on antiquarisch, alle Klassiker zum Beispiel, ein Band
kostete eine Mark und zwanzig Pfennig, in steifem, blauem Leinen. Ich habe
sie vollstundig gekauft, denn ich war grundlich, bei ausgewuhlten Werken
traute ich den Herausgebern nicht, ob sie auch das Beste genommen hatten.
Deshalb kaufte ich mir " Sumtliche Werke". Gelesen habe ich sie mit
ehrlichem Eifer, aber die meisten sagten mir nicht recht zu. Um so mehr
hielt ich von den anderen Buchern, den moderneren, die naturlich auch viel
teurer waren. Einige davon habe ich nicht ganz ehrlich erworben, ich habe
sie ausgeliehen und nicht zuruckgegeben, weil ich mich von ihnen nicht
trennen mochte.
Ein Fach des Regals ist mit Schulbuchern gefullt. Sie sind wenig
geschont und stark zerlesen, Seiten sind herausgerissen, man weiß ja
wofur. Und unten sind Hefte, Papier und Briefe hingepackt, Zeichnungen und
Versuche.
Ich will mich hineindenken in die Zeit damals. Sie ist ja noch im
Zimmer, ich fuhle es sofort, die Wunde haben sie bewahrt. Meine Hunde liegen
auf der Sofalehne; jetzt mache ich es mir bequem und ziehe auch die Beine
hoch, so sitze ich gemutlich in der Ecke, in den Armen des Sofas. Das kleine
Fenster ist geuffnet, es zeigt das vertraute Bild der Straße mit dem
ragenden Kirchturm am Ende. Ein paar Blumen stehen auf dem Tisch.
Federhalter, Bleistifte, eine Muschel als Briefbeschwerer, das
Tintenfaß - hier ist nichts verundert.
So wird es auch sein, wenn ich Gluck habe, wenn der Krieg aus ist und
ich wiederkomme fur immer. Ich werde ebenso hier sitzen und mein Zimmer
ansehen und warten.
Ich bin aufgeregt; aber ich muchte es nicht sein, denn das ist nicht
richtig. Ich will wieder diese stille Hingerissenheit, das Gefuhl dieses
heftigen, unbenennbaren Dranges verspuren, wie fruher, wenn ich vor meine
Bucher trat. Der Wind der Wunsche, der aus den bunten Bucherrucken aufstieg,
soll mich wieder erfassen, er soll den schweren, toten Bleiblock, der
irgendwo in mir liegt, schmelzen und mir wieder die Ungeduld der Zukunft,
die beschwingte Freude an der Welt der Gedanken wecken; - er soll mir das
verlorene Bereitsein meiner Jugend zuruckbringen.
Ich sitze und warte.
Mir fullt ein, daß ich zu Kemmerichs Mutter gehen muß; -
Mittelstaedt kunnte ich auch besuchen, er muß in der Kaserne sein. Ich
sehe aus dem Fenster: - hinter dem besonnten Straßenbild taucht
verwaschen und leicht ein Hugelzug auf, verwandelt sich zu einem hellen Tag
im Herbst, wo ich am Feuer sitze und mit Kat und Albert gebratene Kartoffeln
aus der Schale esse.
Doch daran will ich nicht denken, ich wische es fort. Das Zimmer soll
sprechen, es soll mich einfangen und tragen, ich will fuhlen, daß ich
hierhergehure, und horchen, damit ich weiß, wenn ich wieder an die
Front gehe: Der Krieg versinkt und ertrinkt, wenn die Welle der Heimkehr
kommt, er ist voruber, er zerfrißt uns nicht, er hat keine andere
Macht uber uns als nur die uußere!
Die Bucherrucken stehen nebeneinander. Ich kenne sie noch und erinnere
mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie mit meinen Augen: Sprecht zu
mir, - nehmt mich auf - nimm mich auf, du Leben von fruher, - du sorgloses,
schunes - nimm mich wieder auf -
Ich warte, ich warte.
Bilder ziehen voruber, sie haken nicht fest, es sind nur Schatten und
Erinnerungen.
Nichts - nichts.
Meine Unruhe wuchst.
Ein furchterliches Gefuhl der Fremde steigt plutzlich in mir hoch. Ich
kann nicht zuruckfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und
mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und traurig sitze ich wie
ein Verurteilter da, und die Vergangenheit wendet sich ab. Gleichzeitig
spure ich Furcht, sie zu sehr zu beschwuren, weil ich nicht weiß, was
dann alles geschehen kunnte. Ich bin ein Soldat, daran muß ich mich
halten.
Mude stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der
Bucher und bluttere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein
anderes. Es sind Stellen darin, die angestrichen sind. Ich suche, bluttere,
nehme neue Bucher. Schon liegt ein Pack neben mir. Andere kommen dazu,
hastiger - Blutter, Hefte, Briefe.
Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht.
Mutlos.
Worte, Worte, Worte - sie erreichen mich nicht.
Langsam stelle ich die Bucher wieder in die Lucken. Vorbei.
Still gehe ich aus dem Zimmer.
Noch gebe ich es nicht auf. Mein Zimmer betrete ich zwar nicht mehr,
aber ich truste mich damit, daß einige Tage noch nicht ein Ende zu
sein brauchen. Ich habe nachher - sputer - Jahre dafur Zeit. Vorluufig gehe
ich zu Mittelstaedt in die Kaserne, und wir sitzen in seiner Stube, da ist
eine Luft, die ich nicht liebe, an die ich aber gewuhnt bin.
Mittelstaedt hat eine Neuigkeit parat, die mich sofort elektrisiert. Er
erzuhlt mir, daß Kantorek eingezogen worden sei als Landsturmmann.
"Stell dir vor", sagt er und holt ein paar gute Zigarren heraus, "ich komme
aus dem Lazarett hierher und falle gleich uber ihn. Er streckt mir seine
Pfote entgegen und quakt: ‚Sieh da, Mittelstaedt, wie geht es denn?' - Ich
sehe ihn groß an und antworte: ‚Landsturmmann Kantorek, Dienst ist
Dienst und Schnaps ist Schnaps, das sollten Sie selbst am besten wissen.
Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden.' - Du huttest
sein Gesicht sehen mussen! Eine Kreuzung aus Essiggurke und Blindgunger.
Zugernd versuchte er noch einmal, sich anzubiedern. Da schnauzte ich etwas
schurfer. Nun fuhrte er seine sturkste Batterie ins Gefecht und fragte
vertraulich: ‚Soll ich Ihnen vermitteln, daß Sie Notexamen machen?' Er
wollte mich erinnern, verstehst du. Da packte mich die Wut, und ich
erinnerte ihn auch. ‚Landsturmmann Kantorek, vor zwei Jahren haben Sie uns
zum Bezirkskommando gepredigt, darunter auch den Joseph Behm, der eigentlich
nicht wollte. Er fiel drei Monate bevor er eingezogen worden wure. Ohne Sie
hutte er solange gewartet. Und jetzt: Wegtreten. Wir sprechen uns noch.' -
Es war mir leicht, seiner Kompanie zugeteilt zu werden. Als erstes nahm ich
ihn zur Kammer und sorgte fur eine hubsche Ausrustung. Du wirst ihn gleich
sehen."
Wir gehen auf den Hof. Die Kompanie ist angetreten. Mittelstaedt
lußt ruhren und besichtigt.
Da erblicke ich Kantorek und muß das Lachen verbeißen. Er
trugt eine Art Schoßrock aus verblichenem Blau. Auf dem Rucken und an
den urmeln sind große dunkle Flicken eingesetzt. Der Rock muß
einem Riesen gehurt haben. Um so kurzer ist die abgewetzte schwarze Hose;
sie reicht bis zur halben Wade. Dafur sind aber die Schuhe sehr geruumig,
eisenharte, uralte Treter, mit hochgebogenen Spitzen, noch an den Seiten zu
schnuren. Als Ausgleich ist die Mutze wieder zu klein, ein furchtbar
dreckiges, elendes Krutzchen. Der Gesamteindruck ist erbarmungswurdig.
Mittelstaedt bleibt stehen vor ihm: "Landsturmmann Kantorek, ist das
Knopfputz ? Sie scheinen es nie zu lernen. Ungenugend, Kantorek, ungenugend
-"
Ich brulle innerlich vor Vergnugen. Genauso hat Kantorek in der Schule
Mittelstaedt getadelt, mit demselben Tonfall "Ungenugend, Mittelstaedt,
ungenugend -"
Mittelstaedt mißbilligt weiter: "Sehen Sie sich mal Boettcher an,
der ist vorbildlich, von dem kunnen Sie lernen."
Ich traue meinen Augen kaum. Boettcher ist ja auch da, unser
Schulportier. Und der ist vorbildlich! Kantorek schießt mir einen
Blick zu, als ob er mich fressen muchte. Ich aber grinse ihm nur harmlos in
die Visage, so als ob ich ihn gar nicht weiter kenne.
Wie bludsinnig er aussieht mit seinem Krutzchen und seiner Uniform! Und
vor so was hat man fruher eine Heidenangst gehabt, wenn es auf dem Katheder
thronte und einen mit dem Bleistift aufspießte bei den
unregelmußigen franzusischen Verben, mit denen man nachher in
Frankreich doch nichts anfangen konnte. Es ist noch kaum zwei Jahre her; -
und jetzt steht hier der Landsturmmann Kantorek, juh entzaubert, mit krummen
Knien und Armen wie Topfhenkel, mit schlechtem Knopfputz und lucherlicher
Haltung, ein unmuglicher Soldat. Ich kann ihn mir nicht mehr zusammenreimen
mit dem drohenden Bilde auf dem Katheder, und ich muchte wirklich gern mal
wissen, was ich machen werde, wenn dieser Jammerpelz mich alten Soldaten
jemals wieder fragen darf: "Buumer, nennen Sie das Imparfait von aller -"
Vorluufig lußt Mittelstaedt etwas Schwurmen uben. Kantorek wird
dabei wohlwollend von ihm zum Gruppenfuhrer bestimmt.
Damit hat es seine besondere Bewandtnis. Der Gruppenfuhrer muß
beim Schwurmen numlich stets zwanzig Schritt vor seiner Gruppe sein; -
kommandiert man nun: Kehrt - marsch!, so macht die Schwarmlinie nur die
Wendung, der Gruppenfuhrer jedoch, der dadurch plutzlich zwanzig Schritt
hinter der Linie ist, muß im Galopp vorsturzen, um wieder seine
zwanzig Schritt vor die Gruppe zu kommen. Das sind zusammen vierzig Schritt:
Marsch, marsch. Kaum ist er aber angelangt, so wird einfach wieder Kehrt -
marsch! befohlen, und er muß eiligst wieder vierzig Schritt nach der
anderen Seite rasen. Auf diese Weise macht die Gruppe nur gemutlich immer
eine Wendung und ein paar Schritte, wuhrend der Gruppenfuhrer hin und her
saust wie ein Furz auf der Gardinenstange. Das Ganze ist eines der vielen
probaten Rezepte von Himmelstoß.
Kantorek kann von Mittelstaedt nichts anderes verlangen, denn er hat
ihm einmal eine Versetzung vermurkst, und Mittelstaedt wure schun dumm,
diese gute Gelegenheit nicht auszunutzen, bevor er wieder ins Feld kommt.
Man stirbt doch vielleicht etwas leichter, wenn der Kommiß einem auch
einmal solch eine Chance geboten hat.
Einstweilen spritzt Kantorek hin und her wie ein aufgescheuchtes
Wildschwein. Nach einiger Zeit lußt Mittelstaedt aufhuren, und nun
beginnt die so wichtige ubung des Kriechens. Auf Knien und Ellenbogen, die
Knarre vorschriftsmußig gefaßt, schiebt Kantorek seine
Prachtfigur durch den Sand, dicht an uns vorbei. Er schnauft kruftig, und
sein Schnaufen ist Musik.
Mittelstaedt ermuntert ihn, indem er den Landsturmmann Kantorek mit
Zitaten des Oberlehrers Kantorek trustet. "Landsturmmann Kantorek, wir haben
das Gluck, in einer großen Zeit zu leben, da mussen wir alle uns
zusammenreißen und das Bittere uberwinden." Kantorek spuckt ein
schmutziges Stuck Holz aus, das ihm zwischen die Zuhne gekommen ist, und
schwitzt. Mittelstaedt beugt sich nieder, beschwurend eindringlich: "Und
uber Kleinigkeiten niemals das große Erlebnis vergessen, Landsturmmann
Kantorek!"
Mich wundert, daß Kantorek nicht mit einem Knall zerplatzt,
besonders, da jetzt die Turnstunde folgt, in der Mittelstaedt ihn
großartig kopiert, indem er ihm in den Hosenboden faßt beim
Klimmzug am Querbaum, damit er das Kinn stramm uber die Stange bringen kann,
und dazu von weisen Reden nur so trieft. Genauso hat Kantorek es fruher mit
ihm gemacht.
Danach wird der weitere Dienst verteilt. "Kantorek und Boettcher zum
Kommißbrotholen! Nehmen Sie den Handwagen mit."
Ein paar Minuten sputer geht das Paar mit dem Handwagen los. Kantorek
hult wutend den Kopf gesenkt. Der Portier ist stolz, weil er leichten Dienst
hat.
Die Brotfabrik ist am andern Ende der Stadt. Beide mussen also hin und
zuruck durch die ganze Stadt.
"Das machen sie schon ein paar Tage", grinst Mittelstaedt. "Es gibt
bereits Leute, die darauf warten, sie zu sehen."
"Großartig", sage ich, "aber hat er sich noch nicht beschwert?"
"Versucht! Unser Kommandeur hat furchtbar gelacht, als er die
Geschichte gehurt hat. Er kann keine Schulmeister leiden. Außerdem
poussiere ich mit seiner Tochter."
"Er wird dir das Examen versauen."
"Darauf pfeife ich", meint Mittelstaedt gelassen. "Seine Beschwerde ist
außerdem zwecklos gewesen, weil ich beweisen konnte, daß er
meistens leichten Dienst hat."
"Kunntest du ihn nicht mal ganz groß schleifen?" frage ich.
"Dazu ist er mir zu dumlich", antwortet Mittelstaedt erhaben und
großzugig.
Was ist Urlaub? - Ein Schwanken, das alles nachher noch viel
schwerermacht. Schon jetzt mischt sich der Abschied hinein. Meine Mutter
sieht mich schweigend an; - sie zuhlt die Tage, ich weiß es; - jeden
Morgen ist sie traurig. Es ist schon wieder ein Tag weniger. Meinen
Tornister hat sie weggepackt, sie will durch ihn nicht erinnert werden.
Die Stunden laufen schnell, wenn man grubelt. Ich raffe mich auf und
begleite meine Schwester. Sie geht zum Schlachthof, um einige Pfund Knochen
zu holen. Das ist eine große Vergunstigung, und morgens schon stellen
sich die Leute hin, um darauf anzustehen. Manche werden ohnmuchtig.
Wir haben kein Gluck. Nachdem wir drei Stunden abwechselnd gewartet
haben, lust sich die Reihe auf. Die Knochen sind zu Ende.
Es ist gut, daß ich meine Verpflegung erhalte. Davon bringe ich
meiner Mutter mit, und wir haben so alle etwas kruftigeres Essen.
Immer schwerer werden die Tage, die Augen meiner Mutter immer
trauriger. Noch vier Tage. Ich muß zu Kemmerichs Mutter gehen.
Man kann das nicht niederschreiben. Diese bebende, schluchzende Frau,
die mich schuttelt und mich anschreit: "Weshalb lebst du denn, wenn er tot
ist!", die mich mit Trunen uberstrumt und ruft: "Weshalb seid ihr uberhaupt
da, Kinder, wie ihr -", die in einen Stuhl sinkt und weint: "Hast du ihn
gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er?"
Ich sage ihr, daß er einen Schuß ins Herz erhalten hat und
gleich tot war. Sie sieht mich an, sie zweifelt: "Du lugst. Ich weiß
es besser. Ich habe gefuhlt, wie schwer er gestorben ist. Ich habe seine
Stimme gehurt, seine Angst habe ich nachts gespurt, - sag die Wahrheit, ich
will es wissen, ich muß es wissen."
"Nein", sage ich, "ich war neben ihm. Er war sofort tot." Sie bittet
mich leise: "Sag es mir. Du mußt es. Ich weiß, du willst mich
damit trusten, aber siehst du nicht, daß du mich schlimmer quulst, als
wenn du die Wahrheit sagst? Ich kann die Ungewißheit nicht ertragen,
sag mir, wie es war, und wenn es noch so furchtbar ist. Es ist immer noch
besser, als was ich sonst denken muß."
Ich werde es nie sagen, eher kann sie aus mir Hackfleisch machen. Ich
bemitleide sie, aber sie kommt mir auch ein wenig dumm vor. Sie soll sich
doch zufrieden geben, Kemmerich bleibt tot, ob sie es weiß oder nicht.
Wenn man so viele Tote gesehen hat, kann man so viel Schmerz um einen
einzigen nicht mehr recht begreifen. So sage ich etwas ungeduldig: "Er war
sofort tot. Er hat es gar nicht gefuhlt. Sein Gesicht war ganz ruhig."
Sie schweigt. Dann fragt sie langsam: "Kannst du das beschwuren?"
"Ja."
"Bei allem, was dir heilig ist?"
Ach Gott, was ist mir schon heilig; - so was wechselt ja schnell bei
uns.
"Ja, er war sofort tot."
"Willst du selbst nicht wiederkommen, wenn es nicht wahr ist?"
"Ich will nicht wiederkommen, wenn er nicht sofort tot war."
Ich wurde noch wer weiß was auf mich nehmen. Aber sie scheint mir
zu glauben. Sie stuhnt und weint lange. Ich soll erzuhlen, wie es war, und
erfinde eine Geschichte, an die ich jetzt beinahe selbst glaube.
Als ich gehe, kußt sie mich und schenkt mir ein Bild von ihm. Er
lehnt darauf in seiner Rekrutenuniform an einem runden Tisch, dessen Beine
aus ungeschulten Birkenusten bestehen. Dahinter ist ein Wald gemalt als
Kulisse. Auf dem Tisch steht ein Bierseidel.
Es ist der letzte Abend zu Hause. Alle sind schweigsam. Ich gehe fruh
zu Bett, ich fasse die Kissen an, ich drucke sie an mich und lege den Kopf
hinein. Wer weiß, ob ich je wieder so in einem Federbett liegen werde!
Meine Mutter kommt sput noch in mein Zimmer. Sie glaubt, daß ich
schlafe, und ich stelle mich auch so. Zu sprechen, wach miteinander zu sein,
ist zu schwer.
Sie sitzt fast bis zum Morgen, obschon sie Schmerzen hat und sich
manchmal krummt. Endlich kann ich es nicht mehr aushaken, ich tue, als
erwachte ich.
"Geh schlafen, Mutter, du erkultest dich hier."
Sie sagt: "Schlafen kann ich noch genug sputer."
Ich richte mich auf. "Es geht ja nicht sofort ins Feld, Mutter. Ich
muß doch erst vier Wochen ins Barackenlager. Von dort komme ich
vielleicht einen Sonntag noch heruber."
Sie schweigt. Dann fragt sie leise: "Furchtest du dich sehr?"
"Nein, Mutter."
"Ich wollte dir noch sagen: Nimm dich vor den Frauen in acht in
Frankreich. Sie sind schlecht dort."
Ach Mutter, Mutter! Fur dich bin ich ein Kind, - warum kann ich nicht
den Kopf in deinen Schoß legen und weinen? Warum muß ich immer
der Sturkere und der Gefaßtere sein, ich muchte doch auch einmal
weinen und getrustet werden, ich bin doch wirklich nicht viel mehr als ein
Kind, im Schrank hungen noch meine kurzen Knabenhosen, - es ist doch erst so
wenig Zeit her, warum ist es denn vorbei?
So ruhig ich kann, sage ich: "Wo wir liegen, da sind keine Frauen,
Mutter."
"Und sei recht vorsichtig dort im Felde, Paul."
Ach Mutter, Mutter! Warum nehme ich dich nicht in meine Arme, und wir
sterben. Was sind wir doch fur arme Hunde!
"Ja, Mutter, das will ich sein."
"Ich werde jeden Tag fur dich beten, Paul."
Ach Mutter, Mutter! Laß uns aufstehen und fortgehen, zuruck durch
die Jahre, bis all dies Elend nicht mehr auf uns liegt, zuruck zu dir und
mir allein, Mutter!
"Vielleicht kannst du einen Posten bekommen, der nicht so gefuhrlich
ist."
"Ja, Mutter, vielleicht komme ich in die Kuche, das kann wohl
sein."
"Nimm ihn ja an, wenn die andern auch reden -"
"Darum kummere ich mich nicht, Mutter -"
Sie seufzt. Ihr Gesicht ist ein weißer Schein im Dunkel. "Nun
mußt du schlafen gehen, Mutter."
Sie antwortet nicht. Ich stehe auf und lege ihr meine Decke uber die
Schultern. Sie stutzt sich auf meinen Arm, sie hat Schmerzen. So bringe ich
sie hinuber. Eine Weile bleibe ich noch bei ihr. "Du mußt nun auch
gesund werden, Mutter, bis ich wiederkomme."
"Jaja, mein Kind."
"Ihr durft mir nicht eure Sachen schicken, Mutter. Wir haben
draußen genug zu essen. Ihr kunnt es hier besser brauchen."
Wie arm sie in ihrem Bette liegt, sie, die mich liebt, mehr als alles.
Als ich schon gehen will, sagt sie hastig: "Ich habe dir noch zwei
Unterhosen besorgt. Es ist gute Wolle. Sie werden warm halten. Du mußt
nicht vergessen, sie dir einzupacken."
Ach Mutter, ich weiß, was dich diese beiden Unterhosen gekostet
haben an Herumstehen und Laufen und Betteln! Ach Mutter, Mutter, wie kann
man es begreifen, daß ich weg muß von dir, wer hat denn anders
ein Recht auf mich als du. Noch sitze ich hier, und du liegst dort, wir
mussen uns so vieles sagen, aber wir werden es nie kunnen.
"Gute Nacht, Mutter."
"Gute Nacht, mein Kind."
Das Zimmer ist dunkel. Der Atem meiner Mutter geht darin hin und her.
Dazwischen tickt die Uhr. Draußen vor den Fenstern weht es. Die
Kastanien rauschen.
Auf dem Vorplatz stolpere ich uber meinen Tornister, der fertig gepackt
daliegt, weil ich morgen sehr fruh fort muß.
Ich beiße in meine Kissen, ich krampfe die Fuuste um die
Eisenstube mei'ies Bettes. Ich hutte nie hierherkommen durfen. Ich war
gleichgultig und oft hoffnungslos draußen; - ich werde es nie mehr so
sein kunnen. Ich war ein Soldat, und nun bin ich nichts mehr als Schmerz um
mich, um meine Mutter, um alles, was so trostlos und ohne Ende ist. Ich
hutte nie auf Urlaub fahren durfen.
8
Die Baracken im Heidelager kenne ich noch. Hier hat Himmelstoß
Tjaden erzogen. Sonst aber kenne ich kaum jemand hier; alles hat gewechselt,
wie immer. Nur einige der Leute habe ich fruher fluchtig gesehen.
Den Dienst mache ich mechanisch. Abends bin ich fast stets im
Soldatenheim, da liegen Zeitschriften aus, die ich aber nicht lese; es steht
jedoch ein Klavier da, auf dem ich gern spiele. Zwei Mudchen bedienen, eins
davon ist jung.
Das Lager ist von hohen Drahtzuunen umgeben. Wenn wir sput aus dem
Soldatenheim kommen, mussen wir Passierscheine haben. Wer sich mit dem
Posten versteht, kriecht naturlich auch so durch.
Zwischen Wacholderbuschen und Birkenwuldern uben wir jeden Tag
Kompanieexerzieren in der Heide. Es ist zu ertragen, wenn man nicht mehr
verlangt. Man rennt vorwurts, wirft sich hin, und der Atem biegt die Stengel
und Bluten der Heide hin und her. Der Ware Sand ist, so dicht am Boden
gesehen, rein wie in einem Laboratorium, aus vielen kleinsten Kieseln
gebildet. Es ist seltsam verlockend, die Hand hineinzugraben.
Aber das schunste sind die Wulder mit ihren Birkenrundern. Sie wechseln
jeden Augenblick die Farbe. Jetzt leuchten die Stumme im hellsten
Weiß, und seidig und luftig schwebt zwischen ihnen das pastellhafte
Grun des Laubes; - im nuchsten Moment wechselt alles zu einem opalenen Blau,
das silbrig vom Rande her streicht und das Grun forttupft; - aber sogleich
vertieft es sich an einer Stelle fast zu Schwarz, wenn eine Wolke uber die
Sonne geht. Und dieser Schatten luuft wie ein Gespenst zwischen den nun
fahlen Stummen entlang, weiter uber die Heide zum Horizont, - inzwischen
stehen die Birken schon wie festliche Fahnen mit weißen Stangen vor
dem rotgoldenen Geloder ihres sich furbenden Laubes.
Ich verliere mich oft an dieses Spiel zartester Lichter und
durchsichtiger Schatten, so sehr, daß ich fast die Kommandos uberhure;
- wenn man allein ist, beginnt man die Natur zu beobachten und zu lieben.
Und ich habe hier nicht viel Anschluß, wunsche ihn auch nicht uber das
normale Maß hinaus. Man ist zuwenig miteinander bekannt, um mehr zu
tun, als etwas zu quatschen und abends Siebzehn-und-vier zu spielen oder zu
mauscheln.
Neben unsern Baracken befindet sich das große Russenlager. Es ist
von uns zwar durch Drahtwunde getrennt, trotzdem gelingt es den Gefangenen
doch, zu uns heruberzukommen. Sie geben sich sehr scheu und ungstlich, dabei
haben die meisten Barte und sind groß; dadurch wirken sie wie
verprugelte Bernhardiner.
Sie schleichen um unsere Baracken und revidieren die Abfalltonnen. Man
muß sich vorstellen, was sie da finden. Die Kost ist bei uns schon
knapp und vor allem schlecht, es gibt Steckruben, in sechs Teile geschnitten
und in Wasser gekocht, Mohrrubenstrunke, die noch schmutzig sind; fleckige
Kartoffeln sind große Leckerbissen, und das Huchste ist dunne
Reissuppe, in der kleingeschnittene Rindfleischsehnen schwimmen sollen. Aber
sie sind so klein geschnitten, daß sie nicht mehr zu finden sind.
Trotzdem wird naturlich alles gegessen. Wenn wirklich einer mal so
reich ist, nicht leerfuttern zu brauchen, stehen zehn andere da, die es ihm
gern abnehmen. Nur die Reste, die der Luffel nicht mehr erreicht, werden
ausgespult und in die Abfalltonnen geschuttet. Dazu kommen dann manchmal
einige Steckrubenschalen, verschimmelte Brotrinden und allerlei Dreck.
Dieses dunne, trube, schmutzige Wasser ist das Ziel der Gefangenen. Sie
schupfen es gierig aus den stinkenden Tonnen und tragen es unter ihren
Blusen fort.
Es ist sonderbar, diese unsere Feinde so nahe zu sehen. Sie haben
Gesichter, die nachdenklich machen, gute Bauerngesichter, breite Stirnen,
breite Nasen, breite Lippen, breite Hunde, wolliges Haar. Man mußte
sie zum Pflugen und Muhen und Apfelpflucken verwenden. Sie sehen noch
gutmutiger aus als unsere Bauern in Friesland.
Es ist traurig, ihre Bewegungen, ihr Betteln um etwas Essen zu sehen.
Sie sind alle ziemlich schwach, denn sie erhalten gerade so viel, daß
sie nicht verhungern. Wir selbst bekommen ja lungst nicht satt zu essen. Sie
haben Ruhr, mit ungstlichen Blicken zeigen manche verstohlen blutige
Hemdzipfel heraus. Ihre Rucken, ihre Nacken sind gekrummt, die Knie
geknickt, der Kopf blickt schief von unten herauf, wenn sie die Hand
ausstrecken und mit den wenigen Worten, die sie kennen, betteln, - betteln
mit diesen weichen, leisen Bussen, die wie warme ufen und Heimatstuben sind.
Es gibt Leute, die ihnen einen Tritt geben, daß sie umfallen; -
aber das sind nur wenig. Die meisten tun ihnen nichts, sie gehen an ihnen
vorbei. Mitunter wenn sie sehr elend sind allerdings, gerut man daruber in
Wut und versetzt ihnen dann einen Tritt. Wenn sie einen nur nicht so ansehen
wollten, - was fur ein Jammer in zwei so kleinen Flecken sitzen kann, die
man mit dem Daumen schon zuhalten kann: in den Augen.
Abends kommen sie in die Baracken und handeln. Sie tauschen alles, was
sie haben, gegen Brot ein. Es gelingt ihnen manchmal, denn sie haben gute
Stiefel, unsere aber sind schlecht. Das Leder ihrer hohen Schaftstiefel ist
wunderbar weich, wie Juchten. Die Bauernsuhne bei uns, die von zu Hause
Fettigkeiten geschickt erhalten, kunnen sie sich leisten. Der Preis fur ein
Paar Stiefel ist ungefuhr zwei bis drei Kommißbrote oder ein
Kommißbrot und eine kleinere harte Mettwurst.
Aber fast alle Russen haben lungst ihre Sachen abgegeben, die sie
hatten. Sie tragen nur noch erburmliches Zeug und versuchen kleine
Schnitzereien und Gegenstunde, die sie aus Granatsplittern und Stucken von
kupfernen Fuhrungsringen gemacht haben, zu tauschen. Diese Sachen bringen
naturlich nicht viel ein, wenn sie auch allerhand Muhe gemacht haben - sie
gehen fur ein paar Scheiben Brot bereits weg. Unsere Bauern sind zuh und
schlau, wenn sie handeln. Sie halten dem Russen das Stuck Brot oder Wurst so
lange dicht unter die Nase, bis er vor Gier blaß wird und die Augen
verdreht, dann ist ihm alles egal. Sie aber verpacken ihre Beute mit all der
Umstundlichkeit, deren sie fuhig sind, holen ihr dickes Taschenmesser
heraus, schneiden langsam und beduchtig fur sich selber einen Ranken Brot
von ihrem Vorrat ab und dazu bei jedem Happen ein Stuck von der harten guten
Wurst und futtern, sich zur Belohnung. Es ist aufreizend, sie so vespern zu
sehen, man muchte ihnen auf die dicken Schudel trommeln. Sie geben selten
etwas ab. Man kennt sich ja auch zuwenig.
Ich bin ufter auf Wache bei den Russen. In der Dunkelheit sieht man
ihre Gestalten sich bewegen, wie kranke Sturche, wie große Vugel. Sie
kommen dicht an das Gitter heran und legen ihre Gesichter dagegen, die
Finger sind in die Maschen gekrallt. Oft stehen viele nebeneinander. So
atmen sie den Wind, der von der Heide und den Wuldern herkommt.
Selten sprechen sie, und dann nur wenige Worte. Sie sind menschlicher
und, ich muchte fast glauben, bruderlicher zueinander als wir hier. Aber das
ist vielleicht nur deshalb, weil sie sich unglucklicher fuhlen als wir.
Dabei ist fur sie doch der Krieg zu Ende. Doch auf die Ruhr zu warten, ist
ja auch kein Leben.
Die Landsturmleute, die sie bewachen, erzuhlen, daß sie anfangs
lebhafter waren. Sie hatten, wie das immer ist, Verhultnisse untereinander,
und es soll oft mit Fuusten und Messern dabei zugegangen sein. Jetzt sind
sie schon ganz stumpf und gleichgultig, die meisten onanieren nicht einmal
mehr, so schwach sind sie, obschon es doch damit sonst oft so schlimm ist,
daß sie es sogar barackenweise tun.
Sie stehen am Gitter; manchmal schwankt einer fort, dann ist bald ein
anderer an seiner Stelle in der Reihe. Die meisten sind still; nur einzelne
betteln um das Mundstuck einer ausgerauchten Zigarette.
Ich sehe ihre dunklen Gestalten. Ihre Barte wehen im Winde. Ich
weiß nichts von ihnen, als daß sie Gefangene sind, und gerade
das erschuttert mich. Ihr Leben ist namenlos und ohne Schuld; - wußte
ich mehr von ihnen, wie sie heißen, wie sie leben, was sie erwarten,
was sie bedruckt, so hutte meine Erschutterung ein Ziel und kunnte zu
Mitleid werden. Jetzt aber empfinde ich hinter ihnen nur den Schmerz der
Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der
Menschen.
Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unsern Feinden gemacht; ein
Befehl kunnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird
ein Schriftstuck von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt,
und jahrelang ist unser huchstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der
Welt und ihre huchste Strafe ruht. Wer kann da noch unterscheiden, wenn er
diese stillen Leute hier sieht mit den kindlichen Gesichtern und den
Apostelburten! Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem
Schuler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch wurden wir wieder auf
sie schießen und sie auf uns, wenn sie frei wuren.
Ich erschrecke; hier darf ich nicht weiterdenken. Dieser Weg geht in
den Abgrund. Es ist noch nicht die Zeit dazu; aber ich will den Gedanken
nicht verlieren, ich will ihn bewahren, ihn fortschließen, bis der
Krieg zu Ende ist. Mein Herz klopft: ist hier das Ziel, das Große, das
Einmalige, an das ich im Graben gedacht habe, das ich suchte als
Daseinsmuglichkeit nach dieser Katastrophe aller Menschlichkeit, ist es eine
Aufgabe fur das Leben nachher, wurdig der Jahre des Grauens?
Ich nehme meine Zigaretten heraus, breche jede in zwei Teile und gebe
sie den Russen. Sie verneigen sich und zunden sie an. Nun glimmen in einigen
Gesichtern rote Punkte. Sie trusten mich; es sieht aus, als wuren es kleine
Fensterchen in dunklen Dorfhuusern, die verraten, daß dahinter Zimmer
voll Zuflucht sind.
Die Tage gehen hin. An einem nebeligen Morgen wird wieder ein Russe
begraben; es sterben ja jetzt fast tuglich welche. Ich bin gerade aufWache,
als er beerdigt wird. Die Gefangenen singen einen Choral, sie singen
vielstimmig, und es klingt, als wuren es kaum noch Stimmen, als wure es eine
Orgel, die fern in der Heide steht.
Die Beerdigung geht schnell.
Abends stehen sie wieder am Gitter, und der Wind kommt von den
Birkenwuldern zu ihnen. Die Sterne sind kalt. Ich kenne jetzt einige von
ihnen, die ziemlich gut Deutsch sprechen. Ein Musiker ist dabei, er erzuhlt,
daß er Geiger in Berlin gewesen sei. Als er hurt, daß ich etwas
Klavier spielen kann, holt er seine Geige und spielt.
Die andern setzen sich und lehnen die Rucken an das Gitter. Er steht
und spielt, oft hat er den verlorenen Ausdruck, den Geiger haben, wenn sie
die Augen schließen, dann wieder bewegt er das Instrument im Rhythmus
und luchelt mich an.
Er spielt wohl Volkslieder; denn die anderen summen mit. Es sind dunkle
Hugel, die tief unterirdisch summen. Die Geigenstimme steht wie ein
schlankes Mudchen daruber und ist hell und allein. Die Stimmen huren auf,
und die Geige bleibt - sie ist dunn in der Nacht, als friere sie; man
muß dicht danebenstehen, es wure in einem Raum wohl besser; - hier
draußen wird man traurig, wenn sie so allein umherirrt.
Ich bekomme keinen Urlaub uber Sonntag, weil ich ja erst grußeren
Urlaub gehabt habe. Am letzten Sonntag vor der Abfahrt sind deshalb mein
Vater und meine ulteste Schwester zu Besuch bei mir. Wir sitzen den ganzen
Tag im Soldatenheim. Wo sollen wir anders hin, in die Baracke wollen wir
nicht gehen. Mittags machen wir einen Spaziergang in die Heide.
Die Stunden quulen sich hm; wir wissen nicht, woruber wir reden sollen.
So sprechen wir uber die Krankheit meiner Mutter. Es ist nun bestimmt Krebs,
sie liegt schon im Krankenhaus und wird demnuchst operiert. Die urzte
hoffen, daß sie gesund wird, aber wir haben noch nie gehurt, daß
Krebs geheilt worden ist.
"Wo liegt sie denn?" frage ich.
"Im Luisenhospital", sagt mein Vater.
"In welcher Klasse?"
"Dritter. Wir mussen abwarten, was die Operation kostet. Sie wollte
selbst dritter liegen. Sie sagte, dann hutte sie etwas Unterhaltung. Es ist
auch billiger."
"Dann liegt sie doch mit so vielen zusammen. Wenn sie nur nachts
schlafen kann."
Mein Vater nickt. Sein Gesicht ist abgespannt und voll Furchen. Meine
Mutter ist viel krank gewesen; sie ist zwar nur ins Krankenhaus gegangen,
wenn sie gezwungen wurde, trotzdem hat es viel Geld fur uns gekostet, und
das Leben meines Vaters ist eigentlich
daruber hingegangen. "Wenn man bloß wußte, wieviel die
Operation kostet", sagt er.
"Habt ihr nicht gefragt?"
"Nicht direkt; das kann man nicht - wenn der Arzt dann unfreundlich
wird, das geht doch nicht, weil er Mutter doch operieren soll."
Ja, denke ich bitter, so sind wir, so sind sie, die armen Leute. Sie
wagen nicht nach dem Preise zu fragen und sorgen sich eher furchtbar
daruber; aber die andern, die es nicht nutig haben, die finden es
selbstverstundlich, vorher den Preis festzulegen. Bei ihnen wird der Arzt
auch nicht unfreundlich sein.
"Die Verbunde hinterher sind auch so teuer", sagt mein Vater.
"Zahlt denn die Krankenkasse nichts dazu?" frage ich.
"Mutter ist schon zu lange krank."
"Habt ihr denn etwas Geld?"
Er schuttelt den Kopf. "Nein. Aber ich kann jetzt wieder uberstunden
machen."
Ich weiß: er wird bis zwulf Uhr nachts an seinem Tisch stehen und
falzen und kleben und schneiden. Um acht Uhr abends wird er etwas essen von
diesem kraftlosen Zeug, das sie auf Karte beziehen. Hinterher wird er ein
Pulver gegen seine Kopfschmerzen einnehmen und weiterarbeiten.
Um ihn etwas aufzuheitern, erzuhle ich ihm einige Geschichten, die mir
gerade einfallen, Soldatenwitze und so etwas, von Generalen und Feldwebeln,
die irgendwann mal 'reingelegt wurden.
Nachher bringe ich beide zur Bahnstation. Sie geben mir ein Glas
Marmelade und ein Paket Kartoffelpuffer, die meine Mutter noch fur mich
gebacken hat.
Dann fahren sie ab, und ich gehe zuruck.
Abends streiche ich mir von der Marmelade auf die Pufferund esse davon.
Es will mir nicht schmecken. So gehe ich hinaus, um den Russen die Puffer zu
geben. Dann fullt mir ein, daß meine Mutter sie selbst gebacken hat
und daß sie vielleicht Schmerzen gehabt hat, wuhrend sie am
heißen Herd stand. Ich lege das Paket zuruck in meinen Tornister und
nehme nur zwei Stuck davon mit zu den Russen.
9
Wir fahren einige Tage. Die ersten Flieger erscheinen am Himmel. Wir
rollen an Transportzugen voruber. Geschutze, Geschutze. Die Feldbahn
ubernimmt uns. Ich suche mein Regiment. Niemand weiß, wo es gerade
liegt. Irgendwo ubernachte ich, irgendwo empfange ich morgens Proviant und
einige vage Instruktionen. So mache ich mich mit meinem Tornister und meinem
Gewehr wieder auf den Weg. Als ich ankomme, ist keiner von uns mehr in dem
zerschossenen Ort. Ich hure, daß wir zu einer fliegenden Division
geworden sind, die uberall eingesetzt wird, wo es brenzlig ist. Das stimmt
mich nicht heiter. Man erzuhlt mir von großen Verlusten, die wir
gehabt haben sollen. Ich forsche nach Kat und Albert. Es weiß niemand
etwas von ihnen.
Ich suche weiter und irre umher, das ist ein wunderliches Gefuhl. Noch
eine Nacht und eine zweite kampiere ich wie ein Indianer. Dann habe ich
bestimmte Nachricht und kann mich nachmittags auf der Schreibstube melden.
Der Feldwebel behult mich da. Die Kompanie kommt in zwei Tagen zuruck,
es hat keinen Zweck mehr, mich hinauszuschicken. "Wie war's im Urlaub?"
fragt er. "Schun, was?"
"Teils, teils", sage ich.
"Jaja", seufzt er, "wenn man nicht wieder weg mußte. Die zweite
Hulfte wird dadurch immer schon verpfuscht."
Ich lungere umher, bis die Kompanie morgens einruckt, grau, schmutzig,
verdrossen und trube. Da springe ich auf und drunge mich zwischen sie, meine
Augen suchen, dort ist Tjaden, da schnaubt Muller, und da sind auch Kat und
Kropp. Wir machen uns unsere Strohsucke nebeneinander zurecht. Ich fuhle
mich schuldbewußt, wenn ich sie ansehe, und habe doch keinen Grund
dazu. Bevor wir schlafen, hole ich den Rest der Kartoffelpuffer und der
Marmelade heraus, damit sie auch etwas haben.
Die beiden uußeren Puffer sind angeschimmelt, man kann sie aber
noch essen. Ich nehme sie fur mich und gebe die frischeren Kat und Kropp.
Kat kaut und fragt: "Die sind wohl von Muttern?"
Ich nicke.
"Gut", sagt er, "das schmeckt man heraus."
Fast kunnte ich weinen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Doch es wird
schon wieder besser werden, hier mit Kat und Alben und den ubrigen. Hier
gehure ich hin.
"Du hast Gluck gehabt", flustert Kropp mir noch beim Einschlafen zu,
"es heißt, wir kommen nach Rußland." Nach Rußland. Da ist
ja kein Krieg mehr.
In der Ferne donnert die Front. Die Wunde der Baracken klirren.
Es wird muchtig geputzt. Ein Appell jagt den andern. Von allen Seiten
werden wir revidiert. Was zerrissen ist, wird umgetauscht gegen