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Erich Kestner. Fabian
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.: "Erich Kästner. Fabian. Die Geschichte eines Moralisten". Atrium
Verlag, Zürich. Printed in Germany 1999. OCR & spellcheck by
Pashka-Nemets, 5 February 2003
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Vorwort des Verfassers
Über dieses nunmehr bald fünfundzwanzig Jahre alte Buch kursierten im
Laufe der Zeit recht verschiedene Urteile, und es wurde noch von manchen,
die es lobten, mißverstanden. Wird man's heute besser verstehen?
Gewiß nicht! Wie denn auch? Daß im Dritten Reich die
Geschmacksurteile verstaatlicht, in Phrasen geliefert und millionenfach
geschluckt wurden, hat Geschmack und Urteil breiter Kreise bis in unsere
Tage verdorben. Und heute sind, noch ehe sie sich regenerieren konnten,
bereits neue, genauer, sehr alte Mächte fanatisch dabei, wiederum
standardisierte Meinungen - gar nicht so verschieden von den vorherigen -
durch Massenimpfung zu verbreiten. Noch wissen viele nicht, viele nicht
mehr, daß man sich Urteile selber bilden kann und sollte. Soweit sie
sich darum bemühen, wissen sie nicht, wie man's anfängt. Und schon sind,
angeblich zum Schütze der Jugend, Kuratelgesetze gegen moderne Kunst und
Literatur in Vorbereitung. Das Wort "zersetzend" steht im Vokabular der
Rückschrittler längst wieder an erster Stelle. Verunglimpfung ist eines
jener Mittel, die den Zweck nicht nur heiligen, sondern ihn, nur zu oft,
auch erreichen.
So wird heute noch weniger als damals begriffen werden, daß der
"Fabian" keineswegs ein "unmoralisches", sondern ein ausgesprochen
moralisches Buch ist. Der ursprüngliche Titel, den, samt einigen krassen
Kapiteln, der Erstverleger nicht zuließ, lautete "Der Gang vor die
Hunde". Damit sollte, schon auf dem Buchumschlag, deutlich werden, daß
der Roman ein bestimmtes Ziel verfolgte: Er wollte warnen. Er wollte vor dem
Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten! Er wollte
mit angemessenen, und das konnte in diesem Falle nur bedeuten, mit allen
Mitteln in letzter Minute Gehör und Besinnung erzwingen.
Die große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichen folgende
seelische Depression, die Sucht, sich zu betäuben, die Aktivität
bedenkenloser Parteien, das waren Sturmzeichen der nahenden Krise. Und auch
die unheimliche Stille vor dem Sturm fehlte nicht - die einer epidemischen
Lähmung gleichende Trägheit der Herzen. Es trieb manche, sich dem Sturm und
der Stille entgegenzustellen. Sie wurden beiseite geschoben. Lieber hörte
man den Jahr marktschreiern und Trommlern zu, die ihre Senfpflaster und
giftigen Patentlösungen anpriesen. Man lief den Rattenfängern nach, hinein
in den Abgrund, in dem wir nun, mehr tot als lebendig, angekommen sind und
uns einzurichten versuchen, als sei nichts geschehen.
Das vorliegende Buch, das großstädtische Zustände von damals
schildert, ist kein Poesie- und Photographiealbum, sondern eine Satire. Es
beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt. Der Moralist pflegt seiner
Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karikatur,
ein legitimes Kunstmittel, ist das äußerste, was er vermag. Wenn auch
das nicht hilft, dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt
nichts hilft, ist - damals wie heute - keine Seltenheit. Eine Seltenheit
wäre es allerdings, wenn das den Moralisten entmutigte. Sein angestammter
Platz ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann,
aus. Sein Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch!
Erich Kästner
ERSTES KAPITEL
Ein Kellner als Orakel
Der andere geht trotzdem hin
Ein Institut für geistige Annäherung
Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die
Schlagzeilen der Abendblätter. Englisches Luftschiff explodiert über
Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem
Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im
Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche
Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke
für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an
den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140000
Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über
das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts
Besonderes. Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr zusammen. Das Zeug
schmeckte nach Zucker. Seitdem er, zehn Jahre war das her, in der Mensa am
Oranienburger Tor dreimal wöchentlich Nudeln mit Sacharin hinuntergewürgt
hatte, verabscheute er Süßes. Er zündete sich eilig eine Zigarette an
und rief den Kellner.
"Womit kann ich dienen?" fragte der.
"Antworten Sie mir auf eine Frage."
"Bitte schön."
"Soll ich hingehen oder nicht?"
"Wohin meinen der Herr?"
"Sie sollen nicht fragen, Sie sollen antworten. Soll ich hingehen oder
nicht?"
Der Kellner kratzte sich unsichtbar hinter den Ohren. Dann trat er von
einem Plattfuß auf den anderen und meinte verlegen: "Das beste wird
sein, Sie gehen nicht hin. Sicher ist sicher, mein Herr."
Fabian nickte. "Gut. Ich werde hingehen. Zahlen."
"Aber ich habe Ihnen doch abgeraten!"
"Deshalb geh ich ja hin! Bitte zahlen!"
"Wenn ich zugeraten hätte, wären Sie nicht gegangen?"
"Dann auch. Bitte zahlen!"
"Das versteh ich nicht!" erklärte der Kellner ärgerlich. "Warum haben
Sie mich dann überhaupt gefragt?" "Wenn ich das wüßte", antwortete
Fabian.
"Eine Tasse Kaffee, ein Butterbrot, fünfzig, dreißig, achtzig,
neunzig Pfennig", deklamierte der andere. Fabian legte eine Mark auf den
Tisch und ging. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Wenn man am
Wittenbergplatz auf den Autobus I klettert, an der Potsdamer Brücke in eine
Straßenbahn umsteigt, ohne deren Nummer zu lesen, und zwanzig Minuten
später den Wagen verläßt, weil plötzlich eine Frau drinsitzt, die
Friedrich dem Großen ähnelt, kann man wirklich nicht wissen, wo man
ist.
Er folgte drei hastig marschierenden Arbeitern und geriet, über
Holzkohlen stolpernd, an Bauzäunen und grauen Stundenhotels entlang, zum
Bahnhof Jannowitzbrücke. Im Zug holte er die Adresse heraus, die ihm
Bertuch, der Bürochef, aufgeschrieben hatte: Schlüterstraße 23, Frau
Sommer. Er fuhr bis zum Zoo. Auf der Joachimsthaler Straße fragte ihn
ein dünnbeiniges, wippendes Fräulein, wie er drüber dächte. Er beschied das
Anerbieten abschlägig, drohte mit dem Finger und entkam.
Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten waren mit buntem
Licht beschmiert, und die Sterne am Himmel konnten sich schämen. Ein
Flugzeug knatterte über die Dächer. Plötzlich regnete es Aluminiumtaler. Die
Passanten blickten hoch, lachten und bückten sich. Fabian dachte flüchtig an
jenes Märchen, in dem ein kleines Mädchen sein Hemd hochhebt, um das
Kleingeld aufzufangen, das vom Himmel fällt. Dann holte er von der steifen
Krempe eines fremden Hutes einen Taler herunter. "Besucht die Exotikbar,
Nollendorfplatz 3, Schöne Frau en, Nacktplastiken, Pension Condor im
gleichen Hause", stand darauf. Fabian hatte mit einem Male die Vorstellung,
er fliege dort oben im Aeroplan und sehe auf sich hinunter, auf den jungen
Mann in der Joachimsthaler Straße, im Gewimmel der Menge, im
Lichtkreis der Laternen und Schaufenster, im Straßengewirr der fiebrig
entzündeten Nacht.
Wie klein der Mann war. Und mit dem war er identisch! Er überquerte den
Kurfürstendamm. An einem der Giebel rollte eine Leuchtfigur, ein Türkenjunge
war es, mit den elektrischen Augäpfeln. Da stieß jemand heftig gegen
Fabians Stiefelabsatz. Er drehte sich mißbilligend um. Es war die
Straßenbahn gewesen. Der Schaffner fluchte.
"Passense auf!" schrie der Polizist.
Fabian zog den Hut und sagte: "Werde mir Mühe geben."
In der Schlüterstraße öffnete ein grünlivrierter Liliputaner,
erklomm eine zierliche Leiter, half dem Besucher aus dem Mantel und
verschwand. Kaum war der kleine Grüne weg, rauschte eine üppige Dame,
bestimmt Frau Sommer, durch den Vorhang und sagte: "Darf ich Sie in mein
Büro bitten?" Fabian folgte.
"Mir wurde Ihr Klub von einem gewissen Herrn Bertuch empfohlen."
Sie blätterte in einem Heft und nickte. "Bertuch, Friedrich Georg,
Bürochef, 40 Jahre, mittelgroß, brünett, Karlstraße 9,
musikliebend, bevorzugt schlanke Blondinen, nicht über fünfundzwanzig Jahre
alt."
"Das ist er!"
"Herr Bertuch verkehrt seit Oktober bei mir und war in dieser Zeit
fünfmal anwesend."
"Das spricht für das Institut."
"Die Anmeldegebühr beträgt zwanzig Mark. Jeder Besuch kostet zehn Mark
extra."
"Hier sind dreißig Mark." Fabian legte das Geld auf den
Schreibtisch. Die üppige Dame steckte die Scheine in eine Schublade, nahm
einen Federhalter und sagte: "Die Personalien?"
"Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit
Reklamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun. Was
müssen Sie noch wissen?"
"Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?"
"Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu Blond, meine
Erfahrung spricht dagegen. Meine Vorliebe gehört großen Frauen. Aber
das Bedürfnis ist nicht gegenseitig. Lassen Sie die Rubrik frei." Irgendwo
wurde Grammophon gespielt. Die üppige Dame erhob sich und erklärte ernst:
"Ich darf Sie, bevor wir hineingehen, mit den wichtigsten Statuten bekannt
machen. Annäherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übelgenommen,
sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben Rechte wie die Herren.
Von der Existenz, der Adresse und den Gepflogenheiten des Instituts ist nur
vertrauenswürdigen Herrschaften Mitteilung zu machen. Der idealen Absichten
des Unternehmens ungeachtet sind die Konsumkosten sofort zu begleichen.
Innerhalb der Klubräume hat keins der Paare Anspruch darauf, respektiert zu
werden. Paare, die ungestört zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub
zu verlassen. Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen, nicht
den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vorübergehend zu
gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, werden ersucht, das wieder zu
vergessen, da nur auf diese Weise Komplikationen vermeidbar sind. Haben Sie
mich verstanden, Herr Fabian?"
"Vollkommen."
"Dann bitte ich Sie, mir zu folgen." Dreißig bis vierzig Personen
mochten anwesend sein. Im ersten Raum wurde Bridge gespielt. Nebenan wurde
getanzt. Frau Sommer wies dem neuen Mitglied einen freien Tisch an, sagte,
daß man sich notfalls jederzeit an sie wenden könne, und
verabschiedete sich. Fabian nahm Platz, bestellte beim Kellner Kognaksoda
und sah sich um. War er auf einer Geburtstagsgesellschaft?
"Die Menschen sehen harmloser aus, als sie sind", bemerkte ein kleines
schwarzhaariges Fräulein und setzte sich neben ihn. Fabian bot ihr zu
rauchen an.
"Sie wirken sympathisch", sagte sie. "Sie sind im Dezember geboren."
"Im Februar."
"Aha! Sternbild der Fische und paar Tropfen Wassermann. Ziemlich kalte
Natur. Sie kommen nur aus Neugierde?"
"Die Atomtheoretiker behaupten, noch die kleinsten Substanzpartikel
bestünden aus umeinander kreisenden elektrischen Energiemengen. Halten Sie
diese Ansicht für eine Hypothese oder für eine Anschauung, die dem wahren
Sachverhalt entspricht?"
"Empfindlich sind Sie auch noch?" rief die Person. "Aber es macht
nichts. Sind Sie hier, um sich eine Frau zu suchen?"
Er hob die Schultern. "Ist das ein förmlicher Antrag?"
"Unsinn! Ich war zweimal verheiratet, das genügt vorläufig. Die Ehe ist
nicht die richtige Ausdrucksform für mich. Dafür interessieren mich die
Männer zu sehr. Ich stelle mir jeden, den ich sehe und der mir gefällt, als
Ehemann vor."
"In seinen prägnantesten Eigenschaften, will ich hoffen." Sie lachte,
als hätte sie den Schlucken, und legte die Hand auf sein Knie. "Richtig
gehofft! Man behauptet, ich litte an stellungssuchender Phantasie. Sollten
Sie im Verlauf des Abends das Bedürfnis haben, mich nach Hause zu bringen,
meine Wohnung und ich sind klein, aber stabil." Er entfernte die fremde und
unruhige Hand von seinem Knie und meinte: "Möglich ist alles. Und jetzt will
ich mir das Lokal ansehen." Er kam nicht dazu. Wie er sich erhob und
umwandte, stand eine große, programmäßig gewachsene Dame vor ihm
und sagte: "Man wird gleich tanzen."
Sie war größer als er und blond dazu. Die kleine schwarzhaarige
Schwadroneuse befolgte die Statuten und verschwand. Der Kellner setzte das
Grammophon in Gang. An den Tischen entstand Bewegung. Man tanzte. Fabian
betrachtete die Blondine sorgfältig. Sie hatte ein blasses infantiles
Gesicht und sah zurückhaltender aus, als sie, ihrem Tanze nach, zu sein
schien. Er schwieg und spürte, daß in wenigen Minuten jener Grad von
Schweigsamkeit erreicht wäre, der den Anfang eines Gesprächs, eines
belanglosen dazu, unmöglich macht. Glücklicherweise trat er ihr auf den
Fuß. Sie wurde gesprächig. Sie zeigte ihm die zwei Damen, die einander
neulich wegen eines Mannes geohrfeigt und die Kleider aufgerissen hatten.
Sie berichtete, daß Frau Sommer ein Verhältnis mit dem grünen
Liliputaner habe, und erklärte, daß sie sich diese Liaison nicht
auszumalen wage. Schließlich fragte sie, ob er noch bleiben wolle; sie
breche auf. Er ging mit.
Am Kurfürstendamm winkte sie einem Taxi, nannte eine Adresse, stieg ein
und nötigte ihn, neben ihr Platz zu nehmen. "Aber ich habe nur noch zwei
Mark", erklärte er. "Das macht fast gar nichts", gab sie zur Antwort, und
dem Chauffeur rief sie zu: "Licht aus!" Es wurde dunkel. Der Wagen ruckte an
und fuhr. Schon in der ersten Kurve fiel sie über ihn her und biß ihn
in die Unterlippe. Er schlug mit der Schläfe gegen das Verdeckscharnier,
hielt sich den Kopf und sagte: "Aua! Das fängt gut an."
"Sei nicht so empfindlich", befahl sie und überschüttete ihn mit
Aufmerksamkeiten.
Ihm kam der Überfall zu plötzlich. Und der Schädel tat ihm weh. Fabian
war nicht bei der Sache. "Ich wollte eigentlich, bevor Sie mich erwürgen,
noch einen Brief schreiben", röchelte er.
Sie boxte ihn vors Schlüsselbein, lachte, ohne eine Miene zu verziehen,
die Tonleiter hinauf und herunter und strangulierte weiter. Seine Bemühung,
sich der Frau zu erwehren, wurde zusehends falsch ausgelegt. Jede Wegbiegung
führte zu neuen Verwicklungen. Er beschwor das Schicksal, dem Auto weitere
Kurven zu ersparen. Das Schicksal hatte Ausgang.
Als der Wagen endlich hielt, überpuderte die Blonde ihr Gesicht,
bezahlte die Fahrt und äußerte vor der Haustür: "Erstens ist dein
Gesicht voll roter Flecken, und zweitens trinkst du bei mir eine Tasse Tee."
Er rieb sich die Lippenpomade von den Backen und sagte: "Ihr Antrag
ehrt mich, doch ich muß morgen zeitig im Büro sein."
"Mach mich nicht wütend. Du bleibst bei mir. Das Mädchen wird dich
wecken."
"Aber ich werde nicht aufstehen. Nein, ich muß zu Hause schlafen.
Ich erwarte früh sieben Uhr ein dringendes Telegramm. Das bringt die Wirtin
ms Zimmer und rüttelt mich, bis ich aufwache."
"Wieso weißt du schon jetzt, daß du ein Telegramm erhalten
wirst?"
"Ich weiß sogar, was drinsteht."
"Nämlich?"
"Es wird heißen: "Scher dich aus dem Bett. Dein treuer Freund
Fabian." Fabian, das bin ich." Er blinzelte in das Laub der Bäume und freute
sich über den gelben Glanz der Laternen. Die Straße lag ganz still.
Eine Katze lief geräuschlos ins Dunkel. Wenn er jetzt die grauen Häuser
entlangspazieren könnte!
"Die Geschichte mit dem Telegramm ist doch nicht wahr?"
"Nein, aber das ist der pure Zufall", sagte er.
"Wozu kommst du in den Klub, wenn dir an den Konsequenzen nichts
liegt?" fragte sie ärgerlich und schloß die Tür auf.
"Ich erfuhr die Adresse und bin sehr neugierig."
"Also hopp!" sagte sie. "Der Neugier sind keine Schranken gesetzt." Die
Tür schloß sich hinter ihnen.
ZWEITES KAPITEL
Es gibt sehr aufdringliche Damen
Ein Rechtsanwalt hat nichts dagegen
Betteln verdirbt den Charakter
Im Fahrstuhl war ein Wandspiegel. Fabian zog das Taschentuch und rieb
die roten Flecken aus dem Gesicht. Die Krawatte saß schief. Die
Schläfe brannte. Und die blasse Blondine sah auf ihn herunter. "Wissen Sie,
was eine Megäre ist?" fragte er. Sie legte den Arm um ihn. "Ich weiß
es, aber ich bin hübscher."
Am Türschild stand: Moll. Das Dienstmädchen öffnete. "Bringen Sie uns
Tee." "Der Tee steht in Ihrem Zimmer."
"Gut. Gehen Sie schlafen!" Das Mädchen verschwand im Korridor.
Fabian folgte der Frau. Sie führte ihn geradewegs ins Schlafzimmer,
schenkte Tee ein, stellte Kognak und Zigaretten zurecht und sagte mit einer
umfassenden Geste: "Bediene dich!"
"Mein Gott, ein Tempo haben Sie am Leibe!"
"Wo?" fragte sie.
Er überhörte das. "Sie heißen Moll?"
"Irene Moll sogar, damit Leute mit Gymnasiumbildung etwas zu lachen
haben. Setz dich. Ich komme gleich wieder."
Er hielt sie zurück und gab ihr einen Kuß. "Na, es wird ja
langsam", meinte sie und entfernte sich. Er trank einen Schluck Tee und ein
Glas Kognak. Dann musterte er das Zimmer. Das Bett war niedrig und breit.
Die Lampe gab indirektes Licht. Die Wände waren mit Spiegelglas bespannt. Er
trank noch einen Kognak und trat ans Fenster. Vergittert war es nicht. Was
hatte die Frau mit ihm vor? Fabian war zweiunddreißig Jahre alt und
hatte sich nachts fleißig umgetan, auch dieser Abend begann ihn zu
reizen. Er trank den dritten Kognak und rieb sich die Hände.
Er betrieb die gemischten Gefühle seit langem aus Liebhaberei. Wer sie
untersuchen wollte, mußte sie haben. Nur während man sie besaß,
konnte man sie beobachten. Man war ein Chirurg, der die eigene Seele
aufschnitt.
"So, nun wird der kleine Junge geschlachtet", sagte die Blondine.
Sie trug jetzt einen Schlafanzug aus schwarzen Spitzen. Er trat einen
Schritt zurück. Sie aber rief "Hurra!" und sprang ihm derart an den Hals,
daß er die Balance verlor, kippte und samt der Dame auf den
Fußboden zu sitzen kam.
"Ist sie nicht schrecklich?" fragte da eine fremde Stimme. Fabian
blickte verwundert hoch. Im Türrahmen stand, mit einem Pyjama bekleidet, ein
dürrer, großnasiger Mensch und gähnte.
"Was wollen Sie denn hier?" fragte Fabian.
"Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich konnte nicht wissen, daß
Sie mit meiner Frau bereits durchs Zimmer kriechen."
"Mit Ihrer Frau?"
Der Eindringling nickte, gähnte verzweifelt und sagte vorwurfsvoll:
"Irene, wie konntest du den Herrn in eine so schiefe Lage bringen! Wenn du
schon wünschst, daß ich mir deine Neuerwerbungen anschaue, kannst du
sie mir wenigstens gesellschaftsfähig präsentieren. Auf dem Teppich! Das
wird dem Herrn sicher nicht recht sein! Und ich schlief so schön, als du
mich wecktest... Ich heiße Moll, mein Herr, bin Rechtsanwalt und
außerdem", er gähnte herzzerreißend, "und außerdem der
Gatte dieser weiblichen Person, die sich auf Ihnen breitmacht."
Fabian schob die Blondine von sich herunter, stand auf und ordnete
seinen Scheitel. "Hält sich Ihre Gattin einen männlichen Harem? Mein Name
ist Fabian." Moll kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. "Es freut mich,
einen so sympathischen jungen Mann kennenzulernen. Die Umstände sind ebenso
gewöhnlich wie ungewöhnlich. Das ist Ansichtssache. Aber falls Sie der
Gedanke beruhigt: ich bin daran gewöhnt. Nehmen Sie Platz."
Fabian setzte sich. Irene Moll rutschte auf die Armlehne, streichelte
ihn und sagte zu ihrem Mann: "Wenn er dir nicht gefällt, brech ich den
Kontrakt."
"Aber er gefällt mir ja", antwortete der Rechtsanwalt.
"Sie reden über mich, als wäre ich ein Stück Streuselkuchen oder ein
Rodelschlitten", meinte Fabian.
"Ein Rodelschlitten bist du, mein Kleiner!" rief die Frau und
preßte seinen Kopf gegen ihre volle, schwarz vergitterte Brust.
"Himmeldonnerwetter!" schrie er. "Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!"
"Du darfst deinen Besuch nicht ärgern, liebe Irene", erklärte Moll.
"Ich werde mit ihm in mein Arbeitszimmer gehen und ihm dort alles
Wissenswerte mitteilen. Du vergißt, daß er die Situation als
merkwürdig empfinden muß. Ich schicke ihn dir dann wieder herüber.
Gute Nacht." Der Rechtsanwalt gab seiner Frau die Hand. Sie stieg in ihr
niedriges Bett, stand betrübt und einsam zwischen den Kissen und sagte:
"Gute Nacht, Moll, schlaf gut. Aber red ihn nicht tot. Ich brauch ihn noch."
"Ja, ja", antwortete Moll und zog den Gast mit sich fort.
Sie nahmen im Arbeitszimmer Platz. Der Rechtsanwalt zündete sich eine
Zigarette an, fröstelte, legte eine Kamelhaardecke über die Knie und
blätterte in einem Aktenbündel.
"Mich geht zwar die Sache nichts an", begann Fabian, "aber was Sie sich
von der Frau bieten lassen, steigt auf Bäume. Werden Sie oft von ihr aus dem
Bett geholt, um die Liebhaber zu taxieren?"
"Sehr oft, mein Herr. Ursprünglich erwirkte ich mir diese Begutachtung
als verbrieftes Recht. Nach dem ersten Jahr unserer Ehe setzten wir einen
Kontrakt auf, dessen Paragraph 4 lautet: "Die Vertragspartnerin verpflichtet
sich, jeden Menschen, mit dem sie in intime Beziehungen zu treten wünscht,
zuvor ihrem Gatten, Herrn Doktor Felix Moll, vorzuführen. Spricht sich
dieser gegen den Betreffenden aus, so ist Frau Irene Moll angewiesen,
unverzüglich auf die Ausführung ihres Vorhabens zu verzichten. Jedes
Vergehen gegen den Paragraphen wird mit einer hälftigen Kürzung der
finanziellen Monatszuwendung geahndet." Der Kontrakt ist sehr interessant.
Soll ich ihn in extenso vorlesen?" Moll holte den Schreibtischschlüssel aus
der Tasche.
"Bemühen Sie sich nicht!" Fabian wehrte ab. "Wissen möchte ich nur,
wieso Sie auf den Gedanken verfielen, einen solchen Kontrakt überhaupt
aufzusetzen."
"Meine Frau träumte so schlecht."
"Wie?"
"Sie träumte. Sie träumte entsetzliche Dinge. Es war offensichtlich,
daß ihre sexuellen Bedürfnisse proportional der Ehedauer zunahmen und
Wunschträume erzeugten, von deren Inhalt Sie, mein Herr, sich
glücklicherweise noch keine Vorstellung machen können. Ich zog mich zurück,
und sie bevölkerte ihr Schlafzimmer mit Chinesen, Ringkämpfern und
Tänzerinnen. Was blieb mir übrig? Wir schlössen einen Vertrag."
"Meinen Sie nicht, daß eine andere Behandlung erfolgreicher und
geschmackvoller gewesen wäre?" fragte Fabian ungeduldig.
"Zum Beispiel, mein Herr?" Der Rechtsanwalt setzte sich aufrecht.
"Zum Beispiel:
pro Abend fünfundzwanzig hintendrüber?"
"Ich hab's versucht. Es tat mir zu weh."
"Das kann ich gut verstehen."
"Nein!" rief der Rechtsanwalt. "Das können Sie nicht verstehen! Irene
ist sehr kräftig, mein Herr."
Moll senkte den Kopf. Fabian zog eine weiße Nelke aus der
Schreibtischvase, steckte die Blume ins Knopfloch, erhob sich, lief im
Zimmer umher und rückte die Bilder gerade. Vermutlich hatte es dem alten
langen Kerl auch noch Vergnügen gemacht, von seiner Frau übers Knie gelegt
zu werden.
"Ich will gehen", sagte er. "Geben Sie mir den Hausschlüssel!"
"Ist das Ihr Ernst?" fragte Moll ängstlich. "Aber Irene erwartet Sie
doch. Bleiben Sie, um des Himmels willen! Sie wird außer sich geraten,
wenn sie sieht, daß Sie gegangen sind! Sie wird denken, ich hätte Sie
weggeschickt. Bleiben Sie bitte! Sie hat sich so darauf gefreut. Gönnen Sie
ihr doch das kleine Vergnügen!"
Der Mann war aufgesprungen und packte den Besucher am Jackett. "Bleiben
Sie doch! Sie werden es nicht bereuen. Sie werden wiederkommen. Sie werden
unser Freund bleiben. Und ich werde Irene in guten Händen wissen. Tun Sie's
mir zu Gefallen."
"Vielleicht wollen Sie mir auch noch ein sicheres Monatseinkommen
garantieren?"
"Darüber ließe sich reden, mein Herr. Ich bin nicht unvermögend."
"Geben Sie mir den Hausschlüssel, aber etwas plötzlich! Ich eigne mich
nicht für den Posten."
Doktor Moll seufzte, kramte auf dem Schreibtisch, gab Fabian einen
Schlüsselbund und sagte: "Jammerschade, Sie waren mir von Anfang an
sympathisch. Behalten Sie die Schlüssel ein paar Tage. Vielleicht überlegen
Sie sich's. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, Sie wiederzusehen."
Fabian knurrte: "Gute Nacht", ging leise durch die Diele, nahm Hut und
Mantel, öffnete die Tür, zog sie vorsichtig hinter sich zu und galoppierte
die Treppe hinunter. Auf der Straße holte er tief Atem und schüttelte
den Kopf. Da spazierten die Menschen hier unten vorüber und hatten keine
Ahnung, wie verrückt es hinter den Mauern zuging! Die märchenhafte Gabe,
durch Mauern und verhängte Fenster zu blicken, war eine Kleinigkeit gegen
die Leistung, das, was man dann sähe, zu ertragen.
"Ich bin sehr neugierig", hatte er der blonden Person erzählt, und nun
lief er auf und davon, statt seine Neugier mit dem Ehepaar Moll zu füttern.
Dreißig Mark war er losgeworden. Zwei Mark hatte er noch in der
Tasche. Aus dem Abendessen wurde nichts. Er pfiff sich eins, ging kreuz und
quer durch düstere, unbekannte Alleen und geriet, aus Versehen, vor den
Bahnhof Heerstraße. Er fuhr bis zum Zoo, dort sprang er m die
Untergrundbahn, stieg am Wittenbergplatz um und kam in der
Spichernstraße aus der Unterwelt wieder herauf unter den freien
Himmel.
Er ging in sein Stammcafé. Nein, Doktor Labude sei nicht mehr da. Er
habe bis elf Uhr gewartet. Fabian setzte sich, bestellte Kaffee und rauchte.
Der Wirt, ein gewisser Kowalski, erkundigte sich nach dem werten
Befinden. Heute abend sei übrigens etwas sehr Komisches passiert. Kowalski
lachte, daß die falschen Zähne blitzten. Der Kellner Nietenführ habe
es zuerst beobachtet. "Dort drüben am runden Tisch saß ein junges
Paar. Die beiden unterhielten sich prächtig. Die Frau streichelte die Hand
des Mannes in einem fort. Sie lachte, zündete ihm eine Zigarette an und war
von einer Liebenswürdigkeit, die nicht häufig ist."
"Das ist doch nicht komisch."
"Warten Sie ab, bester Herr Fabian. Warten Sie nur ab! Die Frau -
hübsch war sie, das muß man ihr lassen - poussierte gleichzeitig mit
einem Herrn vom Nebentisch. Und das in einer Weise! Nietenführ holte mich
unauffällig heran. Der Anblick war toll. Der Kerl steckte ihr
schließlich einen Zettel zu. Sie las, nickte, schrieb ihrerseits einen
Wisch und warf ihn auf den Nebentisch. Währenddessen sprach sie aber auch
auf ihren Freund ein, erzählte ihm Geschichten, über die er sich freute -
ich habe schon sehr tüchtige Frauen gesehen, aber diese Simultanspielerin
übertraf alle."
"Warum ließ er sich denn das gefallen?"
"Einen Moment, bester Herr Fabian. Die Pointe kommt sofort! Also, wir
wunderten uns natürlich auch, warum er sich das bieten ließ. Er
saß zufrieden neben ihr, lächelte einfältig, legte den Arm um ihre
Schultern, und währenddessen nickte sie dem Mann vom Nebentisch zu. Der
nickte zurück, machte Zeichen, und uns blieb die Spucke weg. Nietenführ ging
dann hinüber, weil sie zahlen wollte." Herr Kowalski steckte den massigen
Kopf hoch und lachte himmelwärts. "Nun, woran lag's?"
"Der Mann, mit dem sie zusammensaß, war blind!" Der Wirt machte
eine Verbeugung und lief, laut lachend, davon. Fabian blickte erstaunt
hinterher. Der Fortschritt der Menschheit war unverkennbar.
An der Tür ging es lebhaft zu. Nietenführ und der Hilfskellner waren
damit beschäftigt, einen schäbig gekleideten Mann hinauszudrängen. "Scheren
Sie sich auf der Stelle fort. Den ganzen Tag diese Bettelei, das ist
ekelhaft", sagte Nietenführ zischend. Und der Hilfskellner zerrte den
Menschen, der blaß war und kein Wort sprach, hin und her.
Fabian sprang auf, lief zu der Gruppe und rief den Kellnern zu: "Lassen
Sie sofort den Herrn los!" Die zwei gehorchten widerstrebend.
"Da sind Sie ja", meinte Fabian und gab dem Bettler die Hand. "Es tut
mir außerordentlich leid, daß man Sie gekränkt hat.
Entschuldigen Sie und kommen Sie an meinen Tisch." Er führte den Mann, der
nicht wußte, wie ihm geschah, in seine Ecke, hieß ihn Platz
nehmen und fragte: "Was möchten Sie essen? Wollen Sie ein Glas Bier
trinken?"
"Sie sind sehr freundlich", sagte der Bettler. "Aber ich werde Ihnen
Ungelegenheiten machen."
"Hier ist die Speisekarte. Suchen Sie sich, bitte, etwas aus."
"Das geht nicht! Man wird mich vom Tisch wegholen und
hinausschmeißen."
"Das wird man nicht tun! Nehmen Sie sich zusammen!
Bloß, weil Ihr Jackett geflickt ist und weil Ihnen der Magen
knurrt, wagen Sie nicht, richtig auf dem Stuhl zu
sitzen? Sie sind ja selber mitschuldig, daß man Sie nirgends
durch die Tür läßt."
"Wenn man zwei Jahre arbeitslos ist, denkt man anders darüber", sagte
der Mann. "Ich schlafe am Engelufer in der Herberge. Zehn Mark zahlt mir die
Fürsorge. Mein Magen ist krank vom vielen Kaviar."
"Was sind Sie von Beruf?"
"Bankangestellter, wenn ich mich recht entsinne. Im Gefängnis war ich
auch schon. Gott, man sieht sich eben um. Das einzige, was ich noch nicht
erlebt habe, ist der Selbstmord. Aber das läßt sich nachholen." Der
Mann saß auf der Stuhlkante und hielt die Hände zitternd vor den
Westenausschnitt, um das dreckige Hemd zu verbergen. Fabian wußte
nicht, was er sagen sollte. Er probierte, im Kopf, viele Sätze. Keiner war
am Platz. Er stand auf und sagte: "Einen Augenblick, der Kellner wünscht,
von einer Abordnung geholt zu werden." Er lief nach dem Büfett, stellte den
Oberkellner zur Rede, faßte ihn am Arm und schleppte ihn durchs Lokal.
Der Bettler war fort.
"Ich zahle morgen!" rief Fabian, stürzte aus dem Café und sah sich um.
Der Mann war verschwunden.
"Wen suchen Sie denn?" fragte jemand. Es war Münzer, Redakteur Münzer.
Er knöpfte den Mantel zu, brannte sich eine Zigarre an und sagte: "So ein
Blödsinn. Ich hätte die Partie glatt gewonnen. Schmalnauer hat wie ein
Rhinozeros gespielt. Aber ich muß zum Nachtdienst. Das deutsche Volk
will morgen früh wissen, wieviel Dachstuhlbrände stattfanden, während es
schlief."
"Sie sind doch ein politischer Redakteur", entgegnete Fabian.
"Dachstuhlbrände gibt's auf jedem Gebiet", sagte Münzer. "Gerade
nachts. Das muß an der Konstruktion liegen. Wissen Sie was, kommen Sie
mit! Sehen Sie sich mal unsern Zirkus an."
Münzer stieg in seinen kleinen Privatwagen. Fabian setzte sich neben
den Redakteur. "Seit wann haben Sie übrigens ein Auto?" fragte er.
"Ich hab es unserm Handelsredakteur abgekauft. Dem wurde das Ding zu
teuer", erklärte Münzer. "Er ärgert sich immer so schön, wenn er mich in
sein ehemaliges Prachtstück klettern sieht. Das ist der Spaß schon
wert. Wissen Sie, daß Sie auf eigenes Risiko mitfahren? Sollten Sie
sich das Genick brechen, tun Sie's auf Ihre Rechnung."
Dann fuhren sie los.
DRITTES KAPITEL
Vierzehn Tote in Kalkutta
Es ist richtig, das Falsche zu tun
Die Schnecken kriechen im Kreis
Der Korridor war leer. In der Handelsredaktion brannte Licht, es
saß jemand im Zimmer, die Tür stand offen. "Schade, daß Malmy
schon im Haus ist", sagte Münzer verstimmt. "Nun hat er sein Auto wieder
nicht gesehen. Moment. Mal horchen, was sich in der Weltgeschichte tut."
Er riß eine Tür auf, Schreibmaschinen klapperten, aus den an
einer Zimmerwand aufgereihten Telefonkabinen drangen, wie aus der Ferne, die
Stimmen der Stenotypistinnen. "Was Wichtiges?" schrie Münzer in den Lärm
hinein.
"Die Rede des Reichskanzlers", antwortete eine Frau.
"Richtig", sagte der Redakteur. "Der Kerl schmeißt mir mit seiner
Quasselei die ganze erste Seite über den Haufen. Liegt der Text vollständig
vor?"
"Zelle Zwei nimmt das zweite Drittel auf!" "Sofort m die Maschine
damit, dann zu mir!" kommandierte Münzer, schlug die Tür zu und führte
Fabian in die Räume der politischen Redaktion. Während sie ablegten, zeigte
er auf den Schreibtisch. "Schauen Sie sich die Bescherung an! Erdbeben aus
Papier!" Er wühlte in dem Haufen neu eingegangener Meldungen, schnitt mit
einer Schere, wie ein Zuschneider, einiges ab und legte es beiseite. Den
Rest warf er in den Papierkorb. "Marsch, ins Körbchen", sagte er dabei. Dann
klingelte er, bestellte bei einem livrierten Boten eine Flasche Mosel mit
zwei Gläsern und gab Geld. Der Bote stieß in der Tür mit einem
aufgeregten jungen Mann zusammen, der herein wollte. "Der Chef hat eben
angerufen", erzählte der junge Mann atemlos. "Ich muß im Leitartikel
fünf Zeilen streichen. Sie wären durch neue Nachrichten überholt. Ich komme
gerade aus der Setzerei und habe die fünf Zeilen herausnehmen lassen."
"Sie sind ein Tausendsassa", erklärte Münzer. "Ich mache bekannt:
Doktor Irrgang, hat noch eine große Zukunft vor sich, Irrgang ist der
Künstlername. Herr Fabian." Die beiden gaben einander die Hand.
"Aber", sagte Herr Irrgang betreten, "nun sind doch in der Spalte fünf
Zeilen frei."
"Was tut man m einem so außergewöhnlichen Fall?" fragte Münzer.
"Man füllt die Spalte", erklärte der Volontär. Münzer nickte. "Steht
nichts im Satz?" Er wühlte in den Bürstenabzügen. "Ausverkauft", erklärte
er. "Sauregurkenzeit."
Dann prüfte er die Meldungen, die er eben beiseite gelegt hatte, und
schüttelte den Kopf.
"Vielleicht kommt noch etwas Brauchbares herein", schlug der junge Mann
vor.
"Sie hätten Säulenheiliger werden sollen", sagte Münzer. "Oder
Untersuchungsgefangener, oder sonst ein Mensch mit viel Zeit. Wenn man eine
Notiz braucht und keine hat, erfindet man sie. Passen Sie mal auf!" Er
setzte sich hin, schrieb rasch, ohne nachzudenken, ein paar Zeilen und gab
das Blatt dem jungen Mann. "So, nun fort, Sie Spaltenfüller. Wenn's nicht
reicht, ein Viertel Durchschuß."
Herr Irrgang las, was Münzer geschrieben hatte, sagte ganz leise:
"Allmächtiger Vater" und setzte sich, als sei ihm plötzlich schlecht
geworden, auf die Chaiselongue, mitten in einen knisternden Berg
ausländischer Zeitungen.
Fabian bückte sich über das Blatt Papier, das in Irrgangs Hand
zitterte, und las: "In Kalkutta fanden Straßenkämpfe zwischen
Mohammedanern und Hindus statt. Es gab, obwohl die Polizei der Situation
sehr bald Herr wurde, vierzehn Tote und zweiundzwanzig Verletzte. Die Ruhe
ist vollkommen wiederhergestellt." Ein alter Mann schlurfte m Pantoffeln ins
Zimmer und legte mehrere Schreibmaschinenblätter vor Münzer hin.
"Kanzlerrede, Fortsetzung", murmelte er. "Den Schluß geben sie in zehn
Minuten durch." Dann schleppte er sich wieder davon. Münzer klebte die sechs
Blätter, aus denen die Rede vorläufig bestand, aneinander, bis sie wie ein
mittelalterliches Spruchband aussahen, dann begann er zu redigieren. "Mach
hurtig, Jenny", sagte er mit einem Seitenblick auf Irrgang.
"Aber in Kalkutta haben doch gar keine Unruhen stattgefunden",
entgegnete Irrgang widerstrebend. Dann senkte er den Kopf und meinte
fassungslos: "Vierzehn Tote."
"Die Unruhen haben nicht stattgefunden?" fragte Münzer entrüstet.
"Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta finden immer Unruhen
statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im Stillen Ozean sei die Seeschlange
wieder aufgetaucht? Merken Sie sich folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit
nicht oder erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr. Und nun
entfernen Sie sich blitzartig, sonst lasse ich Sie martern und der
Stadtausgabe beilegen." Der junge Mann ging.
"Und so was will Journalist werden", stöhnte Münzer und strich
aufseufzend und mit einem Bleistift in der Rede des Reichskanzlers herum.
"Privatgelehrter für Tagesneuigkeiten, das wäre was für den Jüngling. Gibt's
aber leider nicht."
"Sie bringen ohne weiteres vierzehn Inder um und zweiundzwanzig andere
ins Städtische Krankenhaus von Kalkutta?" fragte Fabian.
Münzer bearbeitete den Reichskanzler. "Was soll man machen?" fragte er.
"Im übrigen, wozu das Mitleid mit den Leuten? Sie leben ja noch, alle
sechsunddreißig, und sind kerngesund. Glauben Sie mir, mein Lieber,
was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen." Und
dabei strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlerrede heraus.
"Man beeinflußt die öffentliche Meinung mit Meldungen wirksamer als
durch Artikel, aber am wirksamsten dadurch, daß man weder das eine
noch das andere bringt. Die bequemste öffentliche Meinung ist noch immer die
öffentliche Meinungslosigkeit."
"Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blattes ein", meinte Fabian.
"Und wovon sollen wir leben?" fragte Münzer. "Außerdem, was
sollen wir statt dessen tun?"
Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wein und die Gläser. Münzer
schenkte ein und ho