lt hatte, ein geheimer Zugang führe
von unten herauf ins Atelier.
Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff.
"Wo sollen wir die Briefe aufheben?", fing Charousek wieder an. "Sie,
Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Getto, die Wassertrum
harmlos vorkommen, - warum gerade ich, das - hat - seine - besonderen -
Gründe", - (ich sah, daŸ sich seine Züge in wildem HaŸ verzerrten, wie er so
den letzten Satz förmlich zerbiŸ -) "und Sie halt er für - -" Charousek
erstickte das Wort "verrückt" mit einem raschen, erkünstelten Husten, aber
ich erriet, was er hatte sagen wollen. Es tat mir nicht weh; das Gefühl,
"ihr" helfen zu können, machte mich so glückselig, daŸ jede Empfindlichkeit
ausgelöscht war.
Wir kamen schlieŸlich überein, das Paket bei mir zu verstecken, und
gingen hinüber in meine Kammer.
Charousek war längst fort, aber immer noch konnte ich mich nicht
entschlieŸen, zu Bette zu gehen. Eine gewisse innere Unzufriedenheit nagte
an mir und hielt mich davon ab. Irgend etwas sollte ich noch tun, fühlte
ich, aber was? was?
Einen Plan für den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen hätte?
Das allein konnte es nicht sein. Charousek lieŸ den Trödler sowieso
nicht aus den Augen, darüber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn ich
an den HaŸ dachte, der aus seinen Worten geweht hatte.
Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte?
Die seltsame innere Unruhe in mir wuchs und brachte mich fast zur
Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und ich verstand
nicht.
Ich kam mir vor wie ein Gaul, der dressiert wird, das ReiŸen am Zügel
spürt und nicht weiŸ, welches Kunststück er machen soll, den Willen seines
Herrn nicht erfaŸt.
Hinuntergehen zu Schemajah Hillel?
Jede Faser in mir verneinte.
Die Vision des Mönchs in der Domkirche, auf dessen Schultern gestern
der Kopf Charouseks aufgetaucht war als Antwort auf eine stumme Bitte um
Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe Gefühle nicht ohne weiteres
zu verachten. Geheime Kräfte keimten in mir auf seit geraumer Zeit, das war
gewiŸ: ich empfand es zu übermächtig, als daŸ ich auch nur den Versuch
gemacht hätte, es wegzuleugnen.
Buchstaben zu empfinden, sie nicht nur mit den Augen in Büchern zu
lesen, - einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir übersetzt, was
die Instinkte ohne Worte raunen, darin muŸ der Schlüssel liegen, sich mit
dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verständigen, begriff ich.
"Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hören nicht",
fiel mir eine Bibelstelle wie eine Erklärung dazu ein.
"Schlüssel, Schlüssel, Schlüssel", wiederholten mechanisch meine
Lippen, derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte
ich plötzlich.
"Schlüssel, Schlüssel - -?" Mein Blick fiel auf den krummen Draht in
meiner Hand, der mir vorhin zum –ffnen der Speichertüre gedient hatte, und
eine heiŸe Neugier, wohin wohl die viereckige Falltür aus dem Atelier führen
könnte, peitschte mich auf.
Und ohne zu überlegen, ging ich nochmals hinüber in Saviolis Atelier
und zog an dem Griffring der Falltüre, bis es mir schlieŸlich gelang, die
Platte zu heben.
Zuerst nichts als Dunkelheit.
Dann sah ich: Schmale, steile Stufen liefen hinab in tiefste
Finsternis.
Ich stieg hinunter.
Eine Zeitlang tastete ich mich mit den Händen die Mauern entlang, aber
es wollte kein Ende nehmen: Nischen, feucht von Schimmel und Moder, -
Windungen, Ecken und Winkel, - Gänge geradeaus, nach links und nach rechts,
Reste einer alten Holztüre, Wegteilungen und dann wieder Stufen, Stufen,
Stufen hinauf und hinab.
Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde überall.
Und noch immer kein Lichtstrahl. -
Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen hätte!
Endlich flacher, ebener Weg.
Aus dem Knirschen unter meinen FüŸen schloŸ ich, daŸ ich auf trockenem
Sand dahinschritt.
Es konnte nur einer jener zahllosen Gänge sein, die scheinbar ohne
Zweck und Ziel unter dem Getto hinführen bis zum FluŸ.
Ich wunderte mich nicht: die halbe Stadt stand doch seit
unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen Läuften, und die Bewohner
Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen.
Das Fehlen jeglichen Geräuschs zu meinen Häupten sagte mir, daŸ ich
mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben
ist, befinden muŸte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebtere
StraŸen oder Plätze über mir hätten sich durch fernes Wagenrasseln verraten.
Eine Sekunde lang würgte mich die Furcht: was, wenn ich im Kreise
herumging!? In ein Loch stürzte, mich verletzte, ein Bein brach und nicht
mehr weiter gehen konnte?!
Was geschah dann mit ihren Briefen in meiner Kammer? Sie muŸten
unfehlbar Wassertrum in die Hände fallen.
Der Gedanke an Schemajah Hillel, mit dem ich vag den Begriff eines
Helfers und Führers verknüpfte, beruhigte mich unwillkürlich.
Vorsichtshalber ging ich aber doch langsamer und tastenden Schrittes
und hielt den Arm in die Höhe, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen,
falls der Gang niedriger würde.
Von Zeit zu Zeit, dann immer öfter stieŸ ich oben mit der Hand an, und
endlich senkte sich das Gestein so tief herab, daŸ ich mich bücken muŸte, um
durchzukommen.
Pötzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.
Ich blieb stehen und starrte hinauf.
Nach und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser, kaum
merklicher Schimmer von Licht.
Mündete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter?
Ich richtete mich auf und tastete mit beiden Händen in Kopfeshöhe um
mich herum: die –ffnung war genau viereckig und ausgemauert.
Allmählich konnte ich darin als AbschluŸ die schattenhaften Umrisse
eines wagerechten Kreuzes unterscheiden, und endlich gelang es mir, seine
Stäbe zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzwängen.
Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.
Offenbar endeten hier die œberbleibsel einer eisernen Wendeltreppe,
wenn mich das Gefühl meiner Finger nicht täuschte?
Lang, unsagbar lang muŸte ich tappen, bis ich die zweite Stufe finden
konnte, dann klomm ich empor.
Es waren im ganzen acht Stufen. Eine jede fast in Mannshöhe über der
andern.
Sonderbar: die Treppe stieŸ oben gegen eine Art horizontalen Getäfels,
das aus regelmäŸigen, sich schneidenden Linien den Lichtschein
herabschimmern lieŸ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!
Ich duckte mich, so tief ich konnte, um aus etwas weiterer Entfernung
besser unterscheiden zu können, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem
Erstaunen, daŸ sie genau die Form eines Sechsecks, wie man es auf den
Synagogen findet, bildeten.
Was mochte das nur sein?
Plötzlich kam ich dahinter: es war eine Falltür, die an den Kanten
Licht durchlieŸ! Eine Falltür aus Holz in Gestalt eines Sternes.
Ich stemmte mich mit den Schultern gegen die Platte, drückte sie
aufwärts und stand im nächsten Moment in einem Gemach, das von grellem
Mondschein erfüllt war.
Es war ziemlich klein, vollständig leer bis auf einen Haufen Gerumpel
in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.
Eine Türe oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben
benützt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern
immer wieder von neuem absuchte.
Die Gitterstäbe des Fensters standen zu eng, als daŸ ich den Kopf hätte
durchstecken können, so viel aber sah ich:
Das Zimmer befand sich ungefähr in der Höhe eines dritten Stockwerks,
denn die Häuser gegenüber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich
tiefer.
Das eine Ufer der StraŸe unten war für mich noch knapp sichtbar, aber
infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe
Schlagschatten getaucht, die es mir unmöglich machten, Einzelheiten zu
unterscheiden.
Zum Judenviertel muŸte die Gasse unbedingt gehören, denn die Fenster
drüben waren sämtlich vermauert oder aus Simsen im Bau angedeutet, und nur
im Getto kehren die Häuser einander so seltsam den Rücken.
Vergebens quälte ich mich ab herauszubringen was das wohl für ein
sonderbares Bauwerk sein mochte, in dem ich mich befand.
Sollte es vielleicht ein aufgelassenes Seitentürmchen der griechischen
Kirche sein? Oder gehörte es irgendwie zur Altneusynagoge?
Die Umgebung stimmte nicht.
Wieder sah ich mich im Zimmer um: nichts, was mir auch nur den
kleinsten AufschluŸ gegeben hätte. - Die Wände und die Decke waren kahl,
Bewurf und Kalk längst abgefallen und weder Nagellöcher, noch Nägel, die
verraten hätten, daŸ der Raum einst bewohnt gewesen.
Der Boden lag fuŸhoch bedeckt mit Staub, als hätte ihn seit Jahrzehnten
kein lebendes Wesen betreten.
Das Gerümpel in der Ecke zu durchsuchen, ekelte ich mich. Es lag in
tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es bestand.
Dem äuŸeren Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem Knäuel geballt.
Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer?
Ich tastete mit dem FuŸ hin, und es gelang mir, mit dem Absatz einen
Teil davon in die Nähe des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer übers
Zimmer warf. Es schien wie ein breites, dunkles Band, das sich da langsam
aufrollte.
Ein blitzender Punkt wie ein Auge!
Ein Metallknopf vielleicht?
Allmählich wurde mir klar: ein „rmel von sonderbarem, altmodischem
Schnitt hing da aus dem Bündel heraus.
Und eine kleine weiŸe Schachtel, oder dergleichen lag darunter,
lockerte sich unter meinem FuŸ und zerfiel in eine Menge fleckiger
Schichten.
Ich gab ihr einen leichten StoŸ: Ein Blatt flog ins Helle.
Ein Bild?
Ich bückte mich: ein Pagad!
Was mir eine weiŸe Schachtel geschienen, war ein Tarockspiel.
Ich hob es auf.
Konnte es etwas Lächerlicheres geben: Ein Kartenspiel hier an diesem
gespenstischen Ort!
Merkwürdig, daŸ ich mich zum Lächeln zwingen muŸte. Ein leises Gefühl
von Grauen beschlich mich.
Ich suchte nach einer banalen Erklärung, wie die Karten wohl
hierhergekommen sein könnten, und zählte dabei mechanisch das Spiel. Es war
vollständig: 78 Stück. Aber schon während des Zählens fiel mir etwas auf:
Die Blätter waren wie aus Eis.
Eine lähmende Kälte ging von ihnen aus, und wie ich das Paket
geschlossen in der Hand hielt, konnte ich es kaum mehr loslassen: so
erstarrt waren meine Finger. Wieder haschte ich nach einer nüchternen
Erklärung:
Mein dünner Anzug, die lange Wanderung ohne Mantel und Hut in den
unterirdischen Gängen, die grimmige Winternacht, die Steinwände, der
entsetzliche Frost, der mit dem Mondlicht durchs Fenster hereinfloŸ: -
sonderbar genug, daŸ ich erst jetzt anfing zu frieren. Die Erregung, in der
ich mich die ganze Zeit befunden, muŸte mich darüber hinweggetäuscht haben.
-
Ein Schauer nach dem andern jagte mir über die Haut. Schicht um Schicht
drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen Körper ein.
Ich fühlte mein Skelett zu Eis werden und wurde mir jedes einzelnen
Knochens bewuŸt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch festfror.
Kein Umherlaufen half, kein Stampfen mit den FüŸen und nicht das
Schlagen mit den Armen. Ich biŸ die Zähne zusammen, um ihr Klappern nicht zu
hören.
Das ist der Tod, sagte ich mir, der dir die kalten Hände auf den
Scheitel legt.
Und ich wehrte mich wie ein Rasender gegen den betäubenden Schlaf des
Erfrierens, der, wollig und erstickend, mich wie mit einem Mantel einhüllen
kam.
Die Briefe, in meiner Kammer - ihre Briefe! brüllte es in mir auf: man
wird sie finden, wenn ich hier sterbe. Und sie hofft auf mich! Hat ihre
Rettung in meine Hände gelegt! - Hilfe! - Hilfe! Hilfe! -
Und ich schrie durch das Fenstergitter hinunter auf die öde Gasse, daŸ
es widerhallte: Hilfe, Hilfe, Hilfe!
Warf mich zu Boden und sprang wieder auf. Ich durfte nicht sterben,
durfte nicht! ihretwegen, nur ihretwegen! Und wenn ich Funken aus meinen
Knochen schlagen sollte, um mich zu erwärmen.
Da fiel mein Blick auf die Lumpen in der Ecke, und ich stürzte darauf
zu und zog sie mit schlotternden Händen über meine Kleider.
Es war ein zerschlissener Anzug aus dickem, dunklem Tuch von
uraltmodischem, seltsamem Schnitt.
Ein Geruch nach Moder ging von ihm aus.
Dann kauerte ich mich in dem gegenüberliegenden Mauerwinkel zusammen
und spürte meine Haut langsam, langsam wärmer werden. Nur das schauerliche
Gefühl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen. Regungslos
saŸ ich da und lieŸ meine Augen wandern: die Karte, die ich zuerst gesehen,
- der Pagad, - lag noch immer inmitten des Zimmers in dem Lichtstreifen.
Unverwandt muŸte ich sie anstarren.
Sie schien, soweit ich auf die Entfernung hin erkennen konnte, in
Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt, und stellte den hebräischen
Buchstaben Aleph dar, in Form eines Mannes, altfränkisch gekleidet, den
grauen Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm erhoben, während der
andere abwärts deutete.
Hatte das Gesicht des Mannes nicht eine seltsame „hnlichkeit mit
meinem, dämmerte mir ein Verdacht auf? - Der Bart - er paŸte so gar nicht zu
einem Pagad, - - ich kroch auf die Karte zu und warf sie in die Ecke zu dem
Rest des Gerümpels, um den quälenden Anblick los zu sein.
Dort lag sie jetzt und schimmerte - ein grauweiŸer, unbestimmter Fleck
- zu mir herüber aus dem Dunkel.
Mit Gewalt zwang ich mich zu überlegen, was ich zu beginnen hätte, um
wieder in meine Wohnung zu kommen:
Den Morgen abwarten! Unten die Vorübergehenden vom Fenster aus anrufen,
damit sie mir von auŸen mit einer Leiter Kerzen oder eine Laterne
heraufbrächten! - Ohne Licht die endlosen, sich ewig kreuzenden Gänge
zurückzufinden, würde mir nie gelingen, empfand ich als beklemmende
GewiŸheit. - Oder, falls das Fenster zu hoch läge, daŸ sich jemand vom Dach
mit einem Strick - -? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl durchfuhr es mich:
jetzt wuŸte ich, wo ich war: Ein Zimmer ohne Zugang - nur mit einem
vergitterten Fenster - das altertümliche Haus in der Altschulgasse, das
jeder mied! - schon einmal vor vielen Jahren hatte sich ein Mensch an einem
Strick vom Dach herabgelassen, um durchs Fenster zu schauen, und der Strick
war gerissen und - Ja: ich war in dem Haus, in dem der gespenstische Golem
jedesmal verschwand!
Ein tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich wehrte, das ich nicht
einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederkämpfen konnte, lähmte
jedes Weiterdenken und mein Herz fing an, sich zu krampfen.
Hastig sagte ich mir vor mit steifen Lippen, es sei nur der Wind, der
da so eisig aus der Ecke herüberwehte, sagte es mir vor, schneller und
schneller, mit pfeifendem Atem - es half nicht mehr: dort drüben der
weiŸliche Fleck - die Karte - sie quoll auf zu blasigem Klumpen, tastete
sich hin zum Rande des Mondstreifens und kroch wieder zurück in die
Finsternis. - Tropfende Laute - halb gedacht, geahnt, halb wirklich - im
Raum und doch auŸerhalb um mich herum und doch anderswo, - tief im eigenen
Herzen und wieder mitten im Zimmer - erwachten: Geräusche, wie wenn ein
Zirkel fällt und mit der Spitze im Holz stecken bleibt!
Immer wieder: Der weiŸliche Fleck - - - der weiŸliche Fleck - -! Eine
Karte, eine erbärmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie ich mir
ins Hirn hinein - - - umsonst - - jetzt hat er sich dennoch - dennoch
Gestalt erzwungen - der Pagad - und hockt in der Ecke und stiert herüber zu
mir mit meinem eigenen Gesicht.
Stunden und Stunden kauerte ich da - unbeweglich - in meinem Winkel,
ein frosterstarrtes Gerippe in fremden, modrigen Kleidern! - Und er drüben:
ich selbst.
Stumm und regungslos.
So starrten wir uns in die Augen, - einer das gräŸliche Spiegelbild des
andern. - - -
Ob er es auch sieht, wie sich die Mondstrahlen mit schneckenhafter
Trägheit über den Boden hinsaugen und wie Zeiger eines unsichtbaren Uhrwerks
in der Unendlichkeit die Wand emporkriechen und fahler und fahler werden? -
Ich bannte ihn fest mit meinem Blick und es half ihm nichts, daŸ er
sich auflösen wollte in dem Morgendämmerschein, der ihm vom Fenster her zu
Hilfe kam.
Ich hielt ihn fest.
Schritt vor Schritt habe ich mit ihm gerungen um mein Leben - um das
Leben, das mein ist, weil es nicht mehr mir gehört. - -
Und wie er kleiner und kleiner wurde und sich bei Tagesgrauen wieder in
sein Kartenblatt verkroch, da stand ich auf, ging hinüber zu ihm und steckte
ihn in die Tasche - den Pagad.
Immer noch war die Gasse unten öd und menschenleer.
Ich durchstöberte die Zimmerecke, die jetzt im stumpfen Morgenlichte
lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne, morsche Fetzen, ein Flaschenhals.
Tote Dinge und doch so merkwürdig bekannt.
Und auch die Mauern - wie die Risse und Sprünge dann deutlich wurden! -
wo hatte ich sie nur gesehen?
Ich nahm das Kartenpäckchen zur Hand - es dämmerte mir auf: hatte ich
die nicht einst selbst bemalt? Als Kind? Vor langer, langer Zeit?
Es war ein uraltes Tarockspiel. Mit hebräischen Zeichen. - Nummer 12
muŸ der "Gehenkte" sein, überkam's mich wie halbe Erinnerung. - Mit dem Kopf
abwärts? Die Arme auf dem Rücken? - Ich blätterte nach: Da! Da war er.
Dann wieder, halb Traum, halb GewiŸheit, tauchte ein Bild vor mir auf:
Ein geschwärztes Schulhaus, bucklig, schief, ein mürrisches Hexengebäude,
die linke Schulter hochgezogen, die andere mit einem Nebenhaus verwachsen. -
- - Wir sind mehrere halbwüchsige Jungen - ein verlassener Keller ist
irgendwo - - -
Dann sah ich an meinem Körper herab und wurde wieder irre: Der
altmodische Anzug war mir völlig fremd.
Der Lärm eines holpernden Karrens schreckte mich auf, doch als ich
hinabblickte: Keine Menschenseele. Nur ein Fleischerhund stand versonnen an
einem Eckstein.
Da! Endlich! Stimmen! menschliche Stimmen!
Zwei alte Weiber kamen langsam die StraŸe dahergetrottet, und ich
zwängte den Kopf halb durch das Gitter und rief sie an.
Mit offenem Mund glotzten sie in die Höhe und berieten sich. Aber als
sie mich sahen, stieŸen sie ein gellendes Geschrei aus und liefen davon.
Sie haben mich für den Golem gehalten, begriff ich.
Und ich erwartete, daŸ ein Zusammenlauf von Menschen entstehen würde,
denen ich mich verständlich machen könnte, aber wohl eine Stunde verging,
und nur hie und da spähte unten vorsichtig ein blasses Gesicht herauf zu
mir, um sofort in Todesschreck wieder zurückzufahren.
Sollte ich warten, bis vielleicht nach Stunden oder gar erst morgen
Polizisten kamen - die Staatsfalotten, wie Zwakh sie zu nennen pflegte?
Nein, lieber wollte ich einen Versuch machen, die unterirdischen Gänge
ein Stück weit auf ihre Richtung hin zu untersuchen.
Vielleicht fiel jetzt bei Tag durch Ritzen im Gestein eine Spur von
Licht hinab?
Ich kletterte die Leiter hinunter, setzte den Weg, den ich gestern
gekommen war, fort - über ganze Halden zerbrochener Ziegelsteine und durch
versunkene Keller - erklomm eine Treppenruine und stand plötzlich - - im
Hausflur des schwarzen Schulhauses, das ich vorhin wie im Traum gesehen.
Sofort stürzte eine Flutwelle von Erinnerungen auf mich ein: Bänke,
bespritzt mit Tinte von oben bis unten, Rechenhefte, plärrender Gesang, ein
Junge, der Maikäfer in der Klasse losläŸt, Lesebücher mit zerquetschten
Butterbroten darin und der Geruch nach Orangenschalen. Jetzt wuŸte ich mit
GewiŸheit: Ich war einst als Knabe hier gewesen. - Aber ich lieŸ mir keine
Zeit nachzudenken und eilte heim.
Der erste Mensch, der mir in der Salnitergasse begegnete, war ein
verwachsener alter Jude mit weiŸen Schläfenlocken. Kaum hatte er mich
erblickt, bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und heulte laut hebräische
Gebete herunter.
Auf den Lärm hin muŸten wahrscheinlich viele Leute aus ihren Höhlen
gestürzt sein, denn es brach ein unbeschreibliches Gezeter hinter mir los.
Ich drehte mich um und sah ein wimmelndes Heer totenblasser,
entsetzenverzerrter Gesichter sich mir nachwälzen.
Erstaunt blickte ich an mir herunter und verstand: - ich trug noch
immer die seltsam mittelalterlichen Kleider von nachts her über meinem
Anzug, und die Leute glaubten, den "Golem" vor sich zu haben.
Rasch lief ich um die Ecke hinter ein Haustor und riŸ mir die modrigen
Fetzen vom Leibe.
Gleich darauf raste die Menge mit geschwungenen Stöcken und geifernden
Mäulern schreiend an mir vorüber.
Licht
Einigemal im Lauf des Tages hatte ich an Hillels Türe geklopft; - es
lieŸ mir keine Ruhe: ich muŸte ihn sprechen und fragen, was alle diese
seltsamen Erlebnisse bedeuteten; aber immer hieŸ es, er sei noch nicht zu
Hause.
Sowie er heimkäme vom jüdischen Rathaus, wollte mich seine Tochter
sofort verständigen. -
Ein sonderbares Mädchen übrigens, diese Mirjam!
Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.
Eine Schönheit, so fremdartig, daŸ man sie im ersten Moment gar nicht
fassen kann, - eine Schönheit, die einen stumm macht, wenn man sie ansieht,
und ein unerklärliches Gefühl, so etwas, wie leise Mutlosigkeit in einem
erweckt.
Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden verlorengegangen sein
müssen, ist dieses Gesicht geformt, grübelte ich mir zurecht, wie ich es so
im Geiste wieder vor mir sah.
Und ich dachte nach, welchen Edelstein ich wählen müŸte, um es als
Gemme festzuhalten und dabei den künstlerischen Ausdruck richtig zu wahren:
Schon an dem rein „uŸerlichen; dem blauschwarzen Glanz des Haares und der
Augen, der alles übertraf, worauf ich auch riet, scheiterte es. - Wie erst
die unirdische Schmalheit des Gesichtes sinn- und visionsgemäŸ in eine Kamee
bannen, ohne sich in die stumpfsinnige „hnlichkeitsmacherei der kanonischen
"Kunst"richtung festzurennen!
Nur durch ein Mosaik lieŸ es sich lösen, erkannte ich klar, aber was
für Material wählen? Ein Menschenleben gehörte dazu, das passende zusammen
zu finden. - -
Wo nur Hillel blieb!
Ich sehnte mich nach ihm wie nach einem lieben, alten Freunde.
Merkwürdig, wie er mir in den wenigen Tagen - und ich hatte ihn doch,
genaugenommen, nur ein einziges Mal im Leben gesprochen, - ins Herz
gewachsen war.
Ja, richtig: die Briefe - ihre Briefe - wollte ich doch besser
verstecken. Zu meiner Beruhigung, falls ich wieder einmal länger von zu
Hause fort sein sollte.
Ich nahm sie aus der Truhe: - in der Kassette würden sie sicherer
aufbewahrt sein.
Eine Photographie glitt zwischen den Briefen heraus. Ich wollte nicht
hinschauen, aber es war zu spät.
Den Brokatstoff um die bloŸen Schultern gelegt - so wie ich ›sie‹ das
erste Mal gesehen, als sie in mein Zimmer flüchtete aus Saviolis Atelier -
blickte sie mir in die Augen.
Ein wahnsinniger Schmerz bohrte sich in mich ein. Ich las die Widmung
unter dem Bilde, ohne die Worte zu erfassen, und den Namen:
Deine Angelina.
Angelina!!!
Wie ich den Namen aussprach, zerriŸ der Vorhang, der meine Jugendjahre
vor mir verbarg, von oben bis unten.
Vor Jammer glaubte ich zusammenbrechen zu müssen. Ich krallte die
Finger in die Luft und winselte, - biŸ mich in die Hand: - - nur wieder
blind sein, Gott im Himmel, - den Scheintot weiterleben, wie bisher, flehte
ich.
Das Weh stieg mir in den Mund. - Quoll. - Schmeckte seltsam süŸ, - wie
Blut. - -
Angelina!!
Der Name kreiste in meinen Adern und wurde - zu unerträglicher
gespenstischer Liebkosung.
Mit einem gewaltsamen Ruck riŸ ich mich zusammen und zwang mich - mit
knirschenden Zähnen - das Bild anzustarren, bis ich langsam Herr darüber
wurde!
Herr darüber!
Wie heute nacht über das Kartenblatt.
Endlich: Schritte! Männertritte.
Er kam!
Voll Jubel eilte ich zur Tür und riŸ sie auf.
Schemajah Hillel stand StrauŸen und hinter ihm - ich machte mir leise
Vorwürfe, daŸ ich es als Enttäuschung empfand - mit roten Bäckchen und
runden Kinderaugen: der alte Zwakh.
"Wie ich zu meiner Freude sehe, sind Sie wohlauf, Meister Pernath",
fing Hillel an.
Ein kaltes "Sie"?
Frost. Schneidender, ertötender Frost lag plötzlich im Zimmer.
Betäubt, mit halbem Ohr, hörte ich hin, was Zwakh, atemlos vor
Aufregung, auf mich losplapperte:
"Wissen Sie schon, der Golem geht wieder um? Neulich erst sprachen wir
davon, wissen Sie noch, Pernath? Die ganze Judenstadt ist auf. Vrieslander
hat ihn selbst gesehen, den Golem. Und wieder hat es, wie immer, mit einem
Mord begonnen" - Ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?
Zwakh schüttelte mich: "Ja, wissen Sie denn von gar nichts, Pernath?
Unten hängt doch groŸmächtig ein Polizeiaufruf an den Ecken: den dicken
Zottmann, den ›Freimaurer‹ - na, ich meine doch den
Lebensversicherungsdirektor Zottmann, - soll man ermordet haben. Der Loisa -
hier im Haus - ist bereits verhaftet. Und die rote Rosina: spurlos
verschwunden. - Der Golem - der Golem - es ist ja haarsträubend."
Ich gab keine Antwort und suchte in Hillels Augen: warum blickte er
mich so unverwandt an?
Ein verhaltenes Lächeln zuckte plötzlich um seine Mundwinkel.
Ich verstand. Es galt mir.
Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen vor jauchzender Freude.
AuŸer mir in meinem Entzücken, lief ich planlos im Zimmer umher. Was
zuerst bringen? Gläser? Eine Flasche Burgunder? (Ich hatte doch nur eine.)
Zigarren? - Endlich fand ich Worte: "Aber warum setzt ihr euch denn nicht?!"
- Rasch schob ich meinen beiden Freunden Sessel unter. - - -
Zwakh fing an, sich zu ärgern: "Warum lächeln Sie denn immerwährend,
Hillel? Glauben Sie vielleicht nicht, daŸ der Golem spukt? Mir scheint. Sie
glauben überhaupt nicht an den Golem?"
"Ich würde nicht an ihn glauben, selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor
mir sähe", antwortete Hillel gelassen mit einem Blick auf mich. - Ich
verstand den Doppelsinn, der aus seinen Worten klang.
Zwakh hielt erstaunt im Trinken inne: "Das Zeugnis von Hunderten von
Menschen gilt Ihnen nichts, Hillel? - Aber warten Sie nur, Hillel, denken
Sie an meine Worte: Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt geben! Ich
kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft hinter sich her."
"Die Häufung gleichartiger Ereignisse ist nichts Wunderbares",
erwiderte Hillel. Er sprach im Gehen, trat ans Fenster und blickte durch die
Scheiben hinab auf den Trödlerladen - "Wenn der Tauwind weht, rührt sich's
in den Wurzeln. In den süŸen wie, in den giftigen."
Zwakh zwinkerte mir lustig zu und deutete mit dem Kopf nach Hillel.
"Wenn der Rabbi nur reden wollte, der könnte uns Dinge erzählen, daŸ
einem die Haare zu Berge stünden", warf er halblaut hin.
Schemajah drehte sich um.
"Ich bin nicht ›Rabbi‹, wenn ich auch den Titel tragen darf. Ich bin
nur ein armseliger Archivar im jüdischen Rathaus und führe die Register über
die Lebendigen und die Toten."
Eine verborgene Bedeutung lag in seiner Rede, fühlte ich. Auch der
Marionettenspieler schien es unterbewuŸt zu empfinden, - er wurde still, und
eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort.
"Hören Sie mal, Rabbi -, verzeihen Sie: ›Herr Hillel‹, wollte ich
sagen", - fing Zwakh nach einer Weile wieder an, und seine Stimme klang
auffallend ernst, "ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Sie brauchen mir
ja nicht drauf zu antworten, wenn Sie nicht mögen, oder nicht dürfen - - -"
Schemajah trat an den Tisch und spielte mit dem Weinglas - er trank
nicht; vielleicht verbot es ihm das jüdische Ritual.
"Fragen Sie ruhig, Herr Zwakh."
"- - Wissen Sie etwas über die jüdische Geheimlehre, die Kabbala,
Hillel?"
"Nur wenig."
"Ich habe gehört, es soll ein Dokument geben, aus dem man die Kabbala
lernen kann: den ›Sohar‹ - -"
"Ja, den Sohar - das Buch des Glanzes."
"Sehen Sie, da hat man's", schimpfte Zwakh los. "Ist es nicht eine
himmelschreiende Ungerechtigkeit, daŸ eine Schrift, die angeblich die
Schlüssel zum Verständnis der Bibel und zur Glückseligkeit enthält -"
Hillel unterbrach ihn: "- nur einige Schlüssel."
"Gut, immerhin einige! - also, daŸ diese Schrift infolge ihres hohen
Wertes und ihrer Seltenheit wieder nur den Reichen zugänglich ist? In einem
einzigen Exemplar, das noch dazu im Londoner Museum steckt, wie ich mir habe
erzählen lassen? Und überdies chaldäisch, aramäisch, hebräisch - oder was
weiŸ ich wie - geschrieben? - Habe ich zum Beispiel je im Leben Gelegenheit
gehabt, diese Sprachen zu lernen oder nach London zu kommen?"
"Haben Sie denn alle Ihre Wünsche so heiŸ auf dieses Ziel gerichtet?"
fragte Hillel mit leisem Spott.
"Offen gestanden - nein", gab Zwakh einigermaŸen verwirrt zu.
"Dann sollten Sie sich nicht beklagen", sagte Hillel trocken, "wer
nicht nach dem Geist schreit mit allen Atomen seines Leibes, - wie ein
Erstickender nach Luft, - der kann die Geheimnisse Gottes nicht schauen."
"Es sollte trotzdem ein Buch geben, in dem sämtliche Schlüssel zu den
Rätseln der anderen Welt stehen, nicht nur einige", schoŸ es mir durch den
Kopf, und meine Hand spielte automatisch mit dem Pagad, den ich immer noch
in der Tasche trug, aber ehe ich die Frage in Worte kleiden konnte, hatte
Zwakh sie bereits ausgesprochen.
Hillel lächelte wieder sphinxhaft: "Jede Frage, die ein Mensch tun
kann, ist im selben Augenblick beantwortet, in dem er sie geistig gestellt
hat."
"Verstehen Sie, was er damit meint?", wandte sich Zwakh an mich.
Ich gab keine Antwort und hielt den Atem an, um kein Wort von Hillels
Rede zu verlieren.
Schemajah fuhr fort:
"Das ganze Leben ist nichts anderes als formgewordene Fragen, die den
Keim der Antwort in sich tragen - und Antworten, die schwanger gehen mit
Fragen. Wer irgend etwas anderes drin sieht, ist ein Narr."
Zwakh schlug mit der Faust auf den Tisch:
"Jawohl: Fragen, die jedesmal anders lauten, und Antworten, die jeder
anders versteht."
"Gerade darauf kommt es an", sagte Hillel freundlich. "Alle Menschen
über einen Löffel zu - kurieren, ist lediglich Vorrecht der „rzte. Der
Fragende erhält die Antwort, die ihm not tut: sonst ginge nicht die Kreatur
den Weg ihrer Sehnsucht. Glauben Sie denn, unsere jüdischen Schriften sind
bloŸ aus Willkür nur in Konsonanten geschrieben? - Jeder hat sich selbst die
geheimen Vokale dazu zu finden, die ihm den nur für ihn allein bestimmten
Sinn erschlieŸen, - soll nicht das lebendige Wort zum toten Dogma
erstarren."
Der Marionettenspieler wehrte heftig ab:
"Das sind Worte, Rabbi, Worte! Pagad Ultimo will ich heiŸen, wenn ich
daraus klug werde."
Pagad!! - Das Wort schlug in mich ein wie der Blitz. Ich fiel vor
Entsetzen beinahe vom Stuhl.
Hillel wich meinen Augen aus.
"Pagad ultimo? Wer weiŸ, ob Sie nicht wirklich so heiŸen, Herr Zwakh!"
- schlug Hillels Rede wie aus weiter Ferne an mein Ohr. "Man soll seiner
Sache niemals allzu sicher sein. - œbrigens, da wir gerade von Karten
sprechen: Herr Zwakh, spielen Sie Tarock?"
"Tarock? Natürlich. Von Kindheit an."
"Dann wundert's mich, wieso Sie nach einem Buche fragen können, in dem
die ganze Kabbala steht, wo Sie es doch selbst Tausende Male in der Hand
gehabt haben."
"Ich? In der Hand gehabt? Ich?" - Zwakh griff sich an den Kopf.
"Jawohl, Sie! Ist es Ihnen niemals aufgefallen, daŸ das Tarockspiel 22
Trümpfe hat, - genausoviel, wie das hebräische Alphabet Buchstaben? Zeigen
unsere böhmischen Karten nicht zum œberfluŸ noch Bilder dazu, die
offenkundig Symbole sind: Der Narr, der Tod, der Teufel, das Letzte Gericht?
- Wie laut, lieber Freund, wollen Sie eigentlich, daŸ Ihnen das Leben die
Antworten in die Ohren schreien soll? - - Was Sie allerdings nicht zu wissen
brauchen, ist, daŸ ›Tarok‹ oder ›Tarot‹ soviel bedeutet wie die jüdische
›Tora‹ = das Gesetz, oder das altägyptische ›Tarut‹ = ›die Befragte‹, und in
der uralten Zendsprache das Wort: ›tarisk‹ = ›ich verlange die Antwort‹. -
Aber die Gelehrten sollten es wissen, bevor sie die Behauptung aufstellen,
das Tarock stamme aus der Zeit Karls des Sechsten. - Und so, wie der Pagad
die erste Karte im Spiel ist, so ist der Mensch die erste Figur in seinem
eignen Bilderbuch, sein eigner Doppelgänger: - - der hebräische Buchstabe
Aleph, der, nach der Form des Menschen gebaut, mit der einen Hand zum Himmel
zeigt und mit der andern abwärts: das heiŸt also: ›So wie es oben ist, ist
es auch unten; so wie es unten ist, ist es auch oben.‹ - Darum sagte ich
vorhin: Wer weiŸ, ob Sie wirklich Zwakh heiŸen und nicht: ›Pagad‹ - berufen
Sie's nicht," - Hillel blickte mich dabei unverwandt an, und ich ahnte, wie
sich unter seinen Worten ein Abgrund immer neuer Bedeutung auftat - "berufen
Sie's nicht, Herr Zwakh! Man kann da in finstere Gänge geraten, aus denen
noch keiner zurückfand, der nicht - einen Talisman bei sich trug. Die
œberlieferung erzählt, daŸ einmal drei Männer hinabgestiegen seien ins Reich
der Dunkelheit, der eine wurde wahnsinnig, der zweite blind, nur der dritte,
Rabbi ben Akiba, kam heil wieder heim und sagte, er sei sich selbst
begegnet. Schon so mancher, werden Sie sagen, ist sich selbst begegnet, z.
B. Goethe, gewöhnlich auf einer Brücke, oder sonst einem Steig, der von
einem Ufer eines Flusses zum andern führt, - hat sich selbst ins Auge
geblickt und ist nicht wahnsinnig geworden. Aber dann war's eben nur eine
Spiegelung des eigenen BewuŸtseins und nicht der wahre Doppelgänger: nicht
das, was man ›den Hauch der Knochen‹, den ›Habal Garmin‹ nennt, von dem es
heiŸt: Wie er in die Grube fuhr, unverweslich, im Gebein, so wird er
auferstehn am Tage des Letzten Gerichts." - Hillels Blick bohrte sich immer
tiefer in meine Augen - "Unsere GroŸmütter sagen von ihm: ›er wohnt hoch
über der Erde in einem Zimmer ohne Türe, nur mit einem Fenster, von dem aus
eine Verständigung mit den Menschen unmöglich ist. Wer ihn zu bannen und zu
- - verfeinern versteht, der wird gut Freund mit sich selbst." - - - Was
schlieŸlich das Tarock betrifft, so wissen Sie so gut wie ich: Für jeden
Spieler liegen die Karten anders, wer aber die Trümpfe richtig verwendet,
der gewinnt die Partie - - -. Aber kommen Sie jetzt, Herr Zwakh! Gehen wir,
Sie trinken sonst Meister Pernaths ganzen Wein aus, und es bleibt nichts
mehr übrig für ihn selbst."
Not
Eine Flockenschlacht tobte vor meinem Fenster. Regimenterweise jagten
die Schneesterne - winzige Soldaten in weiŸen, zottigen Mäntelchen -
hintereinander her an den Scheiben vorüber - minutenlang - immer in
derselben Richtung, wie auf gemeinsamer Flucht vor einem ganz besonders
bösartigen Gegner. Dann hatten sie das Davonlaufen mit einemmal dick satt,
schienen aus rätselhaften Gründen einen Wutanfall zu bekommen und sausten
wieder zurück, bis ihnen von oben und unten neue feindliche Armeen in die
Flanken fielen und alles in ein heilloses Gewirbel auflösten.
Monate schien mir zurückzuliegen, was ich an Seltsamem erst vor kurzem
erlebt hatte, und wären nicht täglich einigemal immer neue krause Gerüchte
über den Golem zu mir gedrungen, die alles wieder frisch aufleben lieŸen,
ich glaube, ich hätte mich in Augenblicken des Zweifels verdächtigen können,
das Opfer eines seelischen Dämmerzustandes gewesen zu sein.
Aus den bunten Arabesken, die die Ereignisse um mich gewoben, stach in
schreienden Farben hervor, was mir Zwakh über den noch immer unaufgeklärten
Mord an dem sogenannten "Freimaurer" erzählt hatte.
Den blatternarbigen Loisa damit in Zusammenhang zu bringen, wollte mir
nicht recht einleuchten, obwohl ich einen dunklen Verdacht nicht abschütteln
konnte, - fast unmittelbar darauf, als Prokop in jener Nacht aus dem
Kanalgitter ein unheimliches Geräusch gehört zu haben geglaubt, hatten wir
den Burschen beim "Loisitschek" gesehen. Allerdings lag kein AnlaŸ vor, den
Schrei unter der Erde, der überdies geradesogut eine Sinnestäuschung gewesen
sein konnte, als Hilferuf eines Menschen zu deuten. - - -
Das Schneegestöber vor meinen Augen blendete mich und ich fing an,
alles in tanzenden Streifen zu sehen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder
auf die Gemme vor mir. Das Wachsmodell, das ich von Mirjams Gesicht
entworfen hatte, muŸte sich vortrefflich auf den bläulich leuchtenden
Mondstein da übertragen lassen. - Ich freute mich: es war ein angenehmer
Zufall, daŸ sich etwas so Geeignetes unter meinem Mineralienvorrat gefunden
hatte. Die tiefschwarze Matrix von Hornblende gab dem Stein gerade das
richtige Licht und die Konturen paŸten so genau, als habe ihn die Natur
eigens geschaffen, ein bleibendes Abbild von Mirjams feinem Profil zu
werden.
Anfangs war meine Absicht gewesen, eine Kamee daraus zu schneiden, die
den ägyptischen Gott Osiris darstellen sollte, und die Vision des
Hermaphroditen aus dem Buche Ibbur, die ich mir jederzeit mit auffallender
Deutlichkeit ins Gedächtnis zurückrufen konnte, regte mich künstlerisch
stark an, aber allmählich entdeckte ich nach den ersten Schnitten eine
solche „hnlichkeit mit der Tochter Schemajah Hillels, daŸ ich meinen Plan
umstieŸ. - - -
- Das Buch Ibbur! -
Erschüttert legte ich den Stahlgriffel weg. UnfaŸbar, was in der kurzen
Spanne Zeit in mein Leben getreten war!
Wie jemand, der sich plötzlich in eine unabsehbare Sandwüste versetzt
sieht, wurde ich mir mit einem Schlage der tiefen, riesengroŸen Einsamkeit
bewuŸt, die mich von meinen Nebenmenschen trennte.
Konnte ich je mit einem Freund - Hillel ausgenommen - davon reden, was
ich erlebt?
Wohl war mir in den stillen Stunden der verflossenen Nächte die
Erinnerung wiedergekehrt, daŸ mich all meine Jugendjahre - von früher
Kindheit angefangen - ein unsagbarer Durst nach dem Wunderbaren, dem
jenseits aller Sterblichkeit Liegenden, bis zur Todespein gefoltert hatte,
aber die Erfüllung meiner Sehnsucht war wie ein Gewittersturm gekommen und
erdrückte den Jubelaufschrei meiner Seele mit ihrer Wucht.
Ich zitterte vor dem Augenblick, wo ich zu mir selbst kommen und das
Geschehene in seiner vollen markverbrennenden Lebendigkeit als Gegenwart
empfinden muŸte.
Nur jetzt sollte es noch nicht kommen! Erst den GenuŸ auskosten:
Unaussprechliches an Glanz auf sich zukommen zu sehen!
Ich hatte es doch in meiner Macht! Brauchte nur hinüber zu gehen in
mein Schlafzimmer und die Kassette aufzusperren, in der das Buch Ibbur, das
Geschenk der Unsichtbaren, lag!
Wie lang war's her, da hatte es meine Hand berührt, als ich Angelinas
Briefe dazuschloŸ!
Dumpfes Dröhnen drauŸen, wie von Zeit zu Zeit der Wind die angehäuften
Schneemassen von den Dächern hinab vor die Häuser warf, gefolgt von Pausen
tiefer Stille, da die Flockendecke auf dem Pflaster jeden Laut verschlang.
Ich wollte weiterarbeiten, - da plötzlich stahlscharfe Hufschläge unten
die Gasse entlang, daŸ man's förmlich Funken sprühen sah.
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