Thomas Mann. Der kleine Herr Friedemann
(1897)
:
Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Leipzig, 1989
OCR, Spellcheck:
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Die Amme hatte die Schuld. - Was half es, dass, als der erste Verdacht
entstand, Frau Konsul Friedemann ihr ernstlich zuredete, solches Laster zu
unterdrXcken? Was half es, dass sie ihr auXer dem nahrhaften Bier ein Glas
Rotwein tXglich verabreichte? Es stellte sich plXtzlich heraus, dass dieses
MXdchen sich herbeilieX, auch noch den Spiritus zu trinken, der fXr den
Kochapparat verwendet werden sollte, und ehe Ersatz fXr sie eingetroffen
war, ehe man sie hatte fortschicken kXnnen, war das UnglXck geschehen. Als
die Mutter und ihre drei halbwXchsigen TXchter eines Tages von einem
Ausgange zurXckkehrten, lag der kleine, etwa einen Monat alte Johannes, vom
Wickeltische gestXrzt, mit einem entsetzlich leisen Wimmern am Boden,
wXhrend die Amme stumpfsinnig danebenstand.
Der Arzt, der mit einer behutsamen Festigkeit die Glieder des
gekrXmmten und zuckenden kleinen Wesens prXfte, machte ein sehr, sehr
ernstes Gesicht, die drei TXchter standen schluchzend in einem Winkel, und
Frau Friedemann in ihrer Herzensangst betete laut. Die arme Frau hatte es
noch vor der Geburt des Kindes erleben mXssen, dass ihr Gatte, der
niederlXndische Konsul, von einer ebenso plXtzlichen wie heftigen Krankheit
dahingerafft wurde, und sie war noch zu gebrochen, um Xberhaupt der Hoffnung
fXhig zu sein, der kleine Johannes mXchte ihr erhalten bleiben. Allein nach
zwei Tagen erklXrte ihr der Arzt mit einem ermutigenden HXndedruck, eine
unmittelbare Gefahr sei schlechterdings nicht mehr vorhanden, die leichte
Gehirnaffektion, vor allem, sei gXnzlich behoben, was man schon an dem
Blicke sehen kXnne, der durchaus nicht mehr den stieren Ausdruck zeige wie
anfangs ... Freilich mXsse man abwarten, wie im Xbrigen sich die Sache
entwickeln werde, und das Beste hoffen, wie gesagt, das Beste hoffen ...
Das graue Giebelhaus, in dem Johannes Friedemann aufwuchs, lag am
nXrdlichen Tore der alten, kaum mittelgroXen Handelsstadt. Durch die HaustXr
betrat man eine gerXumige, mit Steinfliesen versehene Diele, von der eine
Treppe mit weiXgemaltem HolzgelXnder in die Etagen hinauffXhrte. Die Tapeten
des Wohnzimmers im ersten Stock zeigten verblichene Landschaften, und um den
schweren Mahagonitisch mit der dunkelroten PlXschdecke standen steiflehnige
MXbel. Hier saX er oft in seiner Kindheit am Fenster, vor dem stets schXne
Blumen prangten, auf einem kleinen Schemel zu den FXen seiner Mutter und
lauschte etwa, wXhrend er ihren glatten, grauen Scheitel und ihr gutes,
sanftmXtiges Gesicht betrachtete und den leisen Duft atmete, der immer von
ihr ausging, auf eine wundervolle Geschichte. Oder er lieX sich vielleicht
das Bild des Vaters zeigen, eines freundlichen Herrn mit grauem Backenbart.
Er befand sich im Himmel, sagte die Mutter, und erwartete dort sie alle.
Hinter dem Hause war ein kleiner Garten, in dem man wXhrend des Sommers
einen guten Teil des Tages zuzubringen pflegte, trotz des sXlichen Dunstes,
der von einer nahen Zuckerbrennerei fast immer herXberwehte. Ein alter,
knorriger Walnussbaum stand dort, und in seinem Schatten saX der kleine
Johannes oft auf einem niedrigen Holzsessel und knackte NXsse, wXhrend Frau
Friedemann und die drei nun schon erwachsenen Schwestern in einem Zelt aus
grauem Segeltuch beisammen waren. Dei Blick der Mutter aber hob sich oft von
ihrer Handarbeit, um mit wehmXtiger Freundlichkeit zu dem Kinde
hin berzugleiten.
Er war nicht schXn, der kleine Johannes, und wie er so mit seiner
spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden RXcken und seinen viel zu
langen, mageren Armen auf dem Schemel hockte und mit einem behenden Eifer
seine NXsse knackte, bot er einen hXchst seltsamen Anblick. Seine Hande und
F Xe aber waren zartgeformt und schmal, und er hatte groXe, rehbraune Augen,
einen weichgeschnittenen Mund und feines, lichtbraunes Haar. Obgleich sein
Gesicht so jXmmerlich zwischen den Schultern saX, war es doch beinahe schXn
zu nennen.
Als er sieben Jahre alt war, ward er zur Schule geschickt, und nun
vergingen die Jahre einfXrmig und schnell. TXglich wanderte er, mit der
komisch wichtigen Gangart, die Verwachsenen manchmal eigen ist, zwischen den
Giebelh usern und LXden hindurch nach dem alten Schulhaus mit den gotischen
GewXlben; und wenn er daheim seine Arbeit getan hatte, las er vielleicht in
seinen BXchern mit den schXnen, bunten Titelbildern oder beschXftigte sich
im Garten, wXhrend die Schwestern der krXnkelnden Mutter den Hausstand
fXhrten. Auch besuchten sie Gesellschaften, denn Friedemanns gehXrten zu den
ersten Kreisen der Stadt; aber geheiratet hatten sie leider noch nicht, denn
ihr VermXgen war nicht eben groX, und sie waren ziemlich hXlich.
Johannes erhielt wohl ebenfalls von seinen Altersgenossen hie und da
eine Einladung, aber er hatte nicht viel Freude an dem Verkehr mit ihnen. Er
vermochte an ihren Spielen nicht teilzunehmen, und da sie ihm gegenXber eine
befangene ZurXckhaltung immer bewahrten, so konnte es zu einer Kameradschaft
hicht kommen.
Es kam die Zeit, wo er sie auf dem Schulhofe oft von gewissen
Erlebnissen sprechen hXrte; aufmerksam und mit groXen Augen lauschte er, wie
sie von ihren SchwXrmereien fXr dies oder jenes kleine MXdchen redeten, und
schwieg dazu. Diese Dinge, sagte er sich, von denen die anderen ersichtlich
ganz erfXllt waren, gehXrten zu denen, fXr die er sich nicht eignete, wie
Turnen und Ballwerfen. Das machte manchmal ein wenig traurig; am Ende aber
war er von jeher daran gewXhnt, fXr sich zu stehen und die Interessen der
anderen nicht zu teilen.
Dennoch geschah es, dass er X sechzehn Jahre zXhlte er damals X zu
einem gleichalterigen MXdchen eine plXtzliche Neigung fasste. Sie war die
Schwester eines seiner Klassengenossen, ein blondes, ausgelassen frXhliches
GeschXpf, und bei ihrem Bruder lernte er sie kennen. Er empfand eine
seltsame Beklommenheit in ihrer NXhe, und die befangene und kXnstlich
freundliche Art, mit der auch sie ihn behandelte, erfXllte ihn mit tiefer
Traurigkeit. Als er eines Sommernachmittags einsam vor der Stadt auf dem
Walle spazieren ging, vernahm er hinter einem Jasminstrauch ein FlXstern und
lauschte vorsichtig zwischen den Zweigen hindurch. Auf der Bank, die dort
stand, saX jenes MXdchen neben einem langen, rotkXpfigen Jungen, den er sehr
wohl kannte; er hatte den Arm um sie gelegt und drXckte einen KuX auf ihre
Lippen, den sie kichernd erwiderte. Als Johannes Friedemann dies gesehen
hatte, machte er kehrt und ging leise von dannen.
Sein Kopf saX tiefer als je zwischen den Schultern, seine HXnde
zitterten, und ein scharfer, drXngender Schmerz stieg ihm aus der Brust deft
Hals hinauf. Aber er wXrgte ihn hinunter und richtete sich entschlossen auf,
so gut er das vermochte. ,Gut', sagte er zu sich, ,das ist zu Ende. Ich will
mich niemals wieder um dies alles bekXmmern. Den anderen gewXhrt es GlXck
und Freude, mir aber vermag es immer nur Gram und Leid zu bringen. Ich bin
fertig damit. Es ist fXr mich abgetan. Nie wieder.' -
Der Entschluss tat ihm wohl. Er verzichtete, verzichtete auf immer. Er
ging nach Hause und nahm ein Buch zur Hand oder spielte Violine, was er
trotz seiner verwachsenen Brust erlernt hatte.
Mit siebenzehn Jahren verlieX er die Schule, um Kaufmann zu werden, wie
in seinen Kreisen alle Welt es war, und trat in das groXe HolzgeschXft des
Herrft Schlievogt, unteft am Fluss, als Lehrling ein. Man behandelte ihn mit
Nachsicht, er seinerseits war freundlich und entgegenkommend, und friedlich
und geregelt verging die Zeit. In seinem einundzwanzigsten Lebensjahre aber
starb nach langem Leiden seine Mutter.
Das war ein groXer Schmerz fXr Johannes Friedemann, den er sich lange
bewahrte. Er genoss ihn, diesen Schmerz, er gab sich ihm hin, wie man sich
einem groXen GlXcke hingibt, er pflegte ihn mit tausend
Kindheitserinnerungen und beutete ihn aus als sein erstes starkes Erlebnis.
Ist nicht das Leben an sich etwas Gutes, gleichviel, ob es sich nun so
fXr uns gestaltet, dass man es "glXcklich" nennt? Johannes Friedemann fXhlte
das, und er liebte das Leben. Niemand versteht, mit welcher innigen Sorgfalt
er, der auf das grXte GlXck, das es uns zu bieten vermag, Verzicht
geleistet hatte, die Freuden, die ihm zugXnglich waren, zu genieXen wusste.
Ein Spaziergang zur FrXhlingszeit drauXen in den Anlagen vor der Stadt, der
Duft einer Blume, der Gesang eines Vogels X konnte man fXr solche Dinge
nicht dankbar sein? Und dass zur GenussfXhigkelt Bildung gehXrt, ja, dass
Bildung immer nur gleich GenussfXhigkeit ist X auch das verstand er: und er
bildete sich. Er liebte die Musik und besuchte alle Konzerte, die etwa in
der Stadt veranstaltet wurden. Er selbst spielte allmXhlich, obgleich er
sich ungemein merkwXrdig dabei ausnahm, die Geige nicht Xbel und freute sich
an jedem schXnen und weichen Ton, der ihm gelang. Auch hatte er sich durch
viele LektXre mit der Zeit einen literarischen Geschmack angeeignet, den er
wohl in der Stadt mit niemandem teilte. Er war unterrichtet Xber die neueren
Erscheinungen des In- und Auslandes, er wusste den rhythmischen Reiz eines
Gedichtes auszukosten, die intime Stimmung einer fein geschriebenen Novelle
auf sich wirken zu lassen ... oh! man konnte beinahe sagen, dass er ein
Epikureer war.
Er lernte begreifen, dass alles genieXenswert, und dass es beinahe
tXricht ist, zwischen glXcklichen und unglXcklichen Erlebnissen zu
unterscheiden: Er nahm alle seine Empfinungen und Stimmungen bereitwilligst
auf und pflegte sie, die trXben so gut wie die heiteren: auch die
unerfXllten WXnsche X die Sehnsucht. Er liebte sie um ihrer selbst willen
und sagte sich, dass mit der ErfXllung das Beste vorbei sein wXrde.. Ist das
sXe, schmerzliche, vage Sehnen und Hoffen stiller FrXhlingsabende nicht
genussreicher als alle ErfXllungen, die der Sommer zu bringen vemXchte? X
Ja, er war ein Epikureer, der kleine Herr Friedemann!
Das wussten die Leute wohl nicht, die ihn auf der StraXe mit jener
mitleidig freundlichen Art begrXten, an die er von jeher gewXhnt war. Sie
wussten nicht, dass dieser unglXckliche KrXppel, der da mit seiner putzigen
Wichtigkeit in hellem Xberzieher und blankem Zylinder X er war
seltsamerweise ein wenig eitel X durch die StraXen marschierte, das Leben
zXrtlich liebte, das ihm sanft dahinfloss, ohne groXe Affekte, aber erfXllt
von einem stillen und zarten GlXck, das er sich zu schaffen wusste.
Die Hauptneigung aber des Herrn Friedemann, seine eigentliche
Leidenschaft, war das Theater. Er besaX ein ungemein starkes dramatisches
Empfinden, und bei einer wuchtigen BXhnenwirkung, der Katastrophe eines
Trauerspiels, konnte sein ganzer kleiner KXrper ins Zittern geraten. Er
hatte auf dem ersten Range des Stadttheaters seinen bestimmten Platz, den er
mit RegelmXigkeit besuchte, und hin und wieder begleiteten ihn seine drei
Schwestern dorthin. Sie fXhrten seit dem Tode der Mutter sich und ihrem
Bruder allein die Wirtschaft in dem alten Hause, in dessen Besitz sie sich
mit ihm teilten.
Verheirateit waren sie leider noch immer nicht; aber sie waren lXngst
in einem Alter, in dem man sich bescheidet, denn Friederike, die Xlteste,
hatte siebzehn Jahre vor Herrn Friedemann voraus. Sie und ihre Schwester
Henriette waren ein wenig zu lang und dXnn, wXhrend Pfiffi, die JXngste,
allzu klein und beleibt erschien. Letztere Xbrigens hatte eine drollige Art,
sich bei jedem Worte zu schXtteln und Feuchtigkeit dabei in die Mundwinkel
zu bekommen.
Der kleine Herr Friedemann kXmmerte sich nicht viel um die drei
MXdchen; sie aber hielten treu zusammen und waren stets einer Meinung.
Besonders wenn eine Verlobung in ihrer Bekanntschaft sich ereignete,
betonten sie einstimmig, dass dies ja sehr erfreulich sei.
Ihr Bruder fuhr fort, bei ihnen zu wohnen, auch als er die Holzhandlung
des Herrn Schlievogt verlieX und sich selbstXndig machte, indem er irgendein
kleines GeschXft Xbernahm, eine Agentur oder dergleichen, was nicht allzu
viel Arbeit in Anspruch nahm. Er hatte ein paar ParterrerXumlichkeiten des
Hauses inne, damit er nur zu den Mahlzeiten die Treppe hinaufzusteigen
brauchte, denn hin und wieder litt er ein wenig an Asthma. X
An seinem dreiXigsten Geburtstage, einem hellen und warmen Junitage,
saX er nach dem Mittagessen in dem grauen Gartenzelt mit einer neuen
Nackenrolle, die Henriette ihm gearbeitet hatte, einer guten Zigarre im
Munde und einem guten Buche in der Hand. Dann und wann hielt er das letztere
beiseite, horchte auf das yergnXgte Zwitschern von Sperlingen, die in dem
alten Nussbaum saXen, und blickte auf den sauberen Kiesweg, der zum Hause
fXhrte, und auf den Rasenplatz mit den bunten Beeten.
Der kleine Herr Friedemann trug keinen Bart, und sein Gesicht hatte
sich fast gar nicht verXndert; nur dass die ZXge ein wenig schXrfer geworden
waren. Sein feines, lichtbraunes Haar trug er seitwXrts glatt gescheitelt.
Als er einmal das Buch ganz auf die Knie herabsinken lieX und hinauf in
den blauen, sonnigen Himmel blinzelte, sagte er zu sich: ,Das wXren nun
dreiXig Jahre. Nun kommen vielleicht noch zehn oder auch noch zwanzig, Gott
weiX es. Sie werden still und gerXuschlos daherkommen und vorXberziehen wie
die verflossenen, und ich erwarte sie mit Seelenfrieden.'
Im Juli desselben Jahres ereignete sich jener Wechsel in der
Bezirkskommandantur, der alle Welt in Erregung versetzte. Der beleibte,
joviale Herr, der lange Jahre hindurch diesen Posten innegehabt hatte, war
in den gesellschaftlichen Kreisen sehr beliebt gewesen, und man sah ihn
ungern scheiden. Gott weiX, infolge welches Umstandes nun ausgemacht Herr
von Rinnlingen aus der Hauptstadt hierher gelangte. Der Tausch schien
Xbrigens nicht Xbel zu sein, denn der neue Oberstleutnant, der verheiratet,
aber kinderlos war, mietete in der sXdlichen Vorstadt eine sehr gerXumige
Villa, woraus man schloss, dass er ein Haus zu machen gedachte. Jedenfalls
wurde das GerXcht, er sei ganz auXerordentlich vermXgend, auch dadurch
bestXtigt, dass er vier Dienstboten, f nf Reit- und Wagenpferde, einen
Landauer und einen leichten Jagdwagen mit sich brachte.
Die Herrschaften begannen bald nach ihrer Ankunft bei den angesehenen
Familien Besuche zu machen, upd ihr Name war in aller Munde; das
Hauptinteresse aber nahm schlechterdings nicht Herr von Rinnlingen selbst in
Atlspruch, sondern seine Gattin. Die Herren waren verblXfft und hatten
vorderhand noch kein Urteil; die Damen aber waren geradeheraus nicht
einverstanden mit dem Sein und Wesen Gerdas von Rinnlingen.
"Dass man die hauptstXdtische Luft verspXrt", XuXerte sich Frau
Rechtsanwalt HagenstrXm gesprXchsweise gegen Henriette Friedemann, "nun, das
ist natXrlich. Sie raucht, sie reitet X einverstanden! Aber ihr Benehmen ist
nicht nur frei, es ist burschikos, und auch das ist noch nicht das rechte
Wort ... Sehen Sie, sie ist durchaus nicht hXlich, man kXnnte sie sogar
hXbsch finden: und dennoch entbehrt sie jedes weiblichen Reizes, und ihrem
Blick, ihrem Lachen, ihren Bewegungen fehlt alles, was MXnner lieben. Sie
ist nicht kokett, und ich bin, Gott weiX es, die letzte, die das nicht
lobenswert fXnde; aber darf eine so junge Frau X sie ist vierundzwanzig
Jahre alt X die natXrliche anmutige Anziehungskraft ... vollkommen vermissen
lassen? Liebste, ich bin nicht zungenfertig, aber ich weiX, was ich meine.
Unsere Herren sind jetzt noch wie vor den Kopf geschlagen: Sie werden sehen,
dass sie sich nach ein paar Wochen gXnzlich degoutiert von ihr abwenden."
"Nun", sagte FrXulein Friedemann, "sie ist ja vortrefflich versorgt."
"Ja, ihr Mann!" rief Frau HagenstrXm. "Wie behandelt sie ihn? Sie
sollten es sehen! Sie werden es sehen! Ich bin die erste, die darauf
besteht, dass eine verheiratete Frau gegen das andere Geschlecht bis zu
einem gewissen Grade abweisend zu sein hat. Wie aber benimmt sie sich gegen
ihren eigenen Mann? Sie hat eine Art, ihn eiskalt anzusehen und mit einer
mitleidigen Betonung ,Lieber Freund' zu ihm zu sagen, die mich empXrt! Denn
man muss ihn dabei sehen X korrekt; stramm, ritterlich, ein prXchtig
konservierter Vierziger, ein gl nzender Offizier! Vier Jahre sind sie
verheiratet ... Liebste ..."
Der Ort, an dem es dem kleinen Herrn Friedemann zum ersten Male
vergXnnt war, Frau von Rinnlingen zu erblicken, war die HauptstraXe, an der
fast ausschlieXlich GeschXftshXuser lagen, und diese Begegnung ereignete
sich um die Mittagszeit, als er soeben von der BXrse kam, wo er ein WXrtchen
mitgeredet hatte.
Er spazierte, winzig und wichtig, neben dem GroXkaufmann Stephens,
einem ungewXhnlich groXen und vierschrXtigen Herrn mit rundgeschnittenem
Backenbart und furchtbar dicken Augenbrauen. Beide trugen Zylinder und
hatten wegen der groXen WXrme die Xberzieher geXffnet. Sie sprachen Xber
Politik, wobei sie taktmXig ihre SpazierstXcke auf das Trottoir stieXen;
als sie aber etwa bis zur Mitte der StraXe gekommen waren, sagte plXtzlich
der GroXkaufmann Stephens: "Der Teufel hole mich,wenn dort nicht die
Rinnlingen dahergefahren kommt."
"Nun, das trifft sich gut", sagte Herr Friedemann mit seiner hohen und
etwas scharfen Stimme und blickte erwartungsvoll geradeaus. "Ich habe sie
nXmlich noch immer nicht zu Gesichte bekommen. Da haben wir den gelben
Wagen."
In der Tat war es der gelbe Jagdwagen, den Frau von Rinnlingen heute
benutzte, und sie lenkte die beiden schlanken Pferde in eigener Person,
wXhrend der Diener mit verschrXnkten Armen hinter ihr saX. Sie trug eine
weite, ganz helle Jacke, und auch der Rock war hell. Upter dem kleinen,
runden Strohhut mit braunem Lederbande quoll das rotblonde Haar hervor, das
Xber die Ohren frisiert war und als ein dicker Knoten tief in den Nacken
fiel. Die Hautfarbe ihres ovalen Gesichtes war mattweiX, und in den Winkeln
ihrer ungewXhnlich nahe beieinanderliegenden braunen Augen lagerten
blXuliche Schatten. Xber ihrer kurzen, aber recht fein geschnittenen Nase
saX ein kleiner Sattel von Sommersprossen, was sie gut kleidete; ob aber ihr
Mund schXn war, konnte man nicht erkennen, denn sie schob unaufhXrlich die
Unterlippe vor und wieder zurXck, indem sie sie an der Oberlippe scheuerte.
GroXkaufmann Stephens grXte auXerordentlich ehrerbietig, als der Wagen
herangekommen war, und auch der kleine Herr Friedemann lXftete seinen Hut,
wobei er Frau von Rinnlingen groX und aufmerksam ansah. Sie senkte ihre
Peitsche, nickte leicht mit dem Kopfe und fuhr langsam vorXber, indem sie
rechts und links die HXuser und Schaufenster betrachtete.
Nach ein paar Schritten sagte der GroXkaufmann:
"Sie hat eine Spazierfahrt gemacht und fXhrt nun nach Hause."
Der kleine Herr Friedemann antwortete nicht, sondem blickte vor sich
nieder auf das Pflaster. Dann sah er plXtzlich den GroXkaufmann an und
fragte:
"Wie meinten Sie?"
Und Herr. Stephens wiederholte seine scharfsinnige Bemerkung.
Drei Tage spXter kam Johannies Friedemann um zwXlf Uhr mittags von
seinem regelmXigen Spaziergange nach Hause. Um halb ein Uhr wurde zu Mittag
gespeist, und er wollte gerade noch fXr eine halbe Stunde in sein "Bureau"
gehen, das gleich rechts neben der HaustXr lag, als das DienstmXdchen Xber
die Diele kam und zu ihm sagte:
"Es ist Besuch da, Herr Fnedemann."
"Bei mir?" fragte er.
"Nein, oben, bei den Damen."
" Wer denn?"
"Herr und Frau Oberstleutnant von Rinnlingen."
"Oh", sagte Herr friedemann, "da will ich doch ..."
Und er ging die Treppe hinauf. Oben schritt er Xber den Vorplatz, und
er hatte schon den Griff der hohen, weiXen TXr in der Hand, die zum
"Landschaftszimmer" fXhrte, als er plXtzlich innehielt, einen Schritt
zurXcktrat, kehrtmachte und langsam wieder davonging, wie er gekommen war.
Und obgleich er vollkommen allein war, sagte er ganz laut vor sich hin:
"Nein. Lieber nicht. X"
Er ging hinunter in sein "Bureau", setzte sich an den Schreibtisch und
nahm die Zeitung zur Hand. Nach einer Minute aber lieX er sie wieder sinken
und blickte seitwXrts zum Fenster hinaus. So blieb er sitzen, bis das
MXdchen kam und meldete, dass angerichtet sei; dann begab er sich hinauf ins
Speisezimmer, wo die Schwestern schon seiner warteten, und nahm auf seinem
Stuhle Platz, auf dem drei NotenbXcher lagen.
Henriette, welche die Suppe auffXllte, sagte:
"WeiXt du, Johannes, wer hier war?"
"Nun?" fragte er.
"Die neuen Oberstleutnants."
"Ja, so? Das ist liebenswXrdig."
,Ja", sagte Pfiffi und bekam FlXssigkeit in die Mundwinkel, "ich finde,
dass beide durchaus angenehme Menschen sind."
"Jedenfalls", sagte Friederike, "dXrfen wir mit unserem Gegenbesuch
nicht zXgern. Ich schlage vor, dass wir Xbermorgen gehen, Sonntag."
"Sonntag", sagten Henriette und Pfiffi.
"Du wirst doch mit uns gehen, Johannes?" fragte Friederike.
"Selbstredend!" sagte Pfiffi und schXttelte sich. Herr Friedemann hatte
die Frage ganz XberhXrt und aX mit einer stillen und Xngstlichen Miene seine
Suppe. Es war, als ob er irgendwohin horchte; auf irgendein unheimliches
GerXusch.
Am folgenden Abend gab man im Stadttheater den "Lohengrin", und alle
gebildeten Leute waren anwesend. Der kleine Raum war besetzt von oben bis
unten und erfXllt von summendem GerXusch, Gasgeruch und ParfXms. Alle
AugenglXser aber, im Parkett wie auf den RXngen, richteten sich auf Loge 13,
gleich rechts neben der BXhne, denn dort waren heute zum ersten Male Herr
von Rinnlingen nebst Frau erschienen, und man hatte Gelegenheit, das Paar
einmal grXndlich zu mustern. Als der kleine Herr Friedemann in tadellosem
schwarzen Anzug mit glXnzend weiXem, spitz hervorstehendem Hemdeinsatz seine
Loge X Loge 13 X betrat, zuckte er in der TXr zuruck, wobei er eine Bewegung
mit der Hand nach der Stirn machte und seine NasenflXgel sich einen
Augenblick krampfhaft Xffneten. Dann aber lieX er sich auf seinem Sessel
nieder, dem Platze links von Frau von Rinnlingen.
Sie blickte ihn, wXhrender sich setzte, eine Weile aufmerksam an, indem
sie die Unterlippe vorschob, und wandte sich dann, um mit ihrem Gatten, der
hinter ihr stand, ein paar Worte zu wechseln. Es, war ein groXer, breiter
Herr mit aufgebXrstetem Schnurrbart und einem braunen, gutmXtigen Gesicht.
Als die OuvertXre begann und Frau von Rinnlingen sich Xber die BrXstung
beugte, lieX Herr Friedemann einen raschen, hastigen Seitenblick Xber sie
hingleiten. Sie trug eine helle Gesellschaftstoilette und war, als die
einzige der anwesenden Damen, sogar ein wenig dekolletiert. Ihre Xrmel waren
sehr weit und bauschig, und die weiXen Handschuhe reichten bis an die
Ellenbogen. Ihre Gestalt hatte heute etwas Xppiges, was neulich, als sie die
weite Jacke trug, nicht bemerkbar gewesen war; ihr Busen hob und senkte sich
voll und langsam, und der Knoten des rotblonden Haares fiel tief und schwer
in den Nacken.
Herr Friedemann war bleich, viel bleicher als gewXhnlich, und unter dem
glattgescheitelten braunen Haar standen kleine Tropfen auf seiner Stirn.
Frau von Rinnlingen hatte von ihrem linken Arm, der auf dem roten Sammet der
BrXstung lag; den Handschuh gestreift, und diesen runden, mattweiXen Arm,
der wie die schmucklose Hand von ganz blassblauem GeXder durchzogen war, sah
er immer; das war nicht zu Xpdern.
Die Geigen sangen, die Posaunen schmetterten darein, Telramund fiel, im
Orchester herrschte allgemeiner Jubel, und der kleine Herr Friedemann saX
unbeweglich, blass und still, den Kopf tief zwischen den Schultern, einen
Zeigefinger am Munde und die andere Hand im Aufschlage seines Rockes.
WXhrend der Vorhang fiel, erhob sich Frau von Rinnlingen, um mit ihrem
Gatten die Loge zu verlassen. Herr Friedemann sah es, ohne hinzublicken,
fuhr mit seinem Taschentuch leicht Xber die Stirn, stand plXtzlich auf, ging
bis an die TXr, die auf den Korridor fXhrte, kehrte wieder um, setzte sich
an seinen Platz und verharrte dort regungslos in der Stellung, die er vorher
innegehabt hatte.
Als das Klingelzeichen erscholl und seine Nachbarn wieder eintraten,
fXhlte er, dass Frau von Rinnlingens Augen auf ihm ruhten, und ohne es zu
wollen, erhob er den Kopf nach ihr. Als ihre Blicke sich trafen, sah sie
durchaus nicht beiseite, sondern fuhr fort, ihn ohne eine Spur von
Verlegenheit aufmerksam zu betrachten, bis er selbst, bezwungen und
gedemXtigt, die Augen niederschlug. Er ward noch bleicher dabei, und ein
seltsamer, sXlich beizender Zorn stieg in ihm auf ... Die Musik begann.
Gegen Ende dieses Aufzuges geschah es, dass Frau von Rinnlingen sich
ihren FXcher entgleiten lieX und dass derselbe neben Herrn Friedemann zu
Boden fiel. Beide bXckten sich gleichzeitig, aber sie ergriff ihn selbst und
sagte mit einem LXcheln, das spXttisch war:
"Ich danke."
Ihre KXpfe waren ganz dicht beieinander gewesen, und er hatte einen
Augenblick den warmen Duft ihrer Brust atmen mXssen. Sein Gesicht war
verzerrt, sein ganzer KXrper zog sich zusammen, und sein Herz klopfte so
grXlich schwer und wuchtig, dass ihm der Atem verging. Er saX noch eine
halbe Minute, dann schob er den Sessel zurXck, stand leise auf und ging
leise hinaus.
Er ging, gefolgt von den KlXngen der Musik; Xber den Korridor, lieX
sich an der Garderobe seinen Zylinder, seinen hellen Xberzieher und seinen
Stock geben und schritt die Treppe hinab auf die StraXe.
Es war ein warmer, stiller Abend. Im Lichte der Gaslaternen standen die
grauen GiebelhXuser schweigend gegen den Himmel, an dem die Sterne hell und
milde glXnzten. Die Schritte der wenigen Menschen, die Herrn Friedemann
begegneten, hallten auf dem Trottoir. Jemand grXte ihn, aber er sah es
nicht; er hielt den Kopf tief gesenkt, und seine hohe, spitze Brust
zitterte, so schwer atmete er. Dann und wann sagte er leise vor sich hin:
"Mein Gott! Mein Gott!"
Er sah mit einem entsetzten und angstvollen Blick in sich hinein, wie
sein Empfinden, das er so sanft gepflegt, so milde und klug stets behandelt
hatte, nun emporgerissen war, aufgewirbelt, zerwXhlt ... Und plXtzlich, ganz
XberwXltigt, in einem Zustand von Schwindel, Trunkenheit, Sehnsucht und
Qual, lehnte er sich gegen einen Laternenpfahl und flXsterte bebend:
"Gerda!" -
Alles blieb still. Weit und breit war in diesem Augenblick kein Mensch
zu sehen. Der kleine Herr Friedemann raffte sich auf und schritt weiter. Er
war die StraXe hinaufgegangen, in der das Theater lag und die ziemlich steil
zum Flusse hinunterlief, und verfolgte nun die HauptstraXe nach Norden,
seiner Wohnung zu ...
Wie sie ihn angesehen hatte! Wie? Sie hatte ihn gezwungen, die Augen
niederzuschlagen? Sie hatte ihn mit ihrem Blick gedemXtigt? War sie nicht
eine Frau und er ein Mann? Und hatten ihre seltsamen braunen Augen nicht
fXrmlich dabei vor Freude gezittert?
Er fXhlte wieder diesen ohnmXchtigen, wollXstigen Hass in sich
aufsteigen, aber dann dachte er an jenen Augenblick, wo ihr Kopf den seinen
berXhrt, wo er den Duft ihres KXrpers eingeatmet hatte, und er blieb zum
zweiten Male stehen, beugte den verwachsenen OberkXrper zurXck, zog die Luft
durch die ZXhne ein und murmelte dann abermals vXllig ratlos, verrzweifelt,
auXer sich:
"Mein Gott! Mein Gott!"
Und wieder schritt er mechanisch weiter, langsam, durch die schwXle
Abendluft, durch die menschenleeren, hallenden StraXen, bis er vor seiner
Wohnung stand. Auf der Diele verweilte er einen Augenblick und sog den
kXhlen, kellerigen Geruch ein, der dort herrschte; dann trat er in sein
"Bureau".
Er setzte sich an den Schreibtisch am offenen Fenster und starrte
geradeaus auf eine groXe, gelbe Rose, die jemand ihm dort ins Wasserglas
gestellt hatte. Er nahm sie und atmete mit geschlossenen Augen ihren Duft;
aber dann schob er sie mit einer mXden und traurigen GebXrde beiseite. Nein,
nein, das war zu Ende! Was war ihm noch solcher Duft? Was war ihm noch
alles, was bis jetzt sein "GlXck" ausgemacht hatte? ...
Er wandte sich zur Seite und blickte auf die stille StraXe hinaus. Dann
und wann klangen Schritte auf und hallten vorXber. Die Sterne standen und
glitzerten. Wie todmXde und schwach er wurde! Sein Kopf war so leer: und
seine Verzweiflung begann in eine groXe, sanfte Wehmut sich aufzulXsen. Ein
paar Gedichtzeilen flatterten ihm durch den Sinn, die Lohengrinmusik klang
ihm wieder in den Ohren, er sah noch einmal Frau von Rinnlingens Gestalt vor
sich, ihren weiXen Arm auf dem roten Sammet, und dann verfiel er in einen
schweren, fieberdumpfen Schlaf.
Oft war er dicht am Erwachen, aber er fXrchtete sich davor und versank
jedesmal aufs neue in Bewusstlosigkeit. Als es aber vXllig hell geworden
war, schlug er die Augen auf und sah mit einem groXen, schmerzlichen Blick
um sich. Alles stand ihm klar vor der Seele; es war, als sei sein Leiden
durch den Schlaf gar nicht unterbrochen worden.
Sein Kopf war dumpf, und die Augen brannten ihm; als er sich aber
gewaschen und die Stirn mit Eau de Cologne benetzt hatte, fXhlte er sich
wohler und setzte sich still wieder, an seinen Platz am Fenster, das
offengeblieben war. Es war noch ganz frXh am Tage, etwa um fXnf Uhr. Dann
und wann ging ein BXckerjunge vorXber, sonst war niemand zu sehen. GegenXber
waren noch alle Rouleaus geschlossen. Aber die VXgel zwitscherten, und der
Himmel war leuchtend blau. Es war ein wunderschXner Sonntagmorgen.
Ein GefXhl von Behaglichkeit und Vertrauen Xberkam den kleinen Herrn
Friedemann. Wovor Xngstigte er sich? War nicht alles wie sonst? Zugegeben.
dass es gestern ein schlimmer Anfall gewesen war; nun, aber damit sollte es
ein Ende haben! Noch war es nicht zu spXt, noch konnte er dem Verderben
entrinnen! Jeder Veranlassung musste er ausweichen, die den Anfall erneuern
kXnnte; er fXhlte die Kraft dazu. Er fXhlte die Kraft, es zu Xberwinden und
es gXnzlich in sich zu ersticken ...
Als es halb acht Uhr schlug, trat Friederike ein und stellte den Kaffee
auf den runden Tisch, der vor dem Ledersofa an der RXckwand stand.
"Guten Morgen, Johannes", sagte sie, "hier ist dein FrXhstXck."
"Danke", sagte Herr Friedemann. Und dann: "Liebe Friederike, es tut mir
Leid, dass ihr den Besuch werdet allein machen mXssen. Ich fXhle mich nicht
wohl genug, um euch begleiten zu kXnnen. Ich habe schlecht geschlafen, habe
Kopfschmerzen, und kurz und gut, ich muss euch bitten ..."
Friederike antwortete:
"Das ist schade. Du darfst den Besuch keinesfalls ganz unterlassen.
Aber es ist wahr, dass du krank aussiehst. Soll ich dir meinen MigrXnestift
leihen?"'
"Danke", sagte Herr Friedemann. "Es wird vorXbergehen."
Und Friederike ging.
Er trank, am Tische stehend, langsam seinen Kaffee und aX ein HXrnchen
dazu. Er war zufrieden mit sich und stolz auf seine Entschlossenheit. Als er
fertig war, nahm er eine Zigarre und setzte sich wieder ans Fenster. Das
FrXhstXck hatte ihm wohlgetan, und er fXhlte sich glXcklich und
hoffnungsvoll. Er nahm ein Buch, las, rauchte und blickte blinzelnd hinaus
in die Sonne.
Es war jetzt lebendig geworden auf der StraXe; Wagengerassel, GesprXch
und das Klingeln der Pferdebahn tXnten zu ihm herein; zwischen allem aber
war das Zwitschern der VXgel zu vernehmen; und vom strahlend blauen Himmel
wehte eine weiche, warme Luft.
Um zehn Uhr hXrte er die Schwestern Xber die Diele kommen, hXrte die
HaustXr knarren und sah die drei Damen dann am Fenster vor bergehen, ohne
dass er besonders darauf achtete. Eine Stunde verging; er fXhlte sich
glXcklicher und glXcklicher.
Eine Art von Xbermut begann ihn zu erfXllen. Was fXr eine Luft das war,
und wie die VXgel zwitscherten! Wie wXre es, wenn er ein wenig
spazierenginge? X Und da, plXtzlich, ohne einen Nebengedanken, stieg mit
einem sXen Schrecken der Gedanke in ihm auf: ,Wenn ich zu ihr ginge?' X Und
indem er, fXrmlich mit einer Muskelanstrengung, alles in sich unterdrXckte,
was angstvoll warnte, fXgte er mit einer glXckseligen Entschlossenheit
hinzu: ,Ich will zu ihr gehen!'
Und er zog seinen schwarzen Sonntagsanzug an, nahm Zylinder und Stock
und ging schnell und hastig atmend durch die ganze Stadt in die sXdliche
Vorstadt. Ohne einen Menschen zu sehen, hob und senkte er bei jedem Schritte
in eifriger Weise den Kopf, ganz in einem abwesenden, exaltierten Zustand
befangen, bis er drauXen in der Kastanienallee vor der roten Villa stand, an
deren Eingang der Name "Oberstleutnant von Rinnlingen" zu lesen war.
Hier befiel Ihn ein Zittern, und das Herz pochte ihm krampfhaft und
schwer gegen die Brust. Aber er ging Xber den Flur und klingelte drinnen.
Nun war es entschieden, und es gab kein ZurXck. Mochte alles seinen Gang
gehen, dachte er. In ihm war es plXtzlich totenstill.
Die TXr sprang auf, der Diener kam ihm Xber den Vorplatz entgegen, nahm
die Karte in Empfang und eilte damit die Treppe hinauf, auf der ein roter
LXufer lag. Auf diesen starrte Herr Friedemann unbeweglich, bis der Diener
zurXckkam und erklXrte, die gnXdige Frau lasse bitten, sich hinauf zu
verfXgen.
Oben, neben der SalontXr, wo er seinen Stock abstellte, warf er einen
Blick in den Spiegel. Sein Gesicht war bleich, und Xber den gerXteten Augen
klebte das Haar an der Stirn; die Hand, in der er den Zylinder hielt,
zitterte unaufhaltsam.
Der Diener Xffnete, und er trat ein. Er sah sich in einem! ziemlich
groXen, halbdunkIen Gemach; die Fenster waren verhXngt. Rechts stand ein
FlXgel, und in der Mitte um den runden Tisch gruppierten sich Lehnsessel in
brauner Seide. Xber dem Sofa an der linken Seitenwand hing eine Landschaft
in schwerem Goldrahmen. Auch die Tapete war dunkel. Hinten im Erker standen
Palmen.
Eine Minute verging, bis Frau von Rinnlingen rechts die Portiere
auseinanderschlug und ihm auf dem dicken braunen Teppich lautlos
entgegenkam. Sie trug ein ganz einfach gearbeitetes, rot und schwarz
gewXrfeltes Kleid. Vom Erker her fiel eine LichtsXule, in welcher der Staub
tanzte, gerade auf ihr schweres, rotes Haar, so dass es einen Augenblick
goldig aufleuchtete. Sie hielt ihre seltsamen Augen forschend auf ihn
gerichtet und schob wie gewXhnlich die Unterlippe vor.
"Gnadige Frau", begann Herr Friedemann und blickte zu ihr in die HXhe,
denn er reicnte ihr nur bis zur Brust, "ich mXchte Ihnen auch meinerseits
meine Aufwartung machen. Ich war, als Sie meine Schwestern beehrten, leider
abwesend und ... bedauerte das aufrichtig ..."
Er wusste durchaus nicht mehr zu sagen, aber sie stand und sah ihn
unerbittlich an, als wollte sie ihn zwingen, weiterzusprechen. Alles Blut
stieg ihm plXtzlich zu Kopfe. `Sie will mich quXlen und verhXhnen!' dachte
er, `und sie durchschaut mich! Wie ihre Augen zittern!' ... Endlich sagte
sie mit einer ganz hellen und ganz klaren Stimme:
"Es ist liebenswXrdig, dass Sie gekommen sind. Ich habe neulich
ebenfalls bedauert, Sie zu verfehlen. Haben Sie die GXte, Platz zu nehmen?"
Sie setzte sich nahe bei ihm, legte die Arme auf die Seitenlehnen des
Sessels und lehnte sich zurXck. Er saX vorgebeugt und hielt den Hut zwischen
den Knien. Sie sagte:
"Wissen Sie, dass noch vor einer Viertelstunde Ihre FrXulein Schwestern
hier waren? Sie sagten mir, Sie seien krank."
"Das ist wahr", erwiderte Herr Friedemann, "ich fXhlte mich nicht wohl
heute Morgen. Ich glaubte nicht ausgehen zu kXnnen. Ich bitte wegen meiner
VerspXtung um Entschuldigung."
"Sie sehen auch jetzt noch nicht gesund aus", sagte sie ganz ruhig und
blickte ihn unverwandt an. "Sie sind bleich, und Ihre Augen sind entzXndet,
Ihre Gesundheit lXsst Xberhaupt zu wXnschen Xbrig?"
"Oh ...", stammelte Herr Friedemann; "ich bin im allgemeinen
zufrieden."
"Auch ich bin viel krank", fuhr sie fort, ohne die Augen von ihm
abzuwenden; "aber niemand merkt es. Ich bin nervXs und kenne die
merkwXrdigsten Zust nde."
Sie schwieg, legte das Kinn auf die Brust und sah ihn von unten herauf
wartend an. Aber er antwortete nicht. Er saX still und hielt seine Augen
groX und sinnend auf sie gerichtet. Wie seltsam sie sprach, und wie ihre
helle, haltlose Stimme ihn berXhrte! Sein Herz hatte sich beruhigt; ihm war,
als trXumte er. X Frau von Rinnlingen begann aufs neue:
"Ich mXsste mich irren, wenn Sie nicht gestern das Theater vor Schluss
der Vorstellung verlieXen?"
,Ja, gnXdige Frau."
"Ich bedauerte das. Sie waren ein andXchtiger Nachbar, obgleich die
AuffXhrung nicht gut war, oder nur relativ gut. Sie lieben die Musik?
Spielen Sie Klavier?"
"Ich spiele ein wenig Violine", sagte Herr Friedemann. "Das heiXt X es
ist beinahe nichts ..."
"Sie spielen Violine?" fragte sie; dann sah sie an ihm vorbei in die
Luft und dachte nach.
"Aber dann kXnnten wir hin und wieder miteinander musizieren", sagte
sie plXtzlich. "Ich kann etwas begleiten. Es wXrde mich freuen, hier
jemanden gefunden zu haben ... Werden Sie kommen?"
"Ich stehe der gnXdigen Frau mit VergnXgen zur VerfXgung", sagte er,
immer wie im Traum. Es entstand eine Pause. Da Xnderte sich plXtzlich der
Ausdruck ihres Gesichtes. Er sah, wie es sich in einem kaum merklichen
grausamen Spott verzerrte, wie ihre Augen sich wieder mit jenem unheimlichen
Zittern fest und forschend auf ihn richteten wie schXn zweimal vorher. Sein
Gesicht ward glXhend rot, und ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte,
vXllig ratlos und auXer sich, lieX er seinen Kopf ganz zwischen die
Schultern sinken und blickte fassungslos auf den Teppich nieder. Wie ein
kurzer Schauer aber durchrieselte ihn wie der jene ohnmXchtige, sXlich
peinigende Wut X
Als er mit einem verzweifelten Entschluss den Blick wieder erhob, sah
sie ihn nicht mehr an, sondern blickte ruhig Xber seinen Kopf hinweg auf die
TXr. Er brachte mXhsam ein paar Worte hervor:
"Und sind gnXdige Frau bis jetzt leidlich zufrieden mit Ihrem
Aufenthalt in unserer Stadt?"
"Oh", sagte Frau von Rinnlingen gleichgXltig, "gewiss. Warum sollte ich
nicht zufrieden sein? Freilich ein wenig beengt und beobachtet komme ich mir
vor, aber ... Xbrigens", fuhr sie gleich darauf fort, "ehe ich es vergesse:
Wir denken in den nXchsten Tagen einige Leute bei uns zu sehen, eine kleine,
zwanglose Gesellschaft. Man kXnnte ein wenig Musik machen, ein wenig
plaudern X Xberdies haben wir hinterm Hause einen recht hXbschen Garten; er
geht bis zum Flusse hinunter. Kurz und gut: Sie und Ihre Damen werden
selbstverstXndlich noch eine Einladung erhalten, aber ich bitte Sie gleich
hiermit um Ihre Teilnahme; werden Sie uns das VergnXgen machen?"
Herr Friedemann hatte kaum seinen Dank und seine Zusage hervorgebracht,
als der TXrgriff energisch niedergedrXckt wurde und der Oberstleutnant
eintrat. Beide erhoben sich, und wXhrend Frau von Rinnlingen die Herren
einander vorstellte, verbeugte sich ihr Gatte mit der gleichen HXflichkeit
vor Herrn Friedemann wie vor ihr. Sein braunes Gesicht war ganz blank vor
WXrme.
WXhrend er sich die Handschuhe auszog, sprach er mit seiner krXftigen
und scharfen Stimme irgend etwas zu Herrn Friedemann, der mit groXen,
gedankenlosen Augen zu ihm in die HXhe blickte und immer erwartete,
wohlwollend von ihm auf die Schulter geklopft zu werden. Indessen wandte
sich der Oberstleutnant mit zusammengezogenen AbsXtzen und leicht
vorgebeugtem OberkXrper an seine Gattin und sagte mit merklich gedXmpfter
Stimme:
"Hast du Herrn Friedemann um seine Gegenwart bei unserer kleinen
Zusammenkunft gebeten, meine Liebe? Wenn es dir angenehm ist, so denke ich,
dass wir sie in acht Tagen veranstalten. Ich hoffe, dass das Wetter sich
halten wird, und dass wir uns auch im Garten aufhalten kXnnen."
"Wie du meinst", antwortete Frau von Rinnlingen und blickte an ihm
vorbei.
Zwei Minuten spXter empfahl sich Herr Friedemann. Als er sich an der
TXr noch einmal verbeugte, begegnete er ihren Augen, die ohne Ausdruck auf
ihm ruhten.
Er ging fort, er ging nicht zur Stadt zurXck, sondern schlug, ohne es
zu wollen, einen Weg ein, der von der Allee abzweigte and zu dem ehemaligen
Festungswall am Flusse fXhrte. Es gab dort wohlgepflegte Anlagen, schattige
Wege und BXnke.
Er ging schnell und besinnungslos, ohne aufzublicken. Es war ihm
unertrXglich heiX, und er fXhlte, wie die Flammen in ihm auf und nieder
schlugen, und wie es in seinem mXden Kopfe unerbittlich pochte.
Lag nicht noch immer ihr Blick auf ihm? Aber nicht wie zuletzt, leer
und ohne Ausdruck, sondern wie vorher, mit dieser zitternden Grausamkeit,
nachdem sie eben noch in jener seltsam stillen Art zu ihm gesprochen hatte?
Ach, ergXtzte es sie, ihn hilflos zu machen und auXer sich zu bringen?
Konnte sie, wenn sie ihn durchschaute, nicht ein wenig Mitleid mit ihm
haben? ...
Er war unten am Flusse entlang gegangen, neben dem grXn bewachsenen
Walle hin, und er setzte sich auf eine Bank, die von JasmingebXsch im
Halbkreis umgeben war. Rings war alles voll sXen, schwXlen Duftes. Vor ihm
brXtete die Sonne auf dem zitternden Wasser.
Wie mXde und abgehetzt er sich fXhlte, und wie doch alles in ihm in
qualvollem Aufruhr war! War es nicht das beste, noch einmal um sich zu
blicken und dann hinunter in das stille Wasser zu gehen, um nach einem
kurzen Leiden befreit und hinXbergerettet zu sein in die Ruhe? Ach, Ruhe,
Ruhe war es ja, was er wollte! Aber nicht die Ruhe im leeren und tauben
Nichts, sondern ein sanftbesonnter Friede, erfXllt von guten, stillen
Gedanken.
Seine ganze zXrtliche Liebe zum Leben durchzitterte ihn in diesem
Augenblick und die tiefe Sehnsucht nach seinem verlorenen GlXck. Aber dann
blickte er um sich in die schweigende, unendlich gleichgXltige Ruhe der
Natur, sah, wie der Fluss in der Sonne seines Weges zog, wie das Gras sich
zitternd bewegte und die Blumen dastanden, wo sie erblXht waren, um dann zu
welken und zu verwehen, sah, wie alles, alles mit dieser stummen Ergebenheit
dem Dasein sich beugte, X und es Xberkam ihn auf einmal die Empfindung von
Freundschaft und EinverstXndnis mit der Notwendigkeit, die eine Art von
Xberlegenheit Xber alles Schicksal zu geben vermag.
Er dachte an jene Nachmittag seines dreiXigsten Geburtstages, als er,
glXcklich im Besitze des Friedens, ohne Furcht und Hoffnung Xber den Rest
seines Lebens hinzublicken geglaubt hatte. Kein Licht und keinen Schatten
hatte er da gesehen, sondern in mildem DXmmerschein hatte alles vor ihm
gelegen, bis es dort hinten, unmerklich fast, im Dunkel verschwamm, und mit
einem ruhigen und Xberlegenen LXcheln hatte er den Jahren entgegengesehen,
die noch zu kommen hatten X wie lange war das her?
Da war diese Frau gekommen, sie musste kommen, es war sein Schicksal,
sie selbst war sein Schicksal, sie allein! Hatte er das nicht gefXhlt vom
ersten Augenblicke an? Sie war gekommen, und ob er auch versucht hatte,
seinen Frieden zu verteidigen X fXr sie musste sich alles in ihm empXren,
was er von Jugend auf in sich unterdrXckt hatte, weil er fXhlte, dass es fXr
ihn Qual und Untergang bedeutete; es hatte ihn mit furchtbarer,
unwiderstehlicher Gewalt ergriffen und richtete ihn zugrunde!
Es richtete ihn zugrunde, das fXhlte er. Aber wozu noch kXmpfen und
sich quXlen? Mochte alles seinen Lauf nehmen! Mochte er seinen Weg
weitergehen und die Augen schlieXen vor dem gXhnenden Abgrund dort hinten,
gehorsam dem Schicksal, gehorsam der Xberstarken, peinigend sXen Macht, der
man nicht zu entgehen vermag.
Das Wasser glitzerte, der Jasmin atmete seinen scharfen, schwXlen Duft,
die VXgel zwitscherten ringsumher in den BXumen, zwischen denen ein
schwerer, sammetblauer Himmel leuchtete. Der kleine bucklige Herr Friedemann
aber saX noch lange auf seiner Bank. Er saX vornXbergebeugt, die Stirn in
beide HXnde gestXtzt.
Alle waren sich einig, dass man sich bei Rinnlingens vortrefflich
unterhielt. Etwa dreiXig Personen saXen an der langen, geschmackvoll
dekorierten Tafel, die sich durch den weiten Speisesaal hinzog; der Bediente
und zwei Lohndiener eilten bereits mit dem Eise umher, es herrschte Geklirr,
Geklapper und ein warmer Dunst von Speisen und ParfXms. GemXtliche
GroXkaufleute mit ihren Gemahlinnen und TXchtern waren hier versammelt;
auXerdem fast sXmtliche Offiziere der Garnison, ein alter, beliebter Arzt,
ein paar Juristen und was sonst den ersten Kreisen sich beizXhlte. Auch ein
Student der Mathematik war anwesend, ein Neffe des Oberstleutnants, der bei
seinen Verwandten zu Besuch war; er fXhrte die tiefsten GesprXche mit
FrXulein HagenstrXm, die Herrn Friedemann gegenXber ihren Platz hatte.
Dieser saX auf einem schXnen Sammetkissen am unteren Ende der Tafel neben
der nicht schXnen Gattin des Gymnasialdirektors, nicht weit von Frau von
Rinnlingen, die von Konsul Stephens zu Tische gefXhrt worden war. Es war
erstaunlich, was fXr eine VerXnderung in diesen acht Tagen it dem kleinen
Herrn Friedemann sich ereignet hatte. Vielleicht lag es zum Teil an dem
weiXen GasglXhlicht, von dem der Saal erfXllt war, dass sein Gesicht so
erschreckend bleich erschien; aber seine Wangen waren eingefallen, seine
gerXteten und dunkel umschatteten Augen zeigten einen unsXglich traurigen
Schimmer, und es sah aus, als sei seine Gestalt verkrXppelter als je. X Er
trank viel Wein und richtete hie und da ein paar Worte an seine Nachbarin.
Frau von Rinnlingen hatte bei Tische noch kein Wort mit Herrn
Friedemann gewechselt; jetzt beugte sie sich ein wenig vor und rief ihm zu:
"Ich habe Sie in diesen Tagen vergeblich erwartet, Sie und Ihre Geige."
Er sah sie einen Augenblick vollkommen abwesend an, bevor er antwonete.
Sie trug eine helle, leichte Toilette, die ihren weiXen Hals frei lieX, und
eine voll erblXhte Marschall-Niel-Rose war in ihrem leuchtenden Haar
befestigt. Ihre Wangen waren heute Abend ein wenig gerXtet, aber wie immer
lagerten blXuliche Schatten in den Winkeln ihrer Augen.
Herr Friedemann blickte auf seinen Teller nieder und brachte irgend
etwas als Antwort hervor, worauf er der Gymnasialdirektorin die Frage
beantworten musste, ob er Beethoven liebe. In diesem Augenblick aber warf
der Oberstleutnant, der ganz oben am Tische saX, seiner Gattin einen Blick
zu, schlug ans Glas und sagte:
"Meine Herrschaften, ich schlage vor, dass wir unseren Kaffee in den
anderen Zimmern trinken; Xbrigens muss es heute Abend auch im Garten nicht
Xbel sein, und wenn jemand don ein wenig Luft schXpfen will, so halte ich es
mit ihm." In die eingetretene Stille hinein machte Leutnant von Deidesheim
aus TaktgefXhl einen Witz, so dass alles sich unter frXhlichem GelXchter
erhob. Herr Friedemann verlieX als einer der letzten mit seiner Dame den
Saal, geleitete sie durch das altdeutsche Zimmer, wo man bereits zu rauchen
begann, in das halbdunkle und behagliche Wohngemach und verabschiedete sich
von ihr.
Er war mit Sorgfalt gekleidet; sein Frack war ohne Tadel, sein Hemd
blendend weiX, und seine schmalen rind schXn geformten FXe steckten in
Lackschuhen. Dann und wann konnte man sehen, dass er rotseidene StrXmpfe
trug. Er blickte auf den Korridor hinaus und sah, dass grXere Gruppen sich
bereits die Treppe hinunter in den Garten begaben. Aber er setzte sich mit
seiner Zigarre und seinem Kaffee an die TXr des altdeutschen Zimmers, in dem
einige Herren plaudernd beisammenstanden, und blickte in das Wohngemach
hinein.
Gleich rechts von der TXr saX um einen kleinen Tisch ein Kreis, dessen
Mittelpunkt von dem Studenten gebildet ward, der mit Eifer sprach. Er hatte
die Behauptung aufgestellt, dass man durch einen Punkt mehr als eine
Parallele zu einer Geraden ziehen kXnne, Frau Rechtsanwalt HagenstrXm hatte
gerufen: "Dies ist unmXglich!", und nun bewies er es so schlagend, dass alle
taten, als hXtten sie es verstanden. Im Hintergrunde des Zimmers aber, auf
der Ottomane, neben der die niedrige, rotverhXllte Lampe stand; saX im
GesprXch mit dem jungen FrXulein Stephens Gerda von Rinnlingen. Sic saX ein
wenig in das gelbseidene Kissen zurXckgelehnt, einen FuX Xber den anderen
gestellt, und rauchte langsam eine Zigarette, wobei sie den Rauch durch die
Nase ausatmete und die Unterlippe vorschob. FrXulein Stephens saX aufrecht
und wie aus Holz geschnitzt vor ihr und antwortete Xngstlich lXchelnd.
Niemand beachtete den kleinen Herrn Friedemann, und niemand bemerkte,
dass seine groXen Augen ohne Unterlass auf Frau von Rinnlingen gerichtet
waren. In einer schlaffen Haltung saX er und sah sie an. Es war nichts
Leidenschaftliches in seinem Blick und kaum ein Schmerz; etwas Stumpfes und
Totes lag darin, eine dumpfe, kraft- und willenlose Hingabe.
Zehn Minuten etwa vergingen so; da erhob Frau von Rinnlingen sich
plXtzlich, und ohne ihn anzublicken, als ob sie ihn wXhrend der ganzen Zeit
heimlich beobachtet hXtte, schritt sie auf ihn zu und blieb vor ihm stehen.
Er stand auf, sah zu ihr in die HXhe und vernahm die Worte:
"Haben Sie Lust; mich in den Garten zu begleiten, Herr Friedemann?"
Er antwortete:
"Mit VergnXgen, gnXdige Frau."
"Sie haben unseren Garten noch nicht gesehen?" sagte sie auf der Treppe
zu ihm. "Er ist ziemlich groX. Hoffentlich sind noch nicht zu viele Menschen
dort; ich mXchte gern ein wenig aufatmen. Ich habe wXhrend des Essens
Kopfschmerzen bekommen; vielleicht war mir dieser Rotwein zu krXftig ...
Hier durch die TXr mXssen wir hinausgehen." Es war eine GlastXr, durch die
sie vom Vorplatz aus einen kleinen, kXhlen Flur betraten; dann fXhrten ein
paar Stufen ins Freie.
In der wundervoll sternklaren, warmen Nacht quoll der Duft von allen
Beeten. Der Garten lag in vollem Mondlicht, und auf den weiX leuchtenden
Kieswegen gingen die GXste plaudernd und rauchend umher. Eine Gruppe hatte
sich um den Springbrunnen versammelt, wo der alte, beliebte Arzt unter
allgemeinem GelXchter Papierschiffchen schwimmen lieX.
Frau von Rinnlingen ging mit einem leichten Kopfnicken vorXber und wies
in die Ferne, wo der zierliche und duftende Blumengarten zum Park sich
verdunkelte.
"Wir wollen die Mittelallee hinuntergehen", sagte sie. Am Eingange
standen zwei niedrige, breite Obelisken.
Dort hinten, am Ende der schnurgeraden Kastanienallee sahen sie
grXnlich und blank den Fluss im Mondlicht schimmern. Ringsumher war es
dunkel und kXhl. Hie und da zweigte ein Seitenweg ab; der im Bogen wohl
ebenfalls zum Flusse fXhrte. Es lieX sich lange Zeit kein Laut vernehmen.
"Am Wasser", sagte sie, "ist ein hXbscher Platz, wo ich schon oft gesessen
habe. Dort kXnnten wir einen Augenblick plaudern. X Sehen Sie, dann uqd wann
glitzert zwischen dem Laub ein Stern hindurch."
Er antwortete nicht und blickte auf die grXne,schimmernde FlXche, der
sie sich nXherten. Man konnte das jenseitige Ufer erkennen, die Wallanlagen.
Als sie die Allee verlieXen und auf den Grasplatz hinaustraten, der sich zum
Flusse hinabsenkte, sagte Frau von Rinnlingen: "Hier ein wenig nach rechts
ist unser Platz; sehen Sie, er ist unbesetzt."
Die Bank, auf der sie sich niederlieXen, lehnte sich sechs Schritte
seitwXrts von der Allee an den Park. Hier war es wXrmer als zwischen den
breiten BXumen. Die Grillen zirpten in dem Grase, das hart am Wasser in
dXnnes Schilf Xberging. Der mondhelle Fluss gab ein mildes Licht.
Sie schwiegen beide eine Weile und blickten auf das Wasser. Dann aber
horchte er ganz erschXttert, denn der Ton, den er vor einer Woche vernommen,
dieser leise, nachdenkliche und sanfte Ton berXhrte ihn wieder.
"Seit wann haben Sie Ihr Gebrechen, Herr Friedemann?" fragte sie. "Sind
Sie damit geboren?"
Er schluckte hinunter, denn die Kehle war ihm wie zugeschnXrt. Dann
antwortete er leise ,und artig: "Nein, gnXdige Frau. Als kleines Kind lieX
man mich zu Boden fallen; daher stammt es."
"Und wie alt sind Sie nun?" fragte sie weiter.
"DreiXig Jahre, gnXdige Frau."
"DreiXig Jahre", wiederholte sie. "Und Sie waren nicht glXcklich, diese
dreiXig Jahre?"
Herr Friedemann schXttelte den Kopf, und seine Lippen bebten. "Nein",
sagte er; "das war LXge und Einbildung."
"Sie haben also geglaubt, glXcklich zu sein?" fragte sie.
"Ich habe es versucht", sagte er und sie antwortete:
"Das war tapfer."
Eine Minute verstrich. Nur die Grillen zirpten, und hinter ihnen
rauschte es ganz leise in den BXumen.
"Ich verstehe mich ein wenig auf das UnglXck", sagte sie dann. "Solche
SommernXchte am Wasser sind das Beste dafXr."
Hierauf antwortete er nicht, sondern wies mit einer schwachen GebXrde
hinXber nach dem jenseitigen Ufer, das friedlich im Dunkel lag. "Dort habe
ich neulich gesessen", sagte er.
"Als Sie von mir kamen?" fragte sie.
Er nickte nur.
Dann aber bebte er plXtzlich auf seinem Sitz in die HXhe, schluchzte
auf, stieX einen Laut aus, einen Klagelaut, der doch zugleich etwas
ErlXsendes hatte, und sank langsam vor ihr zu Boden. Er hatte mit seiner
Hand die ihre berXhrt, die neben ihm auf der Bank geruht hatte, und wXhrend
er sie nun festhielt, wXhrend er auch die andere ergriff, wXhrend dieser
kleine, gXnzlich verwachsene Mensch zitternd und zuckend vor ihr auf den
Knien lag und sein Gesicht in ihren SchoX drXckte, stammelte er mit einer
unmenschlichen, keuchenden Stimme:
"Sie wissen es ja ... Lass mich ... Ich kann nicht mehr ... Mein Gott
... Mein Gott ..."
Sie wehrte ihm nicht, sie beugte sich auch nicht zu ihm nieder. Sie saX
hoch aufgerichtet, ein wenig von ihm zurXckgelehnt, und ihre kleinen, nahe
beieinanderliegenden Augen, in denen sich der feuchte Schimmer des Wassers
zu spiegeln schien, blickten starr und gespannt gradeaus, Xber ihn fort, ins
Weite.
Und dann, plXtzlich, mit einem Ruck, mit einem kurzen, stolzen,
verXchtlichen Lachen hatte sie ihre HXnde seinen heiXen Fingern entrissen,
hatte ihn am Arm gepackt, ihn seitw rts vollends zu Boden geschleudert, war
aufgesprungen und in der Allee verschwunden.
Er lag da, das .Gesicht im Grase, betXubt, auXer sich, und ein Zucken
lief jeden Augenblick durch seinen KXrper. Er raffte sich auf, tat zwei
Schritte und stXrzte wieder zu Boden. Er lag am Wasser. X
Was ging eigentlich in ihm vor, bei dem, was nun geschah? Vielleicht
war es dieser wollXstige Hass, den er empfunden hatte, wenn sie ihn mit
ihrem Blicke demXtigte, der jetzt, wo er, behandelt von ihr wie ein Hund, am
Boden lag, in eine irrsinnige Wut ausartete, die er betXtigen musste, sei es
auch gegen sich selbst ... ein Ekel vielleicht vor sich selbst, der ihn mit
einem Durst erfXllte, sich zu vernichten, sich in StXcke zu zerreiXen, sich
auszulXschen ...
Auf dem Bauche schob er sich noch weiter vorwXrts, erhob den OberkXrper
und lieX ihn ins Wasser fallen. Er hob den Kopf nicht wieder; nicht einmal
die Beine, die am Ufer lagen, bewegte er mehr.
Bei dem Aufklatschen des Wassers waren die Grillen einen Augenblick
verstummt. Nun setzte ihr Zirpen wieder ein, der Park rauschte leise auf,
und durch die lange Allee herunter klang gedXmpftes Lachen.
1897
Last-modified: Thu, 27 May 2004 18:37:45 GMT