n und hinauszuschauen, war unmöglich: Muskeln aus
Eis verbanden seine Ränder mit dem Mauerwerk, und die Scheiben waren bis zur
Hälfte weiŸ verweht. Ich sah nur, daŸ Charousek scheinbar ganz friedlich
neben dem Trödler Wassertrum stand - sie muŸten soeben ein Gespräch
mitsammen geführt haben - sah, wie die Verblüffung, die sich in ihrer beider
Mienen malte, wuchs und sie sprachlos offenbar den Wagen, der meinen Blicken
entzogen war, anstarrten.
Angelinas Gatte ist es, fuhr es mir durch den Kopf. - Sie selbst konnte
es nicht sein! Mit ihrer Equipage hier bei mir vorzufahren - in der
HahnpaŸgasse! - vor aller Leute Augen! Es wäre hellichter Wahnsinn gewesen.
- Aber was sollte ich zu ihrem Gatten sagen, wenn er's wäre und mich auf den
Kopf zu fragte?
Leugnen, natürlich leugnen.
Hastig legte ich mir die Möglichkeiten zurecht: es kann nur ihr Gatte
sein. Er hat einen anonymen Brief bekommen, - von Wassertrum - daŸ sie hier
gewesen sei zu einem Rendezvous, und sie hat eine Ausrede gebraucht:
wahrscheinlich, daŸ sie eine Gemme oder sonst etwas bei mir bestellt habe. -
- - Da! wütendes Klopfen an meiner Tür und - Angelina stand vor mir.
Sie konnte kein Wort hervorbringen, aber der Ausdruck ihres Gesichtes
verriet mir alles: sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Das Lied war
aus.
Dennoch lehnte sich irgend etwas in mir auf gegen diese Annahme. Ich
brachte es nicht fertig, zu glauben, daŸ das Gefühl, ihr helfen zu können,
mich belogen haben sollte.
Ich führte sie in meinen Lehnstuhl. Streichelte ihr stumm das Haar; und
sie verbarg, todmüde wie ein Kind, ihren Kopf an meiner Brust.
Wir hörten das Knistern der brennenden Scheite im Ofen und sahen, wie
der rote Schein über die Dielen huschte, aufflammte und erlosch - aufflammte
und erlosch - aufflammte und erlosch - - -
"Wo ist das Herz aus rotem Stein - - -" klang es in meinem Innern. Ich
fuhr auf: Wo bin ich! Wie lang sitzt sie schon hier?
Und ich forschte sie aus, - vorsichtig, leise, ganz leise, daŸ sie
nicht aufwache und ich mit der Sonde die schmerzende Wunde nicht berühre.
Bruchstückweise erfuhr ich, was ich zu wissen brauchte, und setzte es
mir zusammen wie ein Mosaik:
"Ihr Gatte weiŸ - -?"
"Nein, noch nicht; er ist verreist."
Also um Dr. Saviolis Leben drehte sich's; - Charousek hatte es richtig
erraten. Und weil's um Saviolis Leben ging, und nicht mehr um ihres, war sie
hier. Sie denkt nicht mehr daran, irgend etwas zu verbergen, begriff ich.
Wassertrum war abermals bei Dr. Savioli gewesen. Hatte sich mit
Drohungen und Gewalt den Weg erzwungen bis zu seinem Krankenlager.
Und weiter! Weiter! Was wollte er von ihm?
Was er wollte? Sie hatte es halb erraten, halb erfahren: er wollte, daŸ
- - daŸ - er wollte, daŸ sich Dr. Savioli - - ein Leid antue.
Sie kenne jetzt auch die Gründe von Wassertrums wildem besinnungslosem
HaŸ: "Dr. Savioli habe einst seinen Sohn, den Augenarzt Wassory, in den Tod
getrieben."
Sofort schlug ein Gedanke in mich ein wie der Blitz: hinunterlaufen,
dem Trödler alles verraten: daŸ Charousek den Schlag geführt hatte - aus dem
Hinterhalt - und nicht Savioli, der nur das Werkzeug war - - -. "Verrat!
Verrat!" heulte es mir ins Hirn, "du willst also den armen schwindsüchtigen
Charousek, der dir helfen wollte und ihr, der Rachsucht dieses Halunken
preisgeben?" - Und es zerriŸ mich in blutende Hälften. - Dann sprach ein
Gedanke eiskalt und gelassen die Losung aus: "Narr! Du hast es doch in der
Hand! Brauchst ja nur die Feile dort auf dem Tisch zu nehmen, hinunter zu
laufen und sie dem Trödler durch die Gurgel zu jagen, daŸ die Spitze hinten
zum Genick herausschaut."
Mein Herz jauchzte einen Dankesschrei zu Gott.
Ich forschte weiter:
"Und Dr. Savioli?"
Kein Zweifel, daŸ er Hand an sich legen wird, wenn sie ihn nicht
rettete. Die Krankenschwestern lieŸen ihn nicht aus den Augen, hatten ihn
mit Morphium betäubt, aber vielleicht erwacht er plötzlich - vielleicht
gerade jetzt - und - und - nein, nein, sie müsse fort, dürfe keine Sekunde
Zeit mehr versäumen, - sie wolle ihrem Gatten schreiben, ihm alles
eingestehen, - solle er ihr das Kind nehmen, aber Savioli sei gerettet, denn
sie hätte Wassertrum damit die einzige Waffe aus der Hand geschlagen, die er
besäŸe und mit der er drohe.
Sie wolle das Geheimnis selbst enthüllen, ehe er es verraten könne.
"Das werden Sie nicht tun, Angelina!" schrie ich und dachte an die
Feile und die Stimme versagte mir in jubelnder Freude über meine Macht.
Angelina wollte sich losreiŸen: ich hielt sie fest.
"Nur noch eins: œberlegen Sie, wird Ihr Gatte denn dem Trödler so ohne
weiteres glauben?"
"Aber Wassertrum hat doch Beweise, offenbar meine Briefe, vielleicht
auch ein Bild von mir, - alles, was im Schreibtisch nebenan im Atelier
versteckt war."
Briefe? Bild? Schreibtisch? - ich wuŸte nicht mehr, was ich tat: ich
riŸ Angelina an meine Brust und küŸte sie. Auf den Mund, auf die Stirn, auf
die Augen.
Ihr blondes Haar lag wie ein goldner Schleier vor meinem Gesicht.
Dann hielt ich sie an ihren schmalen Händen und erzählte ihr mit
fliegenden Worten, daŸ der Todfeind Wassertrums - ein armer böhmischer
Student - die Briefe und alles in Sicherheit gebracht hätte und sie in
meinem Besitz seien und fest verwahrt.
Und sie fiel mir um den Hals und lachte und weinte in einem Atem. KüŸte
mich. Rannte zur Tür. Kehrte wieder um und küŸte mich wieder.
Dann war sie verschwunden.
Ich stand wie betäubt und fühlte noch immer den Atem ihres Mundes an
meinem Gesicht.
Ich hörte wie die Wagenräder über das Pflaster donnerten und den
rasenden Galopp der Hufe. Eine Minute später war alles still. Wie ein Grab.
Auch in mir.
Plötzlich knarrte die Tür leise hinter mir, und Charousek stand im
Zimmer:
"Verzeihen Sie, Herr Pernath, ich habe lange geklopft, aber Sie
schienen es nicht zu hören."
Ich nickte nur stumm.
"Hoffentlich nehmen Sie nicht an, daŸ ich mich mit Wassertrum versöhnt
habe, weil Sie mich vorhin mit ihm sprechen sahen?" - Charouseks hohnisches
Lächeln sagte mir, daŸ er nur einen grimmigen SpaŸ machte. - "Sie müssen
nämlich wissen: Das Gluck ist mir hold; die Kanaille da unten fängt an, mich
in ihr Herz zu schlieŸen, Meister Pernath. - - Es ist eine seltsame Sache,
das mit der Stimme des Blutes", setzte er leise - halb für sich - hinzu.
Ich verstand nicht, was er damit meinen konnte, und nahm an, ich hätte
etwas überhört. Die ausgestandene Erregung zitterte noch zu stark in mir.
"Er wollte mir einen Mantel schenken", fuhr Charousek laut fort. "Ich
habe natürlich dankend abgelehnt. Mich brennt schon meine eigene Haut genug.
- Und dann hat er mir Geld aufgedrängt."
"Sie haben es angenommen?!", wollte es mir herausfahren, aber ich hielt
noch rasch meine Zunge im Zaum.
Die Wangen des Studenten bekamen kreisrunde rote Flecken:
"Das Geld habe ich selbstverständlich angenommen."
Mir wurde ganz wirr im Kopf!
"- an - genommen?", stammelte ich.
"Ich hätte nie gedacht, daŸ man auf Erden eine so reine Freude
empfinden kann!" - Charousek hielt einen Augenblick inne und schnitt eine
Fratze. - "Ist es nicht ein erhebendes Gefühl, im Haushalt der Natur
›Mütterchens Vorsehung‹ ökonomischen Finger allenthalben in Weisheit und
Umsicht walten zu sehen!?" - Er sprach wie ein Pastor und klimperte dabei
mit dem Geld in seiner Tasche, - "wahrlich, als hehre Pflicht empfinde ich
es, den Schatz, mir anvertraut von milder Hand, auf Heller und Pfennig
dereinst dem edelsten aller Zwecke zuzuführen."
War er betrunken? Oder wahnsinnig?
Charousek änderte plötzlich den Ton:
"Es liegt eine satanische Komik darin, daŸ Wassertrum sich die - Arznei
selber bezahlt. Finden Sie nicht?"
Eine Ahnung dämmerte mir auf, was sich hinter Charouseks Rede verbarg,
und mir graute vor seinen fiebernden Augen.
"œbrigens lassen wir das jetzt, Meister Pernath. Erledigen wir erst die
laufenden Geschäfte. Vorhin, die Dame, das war ›sie‹ doch? Was ist ihr denn
eingefallen, hier öffentlich vorzufahren?"
Ich erzählte Charousek, was geschehen war.
"Wassertrum hat bestimmt keine Beweise in den Händen", unterbrach er
mich freudig, "sonst hätte er nicht heute morgen abermals das Atelier
durchsucht. - Merkwürdig, daŸ Sie ihn nicht gehört haben!? Eine volle Stunde
lang war er drüben."
Ich staunte, woher er alles so genau wissen könne, und sagte es ihm.
"Darf ich?" - als Erklärung nahm er sich eine Zigarette vom Tisch,
zündete sie an und erläuterte: "Sehen Sie, wenn Sie jetzt die Tür öffnen,
bringt die Zugluft, die vom Stiegenhaus hereinweht, den Tabakrauch aus der
Richtung. Es ist das vielleicht das einzige Naturgesetz, das Herr Wassertrum
genau kennt, und für alle Fälle hat er in der StraŸenmauer des Ateliers -
das Haus gehört ihm, wie Sie wissen - eine kleine, versteckte, offene Nische
anbringen lassen: eine Art Ventilation, und darin ein rotes Fähnchen. Wenn
nun jemand das Zimmer betritt oder verläŸt, das heiŸt: die Zugtür öffnet, so
merkt es Wassertrum unten an dem heftigen Flattern des Fähnchens. Allerdings
weiŸ ich es ebenfalls," setzte Charousek trocken hinzu, "wenn's mir drum zu
tun ist, und kann es von dem Kellerloch vis-à-vis, in dem zu hausen ein
gnädiges Schicksal mir huldreichst gestattet, genau beobachten. - Der
niedliche Scherz mit der Ventilation ist zwar ein Patent des würdigen
Patriarchen, aber auch mir seit Jahren geläufig."
"Was für einen übermenschlichen HaŸ Sie gegen ihn haben müssen, daŸ Sie
so jeden seiner Schritte belauern. Und noch dazu seit langem, wie Sie
sagen!" warf ich ein.
"HaŸ?" Charousek lächelte krampfhaft. "HaŸ? - HaŸ ist kein Ausdruck.
Das Wort, das meine Gefühle gegen ihn bezeichnen könnte, muŸ erst geschaffen
werden. - Ich hasse, genaugenommen, auch gar nicht ihn. Ich hasse sein Blut.
Verstehen Sie das? Ich wittere wie ein wildes Tier, wenn auch nur ein
Tropfen von seinem Blut in den Adern eines Menschen flieŸt, - und" - er biŸ
die Zähne zusammen - "das kommt ›zuweilen‹ vor hier im Getto." Unfähig
weiter zu sprechen vor Aufregung lief er ans Fenster und starrte hinaus. -
Ich hörte wie er sein Keuchen unterdrückte. Wir schwiegen beide eine Weile.
"Hallo, was ist denn das?" fuhr er plötzlich auf und winkte mir hastig:
"Rasch, rasch! Haben Sie nicht einen Operngucker oder so etwas?"
Wir spähten vorsichtig hinter den Vorhängen hinunter:
Der taubstumme Jaromir stand vor dem Eingang des Trödlerladens und bot,
soviel wir aus seiner Zeichensprache erraten konnten, Wassertrum einen
kleinen blitzenden Gegenstand, den er in der Hand halb verbarg, zum Kauf an.
Wassertrum fuhr danach wie ein Geier und zog sich damit in seine Höhle
zurück.
Gleich darauf stürzte er wieder hervor - totenblaŸ - und packte Jaromir
an der Brust: Es entspann sich ein heftiges Ringen. - Mit einem Mal lieŸ
Wassertrum los und schien zu überlegen. Nagte wütend an seiner gespaltenen
Oberlippe. Warf einen grübelnden Blick zu uns herauf und zog dann Jaromir am
Arm friedlich in seinen Laden.
Wir warteten wohl eine Viertelstunde lang: sie schienen nicht fertig
werden zu können mit ihrem Handel.
Endlich kam der Taubstumme mit befriedigter Miene wieder heraus und
ging seines Weges.
"Was halten Sie davon?", fragte ich. "Es scheint nichts Wichtiges zu
sein? Vermutlich hat der arme Bursche irgendeinen erbettelten Gegenstand
versilbert."
Der Student gab keine Antwort und setzte sich schweigend wieder an den
Tisch.
Offenbar legte auch er dem Geschehnis keine Bedeutung bei, denn er fuhr
nach einer Pause da fort, wo er stehen geblieben war:
"Ja. Also ich sagte, ich hasse sein Blut. - Unterbrechen Sie mich,
Meister Pernath, wenn ich wieder heftig werde. Ich will kalt bleiben. Ich
darf meine besten Empfindungen nicht so vergeuden. Es packt mich sonst
nachher wie Ernüchterung. Ein Mensch mit Schamgefühl soll in kühlen Worten
reden, nicht mit Pathos wie eine Prostituierte oder - oder ein Dichter. -
Seit die Welt steht, wär's niemand eingefallen, vor Leid die ›Hände zu
ringen‹, wenn nicht die Schauspieler diese Geste als besonders ›plastisch‹
ausgetüftelt hätten."
Ich begriff, daŸ er mit Absicht blind drauflos redete, um innerlich
Ruhe zu bekommen.
Es wollte ihm nicht recht gelingen. Nervös lief er im Zimmer auf und
ab, faŸte alle möglichen Gegenstände an und stellte sie zerstreut zurück an
ihren Platz.
Dann war er mit einem Ruck wieder mitten in seinem Thema:
"Aus den kleinsten unwillkürlichen Bewegungen eines Menschen verrät
sich mir dieses Blut. Ich kenne Kinder, die ›ihm‹ ähnlich sehen und als
seine gelten, aber doch sind sie nicht vom selben Stamme - man kann mich
nicht täuschen. Jahrelang erfuhr ich nicht, daŸ Dr. Wassory sein Sohn ist,
aber ich habe es - ich möchte sagen - gerochen.
Schon als kleiner Junge, als ich noch nicht ahnen konnte, in welchen
Beziehungen Wassertrum zu mir steht," - sein Blick ruhte eine Sekunde
forschend auf mir, - "besaŸ ich diese Gabe. Man hat mich mit FüŸen getreten,
mich geschlagen, daŸ es wohl keine Stelle an meinem Körper gibt, die nicht
wüŸte, was rasender Schmerz ist, - hat mich hungern und dursten lassen, bis
ich halb wahnsinnig wurde und schimmlige Erde gefressen habe, aber niemals
konnte ich diejenigen hassen, die mich peinigten. Ich konnte einfach nicht.
Es war kein Platz mehr in mir für HaŸ. - Verstehen Sie? Und doch war mein
ganzes Wesen getränkt damit.
Nie hat mir Wassertrum auch nur das geringste angetan - ich will damit
sagen, daŸ er mich jemals weder geschlagen oder beworfen, noch auch
irgendwie beschimpft hat, wenn ich mich als Gassenjunge unten herumtrieb:
ich weiŸ das genau, - und doch richtete sich alles, was an Rachsucht und Wut
in mir kochte, gegen ihn. Nur gegen ihn!
Merkwürdig ist, daŸ ich ihm trotzdem nie als Kind einen Schabernack
gespielt habe. Wenn's die andern taten, zog ich mich sofort zurück. Aber
stundenlang konnte ich im Torweg stehen und, hinter der Haustür versteckt,
durch die Angelritzen sein Gesicht unverwandt anstieren, bis mir vor
unerklärlichem HaŸgefühl schwarz vor den Augen wurde.
Damals, glaube ich, habe ich den Grundstein zu dem Hellsehen gelegt,
das sofort in mir aufwacht, wenn ich mit Wesen, ja sogar mit Dingen in
Berührung komme, die in Verbindung mit ihm stehen. Ich muŸ wohl jede seiner
Bewegungen: seine Art, den Rock zu tragen und wie er Sachen anfaŸt, hustet
und trinkt, und all das Tausenderlei damals unbewuŸt auswendig gelernt
haben, bis sich's mir in die Seele fraŸ, daŸ ich überall die Spuren davon
auf den ersten Blick mit unfehlbarer Sicherheit als seine Erbstücke erkennen
kann.
Später wurde das manchmal fast zur Manie: ich warf harmlose Gegenstände
von mir, bloŸ weil mich der Gedanke quälte, seine Hand könne sie berührt
haben, - andere wieder waren mir ans Herz gewachsen; ich liebte sie wie
Freunde, die ihm Böses wünschten."
Charousek schwieg einen Moment. Ich sah, wie er geistesabwesend ins
Leere blickte. Seine Finger streichelten mechanisch die Feile auf dem Tisch.
"Als dann ein paar mitleidige Lehrer für mich gesammelt hatten und ich
Philosophie und Medizin studierte - auch nebenbei selbst denken lernte -, da
kam mir langsam die Erkenntnis, was HaŸ ist:
Wir können nur etwas so tief hassen, wie ich es tue, was ein Teil von
uns selbst ist.
Und wie ich später dahinter kam, - nach und nach alles erfuhr: was
meine Mutter war - und - und noch sein muŸ, wenn - wenn sie noch lebt, - und
daŸ mein eigener Leib" - er wendete sich ab, damit ich sein Gesicht nicht
sehen sollte, - "voll ist von seinem eklen Blut - nun ja, Pernath, - warum
sollen Sie's nicht wissen: er ist mein Vater! - da wurde mir klar, wo die
Wurzel lag. - - - Zuweilen kommt's mir sogar wie ein geheimnisvoller
Zusammenhang vor, daŸ ich schwindsüchtig bin und Blut spucken muŸ: mein
Körper wehrt sich gegen alles, was von ›ihm‹ ist, und stöŸt es mit Abscheu
von sich.
Oft hat mich mein HaŸ bis in den Traum begleitet und zu trösten gesucht
mit Geschichten von allen nur erdenklichen Foltern, die ich ›ihm‹ zufügen
durfte, aber immer verscheuchte ich sie selber, weil sie den faden
Beigeschmack des - Unbefriedigtseins in mir hinterlieŸen.
Wenn ich über mich selbst nachdenke und mich wundern muŸ, daŸ es so gar
niemanden und nichts auf der Welt gibt, was ich zu hassen, - ja nicht einmal
als antipathisch zu empfinden imstande wäre, auŸer ›ihn‹ und seinen Stamm, -
beschleicht mich oft das widerliche Gefühl: ich könnte das sein, was man
einen ›guten Menschen‹ nennt. Aber zum Glück ist es nicht so. - Ich sagte
Ihnen schon: es ist kein Platz mehr in mir.
Und glauben Sie nur ja nicht, daŸ ein trauriges Schicksal mich
verbittert hat: (Was er meiner Mutter angetan hat, erfuhr ich überdies erst
in späteren Jahren) - ich habe einen Freudentag erlebt, der weit in den
Schatten stellt, was sonst einem Sterblichen vergönnt ist. Ich weiŸ nicht,
ob Sie kennen, was innere, echte, heiŸe Frömmigkeit ist, - ich hatte es bis
dahin auch nicht gekannt - als ich aber an jenem Tage, an dem Wassory sich
selbst ausgerottet hat, am Laden unten stand und sah, wie ›er‹ die Nachricht
bekam, - sie ›stumpfsinnig‹, wie ein Laie, der die echte Bühne des Lebens
nicht kennt, hätte glauben müssen, - hinnahm, wohl eine Stunde lang
teilnahmslos stehen blieb, seine blutrote Hasenscharte nur ein ganz klein
biŸchen höher über die Zähne gezogen als sonst und den Blick so gewiŸ - - so
- so - so eigenartig nach innen gekehrt, - - - - da fühlte ich den
Weihrauchduft von den Schwingen des Erzengels. - - Kennen Sie das Gnadenbild
der schwarzen Muttergottes in der Teinkirche? Dort warf ich mich nieder und
die Finsternis des Paradieses hüllte meine Seele ein." -
- - - Wie ich Charousek so dastehen sah, die groŸen, träumerischen
Augen voll Tränen, da fielen mir Hillels Worte ein von der Unbegreiflichkeit
des dunklen Pfades, den die Brüder des Todes gehen.
Charousek fuhr fort:
"Die äuŸeren Umstande, die meinen HaŸ ›rechtfertigen‹ oder in den
Gehirnen der amtlich besoldeten Richter begreiflich erscheinen lassen
könnten, werden Sie vielleicht gar nicht interessieren: - Tatsachen sehen
sich an wie Meilensteine und sind doch nur leere Eierschalen. Sie sind das
aufdringliche Knallen der Champagnerpfropfen an den Tafeln der Protzen, das
nur der Schwachsinnige für das Wesentliche eines Gelages hält. - Wassertrum
hat meine Mutter mit all den infernalischen Mitteln, die seinesgleichen
Gewohnheit sind, gezwungen, ihm zu Willen zu sein, - wenn es nicht noch viel
schlimmer war. Und dann - - nun ja - und dann hat er sie an - ein
Freudenhaus verkauft, - - - so etwas ist nicht schwer, wenn man Polizeiräte
zu Geschäftsfreunden hat, - aber nicht etwa, weil er ihrer überdrüssig
gewesen wäre, o nein! Ich kenne die Schlupfwinkel seines Herzens: an dem
Tage hat er sie verkauft, wo er sich voll Schrecken bewuŸt wurde, wie heiŸ
er sie in Wirklichkeit liebte. So einer wie er handelt da scheinbar
widersinnig, aber immer gleich. Das Hamsterhafte in seinem Wesen quietscht
auf, sowie jemand kommt und kauft ihm irgend etwas ab aus seiner Trödlerbude
gegen noch so teures Geld: er empfindet nur den Zwang des ›Hergebenmüssens‹.
Er möchte den Begriff ›haben‹ am liebsten in sich hineinfressen und könnte
er sich überhaupt ein Ideal ausdenken, so wär's das, sich dereinst in den
abstrakten Begriff ›Besitz‹ aufzulösen. - -
Und da ist es damals riesengroŸ in ihm gewachsen bis zu einem Berg von
Angst: "seiner selbst nicht mehr sicher" zu sein, - nicht: etwas an Liebe
geben zu wollen, sondern geben zu müssen: die Gegenwart eines Unsichtbaren
in sich zu ahnen, das seinen Willen oder das, von dem er möchte, daŸ es sein
Wille sein sollte, heimlich in Fesseln schlug. - So war der Anfang. Was dann
folgte, geschah automatisch. Wie der Hecht mechanisch zubeiŸen muŸ, - ob er
will oder nicht - wenn ein blitzender Gegenstand zu rechter Zeit
vorüberschwimmt.
Das Verschachern meiner Mutter ergab sich für Wassertrum als natürliche
Folge. Es befriedigte den Rest der in ihm schlummernden Eigenschaften: die
Gier nach Gold und die perverse Wonne an der Selbstqual. - - - Verzeihen
Sie, Meister Pernath," - Charouseks Stimme klang plötzlich so hart und
nüchtern, daŸ ich erschrak, - "verzeihen Sie, daŸ ich so furchtbar gescheit
daherrede, aber wenn man an der Universität ist, kommt einem eine Menge
vertrottelter Bücher unter die Hände; unwillkürlich verfällt man dann in
eine teppenhafte Ausdrucksweise." -
Ich zwang mich ihm zu Gefallen zu einem Lächeln; innerlich verstand ich
gar wohl, daŸ er mit dem Weinen kämpfte.
Irgendwie muŸ ich ihm helfen, überlegte ich, wenigstens seine bitterste
Not zu lindern versuchen, soweit das in meiner Macht steht. Ich nahm
unauffällig die Hundertguldennote, die ich noch zu Hause hatte, aus der
Kommodenschublade und steckte sie in die Tasche.
"Wenn Sie später einmal in eine bessere Umgebung kommen und Ihren Beruf
als Arzt ausüben, wird Frieden bei Ihnen einziehen, Herr Charousek"; sagte
ich, um dem Gespräch eine versöhnliche Richtung zu geben, - "machen Sie bald
Ihr Doktorat?"
"Demnächst. Ich bin es meinen Wohltätern schuldig. Zweck hat's ja
keinen, denn meine Tage sind gezählt."
Ich wollte den üblichen Einwand machen, daŸ er doch wohl zu schwarz
sehe, aber erwehrte lächelnd ab:
"Es ist das beste so. Es muŸ überdies kein Vergnügen sein, den
Heilkomödianten zu mimen und sich zu guterletzt noch als diplomierter
Brunnenvergifter einen Adelstitel zuzuziehen. - - Andererseits", setzte er
mit seinem galligen Humor hinzu, "wird mir leider jedes weitere segensreiche
Wirken hier im Diesseits-Getto ein für allemal abgeschnitten sein." Er griff
nach seinem Hut. "Jetzt will ich aber nicht langer stören. Oder wäre noch
etwas zu besprechen in der Angelegenheit Savioli? Ich denke nicht. Lassen
Sie mich jedenfalls wissen, wenn Sie etwas Neues erfahren. Am besten, Sie
hängen einen Spiegel hier ans Fenster, als Zeichen, daŸ ich Sie besuchen
soll. Zu mir in den Keller dürfen Sie auf keinen Fall kommen: Wassertrum
wurde sofort Verdacht schöpfen, daŸ wir zusammenhalten. - Ich bin übrigens
sehr neugierig, was er jetzt tun wird, wo er gesehen hat, daŸ die Dame zu
Ihnen gekommen ist. Sagen Sie ganz einfach, sie hätte Ihnen ein Schmuckstück
zu reparieren gebracht, und wenn er zudringlich wird, spielen Sie eben den
Rabiaten."
Es wollte sich keine passende Gelegenheit ergeben, Charousek die
Banknote aufzudrängen; ich nahm daher das Modellierwachs wieder vom
Fensterbrett und sagte: "Kommen Sie, ich begleite Sie ein Stück die Treppen
hinunter. - Hillel erwartet mich", log ich.
Er stutzte:
"Sie sind mit ihm befreundet?"
"Ein wenig. Kennen Sie ihn? - - Oder miŸtrauen Sie ihm", - ich muŸte
unwillkürlich lächeln - "vielleicht auch?"
"Da sei Gott vor!"
"Warum sagen Sie das so ernst?"
Charousek zögerte und dachte nach:
"Ich weiŸ selbst nicht warum. Es muŸ etwas UnbewuŸtes sein: so oft ich
ihm auf der StraŸe begegne, möchte ich am liebsten vom Pflaster
heruntertreten und das Knie beugen wie vor einem Priester, der die Hostie
trägt. - Sehen Sie, Meister Pernath, da haben Sie einen Menschen, der in
jedem Atom das Gegenteil von Wassertrum ist. Er gilt z. B. bei den Christen
hier im Viertel, die, wie immer, so auch in diesem Fall falsch informiert
sind, als Geizhals und heimlicher Millionär und ist doch unsagbar arm."
Ich fuhr entsetzt auf: "arm?"
"Ja, womöglich noch armer als ich. Das Wort ›nehmen‹ kennt er, glaub'
ich, überhaupt nur aus Büchern; aber wenn er am Ersten des Monats aus dem
›Rathaus‹ kommt, dann laufen die jüdischen Bettler vor ihm davon, weil sie
wissen, er würde dem nächsten besten von ihnen seinen ganzen kärglichen
Gehalt in die Hand drücken und ein paar Tage später - samt seiner Tochter
selber verhungern. - Wenn's wahr ist, was eine uralte talmudische Legende
behauptet: daŸ von den zwölf jüdischen Stämmen zehn verflucht sind und zwei
hellig, so verkörpert er die zwei heiligen und Wassertrum alle zehn andern
zusammen. - Haben Sie noch nie bemerkt, wie Wassertrum sämtliche Farben
spielt, wenn Hillel an ihm vorüber geht? Interessant, sag' ich Ihnen! Sehen
Sie, solches Blut kann sich gar nicht vermischen; da kamen die Kinder tot
zur Welt. Vorausgesetzt, daŸ die Mütter nicht schon früher vor Entsetzen
stürben. - Hillel ist übrigens der einzige, an den sich Wassertrum nicht
herantraut; - er weicht ihm aus wie dem Feuer. Vermutlich, weil Hillel das
Unbegreifliche, das vollkommen Unenträtselbare, für ihn bedeutet. Vielleicht
wittert er in ihm auch den Kabballsten."
Wir gingen bereits die Stiegen hinab.
"Glauben Sie, daŸ es heutzutage noch Kabballsten gibt - daŸ überhaupt
an der Kabbala etwas sein konnte?", fragte ich, gespannt, was er wohl
antworten würde, aber er schien nicht zugehört zu haben.
Ich wiederholte meine Frage.
Hastig lenkte er ab und deutete auf eine Tür des Treppenhauses, die aus
Kistendeckeln zusammengenagelt war:
"Sie haben da neue Mitbewohner bekommen, eine zwar jüdische aber arme
Familie: den meschuggenen Musikanten Nephtali Schaffranek mit Tochter,
Schwiegersohn und Enkelkindern. Wenn's dunkel wird und er allein ist mit den
kleinen Mädchen, kommt der Rappel über ihn: dann bindet er sie an den Daumen
zusammen, damit sie ihm nicht davonlaufen, zwängt sie in einen alten
Hühnerkäfig und unterweist sie im ›Gesang‹, wie er es nennt, damit sie
später ihren Lebensunterhalt selbst erwerben können, - das heiŸt, er lehrt
sie die verrücktesten Lieder, die es gibt, deutsche Texte, Bruchstücke, die
er irgendwo aufgeschnappt hat und im Dämmer seines Seelenzustandes für -
preuŸische Schlachthymnen oder dergleichen hält."
Wirklich tönte da eine sonderbare Musik leise auf den Gang heraus. Ein
Fiedelbogen kratzte fürchterlich hoch und immerwährend in ein und demselben
Ton die Umrisse eines Gassenhauers, und zwei fadendünne Kinderstimmen sangen
dazu:
"Frau Pick,
Frau Hock,
Frau Kle - pe - tarsch,
se stehen beirenond
und schmusen allerhond - -"
Es war wie Wahnwitz und Komik zugleich, und ich muŸte wider Willen
hellaut auflachen.
"Schwiegersohn Schaffranek - seine Frau verkauft auf dem Eiermarkt
Gurkensaft gläschenweise an die Schuljugend - läuft den ganzen Tag in den
Büros herum", fuhr Charousek grimmig fort, "und erbettelt sich alte
Briefmarken. Die sortiert er dann, und wenn er welche darunter findet, die
zufällig nur am Rande gestempelt sind, so legt er sie aufeinander und
schneidet sie durch. Die ungestempelten Hälften klebt er zusammen und
verkauft sie als neu. Anfangs blühte das Geschäft und warf manchmal fast
einen - Gulden im Tag ab, aber schlieŸlich kamen die Prager jüdischen
GroŸindustriellen dahinter - und machen es jetzt selber. Sie schöpfen den
Rahm ab."
"Würden Sie Not lindern, Charousek, wenn Sie überflüssiges Geld
hätten?" fragte ich rasch. - Wir standen vor Hillels Tür und ich klopfte an.
"Halten Sie mich für so gemein, daŸ Sie glauben können, ich täte es
nicht?", fragte er verblüfft zurück.
Mirjams Schritte kamen näher, und ich wartete, bis sie die Klinke
niederdrückte, dann schob ich ihm rasch die Banknote in die Tasche:
"Nein, Herr Charousek, ich halte Sie nicht dafür, aber mich müŸten Sie
für gemein halten, wenn ich's unterlieŸe."
Ehe er etwas erwidern konnte, hatte ich ihm die Hand geschüttelt und
die Tür hinter mir zugezogen. Während mich Mirjam begrüŸte, lauschte ich,
was er tun würde.
Er blieb eine Weile stehen, dann schluchzte er leise auf und ging
langsam mit suchendem Schritt die Treppe hinunter. Wie jemand, der sich am
Geländer halten muŸ. - - -
Es war das erste Mal, daŸ ich Hillels Zimmer besuchte.
Es sah schmucklos aus wie ein Gefängnis. Der Boden peinlich sauber und
mit weiŸem Sand bestreut. Nichts an Möbeln als zwei Stühle und ein Tisch und
eine Kommode. Ein Holzpostament je links und rechts an den Wänden. - - -
Mirjam saŸ mir gegenüber am Fenster, und ich bossierte an meinem
Modellierwachs.
"MuŸ man denn ein Gesicht vor sich haben, um die „hnlichkeit zu
treffen?", fragte sie schüchtern und nur, um die Stille zu unterbrechen.
Wir wichen einander scheu mit den Blicken aus. Sie wuŸte nicht, wohin
die Augen richten in ihrer Qual und Scham über die jammervolle Stube, und
mir brannten die Wangen von innerem Vorwurf, daŸ ich mich nicht längst darum
gekümmert hatte, wie sie und ihr Vater lebten.
Aber irgend etwas muŸte ich doch antworten!
"Nicht so sehr, um die „hnlichkeit zu treffen, als um zu vergleichen,
ob man innerlich auch richtig gesehen hat", - ich fühlte, noch während ich
sprach, wie grundfalsch das alles war, was ich sagte.
Jahrelang hatte ich den irrigen Grundsatz der Maler, man müsse die
äuŸere Natur studieren, um künstlerisch schaffen zu können, stumpfsinnig
nachgebetet und befolgt; erst, seit Hillel mich in jener Nacht erweckt, war
mir das innere Schauen aufgegangen: das wahre Sehenkönnen hinter
geschlossenen Lidern, das sofort erlischt, wenn man die Augen aufschlägt, -
die Gabe, die sie alle zu haben glauben und die doch unter Millionen keiner
wirklich besitzt.
Wie konnte ich auch nur von der Möglichkeit sprechen, die unfehlbare
Richtschnur der geistigen Vision an den groben Mitteln des Augenscheins
nachmessen zu wollen!
Mirjam schien „hnliches zu denken, nach dem Erstaunen in ihren Mienen
zu schlieŸen.
"Sie dürfen es nicht so wörtlich nehmen", entschuldigte ich mich.
Voll Aufmerksamkeit sah sie zu, wie ich mit dem Griffel die Form
vertiefte.
"Es muŸ unendlich schwer sein, alles dann haargenau auf Stein zu
übertragen?"
"Das ist nur mechanische Arbeit. So ziemlich wenigstens."
Pause.
"Darf ich die Gemme sehen, wenn sie fertig ist?" fragte sie.
"Sie ist doch für Sie bestimmt, Mirjam."
"Nein, nein; das geht nicht, - - das - das - -", - ich sah, wie ihre
Hände nervös wurden.
"Nicht einmal diese Kleinigkeit wollen Sie von mir annehmen?",
unterbrach ich sie schnell, "ich wollte, ich dürfte mehr für Sie tun."
Hastig wandte sie das Gesicht ab.
Was hatte ich da gesagt! Ich muŸte sie aufs tiefste verletzt haben. Es
hatte geklungen, als wollte ich auf ihre Armut anspielen.
Konnte ich es noch beschönigen? Wurde es dann nicht weit schlimmer?
Ich nahm einen Anlauf:
"Hören Sie mich ruhig an, Mirjam! Ich bitte Sie darum. - Ich schulde
Ihrem Vater so unendlich viel, - Sie können das gar nicht ermessen - -"
Sie sah mich unsicher an; verstand offenbar nicht.
"-ja ja: unendlich viel. Mehr als mein Leben."
"Weil er Ihnen damals beistand, als Sie ohnmächtig waren? Das war doch
selbstverständlich."
Ich fühlte: sie wuŸte nicht, welches Band mich mit ihrem Vater
verknüpfte. Vorsichtig sondierte ich, wie weit ich gehen durfte, ohne zu
verraten, was er ihr verschwieg.
"Weit höher als äuŸere Hilfe, dachte ich, ist die innere zu stellen. -
Ich meine die, die aus dem geistigen EinfluŸ eines Menschen auf den andern
überstrahlt. - Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Mirjam? - Man kann
jemand auch seelisch heilen, nicht nur körperlich, Mirjam."
"Und das hat - -?"
"Ja, das hat Ihr Vater an mir getan!" - ich faŸte sie an der Hand, -
"begreifen Sie nicht, daŸ es mir da ein Herzenswunsch sein muŸ, wenn schon
nicht ihm, so doch jemand, der ihm so nahesteht, wie Sie, irgendeine Freude
zu bereiten? - Haben Sie nur ein ganz klein wenig Vertrauen zu mir! - Gibt's
denn gar keinen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen könnte?"
Sie schüttelte den Kopf: "Sie glauben, ich fühle mich unglücklich
hier?"
"GewiŸ nicht. Aber vielleicht haben Sie zuweilen Sorgen, die ich Ihnen
abnehmen konnte? Sie sind verpflichtet - hören Sie! - verpflichtet, mich
daran teilnehmen zu lassen! Warum leben Sie denn beide hier in der finstern
traurigen Gasse, wenn Sie nicht müŸten? Sie sind noch so jung, Mirjam, und -
-"
"Sie leben doch selbst hier, Herr Pernath", unterbrach sie mich
lächelnd, "was fesselt Sie an das Haus?"
Ich stutzte. - Ja. Ja, das war richtig. Warum lebte ich eigentlich
hier? Ich konnte es mir nicht erklären, was fesselt dich an das Haus?
wiederholte ich mir geistesabwesend. Ich konnte keine Erklärung finden und
vergaŸ einen Augenblick ganz, wo ich war. - Dann stand ich plötzlich
entrückt irgendwo hoch oben - in einem Garten - roch den zauberhaften Duft
von blühenden Holunderdolden, - sah herab auf die Stadt - - -
"Habe ich eine Wunde berührt? Hab' ich Ihnen weh getan?", kam Mirjams
Stimme von weit, weit her zu mir.
Sie hatte sich über mich gebeugt und sah mir ängstlich forschend ins
Gesicht.
Ich muŸte wohl lange starr dagesessen haben, daŸ sie so besorgt war.
Eine Weile schwankte es hin und her in mir, dann brach sich's plötzlich
gewaltsam Bahn, überflutete mich, und ich schüttete Mirjam mein ganzes Herz
aus.
Ich erzählte ihr, wie einem lieben, alten Freund, mit dem man sein
ganzes Leben beisammen war und vor dem man kein Geheimnis hat, wie's um mich
stand und auf welche Weise ich aus einer Erzählung Zwakhs erfahren hatte,
daŸ ich in früheren Jahren wahnsinnig gewesen und der Erinnerung an meine
Vergangenheit beraubt worden war, - wie in letzter Zeit Bilder in mir wach
geworden, die in jenen Tagen wurzeln muŸten, immer häufiger und häufiger,
und daŸ ich vor dem Moment zitterte, wo mir alles offenbar werden und mich
von neuem zerreiŸen würde.
Nur, was ich mit ihrem Vater in Zusammenhang bringen muŸte: - meine
Erlebnisse in den unterirdischen Gängen und all das übrige, verschwieg ich
ihr.
Sie war dicht zu mir gerückt und hörte mit einer tiefen atemlosen
Teilnahme zu, die mir unsäglich wohl tat.
Endlich hatte ich einen Menschen gefunden, mit dem ich mich aussprechen
konnte, wenn mir meine geistige Einsamkeit zu schwer wurde. - GewiŸ wohl:
Hillel war ja noch da, aber für mich nur wie ein Wesen jenseits der Wolken,
das kam und verschwand wie ein Licht, an das ich nicht herankonnte, wenn ich
mich sehnte.
Ich sagte es ihr und sie verstand mich. Auch sie sah ihn so, trotzdem
er ihr Vater war.
Er hing mit unendlicher Liebe an ihr und sie an ihm - "und doch bin ich
wie durch eine Glaswand von ihm getrennt," vertraute sie mir an, "die ich
nicht durchbrechen kann. Solange ich denke, war es so. - Wenn ich ihn als
Kind im Traum an meinem Bette stehen sah, immer trug er das Gewand des
Hohenpriesters: die goldene Tafel des Moses mit den 12 Steinen darin auf der
Brust, und blaue leuchtende Strahlen gingen von seinen Schläfen aus. - Ich
glaube, seine Liebe ist von der Art, die übers Grab hinausgeht, und zu groŸ,
als daŸ wir sie fassen könnten. - Das hat auch meine Mutter immer gesagt,
wenn wir heimlich über ihn sprachen." - - Sie schauderte plötzlich und
zitterte am ganzen Leib. Ich wollte aufspringen, aber sie hielt mich zurück:
"Seien Sie ruhig, es ist nichts. BloŸ eine Erinnerung. Als meine Mutter
starb - nur ich weiŸ, wie er sie geliebt hat, ich war damals noch ein
kleines Mädchen, - glaubte ich vor Schmerz ersticken zu müssen, und ich lief
zu ihm hin und krallte mich in seinen Rock und wollte aufschreien und konnte
doch nicht, weil alles gelähmt war in mir - und - und da - - - - mir lauft's
wieder eiskalt über den Rücken, wenn ich daran denke - sah er mich lächelnd
an, küŸte mich auf die Stirn und fuhr mir mit der Hand über die Augen. - - -
- Und von dem Moment an bis heute war jedes Leid, daŸ ich meine Mutter
verloren hatte, wie ausgetilgt in mir. Nicht eine Träne konnte ich
vergieŸen, als sie begraben wurde; ich sah die Sonne als strahlende Hand
Gottes am Himmel stehen und wunderte mich, warum die Menschen weinten. Mein
Vater ging hinter dem Sarge her, neben mir, und wenn ich aufblickte,
lächelte er jedesmal leise und ich fühlte, wie das Entsetzen durch die Menge
fuhr, als sie es sahen."
"Und sind Sie glücklich, Mirjam? Ganz glücklich? Liegt nicht zugleich
etwas Furchtbares für Sie in dem Gedanken, ein Wesen zum Vater zu haben, das
hinausgewachsen ist über alles Menschentum?", fragte ich leise.
Mirjam schüttelte freudig den Kopf:
"Ich lebe wie in einem seligen Schlaf dahin. - Als Sie mich vorhin
fragten, Herr Pernath, ob ich nicht Sorgen hätte und warum wir hier wohnten,
muŸte ich fast lachen. Ist denn die Natur schön? Nun ja, die Bäume sind grün
und der Himmel ist blau, aber das alles kann ich mir viel schöner
vorstellen, wenn ich die Augen schlieŸe. MuŸ ich denn, um sie zu sehen, auf
einer Wiese sitzen? - Und das biŸchen Not und - und - und Hunger? Das wird
tausendfach aufgewogen durch die Hoffnung und das Warten."
"Das Warten?", fragte ich erstaunt.
"Das Warten auf ein Wunder. Kennen Sie das nicht? Nein? Da sind Sie
aber ein ganz, ganz armer Mensch. - DaŸ das so wenige kennen?! Sehen Sie,
das ist auch der Grund, weshalb ich nie ausgehe und mit niemand verkehre.
Ich hatte wohl früher ein paar Freundinnen - Jüdinnen natürlich, wie ich -,
aber wir redeten immer aneinander vorbei; sie verstanden mich nicht und ich
sie nicht. Wenn ich von Wundern sprach, glaubten sie anfangs, ich mache
SpaŸ, und als sie merkten, wie ernst es mir war und daŸ ich auch unter
Wundern nicht das verstand, was die Deutschen mit ihren Brillen so
bezeichnen: das gesetzmäŸige Wachsen des Grases und dergleichen, sondern
eher das Gegenteil, - hätten sie mich am liebsten für verrückt gehalten,
aber dagegen stand ihnen wieder im Wege, daŸ ich ziemlich gelenkig bin im
Denken, hebräisch und aramäisch gelernt habe, die Targumim und Midraschim
lesen kann, und was dergleichen Nebensächlichkeiten mehr sind. SchlieŸlich
fanden sie ein Wort, das überhaupt nichts mehr ausdrückt: sie nannten mich
›überspannt‹.
Wenn ich ihnen dann klarmachen wollte, daŸ das Bedeutsame - das
Wesentliche - für mich in der Bibel und anderen heiligen Schriften das
Wunder und bloŸ das Wunder sei und nicht Vorschriften über Moral und Ethik,
die nur versteckte Wege sein können, um zum Wunder zu gelangen, - so wuŸten
sie nur mit Gemeinplätzen zu erwidern, denn sie scheuten sich, offen
einzugestehen, daŸ sie aus den Religionsschriften nur das glaubten, was
ebensogut im bürgerlichen Gesetzbuch stehen könnte. Wenn sie das Wort
›Wunder‹ nur hörten, wurde ihnen schon unbehaglich. Sie verlören den Boden
unter den FüŸen, sagten sie.
Als ob es etwas Herrlicheres geben könnte, als den Boden unter den
FüŸen zu verlieren!
Die Welt ist dazu da, um von uns kaputt gedacht zu werden, hörte ich
einmal meinen Vater sagen, - dann, dann erst fängt das Leben an. - Ich weiŸ
nicht, was er mit dem ›Leben‹ meinte, aber ich fühle zuweilen, daŸ ich eines
Tages so wie: ›erwachen‹ werde. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, in
welchen Zustand hinein. Und Wunder müssen dem vorhergehen, denke ich mir
immer.
›Hast du denn schon welche erlebt, daŸ du fortwährend darauf wartest?‹
fragten mich oft meine Freundinnen, und wenn ich verneinte, wurden sie
plötzlich froh und siegesgewiŸ. Sagen Sie, Herr Pernath, können Sie solche
Herzen verstehen? DaŸ ich doch Wunder erlebt habe, wenn auch nur kleine, -
winzig kleine -", - Mirjams Augen glänzten, - "wollte ich ihn