ächtersgattin. Das Glücksrad surrte. Fabian ging weiнter. "Hippodrom und
Tanz" stand über einem großen Zelt. 20 Pfennig Entree. Er ging hinein.
Das Lokal bestand aus zwei Kreisen. Der eine war  überhöht, wie ein Pfahlbau
stand er  im Zelt, dort  oben  wurde  getanzt.  In  der Mitte saß eine
Blechkapelle und spielte, als hätten die Musiker miteinander Streit  gehabt.
Die Mädchen lehnten am Geländer. Die jungen  Männer griffen zu.  Man  machte
keine Umstände. Der andere Kreis war eine Sandmanege, in der, zu den Klängen
der  Kapelle, drei ausrangierte Gäule vor sich hintrabten.  Sie  wurden  von
einem  zylinнdergeschmückten  Stallmeister,  der  die  Peitsche schwang  und
wiederholt "Terrab!" schrie, vom Einschlafen  abgeнhalten. Auf einem kleinen
einäugigen Schimmel saß eine  Frau im  Herrensitz.  Der  Rock war hoch
über  die Knie  gerutscht. Sie trabte deutsch und lachte, sooft sie auf  den
Sattel fiel.
     Fabian  setzte sich neben die Manege und  trank ein Bier.  Die Reiterin
zog  jedesmal,  wenn  sie   an  ihm   vorbeikam,  den  Rock  herunter.   Die
Beschäftigung war sinnlos. Der Rock rutschte immer wieder  hoch. Als sie zum
vierten  Male  Fabians Tisch  passierte, lächelte sie  ein bißchen und
ließ  den Rock oben. In der  fünften Runde blieb der Schimmel  vor dem
Tisch stehen  und  glotzte mit  dem blinden Auge ins  Bierglas.  "Da  gibt's
keinen Zucker", sagte die Frau und sah Fabian ins Gesicht. Der Stallmeiнster
knallte mit der Peitsche, und der kleine Schimmel schob weiter. Kaum war die
Frau vom  Pferd  gestiegen,  setzte sie sich  betont  unabsichtlich  an  den
Nebentisch,  schräg vor  Fabian,  so daß  er ihre körperlichen Vorzüge
nicht übersehen  konnte.  Sein  Blick  blieb auf  der Figur  haften,  und da
erwachte  sein Schmerz  aus  der  Narkose. Wo  war  Cornelia?  War  ihr  die
Umarmung, in  der  sie jetzt  lag,  zuwider? Empfand  sie,  während er  hier
saß, in einem  fremden  Bett Vergnügen? Er sprang auf. Der Stuhl  fiel
um. Die Frau am Nebentisch blickte ihm wieder ins Gesicht, ihre Augen wurden
groß, der Mund krümmte und öffnete sich leicht, die  Zungenspitze fuhr
feucht an der Oberlippe entlang.
     "Kommen Sie mit?" fragte er unwillig. Sie kam mit, und sie gingen, ohne
viel zu reden, ins "Theater". Das war eine elende Bretterbaracke. "Auftreten
der    renommierten    Rheingoldsänger.    Rauchen    erlaubt.    Zu     den
Abendvorнstellungen haben Kinder  keinen  Anspruch auf Sitzplätze." Die Bude
war  halbvoll.  Die  Zuschauer  hatten die Hüte auf, rauchten Zigaretten und
ließen  sich im Dunkel von der unüberbietbar albernen  und  verlogenen
Romantik, die  ihnen  für  dreißig Pfennige  vorgesetzt  wurde, bis zu
Tränen rühren. Sie hatten mehr Mitleid mit dem  verнkitschten Kulissenzauber
als mit ihrer eigenen Not.
     Fabian legte den Arm um  die fremde  Frau. Sie schmiegte sich  dicht an
ihn und atmete schwer,  damit  er es höre. Das  Stück war  tieftraurig.  Ein
flotter Student - Direktor Blasemann, grauhaarig und über fünfzig Jahre alt,
spielte  die  Rolle persönlich - kam jeden Morgen betrunken nach Hause.  Das
lag an dem verdammten Sekt. Er sang Studenнtenlieder, bestellte einen sauren
Hering,  wurde  von der  Portiersfrau abgekanzelt und schenkte  einer  alten
gichtkranken Hofsängerin,  daß  sie das Singen  lasse,  seinen letzten
Taler.
     Doch  das Schicksal schritt, so schnell es konnte. Die alte Hofsängerin
war  - wer hätte sie  sonst sein sollen? - niemand anders als die Mutter des
fünfzigjährigen Stuнdenten! Zwölf Jahre hatte er sie nicht gesehen,  erhielt
allmonatlich  Geld  von  ihr  und  glaubte,  sie sei noch immer, wie  einst,
Hofopernsängerin. Natürlich erkannнte  er sie nicht. Aber  Mutteraugen sehen
schärfer, sie wußte  sofort:  der oder keiner. Jedoch,  die Zuspitzung
des Dramas verzögerte  sich.  Eine Liebesaffäre  brach  herein.  Der Student
liebte und  wurde geliebt, letzteres  geschah  durch Fräulein  Martin,  jene
bildhübsche  Näheнrin,  die gegenüber  wohnte,  die Nähmaschine trat und wie
eine Lerche sang. Ellen Martin, die singende  Lerнche, wog gut zwei Zentner.
Sie  hüpfte,  daß  sich die  Bühne bog, aus der  Kulisse und  sang mit
Direktor   Blaнsemann,   dem    Studenten,   Couplets.   Der    Anfang   des
erнfolgreichsten Duetts lautete:

     "Schatzi du, ach Schatzi mein,
     sollst mein ein und alles sein!"

     Das junge Paar, das zusammen an die hundert  Lenze zählen mochte, schob
sich wuchtig auf dem Hof, den die Szene darstellen sollte, hin und her; dann
versprach er ihr die Ehe, sie  aber wurde traurig, weil er alte  Sängerinnen
vom Hofe zu treiben pflege. Dann sangen sie das nächste Couplet.
     Die Leute klatschten Beifall. Die Frau, um die Fabian seine Hand liegen
hatte, machte eine  leichte  Drehung, sie gab ihm  die Brust. "Ach,  ist das
schön", sagte sie. Vermutlich meinte sie das Stück.
     Im  Zuschauerraum  herrschte  wieder  feierliche   Stille.   Die  alte,
gebeugte, gichtkranke Hofsängerin, die den Sohn  Medizin studieren und einem
feudalen Korps angehören ließ, wackelte aus der Kulisse, erreichte den
Hof  mit Müh und  Not, hob  den Zeigefinger, der Pianist geнhorchte, und ein
rührseliges Mutterlied war im Entsteнhen begriffen.
     "Gehen  wir", sagte Fabian und ließ den Büstenhalter der  fremden
Frau los.
     "Schon?" fragte sie erstaunt, aber sie folgte ihm.
     "Hier  wohne  ich", erklärte  sie  vor  einem großen  Haus in der
Müllerstraße. Sie schloß auf. Er sagte: "Ich komme mit hinauf."
     Sie sträubte sich,  es klang nicht überzeugend.  Er drückte  sie in den
Hausflur. "Was werden  bloß  meine  Wirtsleute sagen?  Nein, sind  Sie
stürmisch. Aber recht leise, ja?"
     An der Tür stand: Hetzer.
     "Wieso sind zwei Betten in deinem Zimmer?" fragte er.
     "Pst, man kann uns hören",  flüsterte sie. "Die Wirtsleute haben keinen
Platz zum Abstellen."
     Er  zog sich  aus. "Mach nicht so  viel Umstände", sagte er. Sie schien
Koketterie für unerläßlich zu  halten  und zierte sich  wie eine späte
Jungfrau. Schließlich lagen sie nebenнeinander. Sie löschte das Licht,
und erst jetzt entkleidete  sie sich völlig. "Einen Moment",  flüsterte sie,
"nicht böse  sein." Sie knipste eine Taschenlampe an, breitete ein Tuch über
sein Gesicht  und untersuchte ihn  im Schein  der Taschenlampe wie ein alter
Kassenarzt. "Entschuldigen Sie, man kann heutzutage  nicht  vorsichtig genug
sein", erklärte sie anschließend. Und nun stand nichts mehr im Wege.
     "Ich bin Verkäuferin in einem Handschuhgeschäft", beнrichtete sie etwas
später. "Willst du bis morgen früh bleiben?" fragte sie nach  einer weiteren
halben Stunde.  Er nickte.  Sie verschwand  in der Küche, er hörte,  wie sie
spülte.  Sie  brachte  warmes   Seifenwasser,  wusch  ihn  sorgнfältig,  mit
hausfraulichem Eifer, und stieg wieder  ins Bett. "Stört es deine Wirtsleute
nicht, wenn du in der  Küche Wasser wärmst?" fragte er. "Laß das Licht
brennen!"
     Sie  erzählte  belanglose Dinge,  fragte,  wo er  wohne, und nannte ihn
"Schatz". Er musterte die Zimmereinrichtung. Außer den Betten war noch
ein  leidenschaftlich  geнschwungenes   Plüschsofa  anwesend,   ferner   ein
Waschtisch  mit Marmorplatte, ein scheußlicher Farbendruck,  woнselbst
eine  junge mollige Frau, im Nachthemd auf einem  Eisbärenfell hockend,  mit
einem  rosigen Baby  spielte,  und  ein Schrank  mit  einem  Türspiegel, der
schlecht funktioнnierte. "Wo ist  Cornelia?" dachte er und  fiel wieder über
die nackte, erschrockene Verkäuferin her.
     "Man sollte Angst vor dir haben", flüsterte sie danach. "Willst du mich
umbringen? Aber  es ist wunderbar."  Sie  kniete sich neben ihn, betrachtete
aus geweiteten Augen sein gleichgültiges Gesicht und küßte ihn.
     Als sie  todmüde eingeschlafen  war, lag er noch  immer wach, allein in
einem fremden  Zimmer, blickte angeнspannt ins Dunkel und dachte: "Cornelia,
was haben wir getan?"


     SIEBZEHNTES KAPITEL

     <i>Kalbsleber, aber ohne Flechsen</i>
     <i>Er sagt ihr die Meinung</i>
     <i>Ein Reisender verliert die Geduld</i>

     "Ich habe  gelogen", sagte die Frau am  anderen  Morgen. "Ich gehe  gar
nicht  ins Gesch&auml;ft. Und die Wohnung geh&ouml;rt  mir. Und wir sind  ganz allein.
Komm in die K&uuml;che."
     Sie go&szlig; Kaffee ein, strich Br&ouml;tchen, klopfte ihm z&auml;rtlich auf die
Wange, band  die  Sch&uuml;rze  ab und setzte  sich  zu  ihm an den  K&uuml;chentisch.
"Schmeckt's?"  fragte  sie  munter, obwohl  er nicht  a&szlig;.  "Bla&szlig;
siehst du aus, Schatz. Es ist aber auch kein Wunder. Greif t&uuml;chtig zu, damit
du wieder gro&szlig;  und  stark  wirst."  Sie  legte  ihren  Kopf  an seine
Schulter und spitzte wie ein Backfisch die Lippen.
     "Du  hattest Angst, ich k&ouml;nnte dir das Sofa stehlen oder dir den  Bauch
aufschlitzen?"  fragte Fabian.  "Und  wie komнmen die zwei  Betten  in  dein
Schlafzimmer?"
     "Ich   bin   verheiratet",   sagte  sie.  "Mein  Mann  reist  f&uuml;r  eine
Trikotagenfirma. Augenblicklich ist er  im Rheinland.  Dann  f&auml;hrt  er  nach
W&uuml;rttemberg. Er ist mindestens noch zehn Tage unterwegs. Willst du  so lange
bleiben?"
     Er trank Kaffee  und gab keine Antwort. "Ich brauche wen", erkl&auml;rte sie
heftig, als h&auml;tte ihr jemand widersprochen.
     "Nie ist er da, und wenn er da ist,  lohnt sich's auch nicht. Bleib die
zehn Tage bei mir. Mach dir's bequem. Ich koche gut. Geld habe ich auch. Was
willst  du  heute  mittag  essen?" Sie  begann  zu wirtschaften  und blickte
&auml;ngstlich  zu ihm hin.  "I&szlig;t du gern  Kalbsleber  mit  Bratkartoffeln?
Warum antwortest du denn gar nicht?"
     "Habt ihr Telefon?" fragte er.
     "Nein", sagte sie. "Willst du fort? Bleib doch. Es war so sch&ouml;n. Es war
so  sch&ouml;n wie noch nie." Sie  trocknete sich  die H&auml;nde und fuhr streichelnd
&uuml;ber sein Haar.
     "Ich bleibe  ja",  meinte  er.  "Aber ich mu&szlig;  telefonieren." Sie
sagte, telefonieren k&ouml;nne man beim Fleischer Rarisch,  und ob er ein  halbes
Pfund frische Kalbsleber  mitbringen wolle, ohne Flechsen. Dann gab sie  ihm
Geld,  &ouml;ffnete  vorsichtig die  Vorsaalt&uuml;r,  und weil die Treppe  leer  war,
durfte er aus der Wohnung.
     "Ein halbes Pfund frische Kalbsleber, aber ohne Flechнsen", sagte er im
Fleischerladen. Dann rief er,  w&auml;hrend  man ihn  bediente, Zacharias an. Das
Telefon war fettig. "Nein", erkl&auml;rte Zacharias, "mir ist nichts eingefallen.
Aber  ich  gebe die Hoffnung nicht auf, das w&auml;re doch  gelacht, mein Lieber.
Wissen  Sie was,  kommen Sie  morнgen wieder mal  vorbei.  Es geht  manchmal
schnell.  Schlimmstenfalls  plaudern  wir ein  bi&szlig;chen.  Ist  es Ihnen
recht? Wiedersehen."

     Fabian  nahm die Kalbsleber  in Empfang. Das Papier blutete. Er  zahlte
und  trug  das Fleischpaket  vorsichtig  ins Haus. Weil  die  Nachbarin  die
T&uuml;rklinke  putzte,  stieg  er  bis zur  vierten  Etage hinauf.  Nach einigen
Minuten  kam  er   wieder  herunter.   Die  Frau,  mit   der  er  die  Nacht
zusamнmengewesen war, &ouml;ffnete, ohne  da&szlig;  er zu klingeln brauchte, und
zog ihn in die Wohnung.
     "Gott sei  Dank", fl&uuml;sterte  sie. "Ich  dachte schon, die  Klatschtante
w&uuml;rde  uns  erwischen. Setz dich ins Wohnнzimmer, Schatz. Willst du  Zeitung
lesen? Ich r&auml;ume inzwischen auf."
     Er legte das Geld, das er zur&uuml;ckbekommen  hatte, auf den Tisch,  setzte
sich  ins Wohnzimmer  und las  die  Zeitung.  Er h&ouml;rte die Frau singen. Nach
einer Weile brachte sie ihm Zigaretten und Kirschwasser und blickte ihm &uuml;ber
die Schulter.  "Um eins  wird gegessen", sagte  sie. "Hoffentlich  f&uuml;hlst du
dich recht behaglich."
     Dann verschwand sie wieder und sang drau&szlig;en weiter. Er
     las  den  Polizeibericht  &uuml;ber  den  Krawall  in  der   Reinickendorfer
Stra&szlig;e. Der Wachtmeister, der den Messerstich erhalten  hatte,  war im
Krankenhaus  gestorben.  Von  den Demonstranten  waren drei  schwer verletzt
worden.  Einiнge  andere  hatte man  verhaftet.  Die Redaktion  schrieb  von
unverantwortlichen   Elementen,   welche   die  Arbeitslosen   immer  wieder
aufzuwiegeln  versuchten, und von der  bedeutenden Aufgabe,  die der Polizei
zufalle.  Es gehe  nicht an, obwohl  es von gewissen Kreisen ununterbroнchen
versucht  werde, den Etat  f&uuml;r die Schutzpolizei zu senken. Vorkommnisse wie
das gestrige  f&uuml;hrten, hie&szlig; es, so recht  vor  Augen, wie notwendig es
sei, prophylaktisch zu denken und zu handeln.
     Fabian sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die M&ouml;bel waren, wo sich dazu
die  Gelegenheit  bot,   verschn&ouml;rkelt.   Auf   dem   Vertiko  standen  drei
Leitzordner. Auf dem Tisch prangte ein bunter Glasteller,  der schlug Wellen
und enthielt Ansichtskarten. Fabian nahm  die oberste Karte. Sie zeigte  den
K&ouml;lner Dom, und er dachte an das  Zigaretнtenplakat. "Liebe Mucki",  las er,
"geht's  dir gut,  und reicht  das  Geld?  Ich  habe ganz  h&uuml;bsche  Auftr&auml;ge
gemacht, morgen geht's  nach D&uuml;sseldorf. Gru&szlig; und Ku&szlig;, Kurt." Er
legte die Karte auf den Teller zur&uuml;ck und trank ein Glas Kirschwasser.
     Mittags a&szlig; er, um Mucki nicht zu verstimmen, den Teller leer. Sie
war froh dar&uuml;ber, als habe ein  Hund den Napf saubergefressen. Hinterher gab
es Kaffee.
     "Willst du mir gar nichts von dir erz&auml;hlen, Schatz?" fragte sie.
     "Nein", sagte er und ging ins Wohnzimmer. Sie  lief  hinter ihm her. Er
stand am Fenster.
     "Komm aufs Sofa", bat sie. "Man k&ouml;nnte dich sehen. Und sei nicht b&ouml;se."
     Er  setzte sich  aufs Sofa.  Sie brachte  den Kaffee herein, nahm neben
Fabian Platz und kn&ouml;pfte die Bluse auf.
     "Jetzt  kommt   der   Nachtisch",   sagte   sie.  "Aber  nicht   wieder
bei&szlig;en."
     Gegen drei Uhr ging er.
     "Wirst du auch bestimmt wiederkommen?" Sie stand vor ihm, brachte ihren
Rock und die Str&uuml;mpfe in Ordnung und sah ihn bittend an. "Schw&ouml;re, da&szlig;
du wiederнkommst."
     "Wahrscheinlich komme ich", sagte er. "Versprechen kann ich es nicht."
     "Ich warte mit dem Abendbrot", erkl&auml;rte sie, dann &ouml;ffnete sie die T&uuml;r.
     "Rasch!" fl&uuml;sterte sie. "Die Luft ist rein."
     Er sprang die Treppe  hinunter.  "Die Luft ist  rein",  dachte  er  und
empfand Abscheu vor dem Haus, das er verlie&szlig;. Er fuhr zum Gro&szlig;en
Stern,  durchquerte den Tiergarten bis zum  Brandenburger  Tor, verlor  sich
wieder  in   den  Anlagen,  die  Rhododendren  bl&uuml;hten.  Er  geriet  in  die
Siegesallee. Die Dynastie  der Hohenzollern und der Bildhauer Begas schienen
unverw&uuml;stlich.
     Vor dem Caf&eacute; Schottenhaml machte Fabian kehrt. Was lie&szlig; sich hier
noch  besprechen  ? Es  war zu sp&auml;t zum Reden. Er  ging weiter, kam  auf die
Potsdamer Stra&szlig;e, stand unentschlossen  auf  dem Potsdamer Platz, lief
die Bellevuestra&szlig;e hinauf und befand  sich  wieder  vor dem  Caf&eacute;. Und
jetzt trat er ein.
     Cornelia sa&szlig; da, als warte sie seit Jahren, und winkte ein wenig.
     Er setzte sich. Sie nahm  seine Hand. "Ich glaubte  nicht, da&szlig; du
k&auml;mst", sagte  sie sch&uuml;chtern.  Er schwieg  und sah  an  ihr vorbei. "Es war
nicht recht von mir, nicht wahr?" fl&uuml;sterte  sie und senkte den Kopf. Tr&auml;nen
fielen in ihren  Kaffee. Sie schob die Tasse beiseite und trocknete sich die
Augen.
     Er  blickte  vom Tisch fort. Die W&auml;nde zwischen  den zwei Treppen, die,
barock  gedrechselt,  in das  Obergescho&szlig;  f&uuml;hrten, waren  mit  vielen
bunten  Papageien und  Kolibris  bev&ouml;lkert. Die V&ouml;gel  waren  aus Glas.  Sie
hockten  auf  gl&auml;sernen Lianen  und  Zweigen und warteten auf den Abend  und
seine Lampen, damit der zerbrechliche Urнwald zu leuchten beginne.
     Cornelia fl&uuml;sterte: "Warum siehst du mich  nicht an?" Dann pre&szlig;te
sie das Taschentuch  vor den Mund. Und ihr  Weinen  klang, als  wimmere weit
entfernt ein verzweifeltes Kind. Das Lokal  war leer. Die G&auml;ste  sa&szlig;en
drau&szlig;en  vor  dem Haus,  unter gro&szlig;en  roten Schirmen.  Nur  ein
Kellner  stand  in der N&auml;he, Fabian  blickte  ihr  ins  Gesicht. Ihre  Augen
zitterten vor  Aufregung. "Sprich  endlich ein Wort", sagte sie  mit  rauher
Stimme. Sein Mund war ausgetrocknet. Die Kehle war zusammengepre&szlig;t. Er
schluckte m&uuml;hsam.
     "Sprich  ein  Wort",  wiederholte  sie ganz leise und  faltete  auf dem
Tischtuch, zwischen dem Nickelgeschirr, die H&auml;nde.
     Er a&szlig; und schwieg.
     "Was soll blo&szlig; aus mir werden?" fl&uuml;sterte sie, als spreche sie zu
sich  selber und er  sei  gar nicht mehr da. "Was  soll blo&szlig;  aus  mir
werden?"
     "Eine  ungl&uuml;ckliche  Frau,  der  es  gutgeht", sagte  er viel  zu laut.
"&Uuml;berrascht  dich  das?  Kamst  du  nicht deswegen  nach  Berlin?  Hier wird
getauscht. Wer haben will, mu&szlig; hingeben, was er hat."
     Er wartete eine Weile, doch sie schwieg. Sie nahm die Puderdose aus der
Tasche, lie&szlig; sie dann aber unge&ouml;ffnet liegen. Er  hatte sich wieder in
der  Gewalt.  Sein  leicht erm&uuml;dbares  Gef&uuml;hl gab Ruhe und  wich dem  Drang,
Ordnung zu  schaffen. Er blickte auf  das,  was  geschehen war, wie  auf ein
verw&uuml;stetes Zimmer,  und begann, kalt  und kleinlich, aufzur&auml;umen. "Du kamst
mit Absichten  hierher, die sich rascher erf&uuml;llt haben, als zu hoffen stand.
Du hast  einen einflu&szlig;reichen  Menschen gefunden, der dich finanziert.
Er  finanziert  dich  nicht nur,  er  gibt dir  eine berufliche Chance.  Ich
bezweifle nicht, da&szlig;  du Erfolg haben wirst.  Dadurch verdient er  das
Geld zur&uuml;ck, das er gewisserma&szlig;en  in dich hineingesteckt hat; dadurch
wirst du auch selber Geld verdienen und eines Tages sagen k&ouml;nnen: Mein Herr,
wir sind quitt."  Fabian  wunderte sich.  Er erschrak vor  sich  selber  und
dachte:  Es fehlt  nur, da&szlig; ich die Interpunktion mitspreche. Cornelia
betrachtete  ihn, als  sehe sie  ihn  zum  ersten Mal. Dann klappte  sie die
Puderdose auf, musterte sich in dem kleinen runden Spiegel und fuhr  mit der
wei&szlig;en  st&auml;ubenden  Quaste  &uuml;ber ihr verweintes,  kindlich  erstauntes
Geнsicht. Sie nickte, er m&ouml;ge fortfahren.
     "Was dann werden wird", sagte er, "was dann werden wird, wenn du Makart
nicht mehr brauchst, l&auml;&szlig;t sich nicht vorher sagen, es steht auch nicht
zur Debatte. Du wirst arbeiten,  und dann  bleibt von einer Frau  nicht viel
&uuml;brig.  Der  Erfolg  wird  sich  steigern, der  Ehrgeiz  wird  wachsen,  die
Absturzgefahr nimmt  zu, je h&ouml;her man  steigt. Wahrнscheinlich wird er nicht
der einzige  bleiben,  dem  du dich ausliefern wirst. Es findet  sich  immer
wieder ein Mann,  der einer Frau den  Weg versperrt  und mit  dem  sie  sich
langlegen mu&szlig;,  wenn sie  &uuml;ber  ihn  hinweg will.  Du wirst dich daran
gew&ouml;hnen, den Pr&auml;zedenzfall hast du ja seit gestern hinter dir."
     "Ich weine schon, und er schl&auml;gt mich noch", dachte sie verwundert.
     "Aber die  Zukunft  ist nicht  mein Thema", sagte  er und  machte  eine
abschlie&szlig;ende  Handbewegung, als  erdro&szlig;le  er den Gedanken. "Zu
besprechen  bleibt die  Vergangenнheit.  Du  fragtest gestern nicht,  als du
gingst.  Warum  interessiert  dich  nun  meine  Antwort?  Du  wu&szlig;test,
da&szlig; ich  dich  los sein wollte. Du wu&szlig;test, da&szlig; ich darauf
brannte,  eine Geliebte zu haben,  die in anderen  Betten das Geld verdient,
das ich nicht besitze. Wenn  du recht hattest, war ich ein Halunke. Wenn ich
kein Halunke war, war alles, was du tatest, falsch."
     "Es war alles falsch", sagte sie und stand auf. "Leb wohl, Fabian."
     Er folgte ihr und war mit sich sehr zufrieden. Er kr&auml;nkнte sie, weil er
ein Recht dazu hatte, aber war das ein Grund? Auf der Tiergartenstra&szlig;e
holte er sie ein. Sie gingen schweigend und taten sich und einander leid. Er
dachte noch: "Wenn sie jetzt fragt, soll ich zu dir zuнr&uuml;ckkommen, was werde
ich antworten? Ich habe noch sechsundf&uuml;nfzig Mark in der Tasche."
     "Es war so  schrecklich  gestern", sagte  sie  pl&ouml;tzlich.  "Er  war  so
widerw&auml;rtig! Was soll erst daraus werden, wenn du mich nicht mehr magst? Nun
brauchten  wir keine Sorgen zu haben, und  sie sind  gr&ouml;&szlig;er als zuvor.
Was fange ich an, wenn ich wei&szlig;, du willst mich nicht mehr sehen?"
     Er fa&szlig;te ihren  Arm. "Vor allem, nimm  dich zusammen. Das  Rezept
ist alt, aber brauchbar. Du hast dir den Kopf abgehackt, gib acht, da&szlig;
es  wenigstens  nicht  umнsonst war.  Und  entschuldige, da&szlig;  ich dich
vorhin so gekr&auml;nkt habe."
     "Ja, ja."  Sie war  noch traurig und schon wieder froh.  "Und darf  ich
morgen nachmittag zu dir kommen?"
     "Es ist gut", sagte er.
     Da  umarmte  sie  ihn  mitten auf  der Stra&szlig;e,  k&uuml;&szlig;te  ihn,
fl&uuml;sterte: "Ich danke dir", und rannte aufschluchzend davon.
     Er  blieb  stehen. Ein Spazierg&auml;nger rief: "Sie  k&ouml;nnen lachen!" Fabian
wischte  mit  der Hand  &uuml;ber den Mund und ekelte sich. Was hatten  Cornelias
Lippen  inzwiнschen  ber&uuml;hrt?  Half  es  ihm, da&szlig; sie  sich die  Z&auml;hne
geputzt hatte? War seinem Abscheu mit Hygiene beizuнkommen?
     Er &uuml;berschritt die Stra&szlig;e  und trat in den  Park.  Moral  war die
beste K&ouml;rperpflege. Wasserstoffsuperoxyd zum Gurgeln gen&uuml;gte nicht.
     Und erst jetzt fiel  ihm ein, wo er in  der vergangenen  Nacht  gewesen
war.
     Er wollte nicht  in die M&uuml;llerstra&szlig;e zur&uuml;ck. Aber der blo&szlig;e
Gedanke  an sein eigenes  Zimmer,  an  die  Neugier  der Witwe  Hohlfeld, an
Cornelias  leere  Stube,  an  die  ganze  einsame Nacht, die ihn  erwartete,
w&auml;hrend  ihn  Cornelia  zum  zweiten  Mal  betrog,  trieb   ihn   durch  die
Stra&szlig;en,  dem Norden zu,  in  die M&uuml;llerstra&szlig;e  hinein, in jenes
Haus und zu der Frau, die er nicht wiedersehen wollte. Sie strahlte. Sie war
stolz, da&szlig; er wiederkam, und froh, da&szlig; sie ihn wieder hatte. "So
ist's recht", sagte sie zur Begr&uuml;&szlig;ung. "Komm, du wirst Hunger haben."
     Sie hatte  im Wohnzimmer gedeckt. "Wir essen sonst in der K&uuml;che", sagte
sie. "Aber wozu hat man seine Dreiнzimmerwohnung?" Es gab Wurst und Schinken
und  Camembert. Pl&ouml;tzlich legte sie  Messer  und  Gabel  beiseite,  murmelte
"Hokuspokus!" und  brachte eine  Flasche Moнsel zum Vorschein.  Sie schenkte
ein und stie&szlig; mit ihm an.  "Auf unser Kind!" rief sie. "Wie du soll es
sein, und wenn's kein Junge wird, mu&szlig;t du strafexerzieren!"
     Sie  trank  das  Glas leer,  go&szlig;  wieder ein  und hatte gl&auml;nzende
Augen. "So ein  Gl&uuml;ck, da&szlig; ich dich traf", sagte sie und trank weiter.
"Wein regt mich schrecklich auf." Sie fiel ihm um den Hals.
     Da klapperten drau&szlig;en die Schl&uuml;ssel. Schritte kamen  den Korridor
entlang.  Die T&uuml;r ging  auf. Ein mittelgro&szlig;er,  untersetzter Mann trat
ins  Zimmer. Die Frau sprang auf. Sein Gesicht wurde  d&uuml;ster. "W&uuml;nsche guten
Appetit allerseits", sagte er und n&auml;herte sich der Frau.
     Sie schob sich r&uuml;ckw&auml;rts, und ehe er sie  erreicht hatte, ri&szlig; sie
die T&uuml;r zum Schlafzimmer auf, sprang hin&uuml;ber, schlug die T&uuml;r zu und riegelte
ab.
     Der Mann rief: "Du kriegst schon noch den Hintern voll!" Er drehte sich
zu Fabian herum, der sich verlegen erhoben hatte: "Behalten Sie bitte Platz.
Ich bin der Gatte."  Sie sa&szlig;en einander eine Weile gegen&uuml;ber, ohne  zu
sprechen.  Dann nahm der  Mann die Moselflasche  in  die  Hand,  betrachtete
umst&auml;ndlich das Etikett und schenkte sich ein Glas voll. Er trank und meinte
hinterher: "Die Z&uuml;ge sind
     um diese Zeit schrecklich &uuml;berf&uuml;llt."
     Fabian nickte zustimmend.
     "Aber der Wein ist gut. Hat er Ihnen geschmeckt?" fragte der Mann.
     "Ich mache  mir  nicht viel  aus  Wei&szlig;wein",  erkl&auml;rte Fabian und
stand auf.
     Der andere folgte ihm. "Sie wollen schon gehen?" fragte er.
     "Ich m&ouml;chte nicht l&auml;nger st&ouml;ren", erwiderte Fabian.
     Pl&ouml;tzlich  sprang ihm  der Reisende an  den Hals und w&uuml;rgte ihn. Fabian
gab ihm einen Faustschlag in die Z&auml;hne. Der Mann lie&szlig; los, setzte sich
und hielt die Backe.
     "Entschuldigen Sie vielmals", sagte Fabian betr&uuml;bt. Der Mann winkte ab,
spuckte rot ins Taschentuch und war vollauf mit sich besch&auml;ftigt.
     Fabian verlie&szlig; die Wohnung. Wo sollte er jetzt noch hingehen?  Er
fuhr nach Hause.


     ACHTZEHNTES KAPITEL

     <i>Er geht aus Verzweiflung nach Hause</i>
     <i>Was mag die Polizei wollen ?</i>
     <i>Ein trauriger Anblick</i>

     Obwohl  Fabian sehr leise aufschlo&szlig;, empfing ihn Frau Hohlfeld im
Korridor.  Sie   trug,  weil  es   Abend  war,   einen  Morgenrock  und  war
au&szlig;erordentlich aufgeregt. "Ich  habe  meine T&uuml;r offengelassen, um Sie
zu h&ouml;ren", sagte sie. "Die Kriminalpolizei war da. Man wollte Sie holen."
     "Die Kriminalpolizei?" fragte er &uuml;berrascht. "Wann war sie da?"
     "Vor  drei  Stunden  und vor  einer  Stunde  wieder.  Sie  sollen  sich
unverz&uuml;glich  melden.  Ich  habe  nat&uuml;rlich erz&auml;hlt,  da&szlig;  Sie  in der
vorigen  Nacht  nicht  zu  Hause  waren  und  da&szlig; Fr&auml;ulein  Battenberg
gestern,  ohne  ein Wort zu sagen, das Zimmer  ger&auml;umt  hat und verschwunden
ist."  Die Witwe wollte einen Schritt  n&auml;herkommen,  statt  dessen  trat sie
einen  Schritt zur&uuml;ck.  "Es ist  furchtbar", fl&uuml;sterte  sie ergriffen,  "was
haben Sie da angestellt?"
     "Liebe  Frau Hohlfeld", antwortete  er. "Ihre Phantasie hat die Motten.
Das m&ouml;chte  Ihnen passen, ein kleines Liebesнdrama mit letalem Ausgang, wie?
Frau Hohlfeld als Zeugin in Trauerkleidung, Ihre beiden Untermieter in allen
Zeitungen abgebildet, der M&ouml;rder Fabian auf der Anklagebank, bilden Sie sich
keine Schwachheiten ein!"
     "Nun", sagte sie, "mich  geht  es  ja  nichts  an." Seine Verstocktheit
kr&auml;nkte sie  tief. Zwei Jahre wohnte dieser Mensch bei  ihr, hatte  sie  ihn
nicht wie ihren Sohn gehegt und gepflegt? Und jetzt hielt er es nicht einmal
f&uuml;r n&ouml;tig, sein Herz auszusch&uuml;tten.
     "Wo soll ich mich melden?" fragte er.
     Sie gab ihm einen Zettel. Er las die Adresse.
     "Da  haben  wir's",  sagte  sie triumphierend.  "Warum sind Sie denn so
bla&szlig; geworden?"
     Er ri&szlig; die T&uuml;r auf und  jagte die Treppe hinunter.  Am N&uuml;rnberger
Platz hielt er ein Auto  an, nannte die Adresse und sagte:  "Fahren  Sie, so
schnell Sie k&ouml;nnen!"
     Der Wagen  war alt und gebrechlich und holperte  sogar auf dem Asphalt.
Fabian zerrte das Schiebefenster auf:
     "Fahren  Sie doch  schneller!" rief  er. Dann  versuchte er zu rauchen,
aber   seine  Hand  zitterte,  und  der  Wind   blies  ihm  die   brennenden
Streichh&ouml;lzer aus. Er lehnte sich zur&uuml;ck  und  schlo&szlig;  die Augen.  Von
Zeit  zu  Zeit  &ouml;ffnete  er  sie und  sah  nach,  wo sie waren.  Tiergarten,
Tiergarten,  Tiergarнten,  Brandenburger Tor.  Unter den  Linden.  An  jeder
Stra&szlig;enecke  mu&szlig;ten sie halten. An  jeder Verkehrsampel  gl&uuml;hte,
kurz bevor sie anlangten, das rote Licht auf. Ihm war, als  f&uuml;hren sie durch
z&auml;hen, dickfl&uuml;ssigen Leim. Hinter der Friedrichstra&szlig;e wurde es besser.
Universit&auml;t, Staatsoper, Dom und  Schlo&szlig; lagen endlich im  R&uuml;cken. Das
Auto bog rechts ein. Es hielt. Fabian zahlte und  lief gehetzt ins Haus. Ein
fremder  Mann &ouml;ffnete. Fabian  nannte  seinen  Namen. "Endlich",  sagte  der
fremde Mann.  "Ich bin Kriminalkommissar Donath. Wir kommen ohne  Sie  nicht
weiter."
     Im  ersten  Zimmer sa&szlig;en  f&uuml;nf junge  Damen,  ein Polizist  stand
dabei. Fabian erkannte die Selow und die  Bildhauerin. "Endlich",  sagte die
Selow. Das Zimmer war demoнliert, Gl&auml;ser und Flaschen lagen am Boden.
     Im n&auml;chsten Zimmer stand  ein junger Mann vom Schreibнtisch auf.  "Mein
Assistent", erkl&auml;rte der Kommissar. Fabian blickte sich um und erschrak. Auf
dem  Sofa lag Labude, kalkwei&szlig;, mit  geschlossenen Augen, Labude hatte
ein Loch in der Schl&auml;fe. Geronnenes Blut verklebte die Haare.
     "Stephan", sagte Fabian leise  und  setzte sich  neben  die  Leiche. Er
legte seine Hand auf die eisigen H&auml;nde des Freundes und sch&uuml;ttelte den Kopf.
     "Aber Stephan", sagte er, "das macht  man doch nicht." Die zwei Beamten
traten ans Fenster. "Doktor Labude  hat f&uuml;r  Sie  einen Brief hinterlassen",
berichtete  der Kommissar. "Wir  bitten Sie, den Brief zu lesen und uns &uuml;ber
den  Inhalt, soweit  es uns  interessiert, zu  unterrichten. Wir teilen Ihre
Vermutung,  da&szlig;  es sich um  einen  Selbstmord handelt,  und die  f&uuml;nf
jungen  Daнmen,  die wir  vorl&auml;ufig  in  der  Wohnung zur&uuml;ckbehalten  haben,
behaupten, im Nebenzimmer gewesen zu sein,  als der  Schu&szlig;  fiel. Aber
ganz  aufgekl&auml;rt scheint  der Vorfall  nicht. Sie werden vielleicht  bemerkt
haben, da&szlig; das Nebenzimmer demoliert worden ist. Was hat  es damit f&uuml;r
eine Bewandtnis?"
     Der  Kriminalassistent  reichte  Fabian  ein  Kuvert.  "Wollen  Sie  so
freundlich sein und den Brief lesen? Die Damen  behaupten, das Zimmer sei im
Laufe einer  privaten  Meiнnungsverschiedenheit in Unordnung geraten. Doktor
Laнbude  habe damit  nichts zu tun gehabt. Er sei nicht einmal dabeigewesen,
sondern habe gesagt, er wolle einen Brief schreiben,  und dann sei er in das
Zimmer hier gegangen."
     "Die  Damen stehen, wie  sich  aus Andeutungen entnehmen lie&szlig;, in
einigerma&szlig;en  ungew&ouml;hnlichen Beziehungen zueinander.  Ich vermute,  es
gab  eine  Art  von  Eiferнsuchtsszene   zwischen   ihnen",  erl&auml;uterte  der
Kommissar.   "Sie   haben,  und  auch  das  spricht   gegen   ihre  konkrete
Mitt&auml;terschaft,  sofort  die Polizei  verst&auml;ndigt  und  uns  hier  erwartet,
anstatt davonzulaufen.  Wollen Sie, bitte, den Brief lesen?"  Fabian &ouml;ffnete
das  Kuvert  und  nahm den  gefalteten  Briefbogen  heraus.  Dabei  fiel ein
Banknotenнb&uuml;ndel zur Erde. Der Assistent hob es auf und legte es aufs Sofa.
     "Wir  warten nebenan",  sagte  der  Kommissar r&uuml;cksichtsнvoll, und  sie
lie&szlig;en Fabian allein. Er  erhob sich  und  brannte das  Licht an. Dann
setzte er sich  wieder  und sah  auf  den  toten Freund, dessen  gelbes,  in
M&uuml;digkeit erfrorenes  Gesicht  genau unter der Lampe  lag. Der  Mund war ein
wenig  ge&ouml;ffnet,  der  Unterkiefer gab  nach. Fabian faltete den  Briefbogen
auseinander und las: "Lieber Jakob!
     Als  ich  heute  mittag  im  Institut  war, um  mich  wieder einmal  zu
erkundigen, war der Geheimrat  wieder einmal nicht da. Aber Weckherlin, sein
Assistent,  war  da,  und  er  sagte  mir,  meine  Habilitationsschrift  sei
abgelehnt   worнden.  Der   Geheimrat  habe   sie  als   v&ouml;llig   ungen&uuml;gend
chaнrakterisiert  und erkl&auml;rt, sie  der Fakult&auml;t weiterzugeben, halte er f&uuml;r
Bel&auml;stigung. Au&szlig;erdem habe es keinen Zweck, meine  Blamage popul&auml;r  zu
machen.  F&uuml;nf Jahre hat mich diese  Schrift gekostet, es war die f&uuml;nfj&auml;hrige
Arbeit  an einer Blamage, die man nur aus Barmherzigkeit  im engнsten Kreise
begraben will.
     Ich dachte daran, Dich anzurufen, aber ich sch&auml;mte  mich. Ich habe kein
Talent zum  Trostempf&auml;nger, auch hierin bin ich talentlos. Das Gespr&auml;ch &uuml;ber
Leda,  das wir  vor Tagen  miteinander  hatten,  &uuml;berzeugte mich  davon.  Du
h&auml;ttest mich &uuml;ber  die mikroskopische  Bedeutung  meines wissenнschaftlichen
Unfalls  aufgekl&auml;rt, ich h&auml;tte  Dir  zum  Schein  recht gegeben, wir  h&auml;tten
einander  belogen.   Die   Ablehnung  meiner  Arbeit   ist,   faktisch   und
psycholoнgisch,  mein  Ruin, vor allem psychologisch. Leda wies mich zur&uuml;ck,
die Universit&auml;t weist mich zur&uuml;ck,  von allen Seiten  erhalte ich die Zensur
Ungen&uuml;gend. Das h&auml;lt mein Ehrgeiz nicht aus, das bricht meinem Kopf das Herz
und meinem Herzen das Genick, Jakob. Mir hilft keine histoнrische Statistik,
wie viele  bedeutende  M&auml;nner  schlechte  Sch&uuml;ler und ungl&uuml;ckliche Liebhaber
waren.
     Mein  politischer  Ausflug nach  Frankfurt war auch  zum  Bespeien.  Am
Schlu&szlig; pr&uuml;gelten wir uns. Als ich gestern wiederkam, lag die Selow mit
der  Bildhauerin   in  meinem  Bett,  ein  paar  andere  Frauenzimmer  gaben
Hilfestellung.  Und  jetzt,  w&auml;hrend ich  schreibe, schmei&szlig;en  sie  im
Neнbenzimmer  mit  Gl&auml;sern  und  Blumenvasen.  Ich  kann,  wenn  ich  meinen
augenblicklichen Zustand betrachte, sagen: Die ganze Richtung pa&szlig;t mir
nicht! Aus den Bezirken, in die ich geh&ouml;re, wies man mich aus. Dort,  wo man
mich aufnehmen will, will ich nicht hin. Sei mir nicht b&ouml;se, mein Guter, ich
haue ab. Europa wird  auch ohne mich weiterleben oder zugrunde gehen, es hat
mich nicht n&ouml;tig. Wir  stecken in einer Zeit,  wo der &ouml;konomische  Kuhhandel
nichts  &auml;ndert,   er   wird  den   Zusammenbrach   nur  beschleunigen   oder
vergr&ouml;&szlig;ern.  Wir  stehen   an   einem  der  seltenen   geschichtlichen
Wendepunkte,  wo  eine  neue  Weltanschauung konstituiert werden  mu&szlig;,
alles  andere  ist  nutzlos.  Ich  habe  nicht  mehr den Mut, mich  von  den
politischen Fachleuten auslachen  zu  lassen, die mit ihren Mittelchen einen
Kontinent zu Tode kurieren. Ich wei&szlig;, da&szlig; ich recht  habe,  doch
heute gen&uuml;gt  mir das nicht  mehr.  Ich bin eine l&auml;cherliche Figur geworden,
ein  in  den F&auml;chern  Liebe und Beruf  durchgefallener  Menschheitskandidat.
La&szlig;  mich  den  Kerl  umbringen.  Der  Revolver,  den ich  neulich  am
M&auml;rkischen Museum dem Kommuniнsten  abnahm, kommt  zu  neuen Ehren. Ich nahm
ihn an  mich, damit kein  Ungl&uuml;ck angerichtet w&uuml;rde. Lehrer h&auml;tte ich werden
m&uuml;ssen, nur die Kinder sind f&uuml;r Ideale reif.
     Also,  Jakob, leb wohl.  Fast h&auml;tte ich  ganz ernsthaft hingeschrieben:
ich werde oft  an Dich denken.  Aber damit  ist  es ja  nun aus. Trag es mir
nicht nach, da&szlig; ich uns so entt&auml;usche. Du bist der einzige Mensch, den
ich  liebhatte,  obwohl  ich ihn kannte. Gr&uuml;&szlig;e  meine  Eltern, und vor
allem Deine Mutter. Wenn du Leda zuf&auml;llig einmal begegnen solltest, sage ihr
nicht,  wie  schwer  mich  ihr Betrug traf. Sie mag  glauben,  ich w&auml;re  nur
gekr&auml;nkt gewesen. Es braucht nicht jeder alles zu wissen.
     Ich w&uuml;rde Dich bitten,  meine  Angelegenheiten zu  regeln, aber es gibt
nichts,  was  der Regelung bed&uuml;rfte. Die  Wohnung  Nummer zwei sollen  meine
Eltern aufl&ouml;sen, mit den M&ouml;beln k&ouml;nnen sie tun, was sie wollen. Meine B&uuml;cher
geh&ouml;ren Dir. Ich fand vorhin in meinem Schreibнtisch zweitausend  Mark, nimm
das Geld, viel ist es nicht, zu einer kleinen Reise wird es reichen.
     Leb wohl, mein Freund. Lebe besser als ich. Mach's gut.
     Dein Stephan."
     Fabian  strich  dem Toten behutsam &uuml;ber die Stirn. Der Unterkiefer  war
noch tiefer  herabgesunken. Der Mund  klaffte auf. "Da&szlig;  man lebt, ist
Zufall;  da&szlig;  man  stirbt,  ist  gewi&szlig;",  fl&uuml;sterte  Fabian  und
l&auml;chelte dem Freunde zu, als wolle er ihn jetzt noch tr&ouml;sten.
     Der Kommissar &ouml;ffnete leise die  T&uuml;r. "Entschuldigen Sie, da&szlig; ich
schon wieder st&ouml;re." Fabian reichte ihm den Brief. Der Beamte las und sagte:
"Da kann ich ja die  M&auml;dchen nach Hause schicken." Er gab den  Brief  zur&uuml;ck
und ging ins Nebenzimmer. "Die Sache ist erledigt, ich will Sie nicht l&auml;nger
aufhalten", rief er.
     "Nur  noch  einen Augenblick",  sagte eine weibliche Stimнme. "Ich habe
ein  Faible  f&uuml;r Tote." Die f&uuml;nf  Frauen  dr&auml;ngten  sich  durch die T&uuml;r  und
standen  schweigend  vor  dem  Sofa.   "Man  m&uuml;&szlig;te  ihm  die  Kinnlade
hochbinden",  sagte schlie&szlig;lich ein  M&auml;dchen, das Fabian nicht kannte.
Die  Bildhauerin  lief ins  andere Zimmer  und kehrte  mit  einer  Serviette
wieder.  Sie band Labude  den Unterkiefer  hoch, so  da&szlig; der Mund sich
schlo&szlig;, und kn&uuml;pfte die Enden der  Serviette auf  seinem  Kopfhaar  zu
einem Knoten.
     "Ein Toter mit Zahnschmerzen", bemerkte die Selow und lachte b&ouml;sartig.
     Ruth Reiter  sagte:  "Es ist  eine  Schande. Bei  mir im  Atelier sitzt
Wilhelmy  und wird von Tag  zu Tag ges&uuml;nder, das  Schwein, obwohl  die &Auml;rzte
jede Hoffnung aufgegeben haben.  Und dieser  kr&auml;ftige junge Kerl hier bringt
sich um die Ecke."
     Dann  schob der  Assistent die  Frauen  aus  dem Zimmer. Der  Kommissar
setzte sich  an  den Schreibtisch  und  entwarf  einen  Polizeibericht.  Der
Assistent  kam  zur&uuml;ck.  "Ist  es  nicht  das  beste, wenn wir  einen  Wagen
bestellen und den Toten  in die Villa der Eltern bringen lassen?" fragte er.
Dann b&uuml;ckte er  sich.  Die  Geldscheine waren vom  Sofa gefallen  und  lagen
wieder auf der Erde. Er hob sie auf und steckte sie Fabian in die Tasche.
     "Sind die Eltern eigentlich schon verst&auml;ndigt?" fragte Fabian.
     "Sie sind leider nicht erreichbar", erwiderte der Assistent. "Justizrat
Labude befindet sich auf einer kleinen  Reise,  das  Hauspersonal wei&szlig;
nichts N&auml;heres. Die Mutter ist in Lugano. Man hat ihr depeschiert."
     "Also gut", sagte Fabian. "Bringen  wir ihn  nach Hause!" Der Assistent
telefonierte der n&auml;chsten Feuerwache. Dann warteten sie alle drei stumm, bis
der  Wagen  kam. Sanit&auml;ter packten Labude auf  eine Bahre und trugen ihn die
Treppe hinunter. Vor dem Haus standen Neugierige  aus der Nachbarschaft. Die
Bahre  wurde  in   den  Wagen  geschoben.  Fabian   setzte  sich  neben  den
ausgestreckten Freund. Die Beamten  verabschiedeten sich. Er  gab  ihnen die
Hand. Ein Sanit&auml;ter klappte die Leiter hoch und schlo&szlig; die T&uuml;r. Fabian
und Labude fuhren zum letzten Male gemeinsam durch Berlin.
     Das Fenster war heruntergelassen, in seinem Rahmen zeigte sich der Dom.
Dann wechselte das Bild. Fabian sah die Schinkelsche Wache, die Universit&auml;t,
die Staatsbiblioнthek. Wie lange war das her, da&szlig; sie hier miteinander
im Autobus gefahren waren?
     Am selben Abend hatten  sie,  drau&szlig;en am  M&auml;rkischen Museum, zwei
Raufbolden  die  Revolver abgenommen. Nun lag  Labude  auf der  Bahre,  fuhr
durchs Brandenburнger Tor  und wu&szlig;te nichts mehr  davon.  Zwei straffe
Gurte hielten ihn fest. Der Kopf rutschte langsam schr&auml;g.
     "Denkst du  nach?"  fragte  Fabian leise,  schob Labudes  Kopf auf  dem
Kissen  wieder  zurecht  und  lie&szlig;  die  Hand  dort.  "Ein  Toter  mit
Zahnschmerzen", hatte die Selow gesagt.
     Als   das   Krankenauto   vor  der   Grunewaldvilla  hielt,  stand  das
Dienstpersonal  an  der  T&uuml;r. Die Haush&auml;lterin schluchzte, der  Diener  ging
w&uuml;rdevoll  vor  den Sanit&auml;tern  her, die  M&auml;dchen  folgten, ihre  F&uuml;&szlig;e
hielten mit der ernsten Stunde Schritt. Labude wurde in sein Zimmer gebracht
und auf das Sofa gelegt. Der Diener &ouml;ffnete die Fenster weit.
     "Die Leichenfrau kommt morgen  fr&uuml;h", sagte  die Hausнh&auml;lterin, und nun
schluchzten  auch   die  M&auml;dchen.  Fabian  gab  den   Sanit&auml;tern  Geld.  Sie
gr&uuml;&szlig;ten milit&auml;risch und gingen.
     "Der Herr Justizrat ist noch immer nicht da", bemerkte der Diener. "Ich
habe keine  Ahnung, wo er sich  aufh&auml;lt. Aber  er wird es ja in der  Zeitung
lesen."
     "Es steht schon in der Zeitung?" fragte Fabian.
     "Jawohl", entgegnete  der Diener. "Die gn&auml;dige Frau ist benachrichtigt.
Sie d&uuml;rfte morgen mittag in Berlin  eintrefнfen,  wenn ihr Zustand die Reise
gestattet. Der FD-Zug ist um diese Stunde in Bellinzona."
     "Gehen Sie schlafen",  sagte Fabian. "Ich  bleibe die Nacht &uuml;ber hier."
Er zog  einen Stuhl zum Sofa. Die anderen verlie&szlig;en das Zimmer. Er war
allein.
     In Bellinzona war Labudes Mutter  jetzt?  Fabian setzte sich  neben den
Freund und dachte: "Welch eine Strafe f&uuml;r eine schlechte Mutter!"


     NEUNZEHNTES KAPITEL

     <i>Fabian verteidigt den Fre