wie ein ertrunkener Holl¤nder aus einem vergessenen
Jahrhundert.
Josua Prokop hatte sich eine Gabel quer durch die Musikerlocken
gesteckt, klapperte unaufhærlich mit seinen gespenstisch langen
Knochenfingern und sah bewundernd zu, wie sich Zwakh abmìhte, der bauchigen
Arakflasche das Purpurm¤ntelchen einer Marionette umzuh¤ngen.
"Das wird Babinski", erkl¤rte mir Vrieslander mit tiefem Ernst. "Sie
wissen nicht, wer Babinski war? Zwakh, erz¤hlen Sie Pernath rasch, wer
Babinski war!"
"Babinski war", begann Zwakh sofort, ohne auch nur eine Sekunde von
seiner Arbeit aufzusehen, "einst ein berìhmter Raubmærder in Prag. - Viele
Jahre betrieb er sein sch¤ndliches Handwerk, ohne daŸ es jemand bemerkt
h¤tte. Nach und nach jedoch fiel es in den besseren Familien auf, daŸ bald
dieses, bald jenes Mitglied der Sippe beim Essen fehlte und sich nie wieder
blicken lieŸ. Wenn man auch anfangs nichts sagte, da die Sache gewissermaŸen
ihre guten Seiten hatte, indem man weniger zu kochen brauchte, so durfte
wiederum nicht auŸer acht gelassen werden, daŸ das Ansehen in der
Gesellschaft leicht darunter leiden und man ins Gerede kommen konnte.
Besonders, wenn es sich um das spurlose Verschwinden mannbarer Tæchter
handelte.
œberdies verlangte die Hochachtung vor sich selbst, daŸ man auf ein
bìrgerliches Zusammenleben in der Familie nach auŸen hin das nætige Gewicht
legte.
Die Zeitungsrubriken: "Kehre zurìck, alles ist verziehen" wuchsen immer
mehr und mehr, - ein Umstand, den Babinski, leichtsinnig wie die meisten
Berufsmærder, in seine Berechnungen nicht einbezogen hatte, - und erregten
schlieŸlich die allgemeine Aufmerksamkeit.
In dem lieblichen Dærfchen Krtsch bei Prag hatte sich Babinski, der
innerlich ein ausgesprochen idyllischer Charakter war, mit der Zeit durch
seine unverdrossene T¤tigkeit ein kleines, aber trautes Heim geschaffen. Ein
H¤uschen, blitzend vor Sauberkeit, und ein G¤rtchen davor mit blìhenden
Geranien.
Da es ihm seine Einkìnfte nicht gestatteten, sich zu vergræŸern, sah er
sich genætigt, um die Leichen seiner Opfer unauff¤llig bestatten zu kænnen,
statt eines Blumenbeetes - wie er es gern gesehen h¤tte - einen
grasbewachsenen und schlichten, aber, den Umst¤nden angemessen: zweckm¤Ÿigen
Grabhìgel anzulegen, der sich mìhelos verl¤ngern lieŸ, wenn es der Betrieb
oder die Saison erforderte.
Auf dieser Weihest¤tte pflegte Babinski allabendlich nach des Tages
Last und Mìhen in den Strahlen der untergehenden Sonne zu sitzen und auf
seiner Flæte allerlei schwermìtige Weisen zu blasen." - -
"Halt!" unterbrach Josua Prokop rauh, zog einen Hausschlìssel aus der
Tasche, hielt ihn wie eine Klarinette an den Mund und sang:
"Zimzerlim zambusla - deh."
"Waren Sie denn dabei, daŸ Sie die Melodie so genau kennen?", fragte
Vrieslander erstaunt.
Prokop warf ihm einen bitterbæsen Blick zu: "Nein. Dazu hat Babinski zu
frìh gelebt. Aber was er gespielt haben kann, muŸ ich als Komponist doch am
besten wissen. Ihnen steht darìber kein Urteil zu: Sie sind nicht
musikalisch. - - Zimzerlim - zambusla - busla - deh."
Zwakh hærte ergriffen zu, bis Prokop seinen Hausschlìssel wieder
einsteckte, und fuhr dann fort:
"Das best¤ndige Wachsen des Hìgels erweckte allm¤hlich Verdacht bei den
Anrainern, und einem Polizeimann aus der Vorstadt Zizkov, der gelegentlich
von weitem zusah, wie Babinski gerade eine alte Dame der guten Gesellschaft
erwìrgte, gebìhrt das Verdienst, dem selbstsìchtigen Treiben des Unholdes
ein fìr allemal Schranken gesetzt zu haben:
Man verhaftete Babinski in seinem Tuskulum.
Der Gerichtshof verurteilte ihn unter Zubilligung des mildernden
Umstandes eines ansonsten trefflichen Leumundes zum Tode durch den Strang
und beauftragte zugleich die Firma Gebrìder Leipen - Seilwaren en gros und
en detail - die nætigen Hinrichtungsutensilien, soweit diese in ihre Branche
fielen, unter Anrechnung ziviler Preise einem hohen Staats¤rar gegen
Quittung auszuh¤ndigen.
Nun fìgte es sich aber, daŸ der Strick riŸ und Babinski zu
lebensl¤nglichem Gef¤ngnis begnadigt wurde.
Zwanzig Jahre verbìŸte der Raubmærder hinter den Mauern von Sankt
Pankraz, ohne daŸ je ein Vorwurf ìber seine Lippen gekommen w¤re; - noch
heute ist der Beamtenstab des Institutes voll Lob ìber seine vorbildliche
Auffìhrung, ja, man gestattete ihm sogar, an den Geburtstagen unseres
Allerhæchsten Landesherrn ab und zu die Flæte zu blasen; -"
Prokop suchte sofort wieder nach seinem Hausschlìssel, aber Zwakh
wehrte ihm.
"- infolge allgemeiner Amnestie wurde dem Babinski der Rest der Strafe
nachgesehen, und er bekam die Stelle eines Pfærtners im Kloster der
›Barmherzigen Schwestern‹.
Die leichte Gartenarbeit, die er nebenbei mit zu versehen hatte, ging
ihm dank der groŸen, w¤hrend seines frìheren Wirkungskreises erworbenen
Geschicklichkeit im Gebrauch des Spatens hurtig von der Hand, so daŸ ihm
hinl¤nglich MuŸe blieb, Herz und Geist an guter, sorgf¤ltig ausgew¤hlter
Lektìre zu l¤utern.
Die daraus resultierenden Folgen waren hocherfreulich.
Sooft ihn die Oberin Samstagabends ins Wirtshaus schickte, damit er
sein Gemìt ein wenig erheitere, jedesmal kam er pìnktlich vor Anbruch der
Nacht nach Hause mit dem Hinweis, der Verfall der allgemeinen Moral stimme
ihn trìbe und soviel lichtscheues Gesindel schlimmster Sorte mache die
LandstraŸe unsicher, daŸ es fìr jeden Friedliebenden ein Gebot der Klugheit
sei, rechtzeitig die Schritte heimw¤rts zu lenken.
Es war nun damaliger Zeit in Prag bei den Wachsziehern die Unsitte
eingerissen, kleine Figìrchen feilzuhalten, die ein rotes Manterle umh¤ngen
hatten und den Raubmærder Babinski darstellten.
Wohl in keiner der leidtragenden Familien fehlte ein solches.
Gewæhnlich aber standen sie in den L¤den unter Glasstìrzen, und ìber
nichts konnte sich Babinski so empæren, als wenn er eines derartigen
Wachsbildes ansichtig wurde.
›Es ist im hæchsten Grade unwìrdig und zeugt von einer Gemìtsroheit
sondersgleichen, einem Menschen best¤ndig die Verfehlungen seiner Jugendzeit
vor Augen zu fìhren,‹ pflegte Babinski in solchen F¤llen zu sagen ›und es
ist tief zu bedauern, daŸ von Seiten der Obrigkeit nichts geschieht, so
offenkundigem Unfug zu steuern.‹
Noch auf dem Totenbette ¤uŸerte er sich in ¤hnlichem Sinne.
Nicht vergebens, denn bald darauf verfìgte die Behærde die Einstellung
des Handels mit den ¤rgerniserregenden Babinskischen Statuetten." - - -
- - - Zwakh tat einen m¤chtigen Schluck aus seinem Grogglas und alle
drei grinsten wie die Teufel, dann wandte er vorsichtig den Kopf nach der
farblosen Kellnerin, und ich sah, wie sie eine Tr¤ne im Auge zerdrìckte.
- "Na, und Sie geben nichts zum besten, auŸer - natìrlich - daŸ Sie aus
Dankbarkeit fìr den ìberstandenen KunstgenuŸ die Zeche berappen,
wertgesch¤tzter Kollege und Gemmenschneider?", fragte mich Vrieslander nach
einer langen Pause allgemeinen Tiefsinnes.
Ich erz¤hlte ihnen meine Wanderung durch den Nebel.
Als ich in der Schilderung zu der Stelle kam, wo ich das weiŸe Haus
erblickt hatte, nahmen alle drei vor Spannung die Pfeifen aus den Z¤hnen,
und als ich schloŸ, schlug Prokop mit der Faust auf den Tisch und rief:
"Das ist doch rein - -! Alle Sagen, die es gibt, erlebt dieser Pernath
am eigenen Kadaver. - A propos, der Golem von damals - Sie wissen: die Sache
hat sich aufgekl¤rt."
"Wieso aufgekl¤rt?" fragte ich baff.
"Sie kennen doch den verrìckten jìdischen Bettler ›Haschile‹? Nein? Nun
also: dieser Haschile war der Golem."
"Ein Bettler der Golem?"
"Jawohl, der Haschile war der Golem. Heute nachmittag ging das Gespenst
seelenvergnìgt bei hellichtem Sonnenschein in seinem berìchtigten
altmodischen Anzug aus dem XVII. Jahrhundert durch die Salnitergasse
spazieren, und da hat es der Schinder mit einer Hundeschlinge glìcklich
eingefangen."
"Was soll das heiŸen? Ich verstehe kein Wort!" fuhr ich auf.
"Ich sage Ihnen doch: der Haschile war es! Er hat die Kleider, hære
ich, vor l¤ngerer Zeit hinter einem Haustor gefunden. - œbrigens, um auf das
weiŸe Haus auf der Kleinseite zurìckzukommen: die Sache ist furchtbar
interessant. Es geht n¤mlich eine alte Sage, daŸ dort oben in der
Alchimistengasse ein Haus steht, das nur bei Nebel sichtbar wird, und auch
da bloŸ ›Sonntagskindern‹. Man nennt es ›die Mauer zur letzten Laterne‹. Wer
bei Tag hinaufgeht, sieht dort nur einen groŸen, grauen Stein, - dahinter
stìrzt es j¤h ab in die Tiefe in den Hirschgraben, und Sie kænnen von Glìck
sagen, Pernath, daŸ Sie keinen Schritt weiter gemacht haben: Sie w¤ren
unfehlbar hinuntergefallen und h¤tten s¤mtliche Knochen gebrochen.
Unter dem Stein, heiŸt es, ruht ein riesiger Schatz, und er soll von
dem Orden der ›Asiatischen Brìder‹, die angeblich Prag gegrìndet haben, als
Grundstein fìr ein Haus gelegt worden sein, das dereinst am Ende der Tage
ein Mensch bewohnen wird - besser gesagt ein Hermaphrodit - ein Geschæpf,
das sich aus Mann und Weib zusammensetzt. Und der wird das Bild eines Hasen
im Wappen tragen, - nebenbei: der Hase war das Symbol des Osiris, und daher
stammt wohl die Sitte mit dem Osterhasen.
Bis die Zeit gekommen ist, heiŸt es, h¤lt Methusalem in eigener Person
Wache an dem Ort, damit Satan nicht den Stein beflattert und einen Sohn mit
ihm zeugt: den sogenannten Armilos. - Haben Sie noch nie von diesem Armilos
erz¤hlen hæren? - Sogar wie er aussehen wìrde, weiŸ man - das heiŸt, die
alten Rabbiner wissen es; - wenn er auf die Welt k¤me: Haare aus Gold wìrde
er haben, rìckw¤rts zum Schopf gebunden, dann: zwei Scheitel, sichelfærmige
Augen und Arme bis herunter zu den FìŸen."
"Dieses Ehrengigerl sollte man aufzeichnen", brummte Vrieslander und
suchte nach einem Bleistift.
"Also: Pernath, wenn Sie einmal das Glìck haben sollten, ein
Hermaphrodit zu werden und en passant den vergrabenen Schatz zu finden,"
schloŸ Prokop, "dann vergessen Sie nicht, daŸ ich stets Ihr bester Freund
gewesen bin!"
- Mir war nicht zum SpaŸmachen zumute, und ich fìhlte ein leises Weh im
Herzen.
Zwakh mochte es mir ansehen, wenn er auch den Grund nicht wuŸte, denn
er kam mir rasch zu Hilfe:
"Jedenfalls ist es hæchst merkwìrdig, fast unheimlich, daŸ Pernath
gerade eine Vision an jener Stelle hatte, die mit einer uralten Sage so eng
verknìpft ist. - Da sind Zusammenh¤nge, aus deren Umklammerung sich ein
Mensch anscheinend nicht befreien kann, wenn seine Seele die F¤higkeit hat,
Formen zu sehen, die dem Tastsinn vorenthalten sind. - Ich kann mir nicht
helfen: das œbersinnliche ist doch das Reizvollste! - Was meint ihr?"
Vrieslander und Prokop waren ernst geworden, und jeder von uns hielt
eine Antwort fìr ìberflìssig.
"Was meinen Sie, Eulalia?" wiederholte Zwakh, zurìckgewendet, seine
Frage.
Die alte Kellnerin kratzte sich mit der Stricknadel am Kopf, seufzte,
errætete und sagte:
"Aber g¤hn' Sie! Sie sind mir ein Schlimmer."
"Eine verdammt gespannte Luft war heute den ganzen Tag ìber", fing
Vrieslander an, nachdem sich unser Heiterkeitsausbruch gelegt hatte, "nicht
einen Pinselstrich hab' ich fertiggebracht. Fortw¤hrend hab' ich an die
Rosina denken mìssen, wie sie im Frack getanzt hat."
"Ist sie wieder aufgefunden worden?", fragte ich.
"›Aufgefunden‹ ist gut. Die Sittenpolizei hat sie doch fìr ein l¤ngeres
Engagement gewonnen! - Vielleicht hat sie dem Herrn Kommiss¤r - damals ›beim
Loisitschek‹, ins Auge gestochen? Jedenfalls ist sie jetzt - fieberhaft
t¤tig und tr¤gt wesentlich zur Hebung des Fremdenverkehrs in der Judenstadt
bei. Ein verflucht dralles Mensch ist sie ìbrigens schon geworden in der
kurzen Zeit."
"Wenn man bedenkt, was ein Weib aus einem Mann machen kann bloŸ
dadurch, daŸ sie ihn verliebt sein l¤Ÿt in sich: es ist zum Staunen", warf
Zwakh hin. "Um das Geld aufzubringen, zu ihr gehen zu kænnen, ist der arme
Bursche, der Jaromir, ìber Nacht Kìnstler geworden. Er geht in den
Wirtsh¤usern herum und schneidet Silhouetten fìr G¤ste aus, die sich auf
diese Art portr¤tieren lassen."
Prokop, der den SchluŸ ìberhært hatte, schmatzte mit den Lippen:
"Wirklich? Ist sie so hìbsch geworden, die Rosina? - Haben Sie ihr
schon ein KìŸchen geraubt, Vrieslander?"
Die Kellnerin sprang sofort auf und verlieŸ indigniert das Zimmer.
"Das Suppenhuhn! Die hat's wahrhaftig nætig, - Tugendanf¤lle! Pah!",
brummte Prokop ¤rgerlich hinter ihr drein.
"Was wollen Sie, sie ist doch bei der unrichtigen Stelle abgegangen.
Und auŸerdem war der Strumpf gerade fertig", beschwichtigte ihn Zwakh.
Der Wirt brachte neuen Grog und die Gespr¤che fingen allm¤hlich an,
eine schwìle Richtung zu nehmen. Zu schwìl, als daŸ sie mir nicht ins Blut
gegangen w¤ren bei meiner fiebrigen Stimmung.
Ich str¤ubte mich dagegen, aber je mehr ich mich innerlich abschloŸ und
an Angelina zurìckdachte, um so heiŸer brauste es mir in den Ohren.
Ziemlich unvermittelt verabschiedete ich mich.
Der Nebel war durchsichtiger geworden, sprìhte feine Eisnadeln auf
mich, war aber immer noch so dicht, daŸ ich die StraŸentafeln nicht lesen
konnte und von meinem Heimweg um ein geringes abkam.
Ich war in eine andere Gasse geraten und wollte eben umkehren, da hærte
ich meinen Namen rufen:
"Herr Pernath! Herr Pernath!"
Ich blickte um mich, in die Hæhe:
Niemand!
Ein offenes Haustor, darìber diskret eine kleine, rote Laterne, g¤hnte
neben mir auf, und eine helle Gestalt - schien mir - stand tief im Flur
darin.
Wieder: "Herr Pernath! Herr Pernath!" Im Flìsterton.
Ich trat erstaunt in den Gang, - da schlangen sich warme Frauenarme um
meinen Hals, und ich sah bei dem Lichtstrahl, der aus einem sich langsam
æffnenden Tìrspalt fiel, daŸ es Rosina war, die sich heiŸ an mich preŸte.
Ein grauer, blinder Tag.
Bis tief in den Morgen hinein hatte ich geschlafen, traumlos,
bewuŸtlos, wie ein Scheintoter.
Meine alte Bedienerin war ausgeblieben oder hatte vergessen
einzuheizen.
Kalte Asche lag im Ofen.
Staub auf den Mæbeln.
Der FuŸboden nicht gekehrt.
Fræstelnd ging ich auf und ab.
Widerw¤rtiger Geruch nach ausgeatmetem Fusel lag im Zimmer. Mein
Mantel, meine Kleider stanken nach altem Tabakrauch.
Ich riŸ das Fenster auf, schloŸ es wieder: - der kalte, schmutzige
Hauch von der StraŸe war unertr¤glich.
Spatzen mit durchn¤Ÿtem Gefieder hockten regungslos drauŸen auf den
Dachrinnen.
Wohin ich blickte, miŸfarbene Verdrossenheit. Alles in mir war
zerrissen, zerfetzt.
Das Sitzpolster auf dem Lehnstuhl - wie fadenscheinig es war! Die
RoŸhaare quollen hervor aus den R¤ndern.
Man muŸte es zum Tapezierer schicken - - ach was, sollte es so bleiben
- noch ein ædes Menschenleben hindurch, bis alles zu Gerumpel zerfiel!
Und dort, welch geschmackloser, zweckwidriger Plunder, diese
Zwirnlappen an den Fenstern!
Warum drehte ich sie nicht zu einem Strick und erhenkte mich daran?!
Dann brauchte ich diese augenverletzenden Dinge wenigstens nie mehr zu
sehen, und der ganze graue, zermìrbende Jammer war vorìber - ein fìr
allemal.
Ja! Das war das gescheiteste! Ein Ende machen.
Heute noch.
Jetzt noch - vormittags. Gar nicht erst zum Essen gehen. - Ein
ekelhafter Gedanke, mit vollem Magen sich aus der Welt zu schaffen! In der
nassen Erde liegen und unverdaute, verfaulende Speisen in sich zu haben.
Wenn nur nie wieder die Sonne scheinen wollte und ihre freche Lìge von
der Freude des Daseins einem ins Herz funkeln.
Nein! ich lieŸ mich nicht mehr narren, wollte nicht l¤nger der
Spielball sein eines t¤ppischen, zwecklosen Schicksals, das mich emporhob
und dann wieder in Pfìtzen stieŸ, bloŸ damit ich die Verg¤nglichkeit alles
Irdischen einsehen sollte, etwas, was ich l¤ngst wuŸte, was jedes Kind weiŸ,
jeder Hund auf der StraŸe weiŸ.
Arme, arme Mirjam! Wenn ich ihr wenigstens helfen kænnte.
Es hieŸ, einen EntschluŸ fassen, einen ernsten, unab¤nderlichen
BeschluŸ, bevor der verfluchte Trieb zum Dasein wieder in mir erwachen
konnte und mir neue Trugbilder vorgaukeln.
Wozu hatten sie mir denn gedient: alle diese Botschaften aus dem Reich
des Unverweslichen?
Zu nichts, zu gar, gar nichts.
Nur dazu vielleicht, daŸ ich im Kreis herumgetaumelt war und jetzt die
Erde als unmægliche Qual empfand.
Da gab es nur noch eins.
Ich rechnete im Kopf zusammen, wieviel Geld ich auf der Bank liegen
hatte.
Ja, nur so ging es. Das war noch das Einzige, Winzige, was von meinen
nichtigen Taten im Leben irgendeinen Wert haben konnte!
Alles, was ich besaŸ - die paar Edelsteine in der Schublade dazu, -
zusammenschnìren in ein Paket und es Mirjam schicken. Ein paar Jahre
wenigstens wìrde es die Sorge ums t¤gliche Leben von ihr nehmen. Und einen
Brief an Hillel schreiben, in dem ich ihm sagte, wie es um sie stand mit dem
"Wunder".
Er allein konnte ihr helfen.
Ich fìhlte: ja, er wìrde Rat wissen fìr sie.
Ich suchte die Steine zusammen, steckte sie ein, sah auf die Uhr: wenn
ich jetzt auf die Bank ging - in einer Stunde konnte alles in Ordnung
gebracht sein.
Und dann noch einen StrauŸ roter Rosen kaufen fìr Angelina! - - - - es
schrie auf in mir vor Weh und wilder Sehnsucht. - Nur noch einen Tag, einen
einzigen Tag mæchte ich leben!
Um dann abermals dieselbe wìrgende Verzweiflung mitmachen zu mìssen?
Nein, nicht eine einzige Minute mehr warten! Es kam wie Befriedigung
ìber mich, daŸ ich mir nicht nachgegeben hatte.
Ich blickte umher. Blieb mir noch etwas zu tun?
Richtig: die Feile dort. Ich steckte sie in die Tasche, - wollte sie
fortwerfen irgendwo auf der Gasse, wie ich es mir neulich schon vorgenommen.
Ich haŸte die Feile! Wieviel hatte gefehlt, und ich w¤re zum Mærder
geworden durch sie.
Wer kam mich denn da wieder stæren?
Es war der Trædler.
"Nur en Augenblick, Herr von Pernath", bat er fassungslos, als ich ihm
bedeutete, daŸ ich keine Zeit h¤tte. "Nur en ganz en kurzen Augenblick. Nur
¤ paar Worte."
Der SchweiŸ lief ihm ìbers Gesicht, und er zitterte vor Aufregung.
"Kann man hier auch ungestært mit Ihnen sprechen, Herr von Pernath? Ich
mæcht' nicht, daŸ der - der Hillel wieder hereinkommt. Sperren Sie doch
lieber die Tìr ab, oder geh'mer besser ins Nebenzimmer", - er zog mich in
seiner gewohnten, heftigen Art hinter sich drein.
Dann sah er sich ein paarmal scheu um und flìsterte heiser:
"Ich hab mir's ìberlegt, wissen Sie, - das von neilich. Es is besser
so. Es kommt nix hereaus dabei. Gut. Vorìber is vorìber."
Ich suchte in seinen Augen zu lesen.
Er hielt meinen Blick aus, krampfte aber die Hand in die Stuhllehne,
solche Anstrengung kostete es ihn.
"Das freut mich, Herr Wassertrum," sagte ich, so freundlich ich konnte,
"das Leben ist zu trìb, als daŸ man es sich gegenseitig noch mit HaŸ
verbittern sollte."
"Rein, als ob man ein gedrìcktes Buch reden hært," grunzte er
erleichtert, wìhlte in seinen Hosentaschen und zog wieder die goldene Uhr
mit den verbogenen Sprungdeckeln hervor, "und damit Sie sehen, ich mein's
ehrlich, mìssen Sie die Kleinigkeit da von mir annehmen. Als Geschenk."
"Was f¤llt Ihnen denn ein," wehrte ich ab, "Sie werden doch wohl nicht
glauben -", da fiel mir ein, was Mirjam ìber ihn gesagt hatte, und ich
streckte ihm die Hand hin, um ihn nicht zu kr¤nken.
Er achtete nicht darauf, wurde plætzlich weiŸ wie die Wand, lauschte
und ræchelte:
"Da! Da! Hab' ich's doch gewuŸt. Schon wieder der Hillel! Er klopft."
Ich horchte, ging ins andere Zimmer zurìck und zog zu seiner Beruhigung
die Verbindungstìr hinter mir halb zu.
Es war diesmal nicht Hillel. Charousek trat ein, legte, wie zum
Zeichen, daŸ er wisse, wer nebenan sei, den Finger an die Lippen und
ìberschìttete mich in der n¤chsten Sekunde und ohne abzuwarten, was ich
sagen wìrde, mit einem Schwall von Worten:
"Oh, mein hochverehrter, liebwerter Meister Pernath, wie soll ich nur
die Worte finden, Ihnen meine Freude auszudrìcken, daŸ ich Sie allein und
wohlauf zu Hause antreffe." - - - Er sprach wie ein Schauspieler, und seine
schwìlstige, unnatìrliche Redeweise stand in so krassem Gegensatz zu seinem
verzerrten Gesicht, daŸ ich ein tiefes Grauen vor ihm empfand.
"Niemals h¤tte ich, Meister, es gewagt, in dem zerlumpten Zustande zu
Ihnen zu kommen, in dem Sie mich gewiŸ schon des æfteren auf der StraŸe
erblickt haben, - doch, was sage ich: erblickt! haben Sie mir doch oft
huldreich die Hand gereicht.
DaŸ ich heute vor Sie hintreten kann mit weiŸem Kragen und in sauberem
Anzug, - wissen Sie, wem ich es verdanke? Einem der edelsten und leider -
ach - meist verkannten Menschen unserer Stadt. Rìhrung ìbermannt mich, wenn
ich seiner gedenke.
Selber in bescheidenen Verh¤ltnissen, hat er dennoch eine offene Hand
fìr Arme und Bedìrftige. Von jeher, wenn ich ihn traurig vor seinem Laden
stehen sah, trieb es mich aus tiefstem Herzen heraus, zu ihm zu treten und
ihm stumm die Hand zu drìcken.
Vor einigen Tagen rief er mich an, als ich vorìberging, schenkte mir
Geld und versetzte mich dadurch in die Lage, mir gegen Ratenzahlung einen
Anzug kaufen zu kænnen.
Und wissen Sie, Meister Pernath, wer mein Wohlt¤ter war? -
Mit Stolz sage ich es, denn ich war von jeher der einzige, der geahnt
hat, welch goldenes Herz in seinem Busen schl¤gt: Es war - Herr Aaron
Wassertrum!" - -
- - Ich verstand natìrlich, daŸ Charousek seine Komædie auf den
Trædler, der nebenan lauschte, gemìnzt hatte, wenn mir auch unklar blieb,
was er damit bezweckte; keinesfalls schien mir die allzuplumpe Schmeichelei
geeignet, den miŸtrauischen Wassertrum hinters Licht zu fìhren. Charousek
erriet offenbar aus meiner bedenklichen Miene, was ich dachte, schìttelte
grinsend den Kopf, und auch seine n¤chsten Worte sollten mir wahrscheinlich
sagen, daŸ er seinen Mann genau kenne und wisse, wie dick er auftragen
dìrfe.
"Jawohl! Herr - Aaron - Wassertrum! Es drìckt mir fast das Herz ab, daŸ
ich ihm nicht selbst sagen kann, wie unendlich dankbar ich ihm bin, und
beschwære Sie, Meister, verraten Sie ihm niemals, daŸ ich hier war und Ihnen
alles erz¤hlt habe. - Ich weiŸ, die Selbstsucht der Menschen hat ihn
verbittert und tiefes, unheilbares - ach, leider nur zu gerechtfertigtes
MiŸtrauen in seine Brust gepflanzt.
Ich bin Seelenarzt, aber auch mein Gefìhl sagt mir, es ist am besten:
Herr Wassertrum erf¤hrt nie - auch aus meinem Munde nicht - wie hoch ich von
ihm denke. - Es hieŸe das: Zweifel in sein unglìckliches Herz s¤en. Und das
sei ferne von mir. Lieber soll er mich fìr undankbar halten.
Meister Pernath! Ich bin selbst ein Unglìcklicher und weiŸ von
Kindesbeinen an, was es heiŸt, einsam und verlassen in der Welt zu stehen!
Ich kenne nicht einmal den Namen meines Vaters. Auch mein Mìtterlein habe
ich niemals von Angesicht zu Angesicht gesehen. Sie muŸ frìhzeitig gestorben
sein -" Charouseks Stimme wurde seltsam geheimnisvoll und eindringlich, -
"und war, wie ich bestimmt glaube, eine jener tiefseelisch angelegten
Naturen, die nie sagen kænnen, wie unendlich sie lieben, und zu denen auch
Herr Aaron Wassertrum gehært.
Ich besitze eine abgerissene Seite aus dem Tagebuch meiner Mutter - ich
trage das Blatt best¤ndig auf der Brust - und darin steht, daŸ sie meinen
Vater, obschon er h¤Ÿlich gewesen sein soll, geliebt hat, wie wohl noch nie
ein sterbliches Weib auf Erden einen Mann geliebt hat.
Dennoch scheint sie es nie gesagt zu haben. - Vielleicht aus ¤hnlichen
Grìnden, weshalb ich z. B. Herrn Wassertrum nicht sagen kænnte - und wenn
mir das Herz darìber br¤che - was ich fìr ihn an Dankbarkeit fìhle.
Aber noch eins geht aus dem Tagebuchblatt hervor, wenn ich es auch nur
erraten kann, denn die S¤tze sind fast unleserlich vor Tr¤nenspuren: mein
Vater - sein Andenken mæge vergehen im Himmel und auf Erden! - muŸ
scheuŸlich an meiner Mutter gehandelt haben."
- Charousek fiel plætzlich auf die Knie, daŸ der Boden dræhnte, und
schrie in so markerschìtternden Tænen, daŸ ich nicht wuŸte, spielte er noch
immer Komædie oder war er wahnsinnig geworden:
"Du Allm¤chtiger, dessen Namen der Mensch nicht aussprechen soll, hier
auf meinen Knien liege ich vor Dir: verflucht, verflucht, verflucht sei mein
Vater in alle Ewigkeit!"
Er biŸ das letzte Wort færmlich entzwei und horchte eine Sekunde lang
mit aufgerissenen Augen.
Dann feixte er wie der Satan. Auch mir schien es, als h¤tte Wassertrum
nebenan leise gestæhnt.
"Verzeihen Sie, Meister," fuhr Charousek nach einer Pause mit mimenhaft
erstickter Stimme fort, "verzeihen Sie, daŸ es mich ìbermannt hat, aber es
ist mein Gebet frìh und sp¤t, der Allm¤chtige wolle es fìgen, daŸ mein
Vater, wer immer er auch sein mæge, dereinst das gr¤Ÿlichste Ende nehme, das
sich ausdenken l¤Ÿt."
Ich wollte unwillkìrlich etwas erwidern, allein Charousek unterbrach
mich rasch:
"Doch jetzt, Meister Pernath, komme ich zu der Bitte, die ich Ihnen
vorzutragen habe:
Herr Wassertrum besaŸ einen Schìtzling, den er ìber die MaŸen ins Herz
geschlossen hatte, - es dìrfte ein Neffe von ihm gewesen sein. Es heiŸt
sogar, es sei sein Sohn gewesen, aber ich will es nicht glauben, denn sonst
h¤tte er doch denselben Namen getragen, in Wirklichkeit aber hieŸ er:
Wassory, Dr. Theodor Wassory.
Die Tr¤nen treten mir in die Augen, wenn ich ihn im Geiste vor mir
sehe. Ich war ihm aus ganzer Seele zugetan, als h¤tte mich ein unmittelbares
Band der Liebe und Verwandtschaft mit ihm verknìpft."
Charousek schluchzte, als kænne er vor Ergriffenheit kaum
weitersprechen.
"Ach, daŸ dieser Edeling von der Erde gehen muŸte! - Ach! Ach!
Was auch der Grund gewesen sein mag, - ich habe ihn nie erfahren, - er
hat sich selbst den Tod gegeben. Und ich war unter denen, die zu Hilfe
gerufen wurden - - ach, ach, zu sp¤t - zu sp¤t - zu sp¤t! Und als ich dann
allein am Totenlager stand und seine kalte, bleiche Hand mit Kìssen
bedeckte, da - warum soll ich es nicht eingestehen, Meister Pernath? - es
war ja doch kein Diebstahl - da nahm ich eine Rose von der Brust der Leiche
und eignete mir das Fl¤schchen an, mit dessen Inhalt der Unglìckliche seinem
blìhenden Leben ein schnelles Ende bereitet hatte."
Charousek zog eine Medizinflasche hervor und fuhr bebend fort:
"Beides lege ich hier auf Ihren Tisch, die verdorrte Rose und die
Phiole; sie waren mir ein Andenken an meinen dahingegangenen Freund.
Wie oft in Stunden innerer Verlassenheit, wenn ich mir den Tod
herbeiwìnschte in der Einsamkeit meines Herzens und der Sehnsucht nach
meiner toten Mutter, spielte ich mit diesem Fl¤schchen, und es gab mir einen
seligen Trost, zu wissen: ich brauchte nur die Flìssigkeit auf ein Tuch zu
gieŸen und einzuatmen und schwebte schmerzlos hinìber in die Gefilde, wo
mein lieber, guter Theodor ausruht von den Mìhsalen unseres Jammertales.
Und nun bitte ich Sie, hochverehrter Meister, - und deswegen bin ich
hergekommen - nehmen Sie beides und bringen Sie es Herrn Wassertrum.
Sagen Sie, Sie h¤tten es von jemandem bekommen, dem Dr. Wassory
nahestand, dessen Namen Sie jedoch gelobt h¤tten, nie zu nennen, -
vielleicht von einer Dame.
Er wird es glauben, und es wird ihm ein Andenken sein, wie es ein
teures Andenken fìr mich war.
Das soll der heimliche Dank sein, den ich ihm gebe. Ich bin arm und es
ist alles, was ich habe, aber es macht mich froh, zu wissen: beides wird
jetzt ihm gehæren, und dennoch ahnt er nicht, daŸ ich der Geber bin.
Es liegt darin zugleich auch fìr mich etwas unendlich SìŸes.
Und jetzt leben Sie wohl, teurer Meister, und seien Sie im voraus
vieltausendmal bedankt."
Er hielt meine Hand fest, zwinkerte und flìsterte mir, als ich noch
immer nicht verstand, kaum hærbar etwas zu.
"Warten Sie, Herr Charousek, ich werde Sie ein Stìckchen
hinunterbegleiten", sagte ich mechanisch die Worte nach, die ich von seinen
Lippen las, und ging mit ihm hinaus.
Auf dem finsteren Treppenabsatz im ersten Stock blieben wir stehen, und
ich wollte mich von Charousek verabschieden.
"Ich kann mir denken, was Sie mit der Komædie bezweckt haben. - - Sie -
Sie wollen, daŸ sich Wassertrum mit dem Fl¤schchen vergiftet!" Ich sagte es
ihm ins Gesicht.
"Freilich", gab Charousek aufger¤umt zu.
"Und dazu, glauben Sie, werde ich meine Hand bieten?"
"Durchaus nicht nætig."
"Aber ich sollte Wassertrum doch die Flasche bringen, sagten Sie
vorhin!"
Charousek schìttelte den Kopf:
"Wenn Sie jetzt zurìckgehen, werden Sie sehen, daŸ er sie bereits
eingesteckt hat."
"Wie kænnen Sie das nur annehmen?", fragte ich erstaunt. "Ein Mensch
wie Wassertrum wird sich niemals umbringen, - ist viel zu feig dazu -
handelt nie nach plætzlichen Impulsen."
"Da kennen Sie das schleichende Gift der Suggestion nicht", unterbrach
mich Charousek ernst. "H¤tte ich in allt¤glichen Worten geredet, wìrden Sie
vielleicht recht behalten, aber auch den kleinsten Tonfall habe ich vorher
berechnet. Nur das widerlichste Pathos wirkt auf solche Hundsfætter! Glauben
Sie mir! Sein Mienenspiel bei jedem meiner S¤tze h¤tte ich Ihnen hinzeichnen
kænnen. - Kein ›Kitsch‹ wie es die Maler nennen, ist niedertr¤chtig genug,
als daŸ er nicht der bis ins Mark verlogenen Menge Tr¤nen entlockte - sie
ins Herz trifft! Glauben Sie denn, man h¤tte nicht l¤ngst s¤mtliche Theater
mit Feuer und Schwert ausgetilgt, wenn es anders w¤re? An der
Sentimentalit¤t erkennt man die Kanaille. Tausende armer Teufel kænnen
verhungern, da wird nicht geweint, aber wenn ein Schminkkamel auf der Buhne,
als Bauerntrampel verkleidet, die Augen verdreht, dann heulen sie wie die
SchloŸhunde. - - Wenn V¤terchen Wassertrum vielleicht auch morgen vergessen
hat, was ihm soeben noch - Herzjauche kostete: jedes meiner Worte wird
wieder in ihm lebendig werden, wenn die Stunden reifen, wo er sich selbst
unendlich bedauernswert vorkommt. - In solchen Momenten des groŸen Misereres
bedarf es bloŸ eines leisen AnstoŸes, - und fìr den werde ich sorgen - und
selbst die feigste Pfote greift nach dem Gift. Es muŸ nur zur Hand sein!
Theodorchen h¤tte wahrscheinlich auch nicht zugegrapst, wenn ich's ihm nicht
so bequem gemacht h¤tte."
"Charousek, Sie sind ein furchtbarer Mensch", rief ich entsetzt.
"Empfinden Sie denn gar kein - - -"
Er hielt mir schnell den Mund zu und dr¤ngte mich in eine Mauernische!
"Still! Da ist er!"
Mit taumelnden Schritten, sich an der Wand stìtzend, kam Wassertrum die
Stiege herunter und wankte an uns vorìber.
Charousek schìttelte mir fluchtig die Hand und schlich ihm nach. - -
Als ich in mein Zimmer zurìckgekehrt war, sah ich, daŸ die Rose und das
Fl¤schchen verschwunden waren und an ihrer Stelle die goldene, zerbeulte Uhr
des Trædlers auf dem Tisch lag.
"Acht Tage mìsse ich warten, ehe ich mein Geld bekommen kænne; es sei
das die ìbliche Kìndigungsfrist", hatte man mir auf der Bank gesagt.
Man solle den Direktor holen, denn ich sei in græŸter Eile und ged¤chte
in einer Stunde abzureisen, hatte ich eine Ausrede gebraucht.
Er sei nicht zu sprechen und kænne an den Gepflogenheiten der Bank auch
nichts ¤ndern, hieŸ es, und ein Kerl mit einem Glasauge, der zugleich mit
mir an den Schalter getreten war, hatte darìber gelacht.
Acht graue, furchtbare Tage auf den Tod sollte ich also warten!
Wie ein Zeitraum ohne Ende kam es mir vor. - - -
Ich war so niedergeschlagen, daŸ ich mir gar nicht bewuŸt wurde, wie
lange ich schon vor der Tìre eines Kaffeehauses auf und nieder geschritten
sein mochte.
Endlich trat ich ein, bloŸ um den widerw¤rtigen Kerl mit dem Glasauge
los zu werden, der mir von der Bank her nachgekommen war und sich immer in
meiner N¤he hielt und, wenn ich ihn anblickte, sofort auf dem Boden
herumsuchte, als habe er etwas verloren.
Er hatte einen hellkarierten, viel zu engen Rock an und schwarze,
speckgl¤nzende Hosen, die ihm wie S¤cke um die Beine schlotterten. Auf
seinem linken Stiefel war ein eifærmiger, gewælbter Lederfleck aufgesteppt,
daŸ es aussah, als trìge er darunter einen Siegelring auf der Zehe.
Kaum hatte ich mich niedergesetzt, kam auch er herein und lieŸ sich an
einem Nebentisch nieder.
Ich glaubte, er wolle mich anbetteln, und suchte schon nach meinem
Portemonnai, da sah ich einen groŸen Brillanten an seinen wulstigen
Metzgerfingern aufblitzen.
Stunden und Stunden saŸ ich in dem Kaffeehaus und glaubte vor innerer
Nervosit¤t wahnsinnig werden zu mìssen, - aber wohin sollte ich gehen? Nach
Hause? Herumschlendern? Eines schien mir gr¤Ÿlicher als das andere.
Die veratmete Luft, das ewige, alberne Klappen der Billardkugeln, das
trockene, unaufhærliche Gerausper eines halbblinden Zeitungstigers mir
gegenìber, ein storchbeiniger Infanteneleutnant, der abwechselnd in der Nase
bohrte oder sich mit gelben Zigarettenfingern vor einem Taschenspiegel den
Schnurrbart k¤mmte, ein braunsammetenes Gebrodel ekelhafter, verschwitzter,
schnatternder Italiener um den Kartentisch in der Ecke, die bald unter
gellem Gekreisch ihre Trumpfe mit dem Faustknochel hinschlugen, bald unter
Brecherscheinungen ins Zimmer spuckten. Und das alles in den Wandspiegeln
doppelt und dreifach sehen zu mìssen! Es sog mir langsam das Blut aus den
Adern. -
Es wurde allm¤hlich dunkel und ein plattfuŸiger, knieweicher Kellner
tastete mit einer Stange nach den Gaslìstern, um sich endlich kopfschìttelnd
zu ìberzeugen, daŸ sie nicht brennen wollten.
So oft ich das Gesicht wandte, immer begegnete ich dem schielenden
Wolfsblick des Glas¤ugigen, der sich dann jedesmal rasch hinter eine Zeitung
versteckte oder seinen schmutzigen Schnurrbart in die langst ausgetrunkene
Kaffeetasse tauchte.
Er hatte seinen steifen, runden Hut tief aufgestìlpt, daŸ ihm die Ohren
fast waagerecht abstanden, machte aber keine Miene, aufzubrechen.
Es war nicht mehr auszuhalten.
Ich zahlte und ging.
Als ich die Glastìr hinter mir zumachen wollte, nahm mir jemand die
Klinke aus der Hand - Ich drehte mich um:
Wieder der Kerl!
„rgerlich wollte ich nach links biegen, in der Richtung der Judenstadt
zu, da dr¤ngte er sich an meine Seite und hinderte mich daran.
"Da hært denn doch alles auf!" schrie ich ihn an.
"Nach rechts geht's," sagte er kurz.
"Was soll das heiŸen?"
Er fixierte mich frech:
"Sie sind der Pernath!"
"Sie wollen wahrscheinlich sagen: Herr Pernath?"
Er lachte nur h¤misch:
"Alsdann keine Faxen jetz! Sie gah'n Sie mit!"
"Ja, sind Sie toll? Wer sind Sie eigentlich?", fuhr ich auf.
Er gab keine Antwort, schlug seinen Rock zurìck und zeigte vorsichtig
auf einen abgeschabten Blechadler, der im Futter festgesteckt war.
Ich begriff: der Falott war Geheimpolizist und verhaftete mich.
"So sagen Sie doch, um Himmels willen, was ist denn los?"
"Sie werden sich's schonn erfahrr¤hn. Auf dem D¤partem¤nt", erwiderte
er grob. "Alla marsch jetz!"
Ich schlug ihm vor, ich wollte einen Wagen nehmen.
"Nix da!"
Wir gingen zur Polizei.
Ein Gendarm fìhrte mich vor eine Tìr.
ALOIS OTSCHIN
Polizeirat
las ich auf der Porzellantafel.
"Sie k¤nnen sich eintr¤tten", sagte der Gendarm.
Zwei schmierige Schreibtische mit meterhohen Aufs¤tzen standen einander
gegenìber.
Ein paar verkraxte Stìhle dazwischen.
Das Bild des Kaisers an der Wand.
Ein Glas mit Goldfischen auf dem Fensterbrett.
Sonst nichts im Zimmer.
Ein KlumpfuŸ und daneben ein dicker Filzschuh unter zerfransten grauen
Hosen hinter dem linken Schreibpult.
Ich hærte rascheln. Jemand murmelte ein paar Worte in bæhmischer
Sprache und gleich darauf tauchte der Herr Polizeirat aus dem rechten
Schreibtisch auf und trat vor mich hin.
Er war ein kleiner Mann mit grauem Spitzbart und hatte die sonderbare
Manier, bevor er anfing zu reden, die Z¤hne zu fletschen wie jemand, der in
grelles Sonnenlicht schaut.
Dabei kniff er die Augen hinter den Brillenglasern zusammen, was ihm
den Ausdruck furchterregender Niedertracht verlieh.
"Sie heiŸen Athanasius Pernath und sind" - er blickte auf ein Blatt
Papier, auf dem nichts stand - "Gemmenschneider."
Sofort kam Leben in den KlumpfuŸ unter dem anderen Schreibtisch: er
wetzte sich an dem Stuhlbein, und ich hærte das Rauschen einer Schreibfeder.
Ich bejahte:
"Pernath. Gemmenschneider."
"No, da sin wir ja gleich beisammen, Herr - - - Pernath, - jawohl
Pernath. Ja wohl ja." - Der Herr Polizeirat war mit einem Schlag von
erstaunlicher Liebenswìrdigkeit, als h¤tte er die erfreulichste Nachricht
von der Welt bekommen, streckte mir beide H¤nde entgegen und bemìhte sich in
l¤cherlicher Weise, die Miene eines Biedermannes aufzusetzen.
"Also, Herr Pernath, erz¤hlen Sie mir einmal, was treiben Sie so den
ganzen Tag?"
"Ich glaube, daŸ Sie das nichts angeht, Herr Otschin", antwortete ich
kalt.
Er kniff die Augen zusammen, wartete einen Moment und fuhr blitzschnell
los:
"Seit wann hat die Gr¤fin ihr Verh¤ltnis mit dem Savioli?"
Ich war auf etwas „hnliches gefaŸt gewesen und zuckte nicht mit der
Wimper.
Er suchte mich geschickt durch Kreuz- und Querfragen in Widersprìche zu
verwickeln, aber, so sehr mir auch vor Entsetzen das Herz im Halse schlug,
ich verriet mich nicht und kam immer wieder darauf zurìck, daŸ ich den Namen
Savioli nie gehært h¤tte, mit Angelina von meinem Vater her befreundet sei,
und daŸ sie schon æfter Kameen bei mir bestellt habe.
Ich fìhlte trotzdem genau, daŸ der Polizeirat mir ansah, wie ich ihn
belog, und innerlich sch¤umte vor Wut, nichts aus mir herausbekommen zu
kænnen.
Er dachte eine Weile nach, dann zog er mich am Rock dicht an sich,
deutete warnend mit dem Daumen auf den linken Schreibtisch und flìsterte mir
ins Ohr:
"Athanasius! Ihr seliger Vater war mein bester Freund. Ich will Sie
retten, Athanasius! Aber Sie mìssen mir alles sagen ìber die Gr¤fin. - Hæren
Sie: alles."
Ich begriff nicht, was das bedeuten sollte. "Was meinen Sie damit: Sie
wollen mich retten?", fragte ich laut.
Der KlumpfuŸ stampfte ¤rgerlich auf den Boden. Der Polizeirat wurde
aschgrau im Gesicht vor HaŸ. Zog die Lippe empor. Wartete. - Ich wuŸte, daŸ
er gleich wieder losspringen wìrde; (sein Verblìffungssystem erinnerte mich
an Wassertrum) und wartete ebenfalls, - sah, daŸ ein Bocksgesicht, der
Inhaber des KlumpfuŸes, lauernd hinter dem Schreibpulte auftauchte - - dann
schrie mich der Polizeirat plætzlich gellend an:
"Mærder".
Ich war sprachlos vor Verblìffung.
MiŸmutig zog sich das Bocksgesicht wieder hinter sein Pult zurìck.
Auch der Herr Polizeirat schien ziemlich betreten ìber meine Ruhe,
versteckte es aber geschickt, indem er einen Stuhl herbeizog und mich
aufforderte, Platz zu nehmen.
"Sie verweigern also, ìber die Gr¤fin die von mir gewìnschte Auskunft
zu geben, Herr Pernath?"
"Ich kann sie nicht geben, Herr Polizeirat, wenigstens nicht in dem
Sinne, wie Sie erwarten. Erstens kenne ich niemand namens Savioli, und dann
bin ich felsenfest ìberzeugt, daŸ es eine Verleumdung ist, wenn man der
Gr¤fin nachsagt, sie hintergehe ihren Gatten."
"Sind Sie bereit, das zu beeiden?"
Mir stockte der Atem. "Ja! Jederzeit."
"Gut. Hm."
Eine l¤ngere Pause entstand, w¤hrend der Polizeirat angestrengt
nachzugrìbeln schien.
Als er mich wieder anblickte, lag ein komædiantenhafter Zug von
Schmerzlichkeit in seiner Fratze. Unwillkìrlich muŸte ich an Charousek
denken, wie er dann mit tr¤nenerstickter Stimme anfing:
"Mir kænnen Sie es doch sagen, Athanasius, - mir, dem alten Freund
Ihres Vaters - mir, der Sie auf den Armen getragen hat -" ich konnte das
Lachen kaum verbeiŸen: er war hæchstens zehn Jahre ¤lter als ich - "nicht
wahr, Athanasius, es war Notwehr?"
Das Bocksgesicht erschien abermals.
"Was war Notwehr?", fragte ich verst¤ndnislos.
"Das mit dem - - - Zottmann!" schrie mir der Polizeirat einen Namen ins
Gesicht.
Das Wort traf mich wie ein Dolchstich: Zottmann! Zottmann! Die Uhr! Der
Name Zottmann stand doch in der Uhr eingraviert.
Ich fìhlte, wie mir alles Blut zum Herzen stræmte: Der grauenhafte
Wassertrum hatte mir die Uhr gegeben, um den Verdacht des Mordes auf mich zu
lenken.
Sofort warf der Polizeirat die Maske ab, fletschte die Z¤hne und kniff
die Augen zusammen:
"Sie gestehen also den Mord ein, Pernath?"
"Das ist alles ein Irrtum. Ein entsetzlicher Irrtum. Um Gottes willen
hæren Sie mich an. Ich kann es Ihnen erkl¤ren, Herr Polizeirat - -!", schrie
ich.
"Werden Sie mir jetzt alles mitteilen in bezug auf die Frau Gr¤fin",
unterbrach er mich rasch: "ich mache Sie aufmerksam: Sie verbessern Ihre
Lage damit."
"Ich kann nicht mehr sagen, als bereits geschehen ist: die Gr¤fin ist
unschuldig."
Er biŸ die Z¤hne zusammen und wandte sich an das Bocksgesicht:
"Schreiben Sie: - Also, Pernath gesteht den Mord an dem
Versicherungsbeamten Karl Zottmann ein."
Mich packte eine besinnungslose Wut.
"Sie Polizeikanaille!" brìllte ich los, "was unterstehen Sie sich?!"
Ich suchte nach einem schweren Gegenstand.
Im n¤chsten Augenblick hatten mich zwei Schutzleute gepackt und mir
Handschellen angelegt.
Der Polizeirat bl¤hte sich jetzt wie der Hahn auf dem Mist:
"Und die Uhr da?", - er hielt plætzlich die verbeulte Uhr in der Hand,
- "hat der unglìckliche Zottmann noch gelebt, als Sie ihn beraubten, oder
nicht?"
Ich war wieder ganz ruhig geworden und gab mit klarer Stimme zu
Protokoll: "Die Uhr hat mir heute vormittag der Trædler Aaron Wassertrum -
geschenkt."
Ein wieherndes Gel¤chter brach los, und ich sah, wie der KlumpfuŸ und
der Filzpantoffel mitsammen einen Freudentanz unter dem Schreibtisch
auffìhrten.
Die H¤nde gefesselt, hinter mir ein Gendarm mit aufgepflanztem
Bajonett, muŸte ich durch die abendlich beleuchteten StraŸen gehen.
Gassenjungen zogen in Scharen johlend links und rechts mit, Weiber
rissen die Fenster auf, drohten mit Kochlæffeln herunter und schimpften
hinter mir drein.
Schon von weitem sah ich den massigen Steinwìrfel des Gerichtsgeb¤udes
mit der Inschrift auf dem Giebel herannahen:
"Die strafende Gerechtigkeit ist die Beschirmung aller Braven."
Dann nahm mich ein riesiges Tor auf und ein Flurzimmer, in dem es nach
Kìche stank.
Ein vollb¤rtiger Mann mit S¤bel, Beamtenrock und -mìtze, barfuŸ und die
Beine in langen, um die Knæchel zusammengebundenen Unterhosen, stand auf,
stellte die Kaffeemìhle, die er zwischen den Knien hielt, weg und befahl
mir, mich auszuziehen.
Dann visitierte er meine Taschen, nahm alles heraus, was er darin fand,
und fragte mich, ob ich - Wanzen h¤tte.
Als ich verneinte, zog er mir die Ringe von den Fingern und sagte, es
sei gut, ich kænnte mich wieder ankleiden.
Man fìhrte mich mehrere Stockwerke hinauf und durch G¤nge, in denen
vereinzelt groŸe, graue, verschlieŸbare Kisten in den Fensternischen
standen.
Eiserne Tìren mit Riegelstangen und kleinen, vergitterten Ausschnitten,
ìber jedem eine Gasflamme, zogen sich in ununterbrochener Reihe die Wand
entlang.
Ein hìnenhafter, soldatisch aussehender Gefangenw¤rter - das erste
ehrliche Gesicht seit Stunden - sperrte eine der Tìren auf, schob mich in
eine dunkle, schrankartige, pestilenzialisch stinkende –ffnung und schloŸ
hinter mir ab.
Ich stand in vollkommener Finsternis und tappte mich zurecht.
Mein Knie stieŸ an einen Blechkìbel.
Endlich erwischte ich - der Raum war so eng, daŸ ich mich kaum umdrehen
konnte - eine Klinke, und stand in - einer Zelle.
Je zwei und zwei Pritschen mit Strohs¤cken an den Mauern.
Der Durchgang dazwischen nur einen Schritt breit.
Ein Quadratmeter Gitterfenster hoch oben in der Querwand lieŸ den
matten Schein des Nachthimmels herein.
Unertr¤gliche Hitze, vom Geruch alter Kleider verpestete Luft erfìllte
den Raum.
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewæhnt hatten, sah ich, daŸ auf
drei der Pritschen - die vierte war leer - Menschen in grauen
Str¤flingskleidern saŸen; die Arme auf die Knie gestìtzt und die Gesichter
in den H¤nden vergraben.
Keiner sprach ein Wort.
Ich setzte mich auf das leere Bett und wartete. Wartete. Wartete.
Eine Stunde.
Zwei - drei Stunden!
Wenn ich drauŸen einen Schritt zu hæren glaubte, fuhr ich auf:
Jetzt, jetzt kam man mich holen, um mich dem Untersuchungsrichter
vorzufìhren.
Jedesmal war es eine T¤uschung gewesen. Immer wieder verloren sich die
Schritte auf dem Gang.
Ich riŸ mir den Kragen auf - glaubte, ersticken zu mìssen.
Ich hærte, wie ein Gefangener nach dem andern sich ¤chzend ausstreckte.
"Kann man denn das Fenster da oben nicht aufmachen?", fragte ich voll
Verzweiflung laut in die Dunkelheit hinein. Ich erschrak fast vor meiner
eigenen Stimme.
"Es geht net", antwortete es mìrrisch von einem der Strohs¤cke herìber.
Ich tastete trotzdem mit der Hand an der Schmalwand entlang: ein Brett
in Brusthæhe lief quer hin - - - zwei Wasserkrìge - - - Stìcke von
Brotrinden.
Mìhsam kletterte ich hinauf, hielt mich an den Gitterst¤ben und preŸte
das Gesicht an die Fensterritzen, um wenigstens etwas frische Luft zu atmen.
So stand ich, bis mir die Knie zitterten. Eintæniger, schwarzgrauer
Nachtnebel vor meinen Augen.
Die kalten Eisenst¤be schwitzten.
Es muŸte bald Mitternacht sein.
Hinter mir hærte ich schnarchen. Nur einer schien nicht schlafen zu
kænnen: er warf sich hin und her auf dem Stroh und stæhnte manchmal halblaut
auf.
Wollte denn der Morgen nicht endlich kommen?! Da! Es schlug wieder.
Ich z¤hlte mit bebenden Lippen:
Eins, zwei, drei! - Gott sei Dank, nur noch wenige Stunden, dann muŸte
die D¤mmerung kommen. Es schlug weiter:
Vier? fìnf? - Der SchweiŸ trat mir auf die Stirn. - Sechs!! - Sieben -
- - es war elf Uhr.
Erst eine Stunde war vergangen, seit ich das letzte Mal hatte schlagen
hæren.
Allm¤hlich legten sich meine Gedanken zurecht:
Wassertrum hat mir die Uhr des vermiŸten Zottmann zugespielt, um mich
in Verdacht zu bringen, einen Mord begangen zu haben. - Er muŸte also selbst
der Mærder sein; wie h¤tte er sonst in den Besitz der Uhr kommen kænnen?
Wìrde er die Leiche irgendwo gefunden und dann erst beraubt haben, h¤tte er
sich bestimmt die tausend Gulden Belohnung geholt, die fìr die Entdeckung
des VermiŸten æffentlich ausgesetzt waren. - Das konnte aber nicht sein: die
Plakate klebten noch immer an den StraŸenecken, wie ich deutlich auf meinem
Weg ins Gef¤ngnis gesehen hatte. - - -
DaŸ der Trædler mich angezeigt haben muŸte, war klar.
Ebenso: daŸ er mit dem Polizeirat, wenigstens was Angelina betraf,
unter einer Decke steckte. Wozu sonst das Verhær wegen Savioli?
Andererseits ging daraus hervor, daŸ Wassertrum Angelinas Briefe noch
nicht in H¤nden hatte.
Ich grìbelte nach - - -
Mit einem Schlag stand alles mit entsetzlicher Deutlichkeit vor mir,
als w¤re ich selbst dabei gewesen.
Ja; nur so konnte es sein: Wassertrum hatte meine eiserne Kassette, in
der er Beweise vermutete, heimlich an sich genommen, als er gerade mit
seinen Polizeikomplizen meine Wohnung durchstæberte, - konnte sie nicht
sogleich æffnen, da ich den Schlìssel bei mir trug, und war - - - vielleicht
gerade jetzt daran, sie in seiner Hæhle aufzubrechen.
In wahnsinniger Verzweiflung rìttelte ich an den Gitterst¤ben, sah
Wassertrum im Geiste vor mir, wie er in Angelinas Briefen wìhlte -
Wenn ich nur Charousek benachrichtigen kænnte, daŸ er Savioli
wenigstens rechtzeitig warnen ging!
Einen Augenblick klammerte ich mich an die Hoffnung, meine Verhaftung
mìsse bereits wie ein Lauffeuer in der Judenstadt bekannt geworden sein, und
ich vertraute auf Charousek wie auf einen rettenden Engel. Gegen seine
infernalische Schlauheit kam der Trædler nicht auf; "Ich werde ihn genau in
der Stunde an der Gurgel haben, in der er Dr. Savioli an den Hals will",
hatte Charousek schon einmal gesagt.
In der n¤chsten Minute wieder verwarf ich alles, und eine wilde Angst
packte mich: Wie, wenn Charousek zu sp¤t kam?
Dann war Angelina verloren. - - -
Ich biŸ mir die Lippen blutig und zerkrallte mir die Brust aus Reue,
daŸ ich die Briefe damals nicht sofort verbrannt hatte; - - - ich schwor es
mir zu, Wassertrum noch in derselben Stunde aus der Welt zu schaffen, wo ich
wieder auf freiem FuŸ sein wìrde.
Ob ich von eigener Hand starb oder am Galgen - was lag mir daran!
DaŸ der Untersuchungsrichter meinen Worten glauben wìrde, wenn ich ihm
die Geschichte mit der Uhr plausibel machte, ihm von Wassertrums Drohungen
erz¤hlte, - keinen Augenblick zweifelte ich daran.
Bestimmt morgen schon muŸte ich frei sein; zumindest wìrde das Gericht
auch Wassertrum wegen Mordverdachts verhaften lassen.
Ich z¤hlte die Stunden und betete, daŸ sie rascher vergehen mæchten;
starrte hinaus in den schw¤rzlichen Dunst.
Nach uns¤glich langer Zeit fing es endlich an, heller zu werden, und
zuerst wie ein dunkler Fleck, dann immer deutlicher, tauchte ein kupfernes,
riesiges Gesicht aus dem Nebel: das Zifferblatt einer alten Turmuhr. Doch
die Zeiger fehlten; - neuerliche Qual.
Dann schlug es fìnf.
Ich hærte, wie die Gefangenen erwachten und g¤hnend eine Unterhaltung
in bæhmischer Sprache fìhrten.
Eine Stimme kam mir bekannt vor; ich drehte mich um, stieg von dem
Brett herunter und - sah den blatternarbigen Loisa auf der Pritsche,
gegenìber der meinigen, sitzen und mich verwundert anstarren.
Die beiden anderen waren Gesellen mit verwegenen Gesichtern und
musterten mich geringsch¤tzig.
"Defraudant? Was?", fragte der eine halblaut seinen Kameraden und stieŸ
ihn mit dem Ellenbogen an.
Der Gefragte brummte irgend etwas ver¤chtlich, kramte in seinem
Strohsack, holte ein schwarzes Papier hervor und legte es auf den Boden.
Dann schìttete er aus dem Krug ein wenig Wasser darauf, kniete nieder,
bespiegelte sich darin und k¤mmte sich mit den Fingern das Haar in die
Stirn.
Hierauf trocknete er das Papier mit z¤rtlicher Sorgfalt ab und
versteckte es wieder unter der Pritsche.
"Pan Pernath, Pan Pernath", murmelte Loisa dabei best¤ndig mit
aufgerissenen Augen vor sich hin, wie jemand, der ein Gespenst sieht.
"Die Herrschaften kennen einand, wie ich bemerkæ", sagte der
Ungek¤mmte, dem dies auffiel, in dem geschraubten Dialekt eines
tschechischen Wieners und machte mir spættisch eine halbe Verbeugung:
"Erlaubens mich vorzustellen: Vãssatka ist mein Name. Der schwarze Vãssatka.
- Brandstiftung", setzte er eine Oktave tiefer stolz hinzu.
Der Frisierte spuckte zwischen den Z¤hnen durch, blickte mich eine
Weile ver¤chtlich an, deutete sich dann auf die Brust und sagte lakonisch:
"Einbruch."
Ich schwieg.
"No, und zweng wos fìr einen Verdachtæ sin Sie hier, Herr Graf?" fragte
der Wiener nach einer Pause.
Ich ìberlegte einen Moment, dann sagte ich ruhig: "Wegen Raubmord".
Die beiden fuhren verblìfft auf, der spættische Ausdruck auf ihren
Gesichtern machte einer Miene grenzenloser Hochachtung Platz, und sie riefen
fast wie aus einem Munde:
"R¤schp¤kt, R¤schp¤kt."
Als sie sahen, daŸ ich keine Notiz von ihnen nahm, zogen sie sich in
die Ecke zurìck und unterhielten sich flìsternd miteinander.
Nur einmal stand der Frisierte auf, kam zu mir, prìfte schweigend die
Muskeln meines Oberarms und ging dann kopfschìttelnd zu seinem Freund
zurìck.
"Sie sind doch auch unter dem Verdacht hier, den Zottmann ermordet zu
haben?" fragte ich Loisa unauff¤llig.
Er nickte. "Ja, schon lang."
Wieder vergingen einige Stunden.
Ich schloŸ die Augen und stellte mich schlafend.
"Herr Pernath. Herr Pernath!" hærte ich plætzlich ganz leise Loisas
Stimme.
"Ja?" - - - Ich tat, als erwachte ich.
"Herr Pernath?, bitte entschuldigen Sie, - bitte - bitte, wissen Sie
nicht, was die Rosina macht? - Ist sie zu Hause?", stotterte der arme
Bursche. Er tat mir unendlich leid, wie er mit seinen entzìndeten Augen an
meinen Lippen hing und vor Aufregung die H¤nde verkrampfte.
"Es geht ihr gut. Sie - sie ist jetzt Kellnerin beim - - alten Ungelt",
log ich.
Ich sah, wie er erleichtert aufatmete.
Zwei Str¤flinge hatten auf einem Brett Blechtæpfe mit heiŸem Wurstabsud
stumm hereingebracht und drei davon in die Zelle gestellt, dann knallten
nach einigen Stunden abermals die Riegel und der Aufseher fìhrte mich zum
Untersuchungsrichter.
Mir schlotterten die Knie vor Erwartung, wie wir treppauf, treppab
schritten.
"Glauben Sie, ist es mæglich, daŸ ich heute noch freigelassen werde?",
fragte ich den Aufseher beklommen.
Ich sah, wie er mitleidig ein L¤cheln unterdrìckte. "Hm. Heute noch? Hm
- - Gott, - mæglich ist ja alles." -
Mir wurde eiskalt.
Wieder las ich eine Porzellantafel an einer Tìr und einen Namen:
KARL FREIHERR VON LEISETRETER
Wieder ein schmuckloses Zimmer und zwei Schreibpulte mit meterhohen
Aufs¤tzen.
Ein alter, groŸer Mann mit weiŸem, geteiltem Vollbart, schwarzem
Gehrock, roten, wulstigen Lippen, knarrenden Stiefeln.
"Sie sind Herr Pernath?"
"Jawohl."
"Gemmenschneider?"
"Jawohl."
"Zelle Nr. 70?"
"Jawohl."
"Des Mordes an Zottmann verd¤chtig?"
"Ich bitte, Herr Untersuchungsrichter - -"
"Des Mordes an Zottmann verd¤chtig?"
"Wahrscheinlich. Wenigstens vermute ich es. Aber - -"
"Gest¤ndig?"
"Was soll ich denn gestehen, Herr Untersuchungsrichter, ich bin doch
unschuldig!"
"Gest¤ndig?"
"Nein."
"Dann verh¤nge ich Untersuchungshaft ìber Sie. - Fìhren Sie den Mann
hinaus, Gefangenw¤rter."
"Bitte, so hæren Sie mich doch an, Herr Untersuchungsrichter, - ich muŸ
unbedingt heute noch zu Hause sein. Ich habe wichtige Dinge zu veranlassen -
-"
Hinter dem zweiten Schreibtisch meckerte jemand.
Der Herr Baron schmunzelte. -
"Fìhren Sie den Mann hinaus, Gefangenw¤rter."
Tag um Tag schlich dahin, Woche um Woche, und immer noch saŸ ich in der
Zelle.
Um zwælf Uhr durften wir t¤glich hinunter in den Gef¤ngnishof und mit
anderen Untersuchungsgefangenen und Str¤flingen zu zweit 40 Minuten im Kreis
herumgehen auf der nassen Erde.
Miteinander zu reden, war verboten.
In der Mitte des Platzes stand ein kahler, sterbender Baum, in dessen
Rinde ein ovales Glasbild der Muttergottes eingewachsen war.
An den Mauern wuchsen kìmmerliche Ligusterstauden, die Bl¤tter fast
schwarz vom fallenden RuŸ.
Ringsum die Gitter der Zellen, aus denen zuweilen ein kittgraues
Gesicht mit blutleeren Lippen herunterschaute.
Dann ging's wieder hinauf in die gewohnten Grìfte zu Brot, Wasser und
Wurstabsud und sonntags zu faulenden Linsen.
Erst einmal war ich wieder vernommen worden:
Ob ich Zeugen h¤tte, daŸ mir "Herr" Wassertrum angeblich die Uhr
geschenkt habe?
"Ja: Herrn Schemajah Hillel - - das heiŸt - nein" (ich erinnerte mich,
er war nicht dabei gewesen) - - "aber Herr Charousek" - (nein, auch er war
ja nicht dabei).
"Kurz: also niemand war dabei?"
"Nein, niemand war dabei, Herr Untersuchungsrichter."
Wieder das Gemecker hinter dem Schreibtisch und wieder das:
"Fìhren Sie den Mann hinaus, Gefangenw¤rter!" - - -
Meine Besorgnis um Angelina war einer dumpfen Resignation gewichen: Der
Zeitpunkt, wo ich um sie zittern muŸte, war vorìber. Entweder Wassertrums
Racheplan war l¤ngst geglìckt, oder Charousek hatte eingegriffen, sagte ich
mir.
Aber die Sorge um Mirjam trieb mich jetzt fast zum Wahnsinn.
Ich stellte mir vor, wie sie Stunde um Stunde darauf wartete, daŸ sich
das Wunder erneuere, - wie sie frìh am Morgen, wenn der B¤cker kam,
hinauslief und mit bebenden H¤nden das Brot untersuchte, - wie sie
vielleicht um meinetwillen vor Angst verging.
Oft in der Nacht peitschte es mich aus dem Schlaf, und ich stieg auf
das Wandbrett und starrte empor zu dem kupfernen Gesicht der Turmuhr und
verzehrte mich in dem Wunsch, meine Gedanken mæchten zu Hillel dringen und
ihm ins Ohr schreien, er solle Mirjam helfen und sie erlæsen von der Qual
des Hoffens auf ein Wunder.
Dann wieder warf ich mich auf das Stroh und hielt den Atem an, bis mir
die Brust fast zersprang, - um das Bild meines Doppelg¤ngers vor mich zu
zwingen, damit ich ihn zu ihr schicken kænnte als einen Trost.
Und einmal war er auch erschienen neben meinem Lager mit den
Buchstaben: Chabrat Zereh Aur Bocher in Spiegelschrift auf der Brust, und
ich wollte aufschreien vor Jubel, daŸ jetzt alles wieder gut wìrde, aber er
war in den Boden versunken, noch ehe ich ihm den Befehl geben konnte, Mirjam
zu erscheinen. - - -
DaŸ ich so gar keine Nachricht bekam von meinen Freunden!
Ob es denn verboten sei, einem Briefe zu schicken? fragte ich meine
Zellengenossen.
Sie wuŸten es nicht.
Sie h¤tten noch nie welche bekommen - allerdings w¤re auch niemand da,
der ihnen schreiben kænnte, sagten sie.
Der Gefangenw¤rter versprach mir, sich gelegentlich zu erkundigen.
Meine N¤gel waren rissig geworden vom AbbeiŸen und mein Haar
verwildert, denn Schere, Kamm und Bìrste gab es nicht.
Auch kein Wasser zum Waschen.
Fast ununterbrochen k¤mpfte ich mit Brechreiz, denn der Wurstabsud war
mit Soda gewìrzt statt mit Salz. - - Eine Gef¤ngnisvorschrift, um dem
"œberhandnehmen des Geschlechtstriebs vorzubeugen."
Die Zeit verging in grauer, furchtbarer Eintænigkeit.
Drehte sich wie im Kreis wie ein Rad der Qual.
Da gab es die gewissen Momente, die jeder von uns kannte, wo plætzlich
einer oder der andere aufsprang und stundenlang auf und nieder lief wie ein
wildes Tier, um sich dann wieder gebrochen auf die Pritsche fallen zu lassen
und stumpfsinnig weiter zu warten - zu warten - zu warten.
Wenn der Abend kam, zogen die Wanzen in Scharen gleich Ameisen ìber die
W¤nde und ich fragte mich erstaunt, warum denn der Kerl in S¤bel und
Unterhosen mich so gewissenhaft ausgeforscht habe, ob ich kein Ungeziefer
h¤tte.
Fìrchtete man vielleicht im Landesgericht, es kænne eine Kreuzung
fremder Insektenrassen entstehen?
Mittwoch vormittags kam gewæhnlich ein Schweinskopf herein mit
Schlapphut und zuckenden Hosenbeinen: der Gef¤ngnisarzt Dr. Rosenblatt, und
ìberzeugte sich, daŸ alle vor Gesundheit strotzten.
Und wenn einer sich beschwerte, gleichgìltig worìber, so verschrieb er
- Zinksalbe zum Einreiben der Brust.
Einmal kam auch der Landgerichtspr¤sident mit - ein hochgewachsener,
parfìmierter Halunke der "guten Gesellschaft", dem die gemeinsten Laster im
Gesicht geschrieben standen, und sah nach, ob - alles in Ordnung sei: "ob
sich noch immer kaner derhenkt hobe", wie sich der Frisierte ausdrìckte.
Ich war auf ihn zugetreten, um ihm eine Bitte vorzutragen, da hatte er
einen Satz hinter den Gefangenw¤rter gemacht und mir einen Revolver
vorgehalten. - "Was ich denn wolle", schrie er mich an.
Ob Briefe fìr mich da seien, fragte ich hæflich. Statt der Antwort
bekam ich einen StoŸ vor die Brust vom Herrn Dr. Rosenblatt, der gleich
darauf das Weite suchte. Auch der Herr Pr¤sident zog sich zurìck und hæhnte
durch den Tìrausschnitt: - ich solle lieber den Mord gestehen. Eher bek¤me
ich in diesem Leben keine Briefe.
Ich hatte mich l¤ngst an die schlechte Luft und die Hitze gewæhnt und
fræstelte best¤ndig. Selbst, wenn die Sonne schien.
Zwei der Gefangenen hatten schon einige Male gewechselt, aber ich
achtete nicht darauf. Diese Woche waren es ein Taschendieb und ein
Wegelagerer, das n¤chste Mal ein Falschmìnzer oder ein Hehler, die
hereingefìhrt wurden.
Was ich gestern erlebte, war heute vergessen.
Gegen das Wìhlen der Sorge um Mirjam verblaŸten alle ¤uŸeren
Begebenheiten.
Nur ein Ereignis hatte sich mir tiefer eingepr¤gt - es verfolgte mich
zuweilen als Zerrbild bis in den Traum:
Ich hatte auf dem Wandbrett gestanden, um hinauf in den Himmel zu
starren, da fìhlte ich plætzlich, daŸ mich ein spitzer Gegenstand in die
Hìfte stach, und als ich nachsah, bemerkte ich, daŸ es die Feile gewesen
war, die sich mir durch die Tasche zwischen Rock und Futter gebohrt hatte.
Sie muŸte schon lange dort gesteckt haben, sonst h¤tte sie der Mann in der
Flurstube gewiŸ bemerkt.
Ich zog sie heraus und warf sie achtlos auf meinen Strohsack.
Als ich dann herunterstieg, war sie verschwunden, und ich zweifelte
keinen Augenblick, daŸ nur Loisa sie genommen haben konnte.
Einige Tage sp¤ter holte man ihn aus der Zelle, um ihn einen Stock
tiefer unterzubringen.
Es dìrfe nicht sein, daŸ zwei Untersuchungsgefangene, die desselben
Verbrechens beschuldigt w¤ren, wie er und ich, in der gleichen Zelle s¤Ÿen,
hatte der Gefangenw¤rter gesagt.
Aus ganzem Herzen wìnschte ich, es mæchte dem armen Burschen gelingen,
sich mit Hilfe der Feile zu befreien.
Auf meine Frage, welches Datum denn w¤re - die Sonne schien so warm wie
im Hochsommer und der mìde Baum im Hof trieb ein paar Knospen - hatte der
Gefangenw¤rter zuerst geschwiegen, dann aber mir zugeflìstert, es sei der
15. Mai. Eigentlich dìrfe er es nicht sagen, denn es sei verboten, mit den
Gefangenen zu sprechen, - insbesondere solche, die noch nicht gestanden
h¤tten, mìŸten hinsichtlich der Zeit im unklaren gehalten werden.
Drei volle Monate war ich also schon im Gef¤ngnis und noch immer keine
Nachricht aus der Welt da drauŸen!
Wenn es Abend wurde, drangen leise Kl¤nge eines Klaviers durch das
Gitterfenster, das jetzt an warmen Tagen offen war.
Die Tochter des BeschlieŸers unten spiele, hatte mir ein Str¤fling
gesagt.
Tag und Nacht tr¤umte ich von Mirjam.
Wie es ihr wohl ging?!
Zuzeiten hatte ich das træstliche Gefìhl, als seien meine Gedanken zu
ihr gedrungen und stìnden an ihrem Bette, w¤hrend sie schlief, und legten
ihr lindernd die Hand auf die Stirne.
Dann wieder, in Momenten der Hoffnungslosigkeit, wenn einer nach dem
andern meiner Zellengenossen zum Verhær gefuhrt wurde, - nur ich nicht, -
drosselte mich eine dumpfe Furcht, sie sei vielleicht schon lange tot.
Da stellte ich dann Fragen an das Schicksal, ob sie noch lebe oder
nicht, krank sei oder gesund, und die Anzahl einer Handvoll Halme, die ich
aus dem Strohsack riŸ, sollte mir Antwort geben.
Und fast jedesmal "ging es schlecht aus", und ich wìhlte in meinem
Innern nach einem Blick in die Zukunft; - suchte meine Seele, die mir das
Geheimnis verbarg, zu ìberlisten durch die scheinbar abseits liegende Frage,
ob wohl fìr mich dereinst noch ein Tag kommen wìrde, wo ich heiter sein und
wieder lachen kænnte.
Immer bejahte das Orakel in solchen F¤llen, und dann war ich eine
Stunde lang glìcklich und froh.
Wie eine Pflanze heimlich w¤chst und sproŸt, war allm¤hlich in mir eine
unbegreifliche, tiefe Liebe zu Mirjam erwacht, und ich faŸte es nicht, daŸ
ich so oft hatte bei ihr sitzen und mit ihr reden kænnen, ohne mir damals
schon klar darìber geworden zu sein.
Der zitternde Wunsch, daŸ auch sie mit gleichen Gefìhlen an mich denken
mæchte, steigerte sich in solchen Augenblicken oft bis zur Ahnung der
GewiŸheit, und wenn ich dann auf dem Gange drauŸen einen Schritt hærte,
fìrchtete ich mich beinahe davor, man kænnte mich holen und freilassen und
mein Traum wìrde in der groben Wirklichkeit der AuŸenwelt in nichts
zerrinnen.
Mein Ohr war in der langen Zeit der Haft so scharf geworden, daŸ ich
auch das leiseste Ger¤usch vernahm.
Jedesmal bei Anbruch der Nacht hærte ich in der Ferne einen Wagen
fahren und zergrìbelte mir den Kopf, wer wohl dann sitzen mæchte.
Es lag etwas seltsam Fremdartiges in dem Gedanken, daŸ es Menschen gab
da drauŸen, die tun und lassen durften, was sie wollten, - die sich frei
bewegen konnten und da und dort hingehen, und es dennoch nicht als
unbeschreiblichen Jubel empfanden.
DaŸ auch ich jemals wieder so glìcklich werden wìrde, im Sonnenschein
durch die StraŸen wandern zu kænnen; - - ich war nicht mehr imstande, es mir
vorzustellen.
Der Tag, an dem ich Angelina in den Armen gehalten, schien mir einem
l¤ngstverflossenen Dasein anzugehæren; - ich dachte daran zurìck mit jener
leisen Wehmut, wie sie einen beschleicht, wenn man ein Buch aufschl¤gt und
findet dann welke Blumen, die einst die Geliebte der Jugendjahre getragen
hat.
Ob wohl der alte Zwakh noch immer Abend fìr Abend mit Vrieslander und
Prokop beim "Ungelt" saŸ und der vertrockneten Eulalia das Hirn konfus
machte?
Nein, es war doch Mai: - die Zeit, wo er mit seinem Marionettenkasten
durch die Provinznester zog und auf grìnen Wiesen vor den Toren den Ritter
Blaubart spielte.
Ich saŸ allein in der Zelle. - Vãssatka, der Brandstifter, mein
einziger Gef¤hrte seit einer Woche, war vor ein paar Stunden zum
Untersuchungsrichter geholt worden.
Merkwìrdig lange dauerte diesmal sein Verhær.
Da. Die eiserne Vorlegestange klirrte an der Tìr. Und mit
freudestrahlender Miene stìrmte Vãssatka herein, warf ein Bìndel Kleider auf
die Pritsche und begann, sich mit Windeseile umzukleiden.
Den Str¤flingsanzug warf er Stìck fìr Stìck mit einem Fluch auf den
Boden.
"Nix hamms mer beweisen kænna, dæ Hallodri. - Brandstiftung! - Ja doder
-" er zog mit dem Zeigefinger an seinem unteren Augenlid. "Auf den schwarzen
Vãssatka sans jung. - Der Wind war's, hab i g'sagt. Und bi fest blimm. Den
kennens iazt eispirrn, wanns'n derwischen - den Herrn von Wind. - No servus
heit abend! - Do werd aufdraht. Beim Loisitschek." - Er breitete die Arme
aus und tanzte einen "G'strampften". - "Nur einmahl im Lebæhn blie-het der
Mai." Er stìlpte sich mit einem Krach einen steifen Deckel mit einer kleinen
blaugesprenkelten NuŸh¤herfeder darauf ìber den Sch¤del. - "Ja, richtig, das
wird Ihna intrissirn, Herr Graf: wissens was Neies? Eana Freund, der Loisa,
is ausbrochen! - Grad hab i's erfahrehn oben bei die Hallodri. Schon vurigen
Monat - gegen Uldimoh hat er das Weide gesucht und ist l¤ngst ieber -
pbhuit" - er schlug sich mit den Fingern auf den Handrìcken - "ieber alle
Bergæh." -
"Aha, die Feile", dachte ich mir und l¤chelte.
"Alsdann haltens Ihna jetzt auch bald dazu, Herr Graf," der
Brandstifter streckte mir kameradschaftlich die Hand hin, "daŸ Sie mæglichst
bei Zeitæhn freikommen. - Und wenn Sie mal kein Geld nicht habehn, fragen
Sie sich nur beim Loisitschek nach dem schwarzen Vãssatka. - Kennte mich
jedes M¤del durten. So! - Alsdann Servus, Herr Graf. War mir ein
Vergniegen."
Er stand noch in der Tìre, da schob der W¤rter schon einen neuen
Untersuchungsgefangenen in die Zelle.
Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm den Schlot mit der
Soldatenmìtze, der einmal neben mir bei Regenwetter in dem Torbogen der
HahnpaŸgasse gestanden hatte. Eine freudige œberraschung! Vielleicht wuŸte
er zuf¤llig etwas ìber Hillel und Zwakh und alle die andern?
Ich wollte sofort anfangen, ihn auszufragen, aber zu meinem græŸten
Erstaunen legte er mit geheimnisvoller Miene den Finger an den Mund und
bedeutete mir, ich solle schweigen.
Erst als die Tìr von auŸen abgesperrt und der Schritt des
Gefangenw¤rters auf dem Gange verhallt war, kam Leben in ihn.
Mir schlug das Herz vor Aufregung.
Was sollte das bedeuten?
Kannte er mich denn, und was wollte er?
Das erste, was der Schlot tat, war, daŸ er sich niedersetzte und seinen
linken Stiefel auszog.
Dann zerrte er mit den Z¤hnen einen Stæpsel aus dem Absatz, entnahm dem
entstandenen Hohlraum ein kleines gebogenes Eisenblech, riŸ die anscheinend
nur locker befestigte Schuhsohle ab und reichte mir beides mit stolzer Miene
hin. -
Alles in Windeseile und ohne auf meine erregten Fragen auch nur im
geringsten zu achten.
"So! Einen schænen GruŸ vom Herrn Charousek."
Ich war so verblìfft, daŸ ich kein Wort herausbringen konnte. -
"Brauchens' bloŸ Eisenblechl n¤hmen und Sohlen ausanand brechen in der
Nacht. Oder wann sunst niemand siecht. - Ise n¤mlich hohl inew¤ndig" -
erkl¤rte der Schlot mit ìberlegener Miene, "und finden Sie sich drinn eine
Brieffel von Herrn Charousek."
Im œbermaŸ meines Entzìckens fiel ich dem Schlot um den Hals, und die
Tr¤nen stìrzten mir aus den Augen.
Er wehrte mich voll Milde ab und sagte vorwurfsvoll:
"Missen sich mehr zusammenn¤hmen, Herr von Pernath! Mir habens me nicht
eine Minutten zum Zeitverlieren. Es kann sich soffort herauskommen, daŸ ich
in der falschen Zellen bin. Der Franzl und ich habens me unt beim Pordjæh
die Nummern mitsamm vertauscht." -
Ich muŸte wohl ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, denn der Schlot
fuhr fort:
"Wann Sie das auch nicht verst¤hn, macht nix. Kurz: ich bin hier,
Pasta!"
"Sagen Sie doch," fiel ich ihm ins Wort, "sagen Sie doch, Herr - - Herr
- - -"
"Wenzel," - half mir der Schlot aus, "ich heiŸe der schæne Wenzel."
"Sagen Sie mir doch, Wenzel, was macht der Archivar Hillel, und wie
geht es seiner Tochter?"
"Dazu ist jetz keine Zeit nicht", unterbrach mich der schæne Wenzel
ungeduldig. "Ich kann ich doch im n¤xen Augenblick herausgeschmissen werden.
- Also: ich bin ich hier, weil ich einen Raubanfall extra eingestanden hab -
-"
"Was, Sie haben bloŸ meinetwegen, und um zu mir kommen zu kænnen, einen
Raubanfall begangen, Wenzel?" fragte ich erschìttert.
Der Schlot schìttelte ver¤chtlich den Kopf: "Wenn ich wirklich einen
Raub anf all begangen h¤tt, mecht ich ihm doch nicht eingest¤hen. Was
glauben Sie von mir!?"
Ich verstand allm¤hlich: - der brave Kerl hatte eine List gebraucht, um
mir den Brief Charouseks ins Gef¤ngnis zu schmuggeln.
"So; zuverderscht" - er machte ein ¤uŸerst wichtiges Gesicht - "muŸ ich
Ihnen Unterricht in der Ebilebsie g¤ben."
"Worin?"
"In der Ebilebsie! - G¤bm S' amal scharf Obacht und merkens Ihna alles
genau! - Alsdann schaugens h¤r: Zuerscht macht me Speichel in der Goschen;"
- er blies die Backen auf und bewegte sie hin und her, wie jemand, der sich
den Mund ausspìlt - "dann kriegt me Schaum vorm Maul, sengen S' so": - er
machte auch dies. Mit widerw¤rtiger Natìrlichkeit. "Nachhe drehte ma die
Daumen in die Faust. - Nachhe kugelt me die Augen raus" - er schielte
entsetzlich - "und dann - das ise sich bisl schw¤r - stoŸt me so halbeten
Schrei aus. Segen S', so: Bæ - bæ - bæ, und gleichzeitig fallt me sich um."
Er lieŸ sich der L¤nge nach zu Boden fallen, daŸ das Haus zitterte, und
sagte beim Aufstehen:
"Das ise sich die natierliche Ebilebsie, wie's uns der Dr. Hulbert
gotts¤lig beim ›Bataljohn‹ gelernt hat."
"Ja, ja, es ist t¤uschend ¤hnlich," gab ich zu, "aber wozu dient das
alles?"
"Weil Sie sich zuerscht aus der Zellen rausmissen!", erkl¤rte der
schæne Wenzel. "Der Dr. Rosenblatt is doch ein Mordsochs! Wenn einer schon
gar kan Kopf mehr hat, sagt der Rosenblatt immer noch: der Mann ise sich
pumperlgesund! - Nur vor die Ebilebsie hat e' an Viechsr¤schp¤kt. Wann aner
daas gut kann: gleich ise drieben in der Krankenzelle. - - Und da ise sich
das Ausbrechen dann ein Kinderspielzeug;" - er wurde tief geheimnisvoll -
"den Fenstergitter in der Krankenzelle ise n¤mlich durchges¤gt und nur
schwach mit Dreck zusammengepappt. - Es ise sich das ein Geheimnis vom
Bataljohn! - Sie brauchen dann bloŸ ein paar N¤chte scharf aufpassen und,
wenn Sie eine Seilschlingen vom Dach herunter bis vors Fenster kommen segen,
heben Sie leise den Gitter aus, damit niemand nicht aufwacht, steckens die
Schultern in die Schlinge, und mir ziegen Ihnen hinauf aufs Dach und lassen
Ihnen auf der andern Seiten hinunter auf die StraŸen. - Pasta."
"Weshalb soll ich denn aus dem Gef¤ngnis ausbrechen?" wandte ich
schìchtern ein, "ich bin doch unschuldig."
"Das ise doch kein Grund, um nicht auszubrechen!", widerlegte mich der
schæne Wenzel und machte vor Erstaunen kreisrunde Augen.
Ich muŸte meine ganze Beredsamkeit aufbieten, um ihm den verwegenen
Plan, der, wie er sagte, das Resultat eines "Bataillons" beschlusses war,
auszureden.
DaŸ ich "die Gabe Gottes" von der Hand wies und lieber warten wollte,
bis ich von selbst freikommen wìrde, war ihm unbegreiflich.
"Jedenfalls danke ich Ihnen und Ihren braven Kameraden auf das
allerherzlichste," sagte ich gerìhrt und drìckte ihm die Hand. "Wenn die
schwere Zeit fìr mich vorìber ist, wird es mein erstes sein, mich Ihnen
allen erkenntlich zu zeigen."
"Ise gar nicht n¤tig", lehnte Wenzel freundlich ab. "Wann Sie ein paar
Glas ›Pils‹ zahlen, n¤hmen wir sich dankbar an, abe sunst nix. Pan
Charousek, was ise jetz Schatzmistr vom Bataljohn hat e' uns schon erz¤hlt,
was Sie fìr ein heimlicher Wohlt¤ter sin. Soll ich ihm was ausrichten, wenn
ich in paar T¤g wieder herauskomm?"
"Ja, bitte," fiel ich rasch ein, "sagen Sie ihm, er mæchte zu Hillel
gehen und ihm mitteilen, ich h¤tte soviel Angst wegen der Gesundheit seiner
Tochter Mirjam. Herr Hillel solle sie nicht aus den Augen lassen. - Werden
Sie sich den Namen merken?: Hillel!"
"Hirr¤l?"
"Nein: Hillel."
"Hill¤r?"
"Nein: Hill-el."
Wenzel zerbrach sich fast die Zunge an dem fìr einen Tschechen
unmæglichen Namen, aber schlieŸlich bew¤ltigte er ihn doch unter wilden
Grimassen.
"Und dann noch eins: Herr Charousek mæge - ich lasse ihn herzlich drum
bitten - sich auch, soweit es in seiner Macht steht, der "vornehmen Dame" -
er weiŸ schon, wer darunter zu verstehen ist - annehmen."
"Sie meinen sich wahrscheinlich die adlige Flietschen, die was da
Gspusi ghabt hat mit dem Niemetz - dem Dr. Sapoli? - No, die hat sich doch
scheiden lassen und ise mit dem Kind und dem Sapoli fìrt."
"Wissen Sie das bestimmt?"
Ich fìhlte meine Stimme zittern. So sehr ich mich um Angelinas willen
freute, - es krampfte mir doch das Herz zusammen.
Wieviel Sorge hatte ich ihretwegen getragen und jetzt - - - war ich
vergessen.
Vielleicht glaubte sie, ich sei wirklich ein Raubmærder.
Ein bitterer Geschmack stieg mir in die Kehle.
Der Schlot schien mit dem Feingefìhl, das verwahrlosten Menschen
seltsamerweise eigen ist bei allen Dingen, die sich um Liebe drehen, erraten
zu haben, wie mir zumute war, denn er blickte scheu weg und antwortete
nicht.
"Wissen Sie vielleicht auch, wie es Herrn Hillels Tochter, dem Fr¤ulein
Mirjam geht? Kennen Sie sie?", fragte ich gepreŸt.
"Mirjam? Mirjam?" - Wenzel legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten -
"Mirjam? - G¤ht sich die æfters in der Nacht zum Loisitschek?"
Ich muŸte unwillkìrlich l¤cheln. "Nein. Ganz bestimmt nicht."
"Dann kenn ich sie nicht", sagte Wenzel trocken.
Wir schwiegen eine Weile.
Vielleicht steht in dem Briefchen etwas ìber sie, hoffte ich.
"DaŸ den Wassertrum der Deiwel g'holt hat", fing Wenzel plætzlich
wieder an, "w¤rden Sie sich wohl schon geh¤rt haben?"
Ich fuhr entsetzt auf.
"No ja." - Wenzel deutete auf seine Kehle. - "Murxi, murxi! Ich sag ich
Ihn¤n; es war Ihn¤n schaislich. Wie sie den Laden aufgebrochen haben, weil
er sich paar T¤g nicht hat segen lassen, war ich natierlich der erschte
drin; - wie denn nicht! - Und da hat e' durten g's¤ssen, der Wassertrum, in
einem dreckigen L¤hnsessel, die Brust voller Blut und die Augen wie aus
Glas. - - - Wissen S', ich bin ich ein handfeste Kerl, aber mir hat sich
alles gedr¤ht, sag ich Ihn¤n, und ich hab' gemeint, ich hau ich ohnm¤chtig
hi-iin. Furt' a furt' hab' ich mir vorsagen missen: Wenzel, hab' ich mir
vorg'sagt, Wenzel, reg' dich nicht auf, es is doch bloŸ ein toter Jud. - Er
hat eine Feile in der Kehle stecken gehabt und im Laden war sich alles
umedum geschmissen. - Ein Raubmord natierlich."
"Die Feile! Die Feile!" Ich fìhlte, wie mir der Atem kalt wurde vor
Grausen. Die Feile! So hatte sie also doch ihren Weg gefunden!
"Ich weiŸ ich auch, wer's war", fuhr Wenzel nach einer Pause halblaut
fort. "Niemand anders, sag ich Ihn¤n, als der blattersteppige Loiso. - Ich
hab' ich n¤mlich sein Taschenmesser auf dem Boden im Laden entdeckt und
rasch eing'st¤ckt, damit sich die Polizei nicht draufkommt. - Er ise sich
durch einen unterirdischen Gang in den Laden - - -" er brach mit einem Ruck
seine Rede ab und horchte ein paar Sekunden lang angestrengt, dann warf er
sich auf die Pritsche und fing an, fìrchterlich zu schnarchen.
Gleich darauf klirrte das Vorh¤ngeschloŸ und der Gef¤ngnisw¤rter kam
herein und musterte mich argwæhnisch.
Ich machte ein teilnahmsloses Gesicht und Wenzel war kaum zu erwecken.
Erst nach vielen Pìffen richtete er sich g¤hnend auf und taumelte,
gefolgt von dem W¤rter, schlaftrunken hinaus.
Fiebernd vor Spannung faltete ich Charouseks Brief auseinander und las:
Den 12. Mai.
"Mein lieber armer Freund und Wohlt¤ter!"
Woche um Woche habe ich gewartet, daŸ Sie endlich freikommen wìrden, -
immer vergebens, - habe alle mæglichen Schritte versucht, um
Entlastungsmaterial fìr Sie zu sammeln, aber ich fand keins.
Ich bat den Untersuchungsrichter, das Verfahren zu beschleunigen, aber
jedesmal hieŸ es, er kænne nichts tun - es sei Sache der Staatsanwaltschaft
und nicht die seinige.
Amtsschimmel!
Eben erst, vor einer Stunde, gelang mir jedoch etwas, von dem ich mir
den besten Erfolg erhoffe: ich habe erfahren, daŸ Jaromir dem Wassertrum
eine goldene Taschenuhr, die er nach der damaligen Verhaftung seines Bruders
Loisa in dessen Bett gefunden hatte, verkauft hat.
Beim ›Loisitschek‹, wo, wie Sie wissen, die Detektivs verkehren, geht
das Gerìcht, man h¤tte die Uhr des angeblich ermordeten Zottmann - dessen
Leiche ìbrigens noch immer nicht entdeckt ist - als corpus delicti bei Ihnen
gefunden. Das ìbrige reimte ich mir zusammen: Wassertrum et cetera!
Ich habe mir Jaromir sofort vorgenommen, ihm 1000 fl gegeben - -" Ich
lieŸ den Brief sinken, und die Freudentr¤nen traten mir in die Augen: nur
Angelina konnte Charousek die Summe gegeben haben. Weder Zwakh, noch Prokop,
noch Vrieslander besaŸen so viel Geld. Sie hatte mich also doch nicht
vergessen! - Ich las weiter:
"- 1000 fl gegeben und ihm weitere 2000 fl versprochen, wenn er mit mir
sofort zur Polizei ginge und eingestìnde, die Uhr seinem Bruder zu Hause
entwendet und verkauft zu haben.
Das alles kann aber erst geschehen, wenn dieser Brief durch Wenzel
bereits an Sie unterwegs ist. Die Zeit reicht nicht aus.
Aber seien Sie versichert: es wird geschehen. Heute noch. Ich bìrge
Ihnen dafìr.
Ich zweifle keinen Augenblick, daŸ Loisa den Mord begangen hat und die
Uhr die Zottmanns ist.
Sollte sie es wider Erwarten nicht sein, - nun, dann weiŸ Jaromir, was
er zu tun hat: - Jedenfalls wird er sie als die bei Ihnen gefundene
agnoszieren.
Also harren Sie aus und verzweifeln Sie nicht! Der Tag, wo Sie frei
sein werden, steht vielleicht bald bevor.
Ob trotzdem ein Tag kommen wird, wo wir uns wiedersehen?
Ich weiŸ es nicht.
Fast mæchte ich sagen: ich glaube es nicht, denn mit mir geht's rasch
zu Ende, und ich muŸ auf der Hut sein, daŸ mich die letzte Stunde nicht
ìberrascht.
Aber eins halten Sie fest: wir werden uns wiedersehen.
Wenn auch nicht in diesem Leben und nicht wie die Toten in jenem Leben,
aber an dem Tag, wo die Zeit zerbricht, - wo, wie es in der Bibel steht, der
HERR die ausspeien wird aus seinem Munde, die lau waren und weder kalt noch
warm. - - -
Wundern Sie sich nicht, daŸ ich so rede! Ich habe nie mit Ihnen ìber
diese Dinge gesprochen und, als Sie einmal das Wort ›Kabbala‹ berìhrten, bin
ich Ihnen ausgewichen, aber - ich weiŸ, was ich weiŸ.
Vielleicht verstehen Sie, was ich meine, und wenn nicht, so streichen
Sie, ich bitte Sie darum, das, was ich gesagt habe, aus Ihrem Ged¤chtnis. -
- Einmal, in meinen Delirien, glaubte ich - ein Zeichen auf Ihrer Brust zu
sehen. - Mag sein, daŸ ich wach getr¤umt habe.
Nehmen Sie an, wenn Sie mich wirklich nicht verstehen sollten, daŸ ich
gewisse Erkenntnisse gehabt habe - innerlich! - fast schon von Kindheit an,
die mich einen seltsamen Weg gefìhrt haben; - Erkenntnisse, die sich nicht
decken mit dem, was die Medizin lehrt oder Gott sei Dank noch nicht weiŸ;
hoffentlich auch nie erfahren wird.
Aber ich habe mich nicht dumm machen lassen von der Wissenschaft, deren
hæchstes Ziel es ist, einen - ›Wartesaal‹ auszustaffieren, den man am besten
niederrisse.
Doch genug davon.
Ich will Ihnen erz¤hlen, was sich inzwischen zugetragen hat:
Ende April war Wassertrum so weit, daŸ meine Suggestion anfing zu
wirken.
Ich sah es daran, daŸ er auf der Gasse best¤ndig gestikulierte und laut
mit sich selbst sprach.
So etwas ist ein sicheres Zeichen, daŸ die Gedanken eines Menschen sich
zum Sturm rotten, um ìber ihren Herrn herzufallen.
Dann kaufte er sich ein Taschenbuch und machte sich Notizen.
Er schrieb!
Er schrieb! DaŸ ich nicht lache! Er schrieb.
Und dann ging er zu einem Notar. Unten vor dem Hause wuŸte ich, was er
oben machte: - er machte sein Testament.
DaŸ er mich zum Erben einsetzte, habe ich mir allerdings nicht gedacht.
Ich h¤tte wahrscheinlich den Veitstanz bekommen vor Vergnìgen, wenn's mir
eingefallen w¤re.
Er setzte mich zum Erben ein, weil ich der einzige auf der Erde bin, an
dem er noch etwas gutmachen kænnte, wie er glaubte. Das Gewissen hat ihn
ìberlistet.
Vielleicht war's auch die Hoffnung, ich wìrde ihn segnen, wenn ich mich
nach seinem Tode durch seine Huld plætzlich als Million¤r s¤he, und dadurch
den Fluch wettmachen, den er in Ihrem Zimmer aus meinem Mund hat mit anhæren
mìssen.
Dreifach hat demnach meine Suggestion gewirkt.
Rasend witzig, daŸ er heimlich also doch an eine Wiedervergeltung im
Jenseits geglaubt hat, w¤hrend er sich's das ganze Leben lang mìhselig
ausreden wollte.
Aber so ist's bei allen den Ganzgescheiten; man sieht es schon an der
wahnwitzigen Wut, in die sie geraten, wenn man's ihnen ins Gesicht sagt. Sie
fìhlen sich ertappt.
Von dem Moment an, wo Wassertrum vom Notar kam, lieŸ ich ihn nicht mehr
aus dem Auge.
Des Nachts horchte ich an den Verschlagbrettern seines Ladens, denn
jede Minute konnte die Entscheidung fallen. -
Ich glaube, durch Mauern hindurch wìrde ich das ersehnte schnalzende
Ger¤usch gehært haben, wenn er den Stæpsel aus der Giftflasche gezogen
h¤tte.
Es fehlte vielleicht nur eine Stunde, und mein Lebenswerk war
vollbracht.
Da griff ein Unberufener ein und ermordete ihn. Mit einer Feile.
Lassen Sie sich das N¤here von Wenzel erz¤hlen, mir wird es zu bitter,
alles das niederschreiben zu mìssen.
Nennen Sie es Aberglaube, - aber, wie ich sah, daŸ Blut vergossen
worden war - die Dinge im Laden waren befleckt davon, - kam es mir vor, als
sei mir seine Seele entwischt.
Etwas in mir, - ein feiner, untrìglicher Instinkt - sagt mir, daŸ es
nicht dasselbe ist, ob ein Mensch von fremder Hand stirbt oder von eigener:
- daŸ Wassertrum sein Blut mit sich in die Erde h¤tte nehmen mìssen, dann
erst w¤re meine Mission erfìllt gewesen. - Jetzt, wo es anders gekommen ist,
fìhle ich mich als AusgestoŸener, als ein Werkzeug, das nicht wìrdig
befunden wurde in der Hand des Todesengels.
Aber ich will mich nicht auflehnen. Mein HaŸ ist von der Art, die ìbers
Grab hinaus geht, und noch habe ich ja mein eigenes Blut, das ich vergieŸen
kann, wie ich will, damit es dem seinigen nachgehe im Reich der Schatten auf
Schritt und Tritt. - - -
Jeden Tag, seit sie Wassertrum verscharrt haben, sitze ich drauŸen bei
ihm auf dem Friedhof und horche in meine Brust hinein, was ich tun soll.
Ich glaube, ich weiŸ es bereits, aber ich will noch warten, bis das
innere Wort, das zu mir spricht, klar wird wie eine Quelle. - Wir Menschen
sind unrein, und oft bedarf es langen Fastens und Wachens, bis wir das
Flìstern unserer Seele verstehen. - - -
In der verflossenen Woche wurde mir offiziell vom Gericht mitgeteilt,
daŸ mich Wassertrum zum Universalerben eingesetzt hat.
DaŸ ich fìr mich keinen Kreuzer davon anrìhre, brauche ich Ihnen wohl
nicht zu versichern, Herr Pernath. - Ich werde mich hìten, ›ihm‹ - fìr
›drìben‹ eine Handhabe zu geben.
Die H¤user, die er besessen hat, lasse ich versteigern, die
Gegenst¤nde, die er berìhrt hat, werden verbrannt, und was an Geld und
Geldeswert sich dann ergibt, f¤llt nach meinem Tode zu einem Drittel Ihnen
zu. -
Ich sehe im Geiste, wie Sie aufspringen und protestieren, aber ich kann
Sie beruhigen. Was Sie bekommen, ist Ihr rechtm¤Ÿiges Eigentum mit Zinsen
und Zinseszinsen. Schon lange wuŸte ich, daŸ Wassertrum vor Jahren Ihren
Vater und seine Familie um alles gebracht hat, - erst jetzt bin ich in der
Lage, es aktenm¤Ÿig nachweisen zu kænnen.
Ein zweites Drittel wird unter die zwælf Mitglieder des "Bataillons"
verteilt, die den Dr. Hulbert noch persænlich gekannt haben. Ich will, daŸ
jeder von ihnen reich wird und Zutritt bekommt zur Prager - "guten
Gesellschaft".
Das letzte Drittel gehært zu gleichen Teilen den n¤chsten sieben
Raubmærdern des Landes, die mangels zureichender Beweise freigesprochen
werden mìssen.
Ich bin das dem æffentlichen „rgernis schuldig.
So. Das w¤re wohl alles.
Und jetzt, mein lieber, lieber Freund, leben Sie wohl und gedenken Sie
zuweilen
Ihres
aufrichtigen und dankbaren
Innocenz Charousek."
Tief erschìttert legte ich den Brief aus der Hand. Ich konnte mich
nicht freuen ìber die Nachricht von meiner bevorstehenden Enthaftung.
Charousek! Armer Mensch! Wie ein Bruder kìmmerte er sich um mein
Schicksal. BloŸ, weil ich ihm einst 100 fl geschenkt hatte. Wenn ich ihm nur
einmal noch die Hand drìcken kænnte!
Ich fìhlte: ja, er hatte recht; der Tag wìrde nie kommen.
Ich sah ihn vor mir: seine flackernden Augen, die schwindsìchtigen
Schultern, die hohe, noble Stirn.
Vielleicht, daŸ alles ganz anders gekommen w¤re, wenn eine hilfreiche
Hand rechtzeitig in dies verdorrte Leben eingegriffen h¤tte.
Noch einmal las ich den Brief durch.
Wieviel Methode in Charouseks Irrsinn lag! Ob er ìberhaupt irrsinnig
war?
Ich sch¤mte mich beinahe, diesen Gedanken auch nur einen Augenblick
geduldet zu haben.
Sagten seine Anspielungen nicht genug? Er war ein Mensch wie Hillel,
wie Mirjam, wie ich selbst; ein Mensch, ìber den die eigene Seele Gewalt
gewonnen hatte, - den sie durch die wilden Schluchten und Klìfte des Lebens
emporfìhrte in die Firnenwelt eines unbetreten Landes.
Er, der doch ein ganzes Leben auf Mord gesonnen, stand er nicht reiner
da, als irgendeiner von denen, die naserìmpfend umhergehen und angelernte
Gebote eines unbekannten, mythischen Propheten zu befolgen vorgeben?
Er hielt das Gebot, das ihm ein ìberm¤chtiger Trieb diktierte, ohne an
eine "Belohnung" hier oder jenseits auch nur zu denken.
Was er getan hatte, war es etwas anderes als fræmmste Pflichterfìllung
in des Wortes verborgenster Bedeutung?
"Feig, hinterlistig, mordgierig, krank, eine problematische - eine
Verbrechernatur" - ich hærte færmlich, wie das Urteil der Menge ìber ihn
lauten muŸte, wenn sie mit ihren blinden Stallaternen in seine Seele
hineinzuleuchten k¤me, - dieser geifernden Menge, die nie und nimmer
begreifen wird, daŸ die giftige Herbstzeitlose tausendfach schæner und edler
ist als der nìtzliche Schnittlauch. - - -
Wieder ging das TìrschloŸ drauŸen, und ich hærte, daŸ man einen
Menschen hereinschob.
Ich drehte mich nicht einmal um, so sehr war ich erfìllt von dem
Eindruck des Briefes.
Kein Wort ìber Angelina, nichts von Hillel stand darin.
Freilich: Charousek muŸte in græŸter Eile geschrieben haben, die
Schrift verriet es mir.
Ob mir wohl noch ein Brief von ihm heimlich ìberbracht werden wìrde?
Ich hoffte heimlich auf den morgigen Tag, auf den gemeinsamen Rundgang
der Gefangenen im Hof. - Da war es noch am leichtesten, daŸ mir irgendeiner
vom "Bataillon" etwas zusteckte.
Eine leise Stimme schreckte mich aus meinen Grìbeleien:
"Wìrden Sie gestatten, mein Herr, daŸ ich mich Ihnen vorstelle? Mein
Name ist Laponder. Amadeus Laponder".
Ich drehte mich um.
Ein kleiner, schm¤chtiger, noch ziemlich junger Mann in gew¤hlter
Kleidung, nur ohne Hut, wie alle Untersuchungsgefangenen, verbeugte sich
korrekt vor mir.
Er war glattrasiert wie ein Schauspieler, und seine groŸen, hellgrìn
gl¤nzenden, mandelfærmigen Augen hatten das Eigentìmliche an sich, daŸ, so
geradeaus sie auch auf mich gerichtet waren, sie mich doch nicht zu sehen
schienen. - Es lag so etwas wie - Geistesabwesenheit darin.
Ich murmelte meinen Namen und verbeugte mich ebenfalls und wollte mich
wieder umdrehen, konnte aber lange den Blick von dem Menschen nicht wenden,
so fremdartig wirkte er auf mich mit dem pagodenhaften L¤cheln, das die
aufw¤rts gezogenen Mundwinkel der feingeschwungenen Lippen best¤ndig seinem
Gesicht aufdrìckten.
Er sah fast aus wie eine chinesische Buddhastatue aus Rosenquarz, mit
seiner faltenlosen, durchsichtigen Haut, der m¤dchenhaft schmalen Nase und
den zarten Nìstern.
"Amadeus Laponder, Amadeus Laponder", wiederholte ich vor mich hin.
"Was er wohl begangen haben mag?"
"Waren Sie schon beim Verhær", fragte ich nach einer Weile.
"Ich komme soeben von dort. - Hoffentlich werde ich Sie hier nicht
lange inkommodieren mìssen", antwortete Herr Laponder liebenswìrdig.
"Armer Teufel," dachte ich mir, "er ahnt nicht, was einem
Untersuchungsgefangenen bevorsteht."
Ich wollte ihn langsam vorbereiten:
"Man gewæhnt sich allm¤hlich an das Stillsitzen, wenn einmal die
ersten, schlimmsten Tage vorìber sind." - - -
Er machte ein verbindliches Gesicht.
Pause.
"Hat das Verhær lange gedauert, Herr Laponder?"
Er l¤chelte zerstreut:
"Nein. Ich wurde bloŸ gefragt, ob ich gest¤ndig sei, und muŸte das
Protokoll unterschreiben."
"Sie haben unterschrieben, daŸ Sie gest¤ndig sind?" fuhr es mir heraus.
"Allerdings."
Er sagte es, als ob es sich von selbst verstìnde.
Es kann nichts Schlimmes sein, legte ich mir zurecht, weil er so gar
keine Aufregung zeigt. Wahrscheinlich eine Herausforderung zum Duell oder
etwas „hnliches.
"Ich bin leider schon so lange hier, daŸ es mir wie ein Menschenleben
vorkommt"; - ich seufzte unwillkìrlich, und er machte sofort eine
teilnehmende Miene. "Ich wìnsche Ihnen, daŸ Sie das nicht mitzumachen
brauchen, Herr Laponder. Nach allem, was ich sehe, werden Sie bald auf
freiem FuŸ sein."
"Wie man's nimmt", antwortete er ruhig, aber es klang wie ein
versteckter Doppelsinn.
"Sie glauben nicht?", fragte ich l¤chelnd. Er schìttelte den Kopf.
"Wie soll ich das verstehen? - Was haben Sie denn gar so Schreckliches
begangen? Verzeihen Sie, Herr Laponder, es ist nicht Neugierde von mir, -
lediglich Teilnahme, daŸ ich frage."
Er zægerte einen Augenblick, dann sagte er, ohne mit der Wimper zu
zucken:
"Lustmord."
Mir war, als h¤tte er mich mit einem Stock ìber den Kopf geschlagen.
Vor Abscheu und Grausen konnte ich keinen Ton herausbringen.
Er schien es zu bemerken und blickte diskret zur Seite, aber nicht das
leiseste Minenspiel in seinem automatenhaft l¤chelnden Gesicht verriet, daŸ
er ìber mein plætzlich ver¤ndertes Benehmen verletzt gewesen w¤re.
Wir wechselten kein Wort weiter und blickten stumm aneinander vorbei. -
- -
Als ich mich nach Einbruch der Dunkelheit niederlegte, folgte er
sogleich meinem Beispiel, entkleidete sich, h¤ngte sorgsam seine Kleider an
den Wandnagel, streckte sich aus und schien, nach seinen ruhigen, tiefen
Atemzìgen zu schlieŸen, unmittelbar darauf fest eingeschlafen zu sein.
Die ganze Nacht konnte ich nicht zur Ruhe kommen.
Das best¤ndige Gefìhl, ein solches Scheusal in meiner n¤chsten N¤he zu
haben und dieselbe Luft mit ihm atmen zu mìssen, war mir so gr¤Ÿlich und
aufregend, daŸ die Eindrìcke des Tages, Charouseks Brief und all das erlebte
Neue tief in den Hintergrund traten.
Ich hatte mich so gelegt, daŸ ich den Mærder best¤ndig im Auge behielt,
denn ich wìrde es nicht haben ertragen kænnen, ihn hinter mir zu wissen.
Die Zelle war vom Schimmer des Mondes matt durchd¤mmert, und ich konnte
sehen, daŸ Laponder regungslos, fast starr, dalag.
Seine Zìge hatten etwas Leichenhaftes bekommen, und der halbgeæffnete
Mund erhæhte diesen Eindruck.
Viele Stunden hindurch ¤nderte er nicht ein einziges Mal seine Lage.
Erst sp¤t nach Mitternacht, als ein dìnner Mondstrahl auf sein Gesicht
fiel, kam eine leise Unruhe ìber ihn und er bewegte unaufhærlich die Lippen,
wie jemand, der im Schlaf spricht. Es schien immer dasselbe Wort zu sein, -
ein zweisilbiger Satz vielleicht, - so wie:
"LaŸ mich. LaŸ mich, LaŸ mich."
Die n¤chsten paar Tage vergingen, ohne daŸ ich Notiz von ihm genommen
h¤tte, und auch er brach niemals das Schweigen.
Sein Benehmen blieb nach wie vor gleich liebenswìrdig. Sooft ich auf
und ab gehen wollte, sah er es mir sofort an und zog hæflich, wenn er auf
der Pritsche saŸ, die FìŸe zurìck, um mir nicht im Wege zu sein.
Ich fing an, mir Vorwìrfe wegen meiner Schroffheit zu machen, konnte
aber den Abscheu vor ihm beim besten Willen nicht loswerden.
So sehr ich gehofft hatte, mich an seine N¤he gewæhnen zu kænnen, - es
ging nicht.
Selbst in den N¤chten hielt es mich wach. Kaum eine Viertelstunde
verbrachte ich im Schlaf.
Abend fìr Abend wiederholte sich haargenau derselbe Vorgang: Er wartete
respektvoll, bis ich mich ausstreckte, zog dann seine Kleider aus, legte sie
pedantisch in Falten, h¤ngte sie auf, und so weiter und so weiter.
Eines Nachts - es mochte um die zweite Stunde sein - stand ich
schlaftrunken vor Mìdigkeit wieder auf dem Wandbrett, starrte in den
Vollmond, dessen Strahlen sich wie glitzerndes –l auf dem kupfernen Gesicht
der Turmuhr spiegelten, und dachte voll Trauer an Mirjam.
Da hærte ich plætzlich leise ihre Stimme hinter mir.
Sofort war ich wach, ìberwach, - fuhr herum und horchte.
Eine Minute verging.
Schon glaubte ich, ich h¤tte mich get¤uscht, da kam es wieder. Ich
konnte die Worte nicht genau verstehen, aber es klang wie:
"Frag' mich. Frag' mich."
Es war bestimmt Mirjams Stimme.
Schlotternd vor Aufregung stieg ich, so leise ich konnte, herab und
trat an das Bett Laponders.
Das Mondlicht schien voll auf sein Gesicht, und ich konnte deutlich
unterscheiden, daŸ er die Lider offen hatte, doch nur das WeiŸe der Aug¤pfel
war sichtbar.
An der Starre der Wangenmuskeln sah ich, daŸ er im Tiefschlaf lag.
Nur die Lippen bewegten sich wieder wie neulich. Und allm¤hlich
verstand ich die Worte, die hinter seinen Z¤hnen hervordrangen:
"Frag' mich. Frag' mich."
Die Stimme war der von Mirjam t¤uschend ¤hnlich.
"Mirjam? Mirjam?" rief ich unwillkìrlich, d¤mpfte aber sofort den Ton,
um den Schl¤fer nicht zu erwecken.
Ich wartete, bis sein Gesicht wieder starr geworden war, dann
wiederholte ich leise:
"Mirjam? Mirjam?"
Sein Mund formte ein kaum vernehmbares, aber doch deutliches:
"Ja."
Ich legte mein Ohr dicht an seine Lippen. Nach einer Weile hærte ich
Mirjams Stimme flìstern - so unverkennbar ihre Stimme, daŸ mir K¤lteschauer
ìber die Haut liefen.
Ich trank die Worte so gierig, daŸ ich nur den Sinn begriff. Sie sprach
von Liebe zu mir und von dem unsagbaren Glìck, daŸ wir uns endlich gefunden
h¤tten - und uns nie wieder trennen wìrden - hastig - ohne Pause, wie
jemand, der fìrchtet, unterbrochen zu werden und jede Sekunde ausnìtzen
will.
Dann wurde die Stimme stockend - erlosch zeitweilig ganz.
"Mirjam?" fragte ich, bebend vor Angst und mit eingezogenem Atem,
"Mirjam, bist du gestorben?"
Lange keine Antwort.
Dann fast unverst¤ndlich:
"Nein. - Ich lebe. - Ich schlafe."
Nichts mehr.
Ich lauschte und lauschte.
Vergebens.
Nichts mehr.
Vor Ergriffenheit und Zittern muŸte ich mich auf die Kante der Pritsche
stìtzen, um nicht vornìber auf Laponder zu fallen.
Die T¤uschung war so vollst¤ndig gewesen, daŸ ich Mirjam momentelang
tats¤chlich vor mir liegen zu sehen glaubte und alle meine Kraft
zusammennehmen muŸte, um nicht einen KuŸ auf die Lippen des Mærders zu
drìcken.
"Henoch! Henoch!" - hærte ich ihn plætzlich lallen, dann immer klarer
und artikulierter: "Henoch! Henoch!"
Sofort erkannte ich Hillel.
"Bist du es, Hillel?"
Keine Antwort.
Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, daŸ man Schlafenden, um sie zum
Reden zu bringen, die Fragen nicht ins Ohr stellen dìrfe, sondern gegen das
Nervengeflecht in der Magengrube richten mìsse.
Ich tat es:
"Hillel?"
"Ja, ich hære dich!"
"Ist Mirjam gesund? WeiŸt du alles?" fragte ich schnell.
"Ja. Ich weiŸ alles. WuŸte es l¤ngst. - Sei ohne Sorge, Henoch, und
fìrchte dich nicht!"
"Kannst du mir verzeihen, Hillel?"
"Ich sage dir doch: sei ohne Sorge."
"Werden wir uns bald wiedersehen?" - Ich fìrchtete, die Antwort nicht
mehr verstehen zu kænnen; schon der letzte Satz war nur noch gehaucht
worden.
"Ich hoffe es. Ich will warten - auf dich - wenn ich kann - dann muŸ
ich - Land -"
"Wohin? In welches Land?" - ich fiel beinahe auf Laponder - "In welches
Land? In welches Land?"
"- Land - Gad - sìdlich - Pal¤stina -"
Die Stimme erstarb.
Hundert Fragen schæssen mir in der Verwirrung durch den Kopf: Warum
nennt er mich Henoch? Zwakh, Jaromir, die Uhr, Vrieslander, Angelina,
Charousek.
"Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner zuweilen", kam es plætzlich
wieder laut und deutlich von den Lippen des Mærders. Diesmal in Charouseks
Tonfall, aber ¤hnlich so, als h¤tte ich selbst es gesagt.
Ich erinnerte mich: es war wærtlich der SchluŸsatz aus Charouseks
Brief. -
Das Gesicht Laponders lag bereits im Dunkel. Das Mondlicht fiel auf die
Kopfenden des Strohsacks. In einer Viertelstunde muŸte es aus der Zelle
verschwunden sein.
Ich stellte Frage auf Frage, bekam aber keine Antwort mehr:
Der Mærder lag unbeweglich da wie eine Leiche und hatte die Lider
geschlossen.
Ich machte mir die heftigsten Vorwìrfe, alle die Tage ìber in Laponder
nur den Verbrecher und niemals den Menschen gesehen zu haben. -
Nach dem, was ich soeben erlebt, war er offenbar ein Somnambuler - ein
Geschæpf, das unter dem EinfluŸ des Vollmonds stand.
Vielleicht hatte er den Lustmord in einer Art D¤mmerzustand begangen.
Bestimmt sogar. -
Jetzt, wo der Morgen graute, war die Starrheit aus seinen Zìgen
gewichen und hatte dem Ausdruck seligen Friedens Platz gemacht.
So ruhig kann ein Mensch doch nicht schlummern, der einen Mord auf dem
Gewissen hat, sagte ich mir.
Ich konnte den Moment, wo er aufwachen wìrde, kaum erwarten.
Ob er wohl wìŸte, was geschehen war?
Endlich schlug er die Augen auf, begegnete meinem Blick und sah zur
Seite.
Sofort trat ich zu ihm und ergriff seine Hand: "Verzeihen Sie mir, Herr
Laponder, daŸ ich bisher so unfreundlich zu Ihnen gewesen bin. Es war das
Ungewohnte, das -"
"Seien Sie ìberzeugt, mein Herr, ich begreife vollkommen," unterbrach
er mich lebhaft, "daŸ es ein scheuŸliches Gefìhl sein muŸ, mit einem
Lustmærder beisammen zu sein."
"Reden Sie nicht mehr davon", bat ich. "Es ist mir heute nacht so
mancherlei durch den Kopf gegangen, und ich werde den Gedanken nicht los,
Sie kænnten vielleicht - - -" ich suchte nach Worten.
"Sie halten mich fìr krank", half er mir heraus.
Ich bejahte: "Ich glaube es aus gewissen Anzeichen schlieŸen zu dìrfen.
Ich - ich - darf ich Ihnen eine direkte Frage stellen, Herr Laponder?"
"Ich bitte darum."
"Es klingt etwas merkwìrdig, - aber - wìrden Sie mir sagen, was Sie
heute getr¤umt haben?"
Er schìttelte l¤chelnd den Kopf: "Ich tr¤ume nie."
"Aber Sie haben aus dem Schlaf gesprochen."
Er blickte ìberrascht auf. Dachte eine Weile nach. Dann sagte er
bestimmt:
"Das kann nur geschehen sein, wenn Sie mich etwas gefragt haben." - Ich
gab es zu. "Denn wie gesagt, ich tr¤ume nie. Ich - ich wandere", setzte er
nach einer Pause halblaut hinzu.
"Sie wandern? Wie soll ich das verstehen?"
Er schien nicht recht mit der Sprache heraus zu wollen, und ich hielt
es fìr angezeigt, ihm die Grìnde zu nennen, die mich bewogen hatten, in ihn
zu dringen, und erz¤hlte ihm in Umrissen, was nachts geschehen war.
"Sie kænnen sich fest darauf verlassen," sagte er ernst, als ich zu
Ende war, "daŸ alles auf Richtigkeit beruht, was ich im Schlaf gesprochen
habe. Wenn ich vorhin bemerkte, daŸ ich nicht tr¤ume, sondern ›wandere‹, so
meine ich damit, daŸ mein Traumleben anders beschaffen ist als das - sagen
wir: normaler Menschen. Nennen Sie es, wenn Sie wollen, ein Austreten aus
dem Kærper. - - So war ich z. B. heute nacht in einem hæchst sonderbaren
Zimmer, zu dem der Eingang von unten herauf durch eine Falltìr fìhrte."
"Wie sah es aus?" fragte ich rasch. "War es unbewohnt? Leer?"
"Nein; es standen Mæbel darin; aber nicht viele. Und ein Bett, in dem
ein junges M¤dchen schlief - oder wie scheintot lag, - und ein Mann saŸ
neben ihr und hielt seine Hand ìber ihre Stirn." - Laponder schilderte die
Gesichter der beiden. Kein Zweifel, es waren Hillel und Mirjam.
Ich wagte vor Spannung kaum zu atmen.
"Bitte, erz¤hlen Sie weiter. War sonst noch jemand im Zimmer?"
"Sonst noch jemand? Warten Sie - - - nein: sonst war niemand mehr im
Zimmer. Ein siebenflammiger Leuchter brannte auf dem Tisch. - Dann ging ich
eine Wendeltreppe hinunter."
"Sie war zerbrochen?" fiel ich ein.
"Zerbrochen? Nein, nein; sie war ganz in Ordnung. Und von ihr zweigte
seitlich eine Kammer ab, darin saŸ ein Mann mit silbernen Schnallen an den
Schuhen und von fremdartigem Typus, wie ich noch nie einen Menschen gesehen
habe: von gelber Gesichtsfarbe und mit schr¤gstehenden Augen; - er war
vornìber gebeugt und schien auf etwas zu warten. Auf einen Auftrag
vielleicht."
"Ein Buch - ein altes groŸes Buch haben Sie nirgends gesehen?",
forschte ich.
Er rieb sich die Stirn:
"Ein Buch sagen Sie? - Ja. Sehr richtig: ein Buch lag auf dem Boden. Es
war aufgeschlagen, ganz aus Pergament, und mit einem groŸen, goldenen ›A‹
fing die Seite an."
"Mit einem ›I‹, meinen Sie wohl?"
"Nein, mit einem ›A‹."
"Wissen Sie das bestimmt? War es nicht ein ›I‹?"
"Nein, es war bestimmt ein ›A‹."
Ich schìttelte den Kopf und fing an zu zweifeln. Offenbar hatte
Laponder im Halbschlaf in meinem Vorstellungsinhalt gelesen und alles wirr
durcheinander gebracht: Hillel, Mirjam, den Golem, das Buch Ibbur und den
unterirdischen Gang.
"Haben Sie die Gabe zu ›wandern‹, wie Sie es nennen, schon lang?",
fragte ich.
"Seit meinem 21. Jahr - - -", er stockte, schien nicht gern davon zu
reden; da nahm seine Miene plætzlich den Ausdruck grenzenlosen Erstaunens
an, und er starrte auf meine Brust, als ob er dort etwas s¤he.
Ohne auf meine Verwunderung zu achten, ergriff er hastig meine Hand und
bat - fast flehentlich:
"Um Himmels willen, sagen Sie mir alles. Es ist heute der letzte Tag,
den ich bei Ihnen verbringen darf. Vielleicht schon in einer Stunde werde
ich abgeholt, um mein Todesurteil anzuhæren - -."
Ich unterbr¤che ihn entsetzt:
"Dann mìssen Sie mich mitnehmen als Zeugen! Ich werde beschwæren, daŸ
Sie krank sind. - Sie sind mondsìchtig. Es darf nicht sein, daŸ man Sie
hinrichtet, ohne Ihren Geisteszustand untersucht zu haben. So nehmen Sie
doch Vernunft an!"
Er wehrte nervæs ab: "Das ist doch so nebens¤chlich, - bitte, sagen Sie
mir alles!"
"Aber was soll ich Ihnen denn sagen? - Reden wir doch lieber von Ihnen
und - -"
"Sie mìssen, ich weiŸ das jetzt, gewisse, seltsame Dinge erlebt haben,
die mich nah angehen, - n¤her als Sie ahnen kænnen; - - ich bitte Sie, sagen
Sie mir alles!", flehte er.
Ich konnte es nicht fassen, daŸ ihn mein Leben mehr interessierte als
seine eigenen, doch wahrhaftig genìgend dringenden Angelegenheiten; um ihn
aber zu beruhigen, erz¤hlte ich ihm alles, was mir an Unbegreiflichem
geschehen war.
Bei jedem græŸeren Abschnitt nickte er zufrieden, wie jemand, der eine
Sache bis zum Grund durchschaut.
Als ich zu der Stelle kam, wo die Erscheinung ohne Kopf vor mir
gestanden und mir die schwarzroten Kærner hingehalten hatte, konnte er es
kaum erwarten, den SchluŸ zu erfahren.
"Also, aus der Hand geschlagen haben Sie sie ihm", murmelte er sinnend.
"Ich h¤tte nie gedacht, daŸ es einen dritten ›Weg‹ geben kænnte.
"Es war das kein dritter Weg", sagte ich, "es war derselbe, wie wenn
ich die Kærner abgelehnt h¤tte."
Er l¤chelte.
"Glauben Sie nicht, Herr Laponder?"
"Wenn Sie sie abgelehnt h¤tten, w¤ren Sie wohl auch den ›Weg des
Lebens‹ gegangen, aber die Kærner, die magische Kr¤fte bedeuten, w¤ren nicht
zurìckgeblieben. - So sind sie auf den Boden gerollt, wie Sie sagen. Das
heiŸt: sie sind hiergeblieben und werden von Ihren Vorfahren so lange
gehìtet, bis die Zeit des Keimens da ist. Dann werden die Kr¤fte, die in
Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden."
Ich verstand nicht: "Von meinen Vorfahren werden die Kærner behìtet?"
"Sie mìssen es teilweise symbolisch auffassen, was Sie erlebt haben",
erkl¤rte Laponder. "Der Kreis der bl¤ulich strahlenden Menschen, der Sie
umstand, war die Kette der ererbten ›Iche‹, die jeder von einer Mutter
Geborene mit sich herumschleppt. Die Seele ist nichts ›Einzelnes‹, - sie
soll es erst werden, und das nennt man dann: ›Unsterblichkeit‹; Ihre Seele
ist noch zusammengesetzt aus vielen ›Ichen‹ - so, wie ein Ameisenstaat aus
vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler tausend Vorfahren in
sich: - die H¤upter Ihres Geschlechtes. Bei allen Wesen ist es so. Wie
kænnte denn ein Huhn, das aus einem Ei kìnstlich erbrìtet wurde, sich
sogleich die richtige Nahrung suchen, wenn nicht die Erfahrung von
Jahrmillionen in ihm st¤ke? - Das Vorhandensein des ›Instinkts‹ verr¤t die
Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der Seele. - Aber, verzeihen Sie, ich
wollte Sie nicht unterbrechen."
Ich erz¤hlte zu Ende. Alles. Auch das, was Mirjam ìber den
"Hermaphroditen" gesagt hatte.
Als ich innehielt und aufblickte, bemerkte ich, daŸ Laponder weiŸ
geworden war wie der Kalk an der Wand und Tr¤nen ìber seine Wangen liefen.
Rasch stand ich auf, tat, als s¤he ich es nicht, und ging in der Zelle
auf und nieder, um abzuwarten, bis er sich beruhigt haben wìrde.
Dann setzte ich mich ihm gegenìber und bot meine ganze Beredsamkeit
auf, ihn zu ìberzeugen, wie dringend nætig es w¤re, den Richtern gegenìber
auf seinen krankhaften Geisteszustand hinzuweisen.
"Wenn Sie wenigstens den Mord nicht eingestanden h¤tten!", schloŸ ich.
"Aber ich muŸte doch! Man hat mich auf mein Gewissen gefragt", sagte er
naiv.
"Halten Sie denn eine Lìge fìr schlimmer als - als einen Lustmord?",
fragte ich verblìfft.
"Im allgemeinen vielleicht nicht, in meinem Fall gewiŸ. - Sehen Sie:
als ich vom Untersuchungsrichter gefragt wurde, ob ich gestìnde, hatte ich
die Kraft, die Wahrheit zu sagen. Es stand also in meiner Wahl, zu lìgen
oder nicht zu lìgen. - Als ich den Lustmord beging - - bitte, ersparen Sie
mir die Details: es war so gr¤Ÿlich, daŸ ich die Erinnerung nicht wieder
aufleben lassen mæchte - - als ich den Lustmord beging, da hatte ich keine
Wahl. Wenn ich auch bei vollkommen klarem BewuŸtsein handelte, so hatte ich
dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt
hatte, wachte auf und war st¤rker als ich. Glauben Sie, wenn ich die Wahl
gehabt haben wìrde, ich h¤tte gemordet? - Nie habe ich getætet - nicht
einmal das kleinste Tier, - und jetzt w¤re ich es schon gar nicht mehr
imstande.
Nehmen Sie an, es w¤re Menschengesetz: zu morden, und auf die
Unterlassung stìnde der Tod - ¤hnlich, wie es im Krieg der Fall ist, -
augenblicklich h¤tte ich mir den Tod verdient. - Weil mir keine Wahl bliebe.
Ich kænnte ganz einfach nicht morden. Damals, als ich den Lustmord beging,
lag die Sache umgekehrt."
"Um so mehr, wo Sie sich jetzt quasi als ein anderer fìhlen, mìssen Sie
alles aufbieten, dem Richterspruch zu entgehen!", wandte ich ein.
Laponder machte eine abwehrende Handbewegung: "Sie irren! Die Richter
haben von ihrem Standpunkt aus ganz recht. Sollen sie einen Menschen wie
mich vielleicht frei umherlaufen lassen? Damit morgen oder ìbermorgen wieder
das Unheil losbricht?"
"Nein; aber in einer Heilanstalt fìr Geisteskranke sollte man Sie
internieren. Das ist es doch, was ich sage!"
"Wenn ich irrsinnig w¤re, h¤tten Sie recht", erwiderte Laponder
gleichmìtig. "Aber ich bin nicht irrsinnig. Ich bin etwas ganz anderes, -
etwas, was dem Irrsinn sehr ¤hnlich sieht, aber gerade das Gegenteil ist.
Bitte, hæren Sie zu. Sie werden mich sogleich verstehen. - - - Was Sie mir
vorhin von dem Phantom ohne Kopf - ein Symbol natìrlich: dieses Phantom; den
Schlìssel kænnen Sie leicht finden, wenn Sie darìber nachdenken - erz¤hlten,
ist mir einst genauso passiert. Nur habe ich die Kærner angenommen. Ich gehe
also den ›Weg des Todes‹! - Fìr mich ist das Heiligste, das ich denken kann:
meine Schritte vom Geistigen in mir lenken zu lassen. Blind, vertrauensvoll,
wohin der Weg auch fìhren mag: ob zum Galgen oder zum Thron, ob zur Armut
oder zum Reichtum. Niemals habe ich gezægert, wenn die Wahl in meine Hand
gelegt war.
Darum habe ich auch nicht gelogen, als die Wahl in meiner Hand lag.
Kennen Sie die Worte des Propheten Micha:
"Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist,
und was der Herr von dir fordert,"?
Wìrde ich gelogen haben, h¤tte ich eine Ursache geschaffen, weil ich
die Wahl hatte; - - als ich den Mord beging, schuf ich keine Ursache; nur
die Wirkung einer in mir schlummernden, l¤ngst gelegten Ursache, ìber die
ich keine Gewalt mehr besaŸ, wurde frei.
Also sind meine H¤nde rein.
Dadurch, daŸ das Geistige in mir mich zum Mærder werden lieŸ, hat es
eine Hinrichtung an mir vollzogen; dadurch, daŸ mich die Menschen an den
Galgen knìpfen, wird mein Schicksal losgelæst von dem ihrigen: - ich komme
zur Freiheit."
Er ist ein Heiliger, fìhlte ich, und das Haar str¤ubte sich mir vor
Schauder ìber meine eigene Kleinheit.
"Sie haben mir erz¤hlt, daŸ Sie durch den hypnotischen Eingriff eines
Arztes in Ihr BewuŸtsein lange die Erinnerung an Ihre Jugendzeit vergessen
hatten", fuhr er fort. "Es ist das das Kennzeichen - das Stigma - aller
derer, die von der ›Schlange des geistigen Reiches‹ gebissen sind. Es
scheint fast, als mìŸten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft werden, wie
ein Edelreis auf den wilden Baum, ehe das Wunder der Erweckung geschehen
kann; - was sonst durch den Tod getrennt wird, geschieht hier durch
Erlæschen der Erinnerung - manchmal nur durch eine plætzliche innere Umkehr.
Bei mir war es so, daŸ ich scheinbar ohne ¤uŸere Ursache in meinem 21.
Jahr eines Morgens wie ver¤ndert erwachte. Was mir bis dahin lieb gewesen,
erschien mir mit einemmal gleichgìltig: Das Leben kam mir dumm vor wie eine
Indianergeschichte und verlor an Wirklichkeit; die Tr¤ume wurden zu
GewiŸheit - zu apodiktischer, beweiskr¤ftiger GewiŸheit, verstehen Sie wohl:
zu beweiskr¤ftiger, realer GewiŸheit, und das Leben des Tages wurde zum
Traum.
Alle Menschen kænnten das, wenn sie den Schlìssel h¤tten. Und der
Schlìssel liegt einzig und allein darin, daŸ man sich seiner ›Ichgestalt‹,
sozusagen seiner Haut, im Schlaf bewuŸt wird, - die schmale Ritze findet,
durch die sich das BewuŸtsein zw¤ngt zwischen Wachsein und Tiefschlaf.
Darum sagte ich vorhin: ›ich wandere‹ und nicht: ›ich tr¤ume‹.
Das Ringen nach der Unsterblichkeit ist ein Kampf um das Zepter gegen
die uns innewohnenden Kl¤nge und Gespenster; und das Warten auf das
Kænigwerden des eigenen ›Ichs‹ ist das Warten auf den Messias.
Der schemenhafte Habal Garmin, den Sie gesehen haben, der ›Hauch der
Knochen‹ der Kabbala, das war der Kænig. Wenn er gekrænt sein wird, dann -
reiŸt der Strick entzwei, mit dem Sie durch die ¤uŸeren Sinne und den
Schornstein des Verstandes an die Welt gebunden sind.
Wieso es kommen konnte, daŸ ich trotz meinem Losgetrenntsein vom Leben
ìber Nacht zum Lustmærder werden konnte, fragen Sie mich? Der Mensch ist wie
ein Glasrohr, durch das bunte Kugeln laufen: bei fast allen im Leben nur die
eine. Ist die Kugel rot, heiŸt der Mensch: ›schlecht‹. Ist sie gelb, dann
ist der Mensch: ›gut‹. Laufen zwei hintereinander - eine rote und eine
gelbe, dann hat ›man‹ einen ›ungefestigten‹ Charakter. Wir von der ›Schlange
Gebissenen‹, machen in einem Leben durch, was sonst an der ganzen Rasse in
einem Weltenalter geschieht: die farbigen Kugeln rasen hintereinander her
durch das Glasrohr, und wenn sie zu Ende sind - - dann sind wir Propheten, -
sind die Spiegel Gottes geworden."
Laponder schwieg.
Lange konnte ich kein Wort sprechen. Seine Rede hatte mich fast
bet¤ubt.
"Weshalb fragten Sie mich vorhin so ¤ngstlich nach meinen Erlebnissen,
wo Sie doch so viel, viel hæher stehen als ich?", fing ich endlich wieder
an.
"Sie irren," sagte Laponder, "ich stehe weit unter Ihnen. - Ich fragte
Sie, weil ich fìhlte, daŸ Sie den Schlìssel besitzen, der mir noch fehlte."
"Ich? Einen Schlìssel. O Gott!"
"Jawohl Sie! Und Sie haben ihn mir gegeben. - Ich glaube nicht, daŸ es
einen glìcklicheren Menschen auf Erden gibt, als ich es heute bin."
DrauŸen entstand ein Ger¤usch; die Riegel wurden zurìckgeschoben, -
Laponder achtete kaum darauf:
"Das mit dem Hermaphroditen war der Schlìssel. Jetzt habe ich die
GewiŸheit. Schon deshalb bin ich froh, daŸ man mich holen kommt, denn bald
bin ich am Ziel."
Vor Tr¤nen konnte ich Laponders Gesicht nicht mehr unterscheiden, ich
hærte nur das L¤cheln in seiner Stimme.
"Und jetzt: Leben Sie wohl, Herr Pernath, und denken Sie: das, was man
morgen aufhenkt, sind nur meine Kleider; Sie haben mir das Schænste
eræffnet, - das Letzte, was ich noch nicht wuŸte. Jetzt geht's zur Hochzeit
- - -," er stand auf und folgte dem Gefangenw¤rter - "es h¤ngt mit dem
Lustmord eng zusammen", waren die letzten Worte, die ich hærte und nur
dunkel begriff.
Sooft seit jener Nacht der Vollmond am Himmel stand, glaubte ich immer
wieder Laponders schlafendes Gesicht auf der grauen Leinwand des Bettes
liegen zu sehen.
In den n¤chsten Tagen, nachdem er weggefìhrt worden war, hatte ich ein
H¤mmern und Zimmern aus dem Hinrichtungshof heraufdræhnen hæren, das
manchmal bis zum Morgengrauen dauerte.
Ich erriet, was es bedeutete, und hielt mir stundenlang die Ohren zu
vor Verzweiflung.
Monat um Monat verfloŸ. Ich sah, wie der Sommer zerrann, am Krankwerden
des kìmmerlichen Laubs im Hof; roch es an dem pelzigen Hauch, der aus den
Mauern drang.
Wenn mein Blick bei den Rundg¤ngen auf den sterbenden Baum fiel und das
eingewachsene Glasbild der Heiligen in seiner Rinde, zog ich unwillkìrlich
jedesmal den Vergleich, wie tief sich auch Laponders Gesicht in mich
eingegraben hatte. Best¤ndig trug ich es in mir herum, dieses Buddhagesicht
mit der faltenlosen Haut und dem seltsamen, immerw¤hrenden L¤cheln.
Ein einziges Mal noch - im September - hatte mich der
Untersuchungsrichter holen lassen und miŸtrauisch gefragt, wie ich es
begrìnden kænne, daŸ ich bei dem Bankschalter gesagt, ich mìsse dringend
verreisen, und warum ich in den Stunden vor meiner Verhaftung so unruhig
gewesen w¤re und meine s¤mtlichen Edelsteine zu mir gesteckt h¤tte.
Auf meine Antwort, ich sei mit der Absicht umgegangen, mir das Leben zu
nehmen, hatte es wieder hinter dem Schreibtisch hæhnisch gemeckert. -
Bis dahin war ich allein in meiner Zelle gewesen und konnte meinen
Gedanken, meiner Trauer um Charousek, der, wie ich fìhlte, l¤ngst tot sein
muŸte, und Laponder und meiner Sehnsucht nach Mirjam nachh¤ngen.
Dann kamen wieder neue Gefangene: diebische Kommis mit verlebten
Gesichtern, dickwanstige Bankkassierer, - "Waisenkinder", wie der schwarze
Vãssatka sie genannt haben wìrde, - und verpesteten mir die Luft und die
Stimmung.
Eines Tages gab einer von ihnen voll Entrìstung zum besten, daŸ vor
geraumer Zeit ein Lustmord in der Stadt geschehen sei. Zum Glìck h¤tte man
den T¤ter sogleich erwischt und kurzen ProzeŸ mit ihm gemacht.
"Laponder hat er geheiŸen, der Schuft, der gottserb¤rmliche", schrie
ein Kerl mit einer Raubtierschnauze, der wegen KindsmiŸhandlung zu - 14
Tagen Gef¤ngnis verurteilt worden war, dazwischen. "Auf frischer Tat
habn's'n g'faŸt. Die Lampen is umg'fallen bei dem Krawall und's Zimmer is
ausbrennt. Die Leich' von dem M¤del is dabei so verkohlt, daŸ mer bis zum
heutigen Tage noch næt hat rausbringen kænnen, wer sie eigentlich war.
Schwarze Haar hat's g'habt und a schmal's G'sicht, dæs is alls, was mer
weiŸ. Und der Laponder hat net ums Verrecken rausg'rìckt mit ihrem Namen. -
Wann's nach mir gangen w¤r, i h¤tt ihm d'Haut ab'zogen und Pfeffer drauf
g'streut. - Dæs san halt die feinen Herren! Mærder san's, alle z'samm. - - -
- Als ob's net anderne Mittel g'nua gebet, wann aner a M¤del los sein wìll",
setzte er mit zynischem L¤cheln hinzu.
Die Wut kochte in mir, und am liebsten h¤tte ich den Halunken zu Boden
geschlagen.
Nacht fìr Nacht schnarchte er in dem Bett, auf dem Laponder gelegen.
Ich atmete auf, als er endlich freigelassen wurde.
Aber selbst da war ich ihn noch nicht los: seine Rede hatte sich wie
ein Pfeil mit Widerhaken in mich eingebohrt.
Fast best¤ndig, haupts¤chlich in der Dunkelheit, nagte jetzt in mir der
grausige Verdacht, Mirjam kænnte das Opfer Laponders gewesen sein.
Je mehr ich dagegen ank¤mpfte, desto tiefer verstrickte ich mich in dem
Gedanken, bis er beinahe zur fixen Idee wurde.
Manchmal, besonders wenn der Mond grell durchs Gitter schien, wurde es
besser: ich konnte mir die Stunden, die ich mit Laponder verlebt, dann
lebendig machen, und das tiefe Gefìhl fìr ihn verscheuchte mir die Qual, -
aber nur zu oft kamen die gr¤Ÿlichen Minuten wieder, wo ich Mirjam ermordet
und verkohlt im Geiste vor mir sah und glaubte, vor Angst den Verstand
verlieren zu mìssen.
Die schwachen Anhaltspunkte, die ich fìr meinen Verdacht hatte,
verdichteten sich in solchen Zeiten zu einem geschlossenen Ganzen, - zu
einem Gem¤lde voll unbeschreiblich entsetzenerregender Einzelheiten.
Anfang November gegen 10 Uhr abends, es war bereits stockfinster und
die Verzweiflung in mir hatte einen derartigen Hæhepunkt erreicht, daŸ ich
mich, um nicht laut aufzuschreien, in meinen Strohsack verbiŸ wie ein
verdurstendes Tier, æffnete plætzlich der Gefangenw¤rter die Zelle und
forderte mich auf, mit ihm zum Untersuchungsrichter zu kommen. Ich fìhlte
mich so schwach, daŸ ich mehr taumelte als ging.
Die Hoffnung, jemals dieses schreckliche Haus verlassen zu dìrfen, war
l¤ngst in mir gestorben.
Ich machte mich darauf gefaŸt, wieder eine kalte Frage gestellt zu
bekommen, das stereotype Gemecker hinter dem Schreibtisch zu hæren und dann
zurìck in die Finsternis zu mìssen.
Der Herr Baron Leisetreter war bereits nach Hause gegangen und nur ein
alter, buckliger Schreiber mit Spinnenfingern stand im Zimmer.
Dumpf wartete ich, was mit mir geschehen wìrde.
Es fiel mir auf, daŸ der Gefangenw¤rter mit hereingekommen war und mir
gutmìtig zublinzelte, aber ich war viel zu niedergeschlagen, als daŸ ich mir
ìber die Bedeutung alles dessen h¤tte klarwerden kænnen.
"Die Untersuchung hat ergeben", fing der Schreiber an, meckerte, stieg
auf einen Sessel und kramte erst lange auf dem Bìcherbord nach
Schriftstìcken, ehe er fortfuhr: "hat ergeben, daŸ der in Frage kommende
Karl Zottmann vor seinem Tode anl¤Ÿlich einer heimlichen Zusammenkunft mit
der unverehelichten ehemaligen Prostituierten Rosina Metzeles, die damaliger
Zeit den Spitznamen ›die rote Rosina‹ fìhrte, dann sp¤ter von einem
taubstummen, nunmehr unter polizeilicher Aufsicht stehenden
Silhubettenschneider namens Jaromir Kw¡Ÿnitschka aus dem Weinsalon ›Kautsky‹
losgekauft wurde und seit einigen Monaten mit Seiner Durchlaucht dem Fìrsten
Ferri Athenst¤dt im gemeinsamen, wilden Konkubinate als Maiteresse lebt, von
hinterlistiger Hand in ein unterirdisches, aufgelassenes Kellergewælbe des
Hauses Nummer conscriptionis 21873, gebrochen durch ræmisch III, der
HahnpaŸgasse, laufende Numero sieben, gelockt, dortselbst eingeschlossen und
sich selbst, beziehungsweise dem Tode durch Verhungern oder Erfrieren
ìberlassen wurde. - - Der obenerw¤hnte Zottmann n¤mlich", erkl¤rte der
Schreiber mit einem Blick ìber die Brille hinweg und bl¤tterte ein paarmal
um.
"Die Untersuchung hat weiters ergeben, daŸ der obenerw¤hnte Karl
Zottmann allem Anscheine nach - nach eingetretenem Ableben - seiner
s¤mtlichen bei ihm getragenen Habseligkeiten, insbesondere seiner sub
faszikel ræmisch P gebrochen durch ›B¤h‹ beigeschlossenen doppelmanteligen
Taschenuhr" - der Schreiber hob die Uhr an der Kette in die Hæhe - "beraubt
wurde. Der eidesstattlichen Aussage des Silhubettenschnitzers Jaromir
Kw¡Ÿnitschka, verwaisten Sohnes des vor 17 Jahren verstorbenen
Hostienb¤ckers gleichen Namens: die Uhr im Bette seines inzwischen flìchtig
gegangenen Bruders Loisa gefunden und an den Altwarenh¤ndler und mehrfachen,
inzwischen aus dem Leben geschiedenen Realit¤tenbesitzer Aaron Wassertrum
gegen Inempfangnahme von Geldeswert ver¤uŸert zu haben, konnte mangels
Glaubwìrdigkeit kein Gewicht beigelegt werden.
Die Untersuchung hat weiters ergeben, daŸ die Leiche des erw¤hnten Karl
Zottmann in der rìckw¤rtigen Hosentasche zur Zeit ihrer Auffindung ein
Notizbuch bei sich trug, in der sie vermutlich bereits einige Tage vor
erfolgtem Ableben mehrere den Tatbestand erhellende und die Ergreifung des
T¤ters durch die k. k. Behærden erleichternde Eintragungen vorgenommen
hatte.
Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge
auf den nunmehr durch die Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend
verd¤chtig gewordenen Loisa Kw¡Ÿnitschka, zurzeit flìchtig, gelenkt und
unter einem verfìgt, die Untersuchungshaft gegen Athanasius Pernath,
Gemmenschneider, dermalen noch unbescholten, aufzuheben, und das Verfahren
gegen ihn einzustellen.
Prag im Juli
gezeichnet
Dr. Freiherr von Leisetreter."
Der Boden schwankte unter meinen FìŸen, und ich verlor eine Minute das
BewuŸtsein.
Als ich erwachte, saŸ ich auf einem Stuhl, und der Gefangenw¤rter
klopfte mir freundlich auf die Schulter.
Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich
und sagte zu mir:
"Die Verlesung der Verfìgung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr
Name mit einem ›P¤h‹ beginnt und naturgem¤Ÿ im Alphabet erst gegen SchluŸ
vorkommen kann." - Dann las er weiter:
"œberdies ist der Athanasius Pernath, Gemmenschneider, in Kenntnis zu
setzen, daŸ ihm laut testamentarischer Verfìgung des im Mai mit Tod
abgegangenen stud. med. Innocenz Charousek ein Drittel von dessen gesamter
Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und ist er zur Unterfertigung des
Protokolls hiermit anzuhalten."
Der Schreiber hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing
an zu schmieren.
Ich erwartete gewohnheitsm¤Ÿig, daŸ er meckern wìrde, aber er meckerte
nicht.
"Innocenz Charousek", murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.
Der Gefangenw¤rter beugte sich ìber mich und flìsterte mir ins Ohr:
"Kurz vor seinem Tode war er bei mir, der Herr Dr. Charousek, und hat
sich nach Ihnen erkundigt. Er l¤Ÿt Sie viel-vielmals grìŸen, hat er g'sagt.
Ich hab's natìrlich damals nicht ausrichten dìrfen. Es ist streng verboten.
Ein schreckliches Ende hat er ìbrigens genommen, der Herr Dr. Charousek. Er
hat sich selbst entleibt. Man hat ihn tot auf dem Grabhìgel des Aaron
Wassertrum, auf der Brust liegend, gefunden. - Er hat zwei tiefe Læcher in
die Erde gegraben gehabt, sich die Pulsadern aufgeschnitten und dann die
Arme in die Læcher gesteckt. So ist er verblutet. Er ist wahrscheinlich
wahnsinnig gewesen, der Herr Dr. Char - - -"
Der Schreiber schob ger¤uschvoll seinen Stuhl zurìck und reichte mir
die Feder zum Unterschreiben.
Dann richtete er sich stolz auf und sagte genau im Tonfall seines
freiherrlichen Vorgesetzten:
"Gefangenw¤rter, fìhren Sie den Mann hinaus."
Wie vor langer, langer Zeit hatte wiederum der Mann mit S¤bel und
Unterhosen im Torzimmer seine Kaffeemìhle vom SchoŸ genommen; nur daŸ er
mich diesmal nicht untersuchte und mir meine Edelsteine, das Portemonnaie
mit den zehn Gulden darin, meinen Mantel und alles ìbrige zurìckgab. - - -
Dann stand ich auf der StraŸe.
"Mirjam! Mirjam! Jetzt endlich naht das Widersehen!" - Ich unterdrìckte
einen Schrei wildesten Entzìckens.
Es muŸte Mitternacht sein. Der Vollmond schwebte glanzlos wie ein
fahler Messingteller hinter Dunstschleiern.
Das Pflaster war mit einer z¤hen Schicht von Schmutz bedeckt.
Ich wankte auf eine Droschke zu, die im Nebel aussah wie ein
zusammengebrochenes vorsintflutliches Ungeheuer. Meine Beine versagten fast
den Dienst; ich hatte das Gehen verlernt und taumelte - auf empfindungslosen
Sohlen wie ein Rìckenmarkskranker. - -
"Kutscher, fahren Sie mich, so rasch Sie kænnen, in die HahnpaŸgasse 7!
- Haben Sie mich verstanden?: - HahnpaŸgasse 7."
Nach wenigen Metern Fahrt blieb die Droschke stehn.
"HahnpaŸgass¤, gn¤' Herr?"
"Ja, ja, nur rasch."
Wieder fuhr der Wagen ein Stìck weiter. Wieder blieb er stehen.
"Um Himmels willen, was gibt's denn?"
"HahnpaŸgass¤ì, gn¤' Herr?"
"Ja, ja. Ja doch."
"In die HahnpaŸgass¤ kann me doch nicht fahrr¤hn!"
"Warum denn nicht?"
"Ise sich doch ieberall Pflaste aufgrissen, Judenstadt wirde sich doch
assaniert."
"Also fahren Sie eben, soweit Sie kænnen, aber jetzt rasch gef¤lligst."
Die Droschke machte einen einzigen Galoppsprung und stolperte dann
gem¤chlich weiter.
Ich lieŸ die klapprigen Fenster herunter und sog mit gierigen Lungen
die Nachtluft ein.
Alles war mir so fremd geworden, so unbegreiflich neu: die H¤user, die
StraŸen, die geschlossenen L¤den. Ein weiŸer Hund trabte einsam und
miŸgelaunt auf dem nassen Trottoir vorìber. Ich sah ihm nach. - Wie
sonderbar!! Ein Hund! Ich hatte ganz vergessen, daŸ es solche Tiere gab. -
Vor Freude kindisch rief ich ihm nach: "Aber, aber! Wie kann man nur so
verdrossen sein." - - -
Was Hillel wohl sagen wìrde!? - Und Mirjam?
Nur noch wenige Minuten und ich war bei ihnen. Nicht eher wollte ich
aufhæren, an ihre Tìr zu klopfen, bis ich sie aus den Federn getrieben.
Jetzt war ja alles gut - all der Jammer dieses Jahres vorìber! -
Wìrde das ein Weihnachten werden!
Diesmal durfte ich es nicht verschlafen, wie das letztemal.
Einen Augenblick lahmte mich wieder das alte Entsetzen: die Worte des
Str¤flings mit der Raubtierschnauze fielen mir ein. Das verbrannte Gesicht -
der Lustmord - aber nein, nein! - Ich schìttelte es gewaltsam ab: nein,
nein, es konnte, es konnte nicht sein. - Mirjam lebte! Ich hatte doch ihre
Stimme aus Laponders Mund gehært.
Nur noch eine Minute - eine halbe - - und dann -
Die Droschke hielt vor einem Trìmmerhaufen. Barrikaden aus
Pflastersteinen ìberall!
Rote Laternen brannten darauf.
Beim Schein von Fackeln grub und schaufelte ein Heer von Arbeitern.
Halden von Schutt und Mauerbrocken versperrten den Weg. Ich kletterte
umher, versank bis ans Knie.
Das hier, das muŸte doch die HahnpaŸgasse sein?!
Mìhsam orientierte ich mich. Nichts als Ruinen ringsum.
Stand denn da nicht das Haus, in dem ich gewohnt hatte?
Die Vorderseite war eingerissen.
Ich kletterte auf einen Erdhìgel; tief unter mir lief ein schwarzer,
gemauerter Gang die ehemalige Gasse entlang. Ich schaute empor: wie riesige
Bienenzellen hingen die bloŸgelegten Wohnr¤ume nebeneinander in der Luft,
halb vom Fackelschein, halb von dem trìben Mondlicht beschienen.
Das dort oben, das muŸte mein Zimmer sein - ich erkannte es an der
Bemalung der W¤nde.
Nur noch ein Streifen davon war ìbrig.
Und daranstoŸend das Atelier - Saviolis. Mir wurde plætzlich ganz leer
im Herzen. Wie seltsam! Das Atelier! - Angelina! - - So weit, so unabsehbar
fern lag das alles hinter mir!
Ich drehte mich um: von dem Haus, in dem Wassertrum gewohnt, kein Stein
mehr auf dem andern. Alles dem Erdboden gleichgemacht: der Trædlerladen, die
Kellerwohnung Charouseks - - - alles, alles.
"Der Mensch geht dahin wie ein Schatten" - fiel mir ein Satz ein, den
ich einmal irgendwo gelesen.
Ich fragte einen Arbeiter, ob er nicht wisse, wo die Leute jetzt
wohnten, die hier ausgezogen seien; ob er vielleicht den Archivar Schemajah
Hillel kenne.
"Nix daitsch", war die Antwort.
Ich schenkte dem Mann einen Gulden: er verstand zwar sofort deutsch,
konnte mir aber keine Auskunft geben.
Auch von seinen Kameraden niemand.
Vielleicht, daŸ beim "Loisitschek" etwas zu erfahren w¤re?
Der "Loisitschek" sei gesperrt, hieŸ es, das Haus wìrde renoviert.
Also irgend jemand in der Nachbarschaft wecken! - Ging das nicht?
"Weit a breit wohnt sich keine Katz," sagte der Arbeiter; "weil ise
beh¤rdlich verbotten. Von w¤gen Typhus."
"Der ›Ungelt‹? Der wird doch offen haben?"
"Ungelt ise sich geschlossen."
"Bestimmt?"
"Bestimmt!"
Aufs Geratewohl nannte ich ein paar Namen von Hæcklern und
Tabaktrafikantinnen, die in der N¤he gewohnt hatten; dann die Namen Zwakh,
Vrieslander, Prokop - -
Bei allen schìttelte der Mann den Kopf.
"Vielleicht kennen Sie den Jaromir Kw¡Ÿnitschka?"
Der Arbeiter horchte auf.
"Jaromir? Ise sich taubstumm?"
Ich jubelte. Gott sei Dank. Wenigstens ein Bekannter.
"Ja, er ist taubstumm. Wo wohnt er?"
"Schneid 'e sich Bildeln aus? Aus schwarzem Pappjir?"
"Ja. Er ist es schon. Wo kann ich ihn wohl treffen?"
So umst¤ndlich wie mæglich bezeichnete mir der Mann ein Nachtcaf©haus
in der inneren Stadt und fing sofort wieder an zu schaufeln.
œber eine Stunde lang watete ich durch Schuttfelder, balancierte ìber
schwankende Bretter und kroch unter Querbalken durch, die die StraŸen
versperrten. Das ganze Judenviertel war eine einzige Steinwìste, als h¤tte
ein Erdbeben die Stadt zerstært.
Atemlos vor Aufregung, schmutzbedeckt und mit zerrissenen Schuhen fand
ich mich endlich aus dem Labyrinth heraus.
Ein paar H¤userreihen, und ich stand vor der gesuchten Spelunke.
"Cafe Chaos" stand darìber geschrieben.
Ein menschenleeres, winziges Lokal, das kaum genìgend Platz lieŸ fìr
die paar Tische, die an die W¤nde gerìckt waren.
In der Mitte auf einem dreibeinigen Billard schlief ein Kellner und
schnarchte.
Ein Marktweib, mit einem Gemìsekorb vor sich, saŸ in der Ecke und
nickte ìber einem Glase Caj.
Endlich geruhte der Kellner aufzustehen und mich zu fragen, was ich
wìnschte. Bei dem frechen Blick, mit dem er mich vom Kopf bis zu FuŸ
musterte, kam mir erst zum BewuŸtsem, wie abgerissen ich aussehen muŸte.
Ich warf einen Blick in den Spiegel und entsetzte mich: ein fremdes,
blutleeres Gesicht, faltig, grau wie Kitt, mit struppigem Bart und wirrem,
langem Haar starrte mir entgegen.
Ob der Silhouettenschneider Jaromir nicht dagewesen sei, fragte ich und
bestellte schwarzen Kaffee.
"WoaŸ net, wo er so lang bleibt", war die geg¤hnte Antwort.
Dann legte sich der Kellner wieder auf das Billard und schlief weiter.
Ich nahm das "Prager Tagblatt" von der Wand und - wartete.
Die Buchstaben liefen wie Ameisen ìber die Seiten, und ich begriff
nicht ein einziges Wort von dem, was ich las.
Die Stunden vergingen, und hinter den Scheiben zeigte sich bereits das
verd¤chtige tiefe Dunkelblau, das den Einbruch der Morgend¤mmerung fìr ein
Lokal mit Gasbeleuchtung anzeigt.
Hie und da sp¤hten ein paar Schutzleute mit grìnlich schillernden
Federbìschen herein und gingen in langsamem, schwerem Schritt wieder weiter.
Drei ìbern¤chtig aussehende Soldaten traten ein.
Ein StraŸenkehrer nahm einen Schnaps.
Endlich, endlich: Jaromir.
Er hatte sich so ver¤ndert, daŸ ich ihn anfangs gar nicht
wiedererkannte: die Augen erloschen, die Vorderz¤hne ausgefallen, das Haar
schìtter und tiefe Hæhlen hinter den Ohren.
Ich war so froh, nach so langer Zeit wieder ein bekanntes Gesicht zu
sehen, daŸ ich aufsprang, ihm entgegenging und seine Hand faŸte.
Er benahm sich auŸerordentlich scheu und blickte immerw¤hrend nach der
Tìre. Durch alle mæglichen Gesten suchte ich ihm begreiflich zu machen, daŸ
ich mich freute, ihn getroffen zu haben. - Er schien es mir lange nicht zu
glauben.
Aber, was fìr Fragen ich auch stellte, stets die gleiche hilflose
Handbewegung des Nichtverstehens bei ihm.
Wie konnte ich mich nur verst¤ndlich machen?!
Halt! Eine Idee!
Ich lieŸ mir einen Bleistift geben und zeichnete nacheinander die
Gesichter von Zwakh, Vrieslander und Prokop auf.
"Was? Alle nicht mehr in Prag?"
Er fuchtelte lebhaft in der Luft herum, machte die Geb¤rde des
Geldz¤hlens, marschierte mit den Fingern ìber den Tisch, schlug sich auf den
Handrìcken. Ich erriet: alle drei hatten wahrscheinlich von Charousek Geld
bekommen und zogen jetzt als kaufm¤nnische Kompagnie mit dem vergræŸerten
Marionettentheater durch die Welt.
"Und Hillel? Wo wohnt er jetzt?" - Ich zeichnete sein Gesicht, ein Haus
dazu und ein Fragezeichen.
Das Fragezeichen verstand Jaromir nicht; - er konnte nicht lesen, aber
er begriff, was ich wollte, - nahm ein Streichholz, warf es scheinbar in die
Hæhe und lieŸ es nach Taschenspielerart geschickt verschwinden.
Was bedeutete das? Hillel sollte auch verreist sein?
Ich zeichnete das jìdische Rathaus auf.
Der Taubstumme schìttelte heftig den Kopf.
"Hillel ist also nicht mehr dort?"
"Nein!" (Kopfschìtteln.)
"Wo ist er denn?"
Wieder das Spiel mit dem Streichholz.
"Er meint halt, daŸ der Herr weg ist, und niem'd weiŸ nicht, wohin",
mischte sich der StraŸenkehrer, der uns die ganze Zeit ìber interessiert
zugesehen hatte, belehrend ein.
Vor Schreck krampfte sich mir das Herz zusammen: Hillel fort! - Jetzt
war ich ganz allein auf der Welt. - - Die Gegenst¤nde im Zimmer fingen vor
meinen Augen an zu flimmern.
"Und Mirjam?"
Meine Hand zitterte so stark, daŸ ich ihr Gesicht lange nicht ¤hnlich
zeichnen konnte.
"Ist Mirjam auch verschwunden?"
"Ja. Auch verschwunden. Spurlos."
Ich stæhnte laut auf, lief im Zimmer hin und her, daŸ die drei Soldaten
einander fragend anblickten.
Jaromir suchte mich zu beruhigen und bemìhte sich, mir noch etwas
anderes mitzuteilen, was er erfahren zu haben schien: er legte den Kopf auf
den Arm, wie jemand, der schl¤ft.
Ich hielt mich an der Tischplatte: "Um Gottes Christi willen, Mirjam
ist gestorben?"
Kopfschìtteln. Jaromir wiederholte die Geb¤rde des Schlafens.
"War Mirjam krank gewesen?" Ich zeichnete eine Medizinflasche.
Kopfschìtteln. Wieder legte Jaromir die Stirn auf den Arm. - - -
Das Zwielicht kam, eine Gasflamme nach der andern erlosch und noch
immer konnte ich nicht herausbringen, was die Geste bedeuten sollte.
Ich gab es auf. Dachte nach.
Das einzige, was mir zu tun blieb, war, in aller Frìhe auf das jìdische
Rathaus zu gehen, um dort Erkundigungen einzuziehen, wohin Hillel mit Mirjam
gereist sein kænne.
Ich muŸte ihm nach. - - -
Wortlos saŸ ich neben Jaromir. Stumm und taub wie er.
Als ich nach einer langen Zeit aufblickte, sah ich, daŸ er mit einer
Schere an einer Silhouette herumschnitt.
Ich erkannte das Profil Rosinas. Er reichte mir das Blatt ìber den
Tisch herìber, legte die Hand auf die Augen und - weinte still vor sich hin.
- -
Dann sprang er plætzlich auf und taumelte ohne GruŸ zur Tìr hinaus.
Der Archivar Schemajah Hillel sei eines Tages ohne Grund ausgeblieben
und nicht mehr wiedergekommen; seine Tochter habe er jedenfalls mitgenommen,
denn auch sie sei von niemand mehr gesehen worden seit jener Zeit, hatte man
mir auf dem jìdischen Rathaus gesagt. Das war alles, was ich erfahren
konnte.
Keine Spur, wohin sie sich gewandt haben mochten.
Auf der Bank hieŸ es, mein Geld sei gerichtlich immer noch mit Beschlag
belegt, man erwarte aber t¤glich den Bescheid, es mir auszahlen zu dìrfen.
Also auch die Erbschaft Charouseks muŸte noch den Amtsweg gehen, und
ich wartete doch mit brennender Ungeduld auf das Geld, um dann alles
aufzubieten, Hillels und Mirjams Spur zu suchen.
Ich hatte meine Edelsteine verkauft, die ich noch in der Tasche gehabt,
und mir zwei kleine, mæblierte, aneinanderstoŸende Dachkammern in der
Altschulgasse - die einzige Gasse, die von der Assanierung der Judenstadt
verschont geblieben, - gemietet.
Sonderbarer Zufall: es war dasselbe wohlbekannte Haus, von dem die Sage
ging, der Golem sei einst darin verschwunden.
Ich hatte mich bei den Bewohnern - zumeist kleine Kaufleute oder
Handwerker - erkundigt, was denn Wahres an dem Gerìcht von dem "Zimmer ohne
Zugang" sei, und war ausgelacht worden. - Wie man einen derartigen Unsinn
denn glauben kænne!
Meine eigenen Erlebnisse, die sich darauf bezogen, hatten im Gef¤ngnis
die Bl¤sse eines l¤ngst verwehten Traumbildes angenommen und ich sah in
ihnen nur noch Symbole ohne Blut und Leben, - strich sie aus dem Buch meiner
Erinnerungen.
Die Worte Laponders, die ich zuweilen so klar in mir hærte, als s¤Ÿe er
mir gegenìber wie damals in der Zelle und spr¤che zu mir, best¤rkten mich
darin, daŸ ich rein innerlich geschaut haben mìsse, was mir ehedem greifbare
Wirklichkeit geschienen.
War denn nicht alles vergangen und verschwunden, was ich einst besessen
hatte? Das Buch Ibbur, das phantastische Tarockspiel, Angelina und sogar
meine alten Freunde Zwakh, Vrieslander und Prokop! - - -
Es war Weihnachtsabend, und ich hatte mir einen kleinen Baum mit roten
Kerzen nach Hause gebracht. Ich wollte noch einmal jung sein und
Lichterglanz um mich haben und den Duft von Tannennadeln und brennendem
Wachs.
Ehe das Jahr noch zu Ende ging, war ich vielleicht schon unterwegs und
suchte in St¤dten und Dærfern, oder wohin es mich innerlich ziehen wìrde,
nach Hillel und Mirjam.
Alle Ungeduld, alles Warten war allm¤hlich von mir gewichen und alle
Furcht, Mirjam kænne ermordet worden sein, und mit dem Herzen wuŸte ich, ich
wìrde sie beide finden.
Es war ein best¤ndiges glìckliches L¤cheln in mir, und wenn ich meine
Hand auf etwas legte, kam mir's vor, als ginge ein Heilen von ihr aus. Die
Zufriedenheit eines Menschen, der nach langer Wanderung heimkehrt und die
Tìrme seiner Vaterstadt von weitem blinken sieht, erfìllte mich auf ganz
sonderbare Weise.
Einmal war ich noch in dem kleinen Kaffeehaus gewesen, um Jaromir zum
Weihnachtsabend zu mir zu holen. - Er habe sich nie mehr blicken lassen,
erfuhr ich, und schon wollte ich betrìbt wieder gehen, da kam ein alter
Tabulettkr¤mer herein und bot kleine, wertlose Antiquit¤ten zum Kauf an.
Ich kramte in seinem Kasten unter all den Uhranh¤ngseln, kleinen
Kruzifixen, Kammnadeln und Broschen herum, da fiel mir ein Herz aus rotem
Stein an einem verschossenen Seidenbande in die Hand, und ich erkannte es
voll Erstaunen als das Andenken, das mir Angelina, als sie noch ein kleines
M¤dchen gewesen, einst beim Springbrunnen in ihrem SchloŸ geschenkt hatte.
Und mit einem Schlag stand meine Jugendzeit vor mir, als s¤he ich in
einen Guckkasten tief hinein in ein kindlich gemaltes Bild. -
Lange, lange stand ich erschìttert da und starrte auf das kleine, rote
Herz in meiner Hand. - - -
Ich saŸ in der Dachkammer und lauschte dem Knistern der Tannennadeln,
wenn hie und da ein kleiner Zweig ìber den Wachskerzen zu glimmen begann.
"Vielleicht spielt gerade jetzt in dieser Stunde der alte Zwakh
irgendwo in der Welt seinen ›Marionettenweihnachtsabend‹", malte ich mir
aus, - "und deklamiert mit geheimnisvoller Stimme die Strophe seines
Lieblingsdichters Oskar Wiener":
Wo ist das Herz aus rotem Stein?
Es h¤ngt an einem Seidenbande.
O du, o gib das Herz nicht her;
Ich war ihm treu und hatt' es lieb,
Und diente sieben Jahre schwer
Um dieses Herz, und hatt' es lieb!"
Eigentìmlich feierlich wurde mir plætzlich zumute.
Die Kerzen waren heruntergebrannt. Nur eine einzige flackerte noch.
Rauch ballte sich im Zimmer.
Als ob mich eine Hand zæge, wandte ich mich plætzlich um und:
Da stand mein Ebenbild auf der Schwelle. Mein Doppelg¤nger. In einem
weiŸen Mantel. Eine Krone auf dem Kopf.
Nur einen Augenblick.
Dann brachen Flammen durch das Holz der Tìr, und eine Wolke
erstickenden heiŸen Qualms schlug herein:
Feuersbrunst im Haus! Feuer! Feuer!
Ich reiŸe das Fenster auf. Klettere auf das Dach hinaus.
Von weitem rast schon das gellende Klingeln der Feuerwehr heran.
Blitzende Helme und abgehackte Kommandorufe.
Dann das gespenstische, rhythmische, schlapfende Atmen der Pumpen, wie
die D¤monen des Wassers sich ducken zum Sprung auf ihren Todfeind: das
Feuer.
Glas klirrt und rote Lohe schieŸt aus allen Fenstern.
Matratzen werden hinuntergeworfen, die ganze StraŸe liegt voll davon,
Menschen springen nach, werden verwundet weggetragen.
In mir aber jauchzt etwas auf in wilder jubelnder Ekstase; ich weiŸ
nicht warum. Das Haar str¤ubt sich mir.
Ich laufe auf den Schornstein zu, um nicht versengt zu werden, denn die
Flammen greifen nach mir.
Das Seil eines Rauchfangkehrers ist herumgewickelt.
Ich rolle es auf, schlinge es um Handgelenk und Bein, wie ich es als
Knabe beim Turnen gelernt habe, und lasse mich ruhig an der Fassade des
Hauses hinab. -
Komme an einem Fenster vorbei. Blicke hinein:
Drin ist alles blendend erleuchtet.
Und da sehe ich - - - da sehe ich - - - mein ganzer Kærper wird ein
einziger hallender Freudenschrei:
"Hillel! Mirjam! Hillel!"
Ich will auf die Gitterst¤be losspringen.
Greife daneben. Verliere den Halt am Seil.
Einen Augenblick h¤nge ich, Kopf abw¤rts, die Beine gekreuzt, zwischen
Himmel und Erde.
Das Seil singt bei dem Ruck. Knirschend dehnen sich die Fasern.
Ich falle.
Mein BewuŸtsein erlischt.
Noch im Sturz greife ich nach dem Fenstersims, aber ich gleite ab. Kein
Halt:
der Stein ist glatt.
Glatt wie ein Stìck Fett.
"- - - wie ein Stìck fett!"
Das ist der Stein, der aussieht wie ein Stìck Fett.
Die Worte gellen mir noch in den Ohren. Dann richte ich mich auf und
muŸ mich besinnen, wo ich bin.
Ich liege im Bett und wohne im Hotel.
Ich heiŸe doch gar nicht Pernath.
Habe ich das alles nur getr¤umt?
Nein! So tr¤umt man nicht.
Ich schaue auf die Uhr: kaum eine Stunde habe ich geschlafen. Es ist
halb drei.
Und dort h¤ngt der fremde Hut, den ich heute im Dom auf dem Hradschin
verwechselt habe, als ich beim Hochamt auf der Betbank saŸ.
Steht ein Name darin?
Ich nehme ihn und lese in goldenen Buchstaben auf dem weiŸen
Seidenfutter den fremden und doch so bekannten Namen:
Jetzt l¤Ÿt es mir keine Ruhe mehr; ich ziehe mich hastig an und laufe
die Treppe hinunter.
"Portier! Aufmachen! Ich gehe noch eine Stunde spazieren."
"Wohin, bitt sch¤n?"
"In die Judenstadt. In die HahnpaŸgasse. Gibt's ìberhaupt eine StraŸe,
die so heiŸt?"
"Freilich, freilich" - der Portier l¤chelt malitiæs - "aber in der
Judenstadt, ich mache aufmerksam: ist nicht mehr viel los. Alles neu gebaut,
bitte."
"Macht nichts. Wo liegt die HahnpaŸgasse?"
Der dicke Finger des Portiers deutet auf die Karte: "Hier, bitte."
"Und die Schenke ›Zum Loisitschek‹?"
"Hier, bitte."
"Geben Sie mir ein groŸes Stìck Papier."
"Hier, bitte."
Ich wickle Pernaths Hut hinein. Merkwìrdig: er ist fast neu, tadellos
sauber und doch so brìchig, als w¤re er uralt. -
Unterwegs ìberlege ich:
Alles, was dieser Athanasius Pernath erlebt hat, habe ich im Traum
miterlebt, in einer Nacht mitgesehen, mitgehært, mitgefìhlt, als w¤re ich er
gewesen. Warum weiŸ ich denn aber nicht, was er in dem Augenblick, als der
Strick riŸ und er "Hillel, Hillel!" rief, hinter dem Gitterfenster erblickt
hat?
Er hat sich in diesem Augenblick von mir getrennt, begreife ich.
Ich muŸ diesen Athanasius Pernath auffinden, und wenn ich drei Tage und
drei N¤chte herumlaufen sollte, nehme ich mir vor. - - -
Also das ist die HahnpaŸgasse?
Nicht ann¤hernd so habe ich sie im Traum gesehen! -
Lauter neue H¤user.
Eine Minute sp¤ter sitze ich im Caf© Loisitschek. Ein stilloses,
ziemlich sauberes Lokal.
Im Hintergrund allerdings eine Estrade mit Holzgel¤nder; eine gewisse
„hnlichkeit mit dem alten getr¤umten "Loisitschek" ist nicht zu leugnen.
"Befehlen, bitt' schæn?", fragt die Kellnerin, ein dralles M¤del, in
einen rotsamtenen Frack buchst¤blich hineingeknallt.
"Kognak, Fr¤ulein. - So, danke."
"- Hm. Fr¤ulein!"
"Bitte?"
"Wem gehært das Kaffeehaus?"
"Dem Herrn Kommerzialrat Loisitschek. - Das ganze Haus gehært ihm. Ein
sehr feiner reicher Herr."
- Aha, der Kerl mit den Schweinsz¤hnen an der Uhrkette! erinnere ich
mich. -
Ich habe einen guten Einfall, der mich orientieren wird:
"Fr¤ulein!"
"Bitte?"
"Wann ist die steinerne Brìcke eingestìrzt?"
"Vor dreiunddreiŸig Jahren."
"Hm. Vor dreiunddreiŸig Jahren!" - ich ìberlege: der Gemmenschneider
Pernath muŸ also jetzt fast neunzig sein.
"Fr¤ulein!"
"Bitte?"
"Ist hier niemand unter den G¤sten, der sich noch erinnern kann, wie
die alte Judenstadt von damals ausgesehen hat? Ich bin Schriftsteller und
interessiere mich dafìr."
Die Kellnerin denkt nach: "Von den G¤sten? Nein. - Aber warten S': der
Billardmarqueur, der dort mit einem Studenten Carambol spielt, - sehen Sie
ihn? Der mit der Hakennase, der Alte, - der hat immer hier gelebt und wird
Ihnen alles sagen. Soll ich ihn rufen, wenn er fertig ist?"
Ich folgte dem Blick des M¤dchens:
Ein schlanker, weiŸhaariger, alter Mann lehnt drìben am Spiegel und
kreidet seine Queue. Ein verwìstetes, aber seltsam vornehmes Gesicht. Woran
erinnert er mich nur?
"Fr¤ulein, wie heiŸt der Marqueur?"
Die Kellnerin stìtzt sich im Stehen mit dem Ellenbogen auf den Tisch,
leckt an einem Bleistift, schreibt in Windeseile ihren Vornamen unz¤hlige
Male auf die Marmorplatte und læscht ihn jedesmal mit nassem Finger rasch
wieder aus. Dazwischen wirft sie mir mehr oder minder sengende Glutblicke
zu; - je nachdem sie ihr gelingen. Unerl¤Ÿlich ist natìrlich das
gleichzeitige Emporziehen der Augenbrauen, denn es erhæht das M¤rchenhafte
des Blickes.
"Fr¤ulein, wie heiŸt der Marqueur?", wiederhole ich meine Frage. Ich
sehe ihr an, sie h¤tte lieber gehært: Fr¤ulein, warum tragen Sie nicht nur
einen Frack? oder etwas „hnliches, aber ich frage es nicht; mir geht mein
Traum zu sehr im Kopf herum.
"No, wie wird er denn heiŸen," schmollt sie, "Ferri heiŸt er halt.
Ferri Athenst¤dt."
"So so? Ferri Athenst¤dt! - Hm, - also wieder ein alter Bekannter."
"Erz¤hlen Sie mir doch recht, recht viel von ihm, Fr¤ulein," girre ich,
muŸ mich aber sofort mit einem Kognak st¤rken, "Sie plaudern gar so herzig!"
(Ich ekle mich vor mir selber.)
Sie neigt sich geheimnisvoll dicht zu mir, damit mich ihre Haare im
Gesicht kitzeln, und flìstert:
"Der Ferri, der war Ihnen frìher ein ganz ein Geriebener. - Er soll von
uraltem Adel gewesen sein - es ist natìrlich nur so ein Gerede, weil er
keinen Bart nicht tr¤gt - und furchtbar viel Geld g'habt habn. Eine
rothaarige Jìdin, die schon von Jugend auf eine ›Person‹ war" - sie schrieb
wieder rasch ein paarmal ihren Namen auf - "hat ihn dann ganz ausgezogen. -
Punkto Geld mein' ich natìrlich. No, und wie er dann kein Geld nicht mehr
gehabt hat, ist sie weg und hat sich von einem hohen Herrn heiraten lassen:
von dem ..." - sie flìsterte mir einen Namen ins Ohr, den ich nicht
verstehe. "Der hohe Herr hat dann natìrlich auf alle Ehre verzichten mìssen
und sich von da an nur mehr Ritter von D¤mmerich nennen dìrfen. No ja. Aber
daŸ sie frìher eine ›Person‹ g'wesen ist, hat er ihr halt doch nicht
wegwaschen kænnen. Ich sag immer -."
"Fritzi! Zahlen!" ruft jemand von der Estrade herab. -
Ich lasse meine Blicke durch das Lokal wandern, da hære ich plætzlich
ein leises metallisches Zirpen, wie von einer Grille, hinter mir.
Ich drehe mich neugierig um. Traue meinen Augen nicht:
Das Gesicht zur Wand gekehrt, alt wie Methusalem, eine Spieldose, so
klein wie eine Zigarettenschachtel, in zitternden Skeletth¤nden sitzt ganz
in sich zusammengesunken - der blinde, greise Nephtali Schaffranek in der
Ecke und leiert mit der winzigen Kurbel.
Ich trete zu ihm.
Im Flìsterton singt er konfus vor sich hin:
"Frau Pick,
Frau Hock.
Und rote, blaue Stern
die schmusen allerhand.
Von Messinung, an R¤ucherl und Rohn."
"Wissen Sie, wie der alte Mann heiŸt?" frage ich einen vorbeieilenden
Kellner.
"Nein, mein Herr, niemand kennt weder ihn noch seinen Namen. Er selbst
hat ihn vergessen. Er ist ganz allein auf der Welt. Bitte, er ist 110 Jahre
alt! Er kriegt bei uns jede Nacht einen sogenannten Gnadenkaffee."
Ich beugte mich ìber den Greis, - rufe ihm ein Wort ins Ohr:
"Schaffranek!"
Es durchf¤hrt ihn wie ein Blitz. Er murmelt etwas, streicht sich
sinnend ìber die Stirn.
"Verstehen Sie mich, Herr Schaffranek?"
Er nickt.
"Passen Sie mal gut auf! Ich mæchte Sie etwas fragen, aus alter Zeit.
Wenn Sie mir alles gut beantworten, bekommen Sie den Gulden, den ich hier
auf den Tisch lege."
"Gulden", wiederholt der Greis und f¤ngt sofort an, wie ein Rasender
auf seiner zirpenden Spieldose zu kurbeln.
Ich halte seine Hand fest: "Denken Sie einmal nach! - Haben Sie nicht
vor etwa 33 Jahren einen Gemmenschneider namens Pernath gekannt?"
"Hadrbolletz! Hosenschneider!" - lallt er asthmatisch auf und lacht
ìbers ganze Gesicht, in der Meinung, ich h¤tte ihm einen famosen Witz
erz¤hlt.
"Nein, nicht Hadrbolletz: - - Pernath!"
"Pereles?!" - er jubelt færmlich.
"Nein, auch nicht Pereies. - Per-nath!"
"Pascheies?!" - er kr¤ht vor Freude. - -
Ich gebe entt¤uscht meinen Versuch auf.
"Sie wollten mich sprechen, mein Herr?", - der Marqueur Ferri
Athenst¤dt steht vor mir und verbeugt sich kìhl.
"Ja. Ganz richtig. - Wir kænnen dabei eine Partie Billard spielen."
"Spielen Sie um Geld, mein Herr? Ich gebe Ihnen 90 auf 100 vor."
"Also gut: um einen Gulden. Fangen Sie vielleicht an, Marqueur."
Seine Durchlaucht nimmt das Queue, zielt, gickst, macht ein ¤rgerliches
Gesicht. Ich kenne das: er l¤Ÿt mich bis 9 kommen, und dann macht er in
einer Serie "aus".
Mir wird immer kurioser zumute. Ich gehe direkt auf mein Ziel los:
"Entsinnen Sie sich, Herr Marqueur: vor langer Zeit, etwa in den
Jahren, als die steinerne Brìcke einstìrzte, in der damaligen Judenstadt
einen gewissen - Athanasius Pernath gekannt zu haben?"
Ein Mann in einer rotweiŸgestreiften Leinwandjacke, mit Schielaugen und
kleinen goldenen Ohrringen, der auf einer Bank an der Wand sitzt und eine
Zeitung liest, f¤hrt auf, stiert mich an und bekreuzigt sich.
"Pernath? Pernath?" wiederholt der Marqueur und denkt angestrengt nach
- "Pernath? - War er nicht groŸ, schlank? Braunes Haar, melierten
kurzgeschnittenen Spitzbart?"
"Ja. Ganz richtig."
"Etwa vierzig Jahre alt damals? Er sah aus wie --", Seine Durchlaucht
starrt mich plætzlich ìberrascht an. - "Sie sind ein Verwandter von ihm,
mein Herr?!"
Der Schiel¤ugige bekreuzigt sich.
"Ich? Ein Verwandter? Komische Idee. - Nein. Ich interessiere mich nur
fìr ihn. Wissen Sie noch mehr?", sage ich gelassen, fìhle aber, daŸ mir
eiskalt im Herzen wird.
Ferri Athenst¤dt denkt wieder nach.
"Wenn ich nicht irre, galt er seinerzeit fìr verrìckt. - Einmal
behauptete er, er hieŸe - warten Sie mal, - ja: Laponder! Und dann wieder
gab er sich fìr einen gewissen - Charousek aus."
"Kein Wort wahr!" f¤hrt der Schiel¤ugige dazwischen. "Den Charousek
hat's wirklich gegeben. Mein Vater hat doch mehrere 1000 fl von ihm geerbt."
"Wer ist dieser Mann?", fragte ich den Marqueur halblaut.
"Er ist F¤hrmann und heiŸt Tschamrda. - Was den Pernath betrifft, so
erinnere ich mich nur, oder glaube es wenigstens - daŸ er in sp¤teren Jahren
eine sehr schæne, dunkelh¤utige Jìdin geheiratet hat."
"Mirjam!" sage ich mir und werde so aufgeregt, daŸ mir die H¤nde
zittern und ich nicht mehr weiterspielen kann.
Der F¤hrmann bekreuzigt sich.
"Ja, was ist denn heute mit Ihnen los, Herr Tschamrda?", fragt der
Marqueur erstaunt.
"Der Pernath hat niemals nicht gelebt", schreit der Schiel¤ugige los.
"Ich glaub's nicht."
Ich schenke dem Mann sofort einen Kognak ein, damit er gespr¤chiger
wird.
"Es gibt ja wohl Leut', die sagen, der Pernath lebt noch immer", rìckt
der F¤hrmann endlich heraus, "er is, hær ich. Kammschneider und wohnt auf
dem Hradschin."
"Wo auf dem Hradschin?"
Der F¤hrmann bekreuzigt sich:
"Das ist es ja eben! Er wohnt, wo kein lebender Mensch wohnen kann: an
der Mauer zur letzten Latern."
"Kennen Sie sein Haus, Herr - Herr - Tschamrda?"
"Nicht um die Welt mæcht ich dort hinaufgehen!", protestiert der
Schiel¤ugige. "Wofìr halten Sie mich? Jesus, Maria und Josef!"
"Aber den Weg hinauf kænnten Sie mir doch von weitem zeigen, Herr
Tschamrda?"
"Das schon", brummte der F¤hrmann. "Wenn Sie warten wollen bis 6 Uhr
frìh; dann geh ich zur Moldau hinunter. Aber ich rat Ihnen ab! Sie stìrzen
in den Hirschgraben und brechen Hals und Knochen! Heilige Muttergottes!"
Wir gehen zusammen durch den Morgen; frischer Wind weht vom Flusse her.
Ich fìhle vor Erwartung kaum den Boden unter mir.
Plætzlich taucht das Haus in der Altschulgasse vor mir auf.
Jedes Fenster erkenne ich wieder: die geschweifte Dachrinne, das
Gitter, die fettig gl¤nzenden Steinsimse - alles, alles!
"Wann ist dieses Haus abgebrannt?", frage ich den Schiel¤ugigen. Es
braust mir in den Ohren vor Spannung.
"Abgebrannt? Niemals nicht!"
"Doch! Ich weiŸ es bestimmt."
"Nein."
"Aber ich weiŸ es doch! Wollen Sie wetten?"
"Wieviel?"
"Einen Gulden."
"Gemacht!" - Und Tschamrda holt den Hausmeister heraus. "Ist dieses
Haus jemals abgebrannt?"
"I woher denn!" Der Mann lacht. -
Ich kann und kann es nicht glauben.
"Schon siebzig Jahr' wohn ich drin," beteuert der Hausmeister, "ich
mìŸt's doch wahrhaftig wissen."
- - - Sonderbar, sonderbar! - - -
Der F¤hrmann rudert mich in seinem Kahn, der aus acht ungehobelten
Brettern besteht, mit komischen schiefen Zuckbewegungen ìber die Moldau. Die
gelben Wasser sch¤umen gegen das Holz. Die D¤cher des Hradschins glitzern
rot in der Morgensonne. Ein unbeschreiblich feierliches Gefìhl ergreift
Besitz von mir. Ein leise d¤mmerndes Gefìhl wie aus einem frìheren Dasein,
als sei die Welt um mich her verzaubert - eine traumhafte Erkenntnis, als
lebte ich zuweilen an mehreren Orten zugleich.
Ich steige aus.
"Wieviel bin ich schuldig, Herr Tschamrda?"
"Einen Kreuzer. Wenn Sie mitg'holfen h¤tten rudern, - h¤tt's zwei
Kreuzer 'kost."
Denselben Weg, den ich heute nacht im Schlaf schon einmal gegangen,
wandere ich wieder empor: die kleine, einsame SchloŸstiege. Mir klopft das
Herz und ich weiŸ voraus: jetzt kommt der kahle Baum, dessen „ste ìber die
Mauer herìbergreifen.
Nein: er ist mit weiŸen Blìten bes¤t.
Die Luft ist voll von sìŸem Fliederhauch.
Zu meinen FìŸen liegt die Stadt im ersten Licht wie eine Vision der
VerheiŸung.
Kein Laut. Nur Duft und Glanz.
Mit geschlossenen Augen kænnte ich mich hinauffinden in die kleine,
kuriose Alchimistengasse, so vertraut ist mir plætzlich jeder Schritt.
Aber, wo heute nacht das Holzgitter vor dem weiŸschimmemden Haus
gestanden hat, schlieŸt jetzt ein prachtvolles, gebauchtes, vergoldetes
Gitter die Gasse ab.
Zwei Eibenb¤ume ragen aus blìhendem, niederem Gestr¤uch und flankieren
das Eingangstor der Mauer, die hinter dem Gitter entlang l¤uft.
Ich strecke mich, um ìber das Strauchwerk hinìberzusehen, und bin
geblendet von neuer Pracht:
Die Gartenmauer ist ganz mit Mosaik bedeckt. Tìrkisblau mit goldenen,
eigenartig gemuschelten Fresken, die den Kult des ¤gyptischen Gottes Osiris
darstellen.
Das Flìgeltor ist der Gott selbst: ein Hermaphrodit aus zwei H¤lften,
die die Tìre bilden, - die rechte weiblich, die linke m¤nnlich. - Er sitzt
auf einem kostbaren, flachen Thron aus Perlmutter - im Halbrelief - und sein
goldener Kopf ist der eines Hasen. Die Ohren sind in die Hæhe gestellt und
dicht aneinander, daŸ sie aussehen wie die beiden Seiten eines
aufgeschlagenen Buches. -
Es riecht nach Tau, und Hyazinthenduft weht ìber die Mauer herìber. - -
-
Lange stehe ich wie versteinert da und staune. Mir wird, als tr¤te eine
fremde Welt vor mich, und ein alter G¤rtner oder Diener mit silbernen
Schnallenschuhen, Jabot und sonderbar zugeschnittenem Rock kommt von links
hinter dem Gitter auf mich zu und fragt mich durch die St¤be, was ich
wìnsche.
Ich reiche ihm stumm den eingewickelten Hut Athanasius Pernaths hinein.
Er nimmt ihn und geht durch das Flìgeltor.
Als es sich æffnet, sehe ich dahinter ein tempelartiges, marmornes Haus
und auf seinen Stufen:
und an ihn gelehnt:
und beide schauen hinab in die Stadt.
Einen Augenblick wendet sich Mirjam um, erblickt mich, l¤chelt und
flìstert Athanasius Pernath etwas zu.
Ich bin gebannt von ihrer Schænheit.
Sie ist so jung, wie ich sie heut nacht im Traum gesehen.
Athanasius Pernath dreht sich langsam zu mir, und mein Herz bleibt
stehen:
Mir ist, als s¤he ich mich im Spiegel, so ¤hnlich ist sein Gesicht dem
meinigen.
Dann fallen die Flìgel des Tores zu, und ich erkenne nur noch den
schimmernden Hermaphroditen.
Der alte Diener gibt mir meinen Hut und sagt - ich hære seine Stimme
wie aus den Tiefen der Erde -:
"Herr Athanasius Pernath l¤Ÿt verbindlichst danken und bittet, ihn
nicht fìr ungastfreundlich zu halten, daŸ er Sie nicht einl¤dt, in den
Garten zu kommen, aber es ist strenges Hausgesetz so von alters her.
Ihren Hut, soll ich ausrichten, habe er nicht aufgesetzt, da ihm die
Verwechslung sofort aufgefallen sei.
Er wolle nur hoffen, daŸ der seinige Ihnen keine Kopfschmerzen
verursacht habe."
Last-modified: Tue, 21 Jan 2003 08:55:12 GMT