Ocenite etot tekst:




---------------------------------------------------------------
     V kn.: "Erich Kästner. Fabian. Die Geschichte eines Moralisten". Atrium
Verlag,  Zürich.   Printed  in  Germany  1999.   OCR  &  spellcheck   by
Pashka-Nemets, 5 February 2003
---------------------------------------------------------------


     Vorwort des Verfassers

     Über  dieses nunmehr bald fünfundzwanzig Jahre alte Buch  kursierten im
Laufe der Zeit  recht verschiedene  Urteile, und es wurde noch  von manchen,
die  es  lobten,  mißverstanden.  Wird man's  heute besser  verstehen?
Ge­wiß   nicht!  Wie  denn  auch?  Daß   im  Dritten  Reich  die
Geschmacksurteile  verstaatlicht,  in Phrasen  geliefert  und  millionenfach
geschluckt  wurden,  hat Geschmack  und Urteil  breiter Kreise bis in unsere
Tage  verdorben.  Und  heute sind, noch  ehe sie sich regenerieren  konnten,
bereits   neue,  genauer,   sehr  alte  Mächte  fanatisch   dabei,  wiederum
standardisierte Meinungen  - gar nicht so verschieden von  den vorherigen  -
durch  Massenimpfung  zu verbreiten. Noch  wissen  viele  nicht, viele nicht
mehr, daß man  sich Urteile selber bilden  kann und sollte. Soweit sie
sich darum bemühen, wissen  sie  nicht, wie man's anfängt.  Und  schon sind,
angeblich  zum Schütze der  Jugend, Kuratelgesetze gegen moderne  Kunst  und
Literatur in Vorbereitung.  Das  Wort "zersetzend"  steht  im Vokabular  der
Rückschrittler längst  wieder  an  erster  Stelle. Verunglimpfung  ist eines
jener Mittel, die  den Zweck  nicht nur heiligen,  sondern ihn, nur zu  oft,
auch erreichen.
     So wird heute noch  weniger als  damals begriffen werden, daß der
"Fabian"   keineswegs   ein  "unmoralisches",   sondern  ein   ausgesprochen
moralisches  Buch ist. Der ursprüngliche Titel,  den, samt  einigen  krassen
Kapiteln,  der  Erstverleger  nicht zuließ,  lautete "Der Gang vor die
Hunde". Damit sollte, schon auf dem Buchumschlag, deutlich werden, daß
der Roman ein bestimmtes Ziel verfolgte: Er wollte warnen. Er wollte vor dem
Abgrund  warnen,  dem sich Deutschland und damit Europa näherten! Er  wollte
mit angemessenen,  und das  konnte  in diesem Falle nur bedeuten, mit  allen
Mitteln in letzter Minute Gehör und Besinnung erzwingen.
     Die  große  Arbeitslosigkeit,  die der  wirtschaftlichen folgende
seelische   Depression,   die  Sucht,  sich  zu   betäuben,  die   Aktivität
bedenkenloser Parteien, das waren Sturmzeichen der  nahenden Krise. Und auch
die unheimliche Stille vor dem Sturm fehlte  nicht - die einer  epidemischen
Lähmung gleichende Trägheit der Herzen. Es trieb manche, sich  dem Sturm und
der  Stille  entgegenzustellen. Sie  wurden beiseite geschoben. Lieber hörte
man den Jahr marktschreiern  und Trommlern  zu,  die  ihre  Senfpflaster und
giftigen Patentlösungen anpriesen. Man  lief  den Rattenfängern nach, hinein
in den Abgrund, in dem wir nun, mehr  tot als lebendig, angekommen sind  und
uns einzurichten versuchen, als sei nichts geschehen.
     Das  vorliegende Buch,  das großstädtische  Zustände  von  damals
schildert,  ist kein Poesie- und Photographiealbum, sondern eine Satire.  Es
beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt. Der Moralist pflegt seiner
Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karikatur,
ein legitimes  Kunstmittel, ist das äußerste, was er vermag. Wenn auch
das  nicht  hilft,  dann hilft  überhaupt  nichts mehr.  Daß überhaupt
nichts  hilft,  ist  - damals wie  heute - keine Seltenheit. Eine Seltenheit
wäre es  allerdings,  wenn das den Moralisten entmutigte.  Sein angestammter
Platz ist  und bleibt  der verlorene Posten. Ihn füllt er, so  gut  er kann,
aus. Sein Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch!
     Erich Kästner




     ERSTES KAPITEL

     Ein Kellner als Orakel
     Der andere geht trotzdem hin
     Ein Institut für geistige Annäherung

     Fabian  saß   in  einem   Café  namens  Spalteholz  und  las  die
Schlagzeilen  der  Abendblätter.  Englisches   Luftschiff   explodiert  über
Beauvais,  Strychnin  lagert  neben  Linsen, Neunjähriges  Mädchen  aus  dem
Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im
Lainzer  Tiergarten,  Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche
Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz  läßt nach, Die Geschenke
für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an
den Kaffeemärkten, Skandal um  Clara Bow,  Bevorstehender  Streik von 140000
Metallarbeitern, Verbrecherdrama  in  Chikago, Verhandlungen in Moskau  über
das  Holzdumping,  Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts
Besonderes.  Er  nahm  einen  Schluck  Kaffee und  fuhr  zusammen.  Das Zeug
schmeckte  nach Zucker. Seitdem er, zehn Jahre war das her, in  der Mensa am
Oranienburger Tor  dreimal wöchentlich  Nudeln mit  Sacharin hinuntergewürgt
hatte, verabscheute er  Süßes. Er zündete sich eilig eine Zigarette an
und rief den Kellner.
     "Womit kann ich dienen?" fragte der.
     "Antworten Sie mir auf eine Frage."
     "Bitte schön."
     "Soll ich hingehen oder nicht?"
     "Wohin meinen der Herr?"
     "Sie sollen nicht fragen,  Sie sollen antworten. Soll ich hingehen oder
nicht?"
     Der Kellner kratzte sich unsichtbar hinter den  Ohren. Dann trat er von
einem  Plattfuß auf den anderen und meinte  verlegen:  "Das beste wird
sein, Sie gehen nicht hin. Sicher ist sicher, mein Herr."
     Fabian nickte. "Gut. Ich werde hingehen. Zahlen."
     "Aber ich habe Ihnen doch abgeraten!"
     "Deshalb geh ich ja hin! Bitte zahlen!"
     "Wenn ich zugeraten hätte, wären Sie nicht gegangen?"
     "Dann auch. Bitte zahlen!"
     "Das versteh ich nicht!" erklärte der  Kellner  ärgerlich. "Warum haben
Sie  mich dann überhaupt gefragt?" "Wenn  ich  das  wüßte", antwortete
Fabian.
     "Eine  Tasse Kaffee,  ein Butterbrot,  fünfzig, dreißig, achtzig,
neunzig  Pfennig", deklamierte  der andere. Fabian legte eine Mark  auf  den
Tisch und  ging. Er  hatte keine  Ahnung, wo er  sich  befand.  Wenn  man am
Wittenbergplatz auf den Autobus I klettert, an der  Potsdamer Brücke in eine
Straßenbahn umsteigt, ohne  deren Nummer zu lesen, und zwanzig Minuten
später den  Wagen  verläßt, weil plötzlich  eine  Frau  drinsitzt, die
Friedrich  dem Großen ähnelt, kann  man wirklich nicht wissen, wo  man
ist.
     Er  folgte  drei  hastig  marschierenden  Arbeitern  und  geriet,  über
Holzkohlen  stolpernd, an Bauzäunen  und grauen  Stundenhotels  entlang, zum
Bahnhof  Jannowitzbrücke.  Im  Zug  holte  er  die  Adresse  heraus, die ihm
Bertuch,  der Bürochef, aufgeschrieben hatte: Schlüterstraße 23,  Frau
Sommer.  Er fuhr bis zum Zoo. Auf der Joachimsthaler Straße fragte ihn
ein dünnbeiniges, wippendes Fräulein, wie er drüber  dächte. Er beschied das
Anerbieten abschlägig, drohte mit dem Finger und entkam.
     Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die  Häuserfronten waren  mit buntem
Licht  beschmiert,  und  die  Sterne am  Himmel konnten  sich  schämen.  Ein
Flugzeug knatterte über die Dächer. Plötzlich regnete es Aluminiumtaler. Die
Passanten blickten hoch, lachten und bückten sich. Fabian dachte flüchtig an
jenes  Märchen,  in dem ein kleines  Mädchen  sein  Hemd  hochhebt,  um  das
Kleingeld aufzufangen,  das vom Himmel fällt. Dann holte er von  der steifen
Krempe eines  fremden  Hutes einen Taler herunter. "Besucht  die  Exotikbar,
Nollendorfplatz  3,  Schöne  Frau  en,  Nacktplastiken,  Pension  Condor  im
gleichen Hause", stand darauf. Fabian hatte mit einem Male die  Vorstellung,
er fliege  dort oben im Aeroplan und sehe auf sich  hinunter, auf den jungen
Mann  in  der  Joachimsthaler  Straße,   im  Gewimmel  der  Menge,  im
Lichtkreis der Laternen und Schaufenster, im Straßengewirr der fiebrig
entzündeten Nacht.
     Wie klein der Mann war. Und mit dem war er identisch! Er überquerte den
Kurfürstendamm. An einem der Giebel rollte eine Leuchtfigur, ein Türkenjunge
war es, mit den elektrischen  Augäpfeln. Da  stieß jemand heftig gegen
Fabians Stiefelabsatz.  Er  drehte sich mißbilligend  um. Es  war  die
Straßenbahn gewesen. Der Schaffner fluchte.
     "Passense auf!" schrie der Polizist.
     Fabian zog den Hut und sagte: "Werde mir Mühe geben."
     In der  Schlüterstraße  öffnete  ein grünlivrierter  Liliputaner,
erklomm  eine  zierliche Leiter,  half  dem  Besucher  aus  dem  Mantel  und
verschwand.  Kaum  war  der kleine  Grüne weg, rauschte  eine  üppige  Dame,
bestimmt  Frau Sommer, durch  den Vorhang  und sagte:  "Darf ich Sie in mein
Büro bitten?" Fabian folgte.
     "Mir wurde Ihr Klub von einem gewissen Herrn Bertuch empfohlen."
     Sie  blätterte  in  einem Heft und nickte. "Bertuch,  Friedrich  Georg,
Bürochef,   40   Jahre,   mittelgroß,  brünett,  Karlstraße   9,
musikliebend, bevorzugt schlanke Blondinen, nicht  über fünfundzwanzig Jahre
alt."
     "Das ist er!"
     "Herr Bertuch  verkehrt  seit  Oktober bei  mir und war  in dieser Zeit
fünfmal anwesend."
     "Das spricht für das Institut."
     "Die Anmeldegebühr beträgt zwanzig Mark. Jeder Besuch kostet zehn  Mark
extra."
     "Hier  sind  dreißig  Mark."  Fabian   legte  das  Geld  auf  den
Schreibtisch.  Die üppige Dame steckte  die Scheine  in eine Schublade, nahm
einen Federhalter und sagte: "Die Personalien?"
     "Fabian,   Jakob,   32   Jahre   alt,   Beruf   wechselnd,   zur   Zeit
Reklamefachmann,  Schaperstraße  17,  herzkrank, Haarfarbe braun.  Was
müssen Sie noch wissen?"
     "Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?"
     "Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu Blond,  meine
Erfahrung  spricht dagegen. Meine Vorliebe  gehört großen Frauen. Aber
das Bedürfnis ist nicht  gegenseitig. Lassen Sie die Rubrik  frei." Irgendwo
wurde Grammophon gespielt.  Die üppige Dame erhob sich  und  erklärte ernst:
"Ich darf  Sie,  bevor wir hineingehen, mit den wichtigsten Statuten bekannt
machen. Annäherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übelgenommen,
sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben Rechte  wie die Herren.
Von  der Existenz, der Adresse und den Gepflogenheiten des Instituts ist nur
vertrauenswürdigen Herrschaften Mitteilung zu  machen. Der idealen Absichten
des  Unter­nehmens  ungeachtet  sind  die Konsumkosten sofort zu begleichen.
Innerhalb der Klubräume hat keins  der Paare Anspruch darauf, respektiert zu
werden. Paare, die  ungestört  zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub
zu verlassen. Das Etablissement dient  der Anbahnung von  Beziehungen, nicht
den  Beziehungen  selber.   Mitglieder,   die   einander  vorübergehend   zu
gegenseitigem  Befund  Gelegenheit gaben,  werden  ersucht,  das  wieder  zu
vergessen, da nur auf diese Weise Komplikationen  vermeidbar sind. Haben Sie
mich verstanden, Herr Fabian?"
     "Vollkommen."
     "Dann bitte ich Sie, mir zu folgen." Dreißig bis vierzig Personen
mochten anwesend  sein. Im ersten Raum wurde  Bridge gespielt. Nebenan wurde
getanzt. Frau Sommer wies dem neuen Mitglied einen  freien Tisch  an, sagte,
daß  man  sich   notfalls  jederzeit   an   sie   wenden   könne,  und
verabschiedete  sich. Fabian  nahm Platz, bestellte beim Kellner  Kognaksoda
und sah sich um. War er auf einer Geburtstagsgesellschaft?
     "Die Menschen sehen harmloser  aus, als sie sind", bemerkte ein kleines
schwarzhaariges Fräulein  und  setzte  sich  neben  ihn. Fabian  bot ihr  zu
rauchen an.
     "Sie wirken sympathisch", sagte sie. "Sie sind im Dezember geboren."
     "Im Februar."
     "Aha! Sternbild der Fische und paar  Tropfen Wassermann. Ziemlich kalte
Natur. Sie kommen nur aus Neugierde?"
     "Die Atomtheoretiker  behaupten, noch  die  kleinsten  Substanzpartikel
bestünden aus umeinander  kreisenden  elektrischen Energiemengen. Halten Sie
diese Ansicht für eine Hypothese  oder für eine  Anschauung,  die dem wahren
Sachverhalt entspricht?"
     "Empfindlich  sind Sie  auch noch?"  rief  die  Person.  "Aber es macht
nichts. Sind Sie hier, um sich eine Frau zu suchen?"
     Er hob die Schultern. "Ist das ein förmlicher Antrag?"
     "Unsinn! Ich war zweimal verheiratet, das genügt vorläufig. Die Ehe ist
nicht  die richtige Ausdrucksform  für mich.  Dafür  interessieren mich  die
Männer zu sehr. Ich stelle mir  jeden, den ich sehe und der mir gefällt, als
Ehemann vor."
     "In seinen prägnantesten Eigenschaften, will  ich hoffen." Sie  lachte,
als  hätte  sie  den Schlucken,  und legte die Hand auf sein Knie.  "Richtig
gehofft! Man  behauptet, ich litte an stellungssuchender Phantasie.  Sollten
Sie im Verlauf des Abends das Bedürfnis haben,  mich nach  Hause zu bringen,
meine Wohnung und ich sind klein, aber  stabil." Er entfernte die fremde und
unruhige Hand von seinem Knie und meinte: "Möglich ist alles. Und jetzt will
ich mir  das  Lokal ansehen."  Er  kam  nicht  dazu.  Wie er sich  erhob und
umwandte, stand eine große, programmäßig gewachsene Dame vor ihm
und sagte: "Man wird gleich tanzen."
     Sie war größer als er  und blond  dazu. Die kleine schwarzhaarige
Schwadroneuse befolgte die Statuten  und ver­schwand. Der Kellner setzte das
Grammophon in Gang. An  den Tischen  entstand Bewegung.  Man tanzte.  Fabian
betrachtete die  Blondine  sorgfältig.  Sie  hatte  ein  blasses  infantiles
Gesicht  und sah  zurückhaltender aus, als sie,  ihrem  Tanze nach,  zu sein
schien. Er schwieg und spürte, daß in wenigen Minuten jener  Grad  von
Schweigsamkeit  erreicht  wäre,  der  den  Anfang  eines  Gesprächs,   eines
belanglosen dazu,  unmöglich  macht. Glücklicherweise trat er  ihr  auf  den
Fuß. Sie wurde gesprächig. Sie zeigte ihm die zwei Damen, die einander
neulich  wegen eines Mannes geohrfeigt und  die Kleider  aufgerissen hatten.
Sie  berichtete,  daß  Frau  Sommer  ein  Verhältnis  mit  dem  grünen
Liliputaner  habe,  und  erklärte,  daß sie sich  diese Liaison  nicht
auszumalen wage. Schließlich fragte sie, ob er noch bleiben wolle; sie
breche auf. Er ging mit.
     Am Kurfürstendamm winkte sie einem Taxi, nannte eine Adresse, stieg ein
und  nötigte ihn, neben ihr Platz  zu nehmen. "Aber ich habe  nur  noch zwei
Mark", erklärte er. "Das macht  fast gar nichts", gab  sie zur  Antwort, und
dem Chauffeur rief sie zu: "Licht aus!" Es wurde dunkel. Der Wagen ruckte an
und fuhr. Schon in der ersten Kurve fiel sie über ihn her und biß  ihn
in die  Unterlippe. Er schlug  mit der Schläfe gegen  das  Verdeckscharnier,
hielt sich den Kopf und sagte: "Aua! Das fängt gut an."
     "Sei  nicht  so empfindlich",  befahl  sie  und  überschüttete ihn  mit
Aufmerksamkeiten.
     Ihm kam der Überfall zu plötzlich. Und der Schädel tat ihm  weh. Fabian
war nicht bei der  Sache. "Ich wollte  eigentlich, bevor Sie  mich erwürgen,
noch einen Brief schreiben", röchelte er.
     Sie boxte ihn vors Schlüsselbein, lachte, ohne eine Miene zu verziehen,
die Tonleiter hinauf und herunter und  strangulierte weiter. Seine Bemühung,
sich der Frau zu erwehren, wurde zusehends falsch ausgelegt. Jede Wegbiegung
führte  zu neuen  Verwicklungen. Er beschwor das Schicksal, dem Auto weitere
Kurven zu ersparen. Das Schicksal hatte Ausgang.
     Als  der Wagen  endlich  hielt,  überpuderte die  Blonde  ihr  Gesicht,
bezahlte  die Fahrt und  äußerte  vor der Haustür: "Erstens  ist  dein
Gesicht voll roter Flecken, und zweitens trinkst du bei mir eine Tasse Tee."
     Er rieb  sich die Lippenpomade von  den  Backen und  sagte: "Ihr Antrag
ehrt mich, doch ich muß morgen zeitig im Büro sein."
     "Mach  mich  nicht wütend. Du bleibst bei mir.  Das Mädchen  wird  dich
wecken."
     "Aber ich werde nicht aufstehen. Nein, ich muß zu Hause schlafen.
Ich erwarte früh sieben Uhr  ein dringendes Telegramm. Das bringt die Wirtin
ms Zimmer und rüttelt mich, bis ich aufwache."
     "Wieso weißt du  schon jetzt, daß du ein Telegramm erhalten
wirst?"
     "Ich weiß sogar, was drinsteht."
     "Nämlich?"
     "Es  wird heißen:  "Scher dich  aus dem Bett. Dein treuer  Freund
Fabian." Fabian, das bin ich." Er blinzelte in das Laub der Bäume und freute
sich über den gelben Glanz der  Laternen.  Die Straße lag ganz  still.
Eine  Katze  lief geräuschlos ins Dunkel. Wenn er  jetzt die  grauen  Häuser
entlangspazieren könnte!
     "Die Geschichte mit dem Telegramm ist doch nicht wahr?"
     "Nein, aber das ist der pure Zufall", sagte er.
     "Wozu kommst  du in  den Klub,  wenn  dir  an den  Konsequenzen  nichts
liegt?" fragte sie ärgerlich und schloß die Tür auf.
     "Ich erfuhr die Adresse und bin sehr neugierig."
     "Also hopp!" sagte sie. "Der Neugier sind keine Schranken gesetzt." Die
Tür schloß sich hinter ihnen.


     ZWEITES KAPITEL

     Es gibt sehr aufdringliche Damen
     Ein Rechtsanwalt hat nichts dagegen
     Betteln verdirbt den Charakter

     Im Fahrstuhl war ein Wandspiegel.  Fabian zog das  Taschentuch und rieb
die  roten Flecken  aus  dem  Gesicht.  Die Krawatte  saß  schief. Die
Schläfe brannte. Und die blasse Blondine sah auf ihn  herunter. "Wissen Sie,
was eine Megäre  ist?" fragte er. Sie legte den Arm um ihn.  "Ich weiß
es, aber ich bin hübscher."
     Am Türschild stand: Moll. Das Dienstmädchen  öffnete.  "Bringen Sie uns
Tee." "Der Tee steht in Ihrem Zimmer."
     "Gut. Gehen Sie schlafen!" Das Mädchen verschwand im Korridor.
     Fabian folgte  der Frau. Sie  führte ihn  geradewegs  ins Schlafzimmer,
schenkte Tee ein, stellte Kognak und  Zigaretten zurecht und sagte mit einer
umfassenden Geste: "Bediene dich!"
     "Mein Gott, ein Tempo haben Sie am Leibe!"
     "Wo?" fragte sie.
     Er überhörte das. "Sie heißen Moll?"
     "Irene Moll sogar,  damit Leute mit Gymnasiumbildung  etwas  zu  lachen
haben. Setz dich. Ich komme gleich wieder."
     Er  hielt  sie zurück  und gab ihr  einen Kuß.  "Na,  es wird  ja
langsam", meinte sie und entfernte sich. Er trank einen Schluck Tee  und ein
Glas Kognak. Dann musterte er das  Zimmer.  Das Bett war  niedrig und breit.
Die Lampe gab indirektes Licht. Die Wände waren mit Spiegelglas bespannt. Er
trank noch  einen Kognak und trat ans  Fenster. Vergittert war es nicht. Was
hatte die Frau mit  ihm vor?  Fabian war  zweiunddreißig Jahre alt und
hatte sich  nachts fleißig umgetan,  auch dieser Abend  begann  ihn zu
reizen. Er trank den dritten Kognak und rieb sich die Hände.
     Er betrieb die  gemischten Gefühle seit langem aus Liebhaberei. Wer sie
untersuchen wollte, mußte sie haben.  Nur während man sie besaß,
konnte  man  sie  beobachten.  Man  war ein Chirurg,  der die  eigene  Seele
aufschnitt.
     "So, nun wird der kleine Junge geschlachtet", sagte die Blondine.
     Sie  trug  jetzt einen Schlafanzug aus schwarzen Spitzen. Er trat einen
Schritt zurück.  Sie aber rief  "Hurra!" und sprang ihm derart an den  Hals,
daß  er  die  Balance  verlor,  kippte  und  samt  der  Dame  auf  den
Fußboden zu sitzen kam.
     "Ist  sie nicht schrecklich?"  fragte  da  eine fremde  Stimme.  Fabian
blickte verwundert hoch. Im Türrahmen stand, mit einem Pyjama bekleidet, ein
dürrer, großnasiger Mensch und gähnte.
     "Was wollen Sie denn hier?" fragte Fabian.
     "Entschuldigen Sie,  mein Herr, aber ich konnte nicht wissen, daß
Sie mit meiner Frau bereits durchs Zimmer kriechen."
     "Mit Ihrer Frau?"
     Der Eindringling  nickte,  gähnte  verzweifelt und sagte  vorwurfsvoll:
"Irene,  wie konntest  du den Herrn in eine so schiefe Lage bringen! Wenn du
schon  wünschst, daß ich mir  deine Neuerwerbungen anschaue, kannst du
sie  mir wenigstens gesellschaftsfähig präsentieren. Auf  dem  Teppich!  Das
wird dem  Herrn sicher  nicht recht  sein! Und ich schlief  so schön, als du
mich  wecktest...  Ich  heiße  Moll, mein Herr, bin  Rechtsanwalt  und
außerdem",  er  gähnte  herzzerreißend, "und außerdem  der
Gatte dieser weiblichen Person, die sich auf Ihnen breitmacht."
     Fabian  schob  die Blondine  von sich herunter, stand  auf  und ordnete
seinen Scheitel.  "Hält sich  Ihre Gattin einen männlichen Harem? Mein  Name
ist  Fabian." Moll kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. "Es freut  mich,
einen so sympathischen jungen Mann kennenzulernen. Die  Umstände sind ebenso
gewöhnlich  wie  unge­wöhnlich. Das ist  Ansichtssache. Aber falls  Sie  der
Gedanke beruhigt: ich bin daran gewöhnt. Nehmen Sie Platz."
     Fabian setzte  sich. Irene Moll rutschte auf die Armlehne,  streichelte
ihn  und  sagte zu ihrem Mann: "Wenn er  dir nicht  gefällt,  brech ich  den
Kontrakt."
     "Aber er gefällt mir ja", antwortete der Rechtsanwalt.
     "Sie  reden über mich, als  wäre ich ein Stück Streuselkuchen  oder ein
Rodelschlitten", meinte Fabian.
     "Ein  Rodelschlitten  bist  du,  mein  Kleiner!"  rief  die   Frau  und
preßte seinen Kopf gegen ihre volle, schwarz vergitterte Brust.
     "Himmeldonnerwetter!" schrie er. "Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!"
     "Du darfst deinen Besuch nicht  ärgern, liebe  Irene",  erklärte  Moll.
"Ich  werde  mit  ihm  in  mein  Arbeitszimmer  gehen  und  ihm  dort  alles
Wissenswerte mitteilen. Du vergißt,  daß  er  die  Situation als
merkwürdig  empfinden  muß. Ich schicke  ihn dir  dann wieder herüber.
Gute Nacht."  Der Rechtsanwalt gab seiner Frau  die  Hand. Sie  stieg in ihr
niedriges  Bett,  stand betrübt und  einsam zwischen  den Kissen  und sagte:
"Gute Nacht, Moll, schlaf gut. Aber red ihn nicht tot. Ich brauch ihn noch."
     "Ja, ja", antwortete Moll und zog den Gast mit sich fort.
     Sie  nahmen im Arbeitszimmer Platz.  Der Rechtsanwalt zündete sich eine
Zigarette  an,  fröstelte,  legte  eine  Kamelhaardecke  über  die  Knie und
blätterte in einem Ak­tenbündel.
     "Mich geht zwar die Sache nichts an", begann Fabian, "aber was Sie sich
von der Frau bieten lassen, steigt auf Bäume. Werden Sie oft von ihr aus dem
Bett geholt, um die Liebhaber zu taxieren?"
     "Sehr  oft, mein Herr. Ursprünglich erwirkte ich mir diese Begutachtung
als verbrieftes Recht.  Nach  dem ersten Jahr unserer Ehe setzten  wir einen
Kontrakt auf, dessen Paragraph 4 lautet: "Die Vertragspartnerin verpflichtet
sich, jeden  Menschen, mit dem  sie in intime Beziehungen zu treten wünscht,
zuvor ihrem  Gatten,  Herrn  Doktor  Felix Moll, vorzuführen.  Spricht  sich
dieser  gegen  den  Betreffenden aus,  so ist Frau  Irene  Moll  angewiesen,
unverzüglich  auf  die  Ausführung  ihres  Vorhabens  zu  verzichten.  Jedes
Vergehen  gegen  den  Paragraphen  wird  mit  einer  hälftigen  Kürzung  der
finanziellen Monatszuwendung geahndet." Der Kontrakt  ist  sehr interessant.
Soll  ich ihn in extenso vorlesen?" Moll holte den Schreibtischschlüssel aus
der Tasche.
     "Bemühen  Sie  sich nicht!" Fabian  wehrte ab. "Wissen möchte ich  nur,
wieso  Sie  auf  den  Gedanken  verfielen, einen  solchen Kontrakt überhaupt
aufzusetzen."
     "Meine Frau träumte so schlecht."
     "Wie?"
     "Sie träumte. Sie  träumte  entsetzliche Dinge. Es war  offensichtlich,
daß ihre sexuellen Bedürfnisse proportional  der Ehedauer zunahmen und
Wunschträume   erzeugten,   von   deren  Inhalt   Sie,   mein   Herr,   sich
glücklicherweise  noch keine Vorstellung machen können. Ich zog mich zurück,
und  sie   bevölkerte  ihr  Schlafzimmer   mit  Chinesen,  Ringkämpfern  und
Tänzerinnen. Was blieb mir übrig? Wir schlössen einen Vertrag."
     "Meinen  Sie nicht,  daß eine andere Behandlung erfolgreicher und
geschmackvoller gewesen wäre?" fragte Fabian ungeduldig.
     "Zum Beispiel, mein Herr?" Der Rechtsanwalt setzte sich aufrecht.
     "Zum Beispiel:
     pro Abend fünfundzwanzig hintendrüber?"
     "Ich hab's versucht. Es tat mir zu weh."
     "Das kann ich gut verstehen."
     "Nein!" rief der Rechtsanwalt.  "Das können Sie nicht  verstehen! Irene
ist sehr kräftig, mein Herr."
     Moll  senkte  den  Kopf.  Fabian  zog  eine  weiße Nelke  aus der
Schreibtischvase,  steckte  die  Blume  ins  Knopfloch, erhob  sich, lief im
Zimmer umher und  rückte die  Bilder  gerade.  Vermutlich hatte es dem alten
langen Kerl auch noch Vergnügen gemacht,  von  seiner Frau übers Knie gelegt
zu werden.
     "Ich will gehen", sagte er. "Geben Sie mir den Hausschlüssel!"
     "Ist  das Ihr Ernst?" fragte Moll  ängstlich.  "Aber Irene erwartet Sie
doch. Bleiben Sie, um des Himmels willen! Sie wird außer sich geraten,
wenn sie sieht,  daß Sie gegangen sind! Sie wird denken, ich hätte Sie
weggeschickt.  Bleiben Sie bitte! Sie hat sich so darauf gefreut. Gönnen Sie
ihr doch das kleine Vergnügen!"
     Der Mann war aufgesprungen und packte den Besucher am Jackett. "Bleiben
Sie doch! Sie werden es  nicht  bereuen. Sie werden wiederkommen. Sie werden
unser Freund bleiben. Und ich werde Irene in guten Händen wissen. Tun  Sie's
mir zu Gefallen."
     "Vielleicht  wollen Sie  mir  auch noch  ein  sicheres  Monatseinkommen
garantieren?"
     "Darüber ließe sich reden, mein Herr. Ich bin nicht unvermögend."
     "Geben Sie mir den Hausschlüssel,  aber etwas plötzlich! Ich eigne mich
nicht für den Posten."
     Doktor  Moll  seufzte,  kramte  auf dem  Schreibtisch, gab Fabian einen
Schlüsselbund  und  sagte:  "Jammerschade,  Sie  waren  mir  von  Anfang  an
sympathisch. Behalten Sie die Schlüssel ein paar  Tage. Vielleicht überlegen
Sie sich's. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, Sie wiederzusehen."
     Fabian knurrte: "Gute Nacht", ging leise durch die Diele,  nahm Hut und
Mantel, öffnete die Tür, zog sie vorsichtig  hinter  sich zu und galoppierte
die Treppe hinunter. Auf der Straße holte er tief Atem  und schüttelte
den Kopf.  Da spazierten  die Menschen hier unten  vorüber und hatten  keine
Ahnung, wie  verrückt  es hinter den Mauern  zuging! Die  märchenhafte Gabe,
durch Mauern  und verhängte Fenster  zu blicken,  war eine Kleinigkeit gegen
die Leistung, das, was man dann sähe, zu ertragen.
     "Ich bin  sehr neugierig", hatte er der blonden Person erzählt, und nun
lief er auf und davon, statt  seine Neugier mit dem Ehepaar Moll zu füttern.
Dreißig  Mark war  er  losgeworden. Zwei  Mark  hatte er  noch in  der
Tasche. Aus dem Abendessen wurde nichts. Er pfiff  sich eins, ging kreuz und
quer durch düstere, unbekannte  Alleen und  geriet, aus  Versehen,  vor  den
Bahnhof Heerstraße.  Er  fuhr  bis  zum  Zoo,  dort  sprang  er m  die
Untergrundbahn,   stieg   am    Wittenbergplatz   um   und   kam   in    der
Spichernstraße  aus  der  Unterwelt  wieder herauf  unter  den  freien
Himmel.
     Er  ging in sein  Stammcafé. Nein, Doktor Labude sei nicht mehr  da. Er
habe bis elf Uhr gewartet. Fabian setzte sich, bestellte Kaffee und rauchte.
     Der  Wirt,  ein gewisser Kowalski,  erkundigte  sich  nach  dem  werten
Befinden. Heute abend sei übrigens  etwas sehr  Komisches passiert. Kowalski
lachte, daß die falschen Zähne  blitzten.  Der Kellner Nietenführ habe
es  zuerst beobachtet.  "Dort  drüben  am runden Tisch saß ein  junges
Paar.  Die beiden unterhielten sich  prächtig. Die Frau streichelte die Hand
des Mannes in einem fort. Sie lachte,  zündete ihm eine Zigarette an und war
von einer Liebenswürdigkeit, die nicht häufig ist."
     "Das ist doch nicht komisch."
     "Warten  Sie  ab, bester  Herr Fabian. Warten Sie nur  ab! Die  Frau  -
hübsch war  sie, das muß man ihr  lassen - poussierte gleichzeitig mit
einem Herrn vom Nebentisch.  Und  das in einer Weise! Nietenführ  holte mich
unauffällig   heran.   Der  Anblick   war   toll.  Der   Kerl   steckte  ihr
schließlich einen Zettel zu. Sie las, nickte, schrieb ihrerseits einen
Wisch  und  warf ihn  auf den Nebentisch. Währenddessen sprach sie aber auch
auf ihren Freund ein,  erzählte ihm  Geschichten, über die er sich  freute -
ich  habe schon sehr  tüchtige Frauen gesehen,  aber diese Simultanspielerin
übertraf alle."
     "Warum ließ er sich denn das gefallen?"
     "Einen Moment, bester Herr  Fabian. Die  Pointe kommt sofort! Also, wir
wunderten  uns  natürlich  auch,  warum  er  sich  das bieten ließ. Er
saß  zufrieden neben  ihr, lächelte  einfältig, legte den Arm  um ihre
Schultern,  und während­dessen  nickte sie  dem Mann vom Nebentisch zu.  Der
nickte zurück, machte Zeichen, und uns blieb die Spucke weg. Nietenführ ging
dann hinüber,  weil sie zahlen wollte." Herr  Kowalski steckte den  massigen
Kopf hoch und lachte himmelwärts. "Nun, woran lag's?"
     "Der Mann, mit dem  sie zusammensaß, war blind!"  Der Wirt machte
eine Verbeugung  und lief,  laut  lachend, davon.  Fabian  blickte  erstaunt
hinterher. Der Fortschritt der Menschheit war unverkennbar.
     An der Tür ging  es  lebhaft  zu. Nietenführ und der Hilfskellner waren
damit beschäftigt, einen schäbig gekleideten Mann hinauszudrängen.  "Scheren
Sie sich auf der  Stelle  fort.  Den  ganzen  Tag diese  Bettelei,  das  ist
ekelhaft",  sagte  Nietenführ  zischend.  Und  der Hilfskellner  zerrte  den
Menschen, der blaß war und kein Wort sprach, hin und her.
     Fabian sprang auf, lief zu der Gruppe und rief den Kellnern zu: "Lassen
Sie sofort den Herrn los!" Die zwei gehorchten widerstrebend.
     "Da sind Sie ja", meinte  Fabian und gab dem Bettler die Hand.  "Es tut
mir   außerordentlich   leid,   daß   man   Sie  gekränkt   hat.
Entschuldigen  Sie und kommen Sie an meinen  Tisch." Er führte den Mann, der
nicht wußte,  wie ihm  geschah, in seine  Ecke,  hieß ihn  Platz
nehmen und  fragte:  "Was möchten  Sie  essen?  Wollen  Sie  ein  Glas  Bier
trinken?"
     "Sie  sind  sehr freundlich", sagte der Bettler. "Aber  ich werde Ihnen
Ungelegenheiten machen."
     "Hier ist die Speisekarte. Suchen Sie sich, bitte, etwas aus."
     "Das   geht   nicht!   Man   wird   mich   vom   Tisch   wegholen   und
hinausschmeißen."
     "Das wird man nicht tun! Nehmen Sie sich zusammen!
     Bloß,  weil  Ihr Jackett  geflickt ist  und weil Ihnen  der Magen
knurrt, wagen Sie nicht, richtig auf dem Stuhl zu
     sitzen?  Sie  sind ja  selber mitschuldig,  daß man  Sie nirgends
durch die Tür läßt."
     "Wenn  man zwei Jahre arbeitslos ist, denkt man anders  darüber", sagte
der Mann. "Ich schlafe am Engelufer in der Herberge. Zehn Mark zahlt mir die
Fürsorge. Mein Magen ist krank vom vielen Kaviar."
     "Was sind Sie von Beruf?"
     "Bankangestellter,  wenn ich mich recht entsinne. Im Gefängnis war  ich
auch schon.  Gott, man  sieht sich eben um. Das  einzige, was ich noch nicht
erlebt habe,  ist der Selbstmord.  Aber das  läßt sich nachholen." Der
Mann saß  auf  der  Stuhlkante und  hielt die Hände zitternd  vor  den
Westenausschnitt,  um das dreckige  Hemd  zu  verbergen.  Fabian wußte
nicht, was er sagen  sollte. Er probierte,  im Kopf, viele Sätze. Keiner war
am  Platz. Er stand auf und sagte:  "Einen Augenblick, der Kellner  wünscht,
von einer Abordnung geholt zu werden." Er lief nach  dem Büfett, stellte den
Oberkellner zur Rede, faßte ihn am Arm und schleppte ihn durchs Lokal.
     Der Bettler war fort.
     "Ich zahle morgen!" rief Fabian, stürzte aus dem Café  und sah sich um.
Der Mann war verschwunden.

     "Wen suchen Sie  denn?" fragte jemand. Es war Münzer, Redakteur Münzer.
Er  knöpfte den Mantel  zu, brannte sich eine Zigarre an und sagte: "So  ein
Blödsinn.  Ich hätte  die  Partie glatt gewonnen.  Schmalnauer  hat wie  ein
Rhinozeros gespielt. Aber ich muß zum Nachtdienst. Das  deutsche  Volk
will  morgen  früh wissen, wieviel  Dachstuhlbrände stattfanden, während  es
schlief."
     "Sie sind doch ein politischer Redakteur", entgegnete Fabian.
     "Dachstuhlbrände  gibt's  auf  jedem  Gebiet",  sagte  Münzer.  "Gerade
nachts. Das muß an der Konstruktion liegen. Wissen Sie was, kommen Sie
mit! Sehen Sie sich mal unsern Zirkus an."
     Münzer stieg in seinen kleinen  Privatwagen. Fabian  setzte sich  neben
den Redakteur. "Seit wann haben Sie übrigens ein Auto?" fragte er.
     "Ich  hab es unserm  Handelsredakteur abgekauft. Dem wurde das Ding  zu
teuer",  erklärte Münzer. "Er  ärgert sich immer so schön,  wenn er mich  in
sein ehemaliges  Prachtstück  klettern sieht.  Das ist  der Spaß schon
wert. Wissen Sie,  daß Sie auf eigenes  Risiko mitfahren? Sollten  Sie
sich das Genick brechen, tun Sie's auf Ihre Rechnung."
     Dann fuhren sie los.


     DRITTES KAPITEL

     Vierzehn Tote in Kalkutta
     Es ist richtig, das Falsche zu tun
     Die Schnecken kriechen im Kreis

     Der  Korridor war leer.  In  der  Handelsredaktion  brannte  Licht,  es
saß  jemand im  Zimmer, die Tür stand offen. "Schade, daß  Malmy
schon im  Haus ist", sagte  Münzer verstimmt.  "Nun hat er  sein Auto wieder
nicht gesehen. Moment. Mal horchen, was sich in der Weltgeschichte tut."
     Er  riß  eine Tür auf,  Schreibmaschinen  klapperten, aus  den an
einer Zimmerwand aufgereihten Telefonkabinen drangen, wie aus der Ferne, die
Stimmen  der  Stenotypistinnen.  "Was Wichtiges?" schrie Münzer in  den Lärm
hinein.
     "Die Rede des Reichskanzlers", antwortete eine Frau.
     "Richtig", sagte der Redakteur. "Der Kerl schmeißt mir mit seiner
Quasselei die ganze erste Seite über den  Haufen. Liegt der Text vollständig
vor?"
     "Zelle  Zwei  nimmt das  zweite  Drittel auf!"  "Sofort m  die Maschine
damit,  dann zu  mir!"  kommandierte  Münzer, schlug die Tür  zu  und führte
Fabian in die Räume der politischen Redaktion.  Während sie ablegten, zeigte
er auf den Schreibtisch. "Schauen Sie  sich die  Bescherung an! Erdbeben aus
Papier!" Er wühlte  in dem  Haufen  neu eingegangener Meldungen, schnitt mit
einer  Schere, wie  ein  Zuschneider, einiges ab und legte es  beiseite. Den
Rest warf er in den Papierkorb. "Marsch, ins Körbchen", sagte er dabei. Dann
klingelte  er, bestellte bei einem  livrierten Boten eine Flasche Mosel  mit
zwei Gläsern und  gab  Geld.  Der  Bote  stieß in  der  Tür mit  einem
aufgeregten jungen  Mann  zusammen, der  herein wollte. "Der Chef  hat  eben
angerufen", erzählte der junge  Mann atemlos. "Ich muß im  Leitartikel
fünf  Zeilen streichen. Sie wären durch neue Nachrichten überholt. Ich komme
gerade aus der Setzerei und habe die fünf Zeilen herausnehmen lassen."
     "Sie  sind  ein Tausendsassa",  erklärte  Münzer.  "Ich mache  bekannt:
Doktor Irrgang, hat noch eine große Zukunft vor sich,  Irrgang ist der
Künstlername. Herr Fabian." Die beiden gaben einander die Hand.
     "Aber", sagte Herr Irrgang  betreten, "nun sind doch in der Spalte fünf
Zeilen frei."
     "Was tut man m einem so außergewöhnlichen Fall?" fragte Münzer.
     "Man  füllt die Spalte",  erklärte der  Volontär. Münzer nickte. "Steht
nichts im Satz?" Er  wühlte in  den  Bürstenabzügen. "Ausverkauft", erklärte
er. "Sauregurkenzeit."
     Dann prüfte er die  Meldungen, die er  eben beiseite gelegt  hatte, und
schüttelte den Kopf.
     "Vielleicht kommt noch etwas Brauchbares herein", schlug der junge Mann
vor.
     "Sie   hätten  Säulenheiliger  werden  sollen",  sagte  Münzer.   "Oder
Untersuchungsgefangener, oder sonst ein  Mensch mit viel Zeit. Wenn man eine
Notiz  braucht und  keine hat,  erfindet  man sie.  Passen  Sie mal auf!" Er
setzte sich  hin, schrieb rasch, ohne nachzudenken, ein paar  Zeilen und gab
das  Blatt dem jungen Mann.  "So,  nun fort, Sie Spaltenfüller. Wenn's nicht
reicht, ein Viertel Durchschuß."
     Herr  Irrgang las, was  Münzer  geschrieben  hatte,  sagte  ganz leise:
"Allmächtiger  Vater"  und  setzte  sich,  als  sei  ihm plötzlich  schlecht
geworden,  auf  die   Chaiselongue,   mitten  in   einen  knisternden   Berg
ausländischer Zeitungen.
     Fabian  bückte  sich  über  das  Blatt  Papier,  das  in  Irrgangs Hand
zitterte,  und  las:  "In   Kalkutta  fanden  Straßenkämpfe   zwischen
Mohammedanern  und Hindus statt. Es  gab, obwohl die  Polizei  der Situation
sehr bald  Herr  wurde, vierzehn Tote und zweiundzwanzig Verletzte. Die Ruhe
ist vollkommen wiederhergestellt." Ein alter Mann schlurfte m Pantoffeln ins
Zimmer   und   legte   mehrere   Schreibmaschinenblätter  vor  Münzer   hin.
"Kanzlerrede, Fortsetzung", murmelte er. "Den Schluß geben sie in zehn
Minuten durch." Dann schleppte er sich wieder davon. Münzer klebte die sechs
Blätter, aus denen die Rede vorläufig bestand,  aneinander, bis sie wie  ein
mittelalterliches Spruchband aussahen, dann begann er zu redi­gieren.  "Mach
hurtig, Jenny", sagte er mit einem Seitenblick auf Irrgang.
     "Aber  in  Kalkutta  haben  doch  gar  keine   Unruhen  stattgefunden",
entgegnete  Irrgang  widerstrebend.  Dann senkte  er  den  Kopf  und  meinte
fassungslos: "Vierzehn Tote."
     "Die  Unruhen  haben  nicht  stattgefunden?"  fragte  Münzer entrüstet.
"Wollen  Sie mir das  erst mal beweisen?  In  Kalkutta finden  immer Unruhen
statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im Stillen Ozean sei die Seeschlange
wieder aufgetaucht?  Merken Sie sich folgendes: Meldungen,  deren Unwahrheit
nicht  oder erst nach Wochen festgestellt  werden kann,  sind wahr. Und  nun
entfernen  Sie  sich  blitzartig,  sonst  lasse  ich  Sie  martern  und  der
Stadtausgabe beilegen." Der junge Mann ging.
     "Und  so  was  will  Journalist  werden",  stöhnte  Münzer  und  strich
aufseufzend und mit einem  Bleistift in der  Rede des Reichskanzlers  herum.
"Privatgelehrter für Tagesneuigkeiten, das wäre was für den Jüngling. Gibt's
aber leider nicht."
     "Sie bringen ohne  weiteres vierzehn Inder um und zweiundzwanzig andere
ins Städtische Krankenhaus von Kalkutta?" fragte Fabian.
     Münzer bearbeitete den Reichskanzler. "Was soll man machen?" fragte er.
"Im  übrigen,  wozu das  Mitleid  mit den Leuten?  Sie leben  ja  noch, alle
sechsunddreißig,  und sind kerngesund. Glauben Sie  mir, mein  Lieber,
was wir hinzudichten,  ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen." Und
dabei strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlerrede heraus.
"Man beeinflußt  die  öffentliche  Meinung mit Meldungen wirksamer als
durch Artikel,  aber am  wirksamsten  dadurch, daß man weder  das eine
noch das andere bringt. Die bequemste öffentliche Meinung ist noch immer die
öffentliche Meinungslosigkeit."
     "Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blattes ein", meinte Fabian.
     "Und  wovon  sollen  wir leben?" fragte  Münzer.  "Außerdem,  was
sollen wir statt dessen tun?"
     Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wein und die Gläser. Münzer
schenkte ein  und  hob sein Glas. "Die  vierzehn  toten Inder sollen leben!"
rief  er  und trank.  Dann  fiel  er  wieder über  den  Kanzler her.  "Einen
Stuß  redet unser  hehres  Staatsoberhaupt  wieder  einmal  zusammen!"
erklärte er. "Das ist geradezu ein Schulaufsatz über  das Thema: Das Wasser,
in  dem  Deutschlands  Zukunft  liegt,  ohne  unterzugehen. In  Untersekunda
kriegte er dafür die  Drei." Er drehte sich zu Fabian herum und fragte: "Und
wie überschreibt man den Scherzartikel?"
     "Ich  möchte  lieber  wissen, was Sie drunterschreiben",  sagte  Fabian
ärgerlich.
     Der andere trank wieder, bewegte  langsam den Wein im  Mund,  schluckte
hinter  und  antwortete: "Keine Silbe. Nicht ein  Wort. Wir haben Anweisung,
der Regierung  nicht  in den Rücken zu  fallen.  Wenn  wir dagegenschreiben,
schaden wir uns, wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung."
     "Ich mache Ihnen einen Vorschlag", sagte Fabian. "Schreiben Sie dafür!"
     "O nein", rief Münzer. "Wir sind anständige Leute. Tag, Malmy."

     Im Türrahmen stand ein schlanker eleganter Herr und nickte ins Zimmer.
     "Sie  dürfen ihm  nichts  übelnehmen",  sagte der  Handelsredakteur  zu
Fabian.  "Er ist seit zwanzig Jahren  Journalist und glaubt bereits,  was er
lügt. Über  seinem Gewissen  liegen zehn  weiche Betten, und obenauf schläft
Herr  Münzer  den Schlaf  des  Ungerechten."  Der  alte Bote brachte  wieder
Schreibmaschinenblätter. Münzer griff nach einem  Leimtopf, vervollständigte
das   Spruchband   des   Reichskanzlers   und    redigierte   weiter.   "Sie
mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen?" fragte  Fabian Herrn  Malmy.
"Was tun Sie außerdem?"
     Der  Handelsredakteur lächelte, freilich  nur mit dem Mund.  "Ich  lüge
auch", erwiderte er. "Aber ich  weiß es. Ich weiß, daß das
System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein Blinder. Aber ich
diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im Rahmen  des falschen Systems,
dem ich  mein bescheidenes Talent zur Verfügung stelle,  sind  die  falschen
Maßnahmen   naturgemäß   richtig    und   die   richtigen   sind
begreiflicherweise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequenz, und
ich bin außerdem ..."
     "Ein  Zyniker", warf  Münzer  ein, ohne  aufzublicken.  Malmy  hob  die
Schultern. "Ich wollte  sagen, ein Feigling. Das trifft  noch genauer.  Mein
Charakter ist  meinem Verstand in keiner Weise  gewachsen.  Ich  bedaure das
aufrichtig, aber ich tue nichts mehr dagegen."
     Doktor  Irrgang, der  junge Mann, trat ein  und besprach mit Münzer  an
Hand der Postauflage, welche  Meldungen sie  aus dem Blatt werfen und welche
sie statt dessen in die Stadtausgabe übernehmen wollten. Es waren in der Tat
zwei Dachstuhlbrände passiert. In Genf waren außerdem einige  nebulose
Worte  gefallen,  die  der  deutschen   Minderheit  in  Polen  galten.   Den
ostelbischen   Großgrundbesitzern  waren  vom  Landwirtschaftsminister
Zollerhöhungen  in Aussicht  gestellt  worden. Die  Untersuchung  gegen  die
Direktoren  des  Städtischen  Beschaffungsamtes  hatte  eine  einschneidende
Wendung erfahren.
     "Und wie überschreiben wir die Rede des Reichskanzlers?" fragte Münzer.
"Los,  Herrschaften. Zehn Pfennige  für  eine gute  Schlagzeile.  Die  Sache
muß in Satz. Wenn die Matern zu  spät kommen, kriegen wir wieder Krach
mit dem Maschinenmeister."
     Der junge  Mann  dachte  so  angestrengt  nach,  daß  seine Stirn
schwitzte. "Der Kanzler fordert Vertrauen", schlug er vor.
     "Mäßig", urteilte Münzer.  "Nehmen  Sie sich ein  Wasserglas, und
trinken Sie erst einen Schluck Wein!"  Der junge Mann befolgte den Rat,  als
sei er ein Befehl. "Deutschland oder die Trägheit des Herzens", sagte Malmy.
     "Reden Sie keinen Unsinn!" rief  der politische Redakteur. Dann schrieb
er eine Zeile groß mit dem Bleistift über das Manuskript und erklärte:
"Der Groschen gehört mir." "Was haben Sie denn geschrieben?" fragte Fabian.
     Münzer   drückte  auf   den   Klingelknopf   und  erklärte  pathetisch:
"Optimismus ist Pflicht, sagt der Kanzler!" Der Bote  holte die Papiere. Der
Handelsredakteur griff in die Tasche  und legte wortlos ein Zehnpfennigstück
auf den Schreibtisch.
     Sein Kollege blickte verwundert hoch.
     "Ich  eröffne  hiermit  eine  Aktion,  die  umgehend  notwendig  wird",
behauptete Malmy.
     "Um welche Aktion handelt es sich?"
     "Darum,  Ihnen  Ihr  Schulgeld  zurückzuerstatten",  sagte  Malmy,  und
Irrgang,  der politische  Lehrling, lachte in Grenzen.  Dann  stürzte er ans
Telefon. Es hatte geläutet. "Ein Abonnent möchte etwas wissen", bekundete er
nach einiger Zeit und überdeckte das Sprachrohr mit der Hand. "Sie sitzen am
Stammtisch und haben  gewettet, ob  es die Tür oder die  Türe  heißt."
Münzer  nahm ihm  den  Hörer weg.  "Einen  Augenblick", sagte er. "Wir sagen
Ihnen sofort Bescheid,  mein Herr."  Dann winkte er Irrgang  und  flüsterte:
"Feuilleton."
     Der junge Mann rannte fort, kehrte zurück und zuckte die Achseln.
     "Ich erfahre soeben, daß es die Tür heißen muß. Bitte
schön. Guten  Abend." Münzer legte den  Hörer auf die  Gabel, schüttelte den
Kopf und steckte Malmys Groschen ein.
     Hinterher saßen sie in einer kleinen  Weinstube, die in der  Nähe
des  Zeitungsgebäudes gelegen war.  Münzer hatte sich von einem Setzer,  der
nach Hause ging, das Blatt bringen lassen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung
sei. Er hatte sich über ein paar Druckfehler geärgert, über  die Schlagzeile
auf  der  ersten  Seite  hatte   er  sich   gefreut.  Dann  war  Strom,  der
Theaterkritiker, an den  Tisch  gekommen.  Nun  tranken  sie  fleißig.
Irrgang, der  junge  Mann, war  schon fast  hinüber.  Strom,  der  Kritiker,
verglich  einige  namhafte  Regisseure   mit  Schaufensterdekorateuren,  das
Theater der  Gegenwart erschien  ihm symptomatisch  für  den  Niedergang des
Kapitalismus, und als jemand einwarf, es gebe  keine  Dramatiker, behauptete
Strom, es gebe welche.
     "Ganz nüchtern sind Sie auch nicht mehr", bemerkte Münzer schwerzüngig,
und Strom lachte ohne Anlaß.

     Fabian ließ sich inzwischen,  nicht  ganz  freiwillig,  von Malmy
über kurzfristige Anleihen aufklären. "Erstens  werden Reich und  Wirtschaft
in wachsendem Maße überfremdet",  behauptete der  Redakteur. "Zweitens
genügt ein Riß, und die ganze Bude fällt  ein. Wenn  das  Geld  mal in
großen  Posten abgerufen  wird, sacken  wir alle  ab,  die Banken, die
Städte, die Konzerne, das Reich."
     "Aber im Blatt schreiben Sie nichts davon", sagte Irrgang.
     "Ich  helfe, das Verkehrte  konsequent zu  tun. Alles,  was gigantische
Formen  annimmt, kann  imponieren, auch  die Dummheit." Malmy  musterte  den
jungen Mann. "Gehen Sie mal rasch hinaus, bei Ihnen ist ein kleines Unwetter
im   Anzug."  Irrgang   legte   den  Kopf  auf   den   Tisch.   "Werden  Sie
Sportredakteur",  riet  Malmy. "Dieses  Ressort stellt an Ihr  zartes  Gemüt
nicht  so  große  Anforderungen." Der  Volontär stand  auf,  schwankte
durchs Gastzimmer der Hintertür zu und verschwand.
     Münzer  saß  auf dem Sofa  und  weinte  plötzlich.  "Ich bin  ein
Schwein", murmelte er.
     "Eine  ausgesprochen  russische  Atmosphäre",   stellte   Strom   fest.
"Alkohol, Selbstquälerei, Tränen  bei erwachsenen Männern." Er war ergriffen
und streichelte dem Politiker die Glatze.
     "Ich bin ein Schwein", murmelte der andere. Er blieb dabei.
     Malmy  lächelte Fabian  zu.  "Der  Staat  unterstützt  den  unrentablen
Großbesitz.  Der  Staat unterstützt die  Schwerindustrie.  Sie liefert
ihre Produkte zu Verlustpreisen ins Ausland, aber sie verkauft sie innerhalb
unserer  Grenzen über dem Niveau des Weltmarktes. Die Rohmaterialien sind zu
teuer; der Fabrikant drückt die Löhne;  der  Staat beschleunigt den  Schwund
der Massenkaufkraft durch Steuern, die er den Besitzenden nicht  aufzubürden
wagt; das  Kapital flieht ohnedies milliardenweise über die Grenzen. Ist das
etwa  nicht konsequent?  Hat der Wahnsinn etwa keine Methode? Da  läuft doch
jedem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammen!"
     "Ich  bin ein Schwein", murmelte  Münzer und  fing  mit  vorgeschobener
Unterlippe die Tränen auf.
     "Sie überschätzen sich,  Verehrter", sagte der Handelsredakteur. Münzer
zog, während er weiter weinte, ein  gekränktes Gesicht. Er  war  entschieden
beleidigt,  daß  man ihn darin hindern wollte, das  zu sein, wofür  er
sich, wenn auch nur im betrunkenen Zustand, hielt.
     Malmy  fuhr mit  Vergnügen fort, die Situation zu  klären. "Die Technik
multipliziert die Produktion. Die  Technik  dezimiert das  Arbeitsheer.  Die
Kaufkraft  der   Massen  hat  die  galoppierende  Schwindsucht.  In  Amerika
verbrennt man  Getreide  und Kaffee,  weil  sie sonst zu  billig  würden. In
Frankreich jammern die Weinbauern, daß die Ernte zu gut gerät. Stellen
Sie sich das vor. Die  Menschen sind verzweifelt,  weil  der  Boden zu  viel
trägt! Zu viel Getreide, und andere haben nichts zu fressen! Wenn in so eine
Welt   kein    Blitz    fährt,   dann   können   sich    die    historischen
Witterungsverhältnisse  begraben lassen."  Malmy stand auf, wankte ein wenig
und schlug ans Glas. Die Umsitzenden sahen ihn an.
     "Meine Herrschaften", rief er, "ich will eine Rede halten.  Wer dagegen
ist, stehe auf."
     Münzer erhob sich mühsam.
     "Der stehe auf", rief Malmy, "und verlasse das Lokal."
     Münzer setzte sich wieder, Strom lachte.
     Nun begann Malmy seine Rede: "Wenn das, woran unser geschätzter Erdball
heute  leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie habe
die  Paralyse.  Und  sicher  ist  Ihnen  allen   bekannt,  daß  dieser
äußerst unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur
heilbar  ist, bei der es um  Leben und  Tod geht. Was tut  man  mit  unserem
Globus?  Man  behandelt ihn mit Kamillentee.  Alle  wissen, daß dieses
Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten
und   Tee   trinken,   denkt   man,  und   so   schreitet  die   öffentliche
Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist."
     "Lassen  Sie  doch  diese  ekelhaften  medizinischen  Vergleiche!" rief
Strom. "Ich bin nicht fest auf dem Magen."
     "Lassen  wir  die medizinischen Vergleiche",  sagte  Malmy. "Wir werden
nicht  daran  zugrunde   gehen,  daß   einige  Zeitgenossen  besonders
niederträchtig sind, und nicht daran, daß einige  von diesen und jenen
mit einigen von denen identisch sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an
der  seelischen  Bequemlichkeit  aller  Beteiligten  zugrunde.  Wir  wollen,
daß es sich ändert, aber wir  wollen nicht,  daß wir uns ändern.
"Wozu sind die anderen da?", denkt jeder  und  wiegt  sich im Schaukelstuhl.
Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist, dahin  Geld,  wo wenig
ist.  Die Schieberei und das Zinszahlen nehmen kein Ende,  und die Besserung
nimmt keinen Anfang."
     "Ich bin ein Schwein", murmelte Münzer, hob sein  Glas und hielt es vor
den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen.
     "Der  Blutkreislauf ist  vergiftet", rief Malmy. "Und wir  begnügen uns
damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der  sich Entzündungen zeigen,
ein Pflaster  zu kleben. Kann man eine Blutvergiftung so heilen? Man kann es
nicht.  Der   Patient  geht   eines  Tages,  über  und  über  mit  Pflastern
bepflastert, kaputt!"
     Der Theaterkritiker  wischte sich  den Schweiß von der Stirn  und
sah den Redner bittend an.
     "Lassen Sie die medizinischen Vergleiche", sagte Malmy.
     "Wir  gehen  an der  Trägheit  unserer  Herzen  zugrunde. Ich  bin  ein
Wirtschaftler und  erkläre Ihnen:  Die  Gegenwartskrise  ohne eine vorherige
Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu wollen, ist Quacksalberei!"
     "Es ist  der Geist, der  sich den Körper baut", behauptete  Münzer  und
warf sein Glas um.  Dann schluchzte er laut auf. Er bekam jetzt das heulende
Elend in  ganz  großem  Maßstab. Und  Malmy mußte, um  den
Kollegen zu übertönen, noch lauter sprechen. "Sie werden einwenden,  es gebe
ja zwei große Massenbewegungen. Diese Leute, ob  sie  nun  von  rechts
oder links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung  heilen,  indem sie  dem
Patienten   mit  einem  Beil  den  Kopf   abschlagen.  Allerdings  wird  die
Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und  das
heißt, die Therapie zu weit treiben."
     Herr Strom  hatte von den Krankheitsbildern  endgültig genug und suchte
das Weite.
     Am Ecktisch stand mühsam ein  dicker Mann auf, versuchte dem Redner den
Kopf  zuzuwenden, aber  der Hals  war  zu  massiv,  und  so sagte  er m  die
verkehrte Richtung:  "Mediziner hätten Sie werden sollen."  Dann plumpste er
wieder auf  seinen Stuhl. Dort  packte ihn plötzlich die helle  Wut,  und er
brüllte: "Geld brauchen wir. Geld. Und wieder Geld!"
     Münzer nickte und flüsterte: "Montecuccoli war  auch ein Schwein." Dann
weinte er wieder weiter. Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen.
"Einfach  lächerlich",   knurrte  er.  "Geistige  Erneuerung,  Trägheit  des
Herzens,  einfach  lächerlich. Geld  her,  und wir sind gesund.  Das wäre ja
gelacht, wäre das ja!"
     Münzer schnarchte jetzt auf erlaubte  Weise, er schlief. Eine Frau, die
ihm gegenübersaß  und die genau so dick war wie  er,  fragte: "Aber wo
kriegen wir denn das Geld her, Arthur?"
     "Hab  ich dich  gefragt?"  schrie er,  schon  wieder aufgebracht.  Dann
beruhigte   er  sich  endgültig,  hielt  den  Kellner,  der  vorbeiging,  am
Rockschoß fest und sagte: "Noch ein Sülzkotelett, und Essig und Öl."
     Malmy zeigte zu dem Dicken  hinüber und meinte:  "Habe ich recht? Wegen
solcher Idioten soll man den Kopf hinhalten? Ich denke  nicht daran. Es wird
weitergelogen. Es ist richtig, das Falsche zu tun."
     Münzer  hatte sich's bequem gemacht, lag auf  dem  Sofa und  schnarchte
schon, obwohl er noch gar nicht schlief.
     "Und Ihr Auto habe  ich  doch",  grunzte er und  drehte die Pupillen zu
Malmy hinüber.
     Kurz darauf kamen Strom  und Irrgang zurück. Sie kamen Arm in Arm daher
und sahen  aus, als hätten sie die Gelbsucht. "Ich vertrage keinen Alkohol",
erläuterte Irrgang entschuldigend. Die zwei nahmen Platz.
     "Ein Kriegsprodukt",  sagte  Strom.  "Eine  bedauernswerte Generation."
Dieser Theaterkritiker konnte die selbstverständlichsten und  unstreitigsten
Dinge  äußern,  sobald er  es  war, der  sie  behauptete, wirkten  sie
unglaubwürdig  und reizten zum Widerspruch.  Hätte er, in seinem Pathos  von
der Stange,  erklärt,  zweimal zwei sei vier,  Fabian hätte plötzlich an der
Richtigkeit der  Rechnung  gezweifelt. Er  wandte sich von  dem  Mann ab und
betrachtete Malmy. Der saß  steil auf  dem Stuhl und war mit dem Blick
sonstwo,  dann gab er sich, weil er sich beobachtet  fühlte, einen Ruck, sah
Fabian  an  und   sagte:  "Man  sollte  sich  mehr  zusammennehmen.  Schnaps
zerfrißt den Maulkorb."
     Fabian  erhob  sich  und  gab den Journalisten die  Hand,  zuletzt  dem
Handelsredakteur.
     "Aber vielleicht haben Sie recht", meinte Malmy und lächelte traurig.
     "Ich  bin nicht mehr ganz nüchtern", sagte Fabian, als er vor  der  Tür
stand, zur Nacht. Er schätzte jenes frühe Stadium der Trunkenheit, das einen
glauben  machen  will,  man  spüre die Umdrehungen  der Erde. Die Bäume  und
Häuser stehen  noch ruhig an ihrem Platz, die Laternen treten noch nicht als
Zwillinge auf, aber die  Erde dreht sich, endlich  fühlt man es einmal! Doch
heute mißfiel  ihm auch das. Er ging neben seinem Schwips her und tat,
als kennten sie einander nicht. Was war das für eine  komische Kugel, ob sie
sich  nun  drehte oder nicht! Er mußte  an eine Zeichnung  von Daumier
denken,  die  "Der  Fortschritt"  hieß.  Daumier  hatte auf dem  Blatt
Schnecken dargestellt,  die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der
menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen  im Kreise! Und das war
das Schlimmste.


     VIERTES KAPITEL

     Eine Zigarette, groß wie der Kölner Dom
     Frau Hohlfeld ist neugierig
     Ein möblierter Herr liest Descartes

     Am nächsten  Morgen  kam Fabian müde ins Büro. Außerdem  hatte er
einen  Kater.  Fischer,  der  Kollege, begann die Arbeit damit, daß er
zunächst frühstückte.
     "Wo  nehmen Sie  bloß den permanenten Hunger her?" fragte Fabian.
"Sie  verdienen  weniger  als  ich. Sie  sind  verheiratet.  Sie  haben  ein
Sparkonto. Und dabei  essen Sie derart  viel, daß ich davon  mit  satt
werde."
     Fischer kaute hinter.  "Das hegt bei uns in der Familie", erklärte  er.
"Wir Fischers sind dafür berühmt."
     "Man sollte Ihrer Familie ein Denkmal bauen", sagte Fabian ergriffen.
     Fischer rutschte unruhig auf dem  Stuhl umher. "Bevor  ich's  vergesse,
Kunze  hat  eine Inseratensene  gezeichnet,  zu der  wir gereimte Zweizeiler
liefern sollen. Das liegt Ihnen sicher."
     "Ihr  Zutrauen  ehrt mich", sagte  Fabian, "aber ich habe  noch mit den
Schlagzeilen für die fotomontierten Plakate zu  tun. Dichten  Sie inzwischen
ruhig   drauflos.  Denn  was  nützt  Ihnen  und  Ihrer  werten  Familie  das
Frühstücken,  wenn   sich's  nicht  reimt?"  Er   sah  durchs  Fenster,  zur
Zigarettenfabrik  hinüber,  und gähnte. Der Himmel  war grau wie der Asphalt
auf  den  Radrennbahnen.  Fischer  ging auf  und ab,  gab  Falten  lebhaften
Unwillens zum besten und fing Reimwörter.
     Fabian  rollte ein  Plakat auf, befestigte es  mit Reißzwecken an
der Wand, stellte sich in die entlegenste  Zimmerecke und starrte das Plakat
an, das mit einer Fotografie des Kölner Domes und einer vom Plakathersteller
daneben errichteten,  dem Dom  an  Größe nichts nachgebenden Zigarette
bedeckt war. Er  notierte: "Nichts  geht über  ...  So  groß  ist  ...
Turmhoch  über  allen ... Völlig unerreichbar." Er tat seine Pflicht, obwohl
er nicht einsah, wozu.
     Fischer fand keinen Reim und keine Ruhe. Er fing eine Unterhaltung  an.
"Bertuch erzählt, es stünden wieder Kündigungen bevor."
     "Schon möglich", sagte Fabian.
     "Was fangen Sie an", fragte der andere,  "wenn man Sie hier vor die Tür
setzt?"
     "Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation damit verbracht,
gute Propaganda  für  schlechte Zigaretten zu machen?  Wenn ich hier fliege,
suche  ich mir einen neuen Beruf.  Auf  einen mehr oder weniger kommt es mir
nicht mehr an."
     "Erzählen Sie  mal  was von sich", bat  Fischer. "Während der Inflation
hab ich für eine Aktiengesellschaft Börsenpapiere verwaltet. Ich mußte
jeden  Tag  zweimal den Effektivwert der Papiere ausrechnen, damit die Leute
wußten, wie groß ihr Kapital war."
     "Und dann?"
     "Dann hab ich mir für etwas Valuta einen Grünwarenladen gekauft."
     "Warum gerade einen Grünwarenladen?"
     "Weil  wir  Hunger  hatten! Überm  Schaufenster stand:  Doktor  Fabians
Feinkosthandlung. Frühmorgens, wenn es noch  dunkel war, zogen wir mit einem
wackeligen Handwagen in die Markthalle."
     Fischer stand auf. "Wie? Doktor sind Sie auch?"
     "Ich machte die Prüfung  in dem gleichen Jahr, in dem ich beim Messeamt
als Adressenschreiber angestellt war."
     "Wie hieß denn Ihre Dissertation?"
     "Sie  hieß "Hat Heinrich von Kleist  gestottert?" Erst wollte ich
an   Hand   von   Stiluntersuchungen   nachweisen,   daß   Hans  Sachs
Plattfüße gehabt hat. Aber  die Vorarbeiten  dauerten zu lange. Genug,
dichten Sie lieber!" Er schwieg und ging vor dem  Plakat auf und ab. Fischer
schielte  neugierig  zu  ihm hin.  Doch  er wagte  nicht,  das  Gespräch  zu
erneuern.  Seufzend drehte  er.  sich  im Stuhl  herum  und  musterte  seine
Reimnotizen. Er beschloß, Brauchen auf Rauchen zu reimen, glättete das
Schreibpapier,  das vor ihm lag,  und kniff, der Inspiration vertrauend, die
Augen zu. Aber da klingelte das Telefon. Er hob ab und sagte: "Ja, ist hier.
Einen Augenblick, Doktor Fabian kommt sofort."
     Und zu Fabian meinte  er:  "Ihr Freund Labude."  Fabian nahm den Hörer.
"Tag, Labude, was gibt's?"
     "Seit wann betiteln dich die Zigarettenfritzen?" fragte der Freund.
     "Ich habe aus der Schule geplaudert."
     "Geschieht dir recht. Kannst du heute zu mir kommen?"
     "Ich komme."
     "In Wohnung Nummer zwei. Auf Wiedersehen."
     "Auf  Wiedersehen, Labude."  Er  hängte ab. Fischer hielt  ihn am Ärmel
fest.
     "Dieser  Herr  Labude  ist  doch  Ihr  Freund.  Warum  nennen  Sie  ihn
eigentlich nie beim Vornamen?"
     "Er hat keinen", meinte Fabian. "Die Eltern haben seinerzeit vergessen,
ihm einen zu geben."
     "Er hat überhaupt keinen Vornamen?"
     "Nein,  denken  Sie  an!  Er will sich  seit  Jahren nachträglich einen
beschaffen. Aber die Polizei erlaubt es nicht."
     "Sie veralbern mich ja", rief Fischer gekränkt.
     Fabian klopfte ihm anerkennend auf die Schulter  und sagte: "Sie merken
alles." Dann  widmete er sich von  neuem dem  Kölner  Dom,  schrieb ein paar
Schlagzeilen auf und brachte sie zu Direktor Breitkopf.
     "Sie   können   sich   mal  ein  kleines,   hübsches  Preisausschreiben
ausdenken", meinte der  Direktor. "Ihr Prospekt für  Detailhändler  hat  uns
ganz gut gefallen."
     Fabian verbeugte sich leicht.
     "Wir   brauchen   etwas   Neues",  fuhr   der   Direktor   fort.   "Ein
Preisausschreiben  oder  etwas   Ähnliches.  Es  darf  aber  nichts  kosten,
verstehen Sie? Der Aufsichtsrat  hat schon neulich geäußert, er  müsse
den Reklame-Etat möglicherweise um die Hälfte  reduzieren. Was  das für  Sie
bedeuten  würde, können Sie sich denken.  Ja?  Also,  junger  Freund, an die
Arbeit! Bringen Sie mir bald was Neues. Ich wiederhole aber: So  billig  wie
möglich, 'n Morgen."
     Fabian ging.
     Als er  sein Zimmer - achtzig Mark monatlich, Morgenkaffee Inbegriffen,
Licht extra  - am Spätnachmittag  betrat,  fand er  einen Brief  von  seiner
Mutter auf dem Tisch. Baden  konnte er nicht. Das  warme Wasser war kalt. Er
wusch  sich  nur, wechselte  die Wäsche,  zog den grauen  Anzug an, nahm den
Brief  seiner Mutter  und  setzte  sich  ans Fenster.  Der Straßenlärm
trommelte wie ein Regenguß an  die Scheiben. In der dritten Etage übte
jemand Klavier. Nebenan schrie der alte eingebildete Oberrechnungsrat  seine
Frau an. Fabian öffnete das Kuvert und las: "Mein lieber, guter Junge!
     Gleich  zu  Anfang und um Dich zu beruhigen, der Doktor hat gesagt,  es
ist  nichts Schlimmes. Es  wird wohl was mit den Drüsen sein. Und kommt  bei
älteren  Leuten öfter  vor. Mach  Dir also meinetwegen keine Sorgen. Ich war
erst  sehr  nervös. Aber nun wird es  schon  wieder  werden  mit  dem  alten
Lehmann. Gestern war ich  ein  bißchen im Palais-Garten.  Die  Schwäne
haben Junge. Im Parkcafé verlangen sie siebzig Pfennig für die Tasse Kaffee,
so eine Frechheit. Gott sei Dank, daß die Wäsche vorbei ist. Frau Hase
sagte im  letzten Augenblick  ab. Einen Bluterguß hat sie, glaub  ich.
Aber es ist mir gut  bekommen. Morgen früh  bringe ich  den Karton zur Post.
Hebe  ihn gut  auf  und schnür  ihn fester zu als das letzte Mal. Wie leicht
kann unterwegs was wegkommen. Die Mieze sitzt mir auf dem  Schoß,  sie
hat eben  ein Stück Gurgel gefressen, und  nun stößt sie  mich mit dem
Kopf  und  will  mich  nicht  schreiben  lassen. Wenn  Du  mir  wieder,  wie
vergangene Woche, Geld m den Brief  steckst, reiße  ich Dir die  Ohren
ab. Wir  reichen  schon, und Du brauchst Dein Geld selber. Macht es Dir denn
wirklich Spaß, für Zigaretten Reklame  zu machen? Die Drucksachen, die
Du schicktest, haben mir  gut gefallen.  Frau Thomas meinte, es ist doch ein
Jammer, daß Du solches Zeug schreibst. Aber  ich sagte, das  ist nicht
seine Schuld. Wer  heute nicht verhungern will, und wer will  das schon, der
kann  nicht warten, bis ihm der richtige Beruf durch den Schornstein  fällt.
Und dann  habe ich  noch gesagt, es  ist ja nur  ein Übergang. Der Vater hat
halbwegs zu  tun. Es scheint  aber was mit der Wirbelsäule zu sein. Er  geht
ganz krumm.  Tante Martha brachte gestern  ein Dutzend Eier aus  dem Garten.
Die Hühner  legen  fleißig.  Das ist eine gute Schwester. Wenn sie nur
nicht so viel Ärger mit dem Mann hätte.
     Mein  lieber Junge,  wenn  Du  doch  bald mal wieder  nach Hause kommen
könntest.  Ostern warst Du da. Wie die Zeit vergeht. Da hat man nun ein Kind
und hat eigentlich keins. Die  paar Tage im  Jahr,  wo  wir  uns  sehen.  Am
liebsten setzte ich mich gleich  auf die Eisenbahn und  käme hinüber. Früher
war  das  schön. Fast jeden  Abend vor dem  Schlafengehen  sehe ich  mir die
Bilder und die Ansichtskarten an. Weißt Du noch, wenn wir den Rucksack
nahmen und loszogen?  Einmal  kamen wir mit einem ganzen Pfennig  zurück. Da
muß ich gleich lachen, während ich dran denke.
     Na, auf  Wiedersehen, mein  gutes  Kind.  Vor Weihnachten wird es  wohl
nicht werden.  Gehst Du immer noch  so spät schlafen? Grüß Labude. Und
er soll auf Dich aufpassen. Was machen die Mädchen? Sieh Dich vor. Der Vater
läßt  grüßen.  Viele Grüße  und Küsse von Deiner  Mutter."
Fabian  steckte den  Brief ein und  blickte auf die  Straße  hinunter.
Warum  saß er hier in  diesem fremden gottverlassenen  Zimmer, bei der
Witwe Hohlfeld, die das  Ver­mieten  früher nicht nötig gehabt  hatte? Warum
saß er nicht zu Hause, bei  seiner Mutter? Was hatte er hier in dieser
Stadt, in  diesem verrückt  gewordenen  Steinbaukasten, zu suchen?  Blumigen
Unsinn schreiben,  damit  die Menschheit  noch  mehr Zigaretten rauchte  als
bisher? Den Untergang Europas konnte  er  auch dort  abwarten, wo er geboren
worden  war.  Das hatte  er davon,  daß er sich einbildete, der Globus
drehe  sich  nur,  solange  er ihm  zuschaue. Dieses  lächerliche Bedürfnis,
anwesend  zu sein! Andere hatten  einen Beruf, kamen  vorwärts,  heirateten,
ließen ihre Frauen  Kinder kriegen und glaubten, das gehöre zum Thema.
Und er mußte, noch  dazu freiwillig, hinterm  Zaun stehen, zusehen und
ratenweise verzweifeln. Europa  hatte große  Pause.  Die Lehrer  waren
fort. Der Stundenplan war verschwunden.  Der alte Kontinent  würde  das Ziel
der Klasse nicht erreichen. Das Ziel keiner Klasse!
     Da klopfte die Wirtin Hohlfeld, trat ins Zimmer und sagte: "Pardon, ich
dachte, Sie wären noch nicht da."  Sie kam näher. "Haben Sie  gestern  nacht
den  Krach  gehört,  den Herr  Tröger  veranstaltet  hat?  Er  hatte  wieder
Frauenzimmer mit  oben. Das Sofa sieht aus!  Ich werfe ihn hinaus, wenn  das
noch einmal vorkommt.  Was soll die neue Untermieterin denken, die im ändern
Zimmer wohnt?"
     "Wenn sie noch an den Storch glaubt, ist ihr nicht zu helfen."
     "Aber, Herr Fabian, meine Wohnung ist doch kein Absteigequartier!"
     "Gnädige Frau, es  ist  weithin  bekannt,  daß  sich,  von  einem
gewissen Alter ab, beim Menschen  Bedürfnisse regen, die im Widerspruch  zur
Moral der Vermieterinnen stehen."
     Die   Wirtin  wurde   ungeduldig.  "Aber   er  hatte  mindestens   zwei
Frauenzimmer bei sich!"
     "Herr  Tröger ist ein Wüstling, gnädige Frau. Das beste  wird sein, Sie
teilen ihm mit, er dürfe pro Nacht höchstens eine Dame mitbringen.  Und wenn
er  sich  nicht  danach  richtet,  lassen  wir  ihn  von  der  Sittenpolizei
kastrieren."
     "Man  geht mit  der Zeit", erklärte Frau  Hohlfeld nicht ohne Stolz und
rückte noch näher. "Die Sitten haben  sich geändert. Man paßt sich an.
Ich verstehe manches. Schließlich, ich bin ja auch noch nicht so alt."
     Sie stand knapp hinter ihm. Er sah sie nicht, aber vermutlich wogte ihr
unverstandener Busen. Das wurde von Tag zu Tag  schlimmer.  Fand  sich  denn
wirklich niemand für  sie?  Nachts  stand  sie vermutlich,  auf bloßen
Füßen,  vor  dem  Zimmer des  Stadtreisenden Tröger und  nahm,  durchs
Schlüsselloch, seinen Orgien Parade ab. Sie wurde langsam verrückt. Manchmal
blickte sie ihn an, als wolle sie ihm  die Hosen ausziehen. Früher war diese
Sorte  Damen fromm  geworden. Er stand auf und sagte: "Schade, daß Sie
keine Kinder haben."
     "Ich gehe schon." Frau Hohlfeld verließ entmutigt das Zimmer.
     Er sah auf die Uhr. Labude war noch in  der Bibliothek. Fabian trat zum
Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Stapeln  darauf. Darüber, an der Wand,
hing eine Stickerei mit der Inschrift: "Nur ein Viertelstündchen." Er hatte,
als er einzog, den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern angebracht.
Manchmal  las  er noch ein  paar Seiten in irgendeinem der Bücher. Geschadet
hatte es  fast  nie. Er  griff zu. Es war Descartes. "Betrachtungen über die
Grundlagen der Philosophie",  so  hieß  das  kleine Heft.  Sechs Jahre
waren  es her, seit er sich damit  befaßt hatte. Driesch hatte  in der
mündlichen Prüfung dergleichen wissen  wollen.  Sechs  Jahre  waren mitunter
eine  lange  Zeit.  Auf  der  anderen Straßenseite  hatte  ein  Schild
gehangen: "Chaim Pines, Ein- und Verkauf von Fellen". War  das alles, was er
von damals  wußte? Bevor  er vom Examinator aufgerufen wurde, war  er,
mit dem Zylinder eines anderen Kandidaten auf dem Kopfe, durch die Korridore
spaziert und  hatte den  Pedell  erschreckt.  Vogt,  der Kandidat, war  dann
durchgefallen und nach Amerika gegangen.
     Er setzte  sich  und  schlug das Heft  auf.  Was  hatte  Descartes  ihm
mitzuteilen? "Schon vor Jahren bemerkte ich, wieviel Falsches ich von Jugend
auf  als  wahr  hingenommen hatte, und wie  zweifelhaft alles  sei, was  ich
später darauf gründete. Darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben
von Grund auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je irgend
etwas  Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses  schien  mir aber eine
ungeheure  Aufgabe   zu  sein,  und   so   wartete  ich  jenes   reife,  für
wissenschaftliche  Untersuchungen  angemessene Alter  ab.  Darum habe ich so
lange gezögert, daß ich jetzt eine Schuld  auf mich lüde, wenn ich die
Zeit, die mir zu  handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das
trifft sich nun sehr günstig.  Mein Geist ist von allen Sorgen frei, und ich
habe  mir  eine  ruhige  Muße  verschafft. So  ziehe  ich mich in  die
Einsamkeit zurück  und will  ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller
meiner Meinungen unternehmen."
     Fabian blickte auf die Straße hinunter,  sah den Autobussen nach,
die, wie  Elefanten auf Rollschuhen,  die Kaiser­allee entlang  fuhren,  und
schloß vorübergehend  die Augen. Dann  blätterte er  und  überflog die
Einleitung. Fünfundvierzig Jahre  war  Descartes alt gewesen, als  er  seine
Revolution  ankündigte.  Am  Dreißigjährigen  Krieg hatte er  sich ein
bißchen beteiligt. Ein kleiner Kerl,  mit immensem Schädel. "Von allen
Sorgen frei." Revolution  in  der Einsamkeit. In  Holland. Tulpenbeete  vorm
Haus. Fabian lachte,  legte den Philosophen  beiseite und zog den Mantel an.
Im  Korridor  begegnete  er  Herrn  Tröger,  dem Reisenden  mit dem  starken
Frauenverbrauch. Sie zogen die Hüte.

     Labudes zweite  Wohnung  lag  im  Zentrum.  Wenige wußten  davon.
Hierhin zog er sich zurück, wenn  ihm der  Westen, die noble Verwandtschaft,
die  Damen der guten Gesellschaft und das Telefon auf die Nerven gingen. Und
hier hing er seinen wissenschaftlichen und sozialen Neigungen nach.
     "Wo hast du denn in der vorigen Woche gesteckt?" fragte Fabian.
     "Danke, gut",  sagte  Labude  und trank  den Kognak, der vor ihm stand.
"Ich war in Hamburg. Leda läßt grüßen."
     "Und wie befindet sich das Fräulein Braut?"
     "Davon später."
     "Was vom Geheimrat gehört? Hat er deine Arbeit gelesen?"
     "Nein.   Er   hatte   keine   Zeit,   sondern  Promotionen,  Prüfungen,
Vorlesungen, Seminare und Senatssitzungen. Bis er meine Habilitationsschrift
gelesen  hat, habe ich einen kniefreien Vollbart." Labude schenkte sich  ein
und  trank. "Sei  nicht nervös. Die  Kerle werden sich  wundern,  wie du aus
Lessings  Gesammelten  Werken das  Gehirn  und die  Denkvorgänge  des Mannes
rekonstruiert hast,  den  sie, bis du  kamst,  als  den Logos  mit  Freilauf
dargestellt und noch nie verstanden haben."
     "Ich fürchte, sie werden sich zu sehr wundern. Die geweihte Logik eines
toten  Schriftstellers  psychologisch  auswerten,  Denkfehler entdecken  und
individuell und als  sinnvolle Vorgänge  behandeln,  den Typus  des zwischen
zwei   Zeitaltern   schwankenden   genialen   Menschen   an   einem   längst
verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern
werden. Warten wir ab. Lassen wir den ollen Sachsen in Ruhe. Fünf Jahre habe
ich diesen  Kerl seziert, auseinandergenommen und zusammengesetzt! Auch eine
Beschäftigung für einen erwachse­nen Menschen,  im  achtzehnten  Jahrhundert
wie im Müllkasten herumzufingern! Hol dir ein Glas!"
     Fabian nahm ein Likörglas aus dem Schrank und schenkte sich ein. Labude
blickte  vor sich  hin.  "Heute  morgen  war  ich  dabei,  wie  sie  in  der
Staatsbibliothek  einen Professor  festnahmen. Einen  Sinologen. Er hat seit
einem Jahr seltene Drucke und Bilder der Bibliothek  gestohlen und verkauft.
Er wurde blaß  wie eine Wand,  als man ihn verhaftete, und setzte sich
erst mal  auf die  Treppe. Man fütterte ihn mit kaltem Wasser. Dann wurde er
abtransportiert."
     "Der Mann  hat den Beruf verfehlt", sagte Fabian.  "Wozu lernt er  erst
Chinesisch, wenn  er zum  Schluß vom Stehlen  lebt? Es steht  schlimm.
Jetzt räubern schon die Philologen."
     "Trink aus und komm!" rief Labude.
     Sie  gingen  an  der Markthalle vorbei, durch tausend scheußliche
Gerüche hindurch, zur Autobushaltestelle.
     "Wir fahren zu Haupt", sagte Labude.


     FÜNFTES KAPITEL

     Ein ernstes Gespräch am Tanzparkett
     Fräulein Paula ist insgeheim rasiert
     Frau Moll wirft mit Gläsern

     In Haupts  Sälen  war, wie an  jedem Abend,  Strandfest. Punkt zehn Uhr
stiegen, im Gänsemarsch,  zwei  Dutzend  Straßenmädchen von der Empore
herunter.  Sie trugen  bunte Badetrikots, gerollte Wadenstrümpfe  und Schuhe
mit hohen Absätzen. Wer sich derartig auszog, hatte freien Zutritt zum Lokal
und erhielt einen Schnaps  gratis. Diese Vergünstigungen waren in Anbetracht
des daniederliegenden  Gewerbes  nicht zu  verachten.  Die  Mädchen  tanzten
anfangs miteinander, damit die Männer etwas zu sehen hatten.
     Das von Musik  begleitete Rundpanorama weiblicher  Fülle erregte die an
der   Barriere  drängenden   Kommis,   Buchhalter   und  Einzelhändler.  Der
Tanzmeister  schrie, man möge sich  auf die Damen stürzen, und  das geschah.
Die dicksten  und  frechsten Frauenzimmer wurden  bevorzugt. Die Weinnischen
waren schnell besetzt. Die Barfräuleins hantierten mit  dem Lippenstift. Die
Orgie  konnte  beginnen. Labude und  Fabian saßen  an  der Rampe.  Sie
liebten dieses Lokal,  weil sie nicht hierher  gehörten.  Das  Nummernschild
ihres  Tischtelefons  glühte  ohne  Unterbrechung. Der  Apparat surrte.  Man
wollte sie sprechen. Labude hob den Hörer aus der Gabel  und legte ihn unter
den Tisch. Sie hatten wieder Ruhe. Denn der Lärm, der übrigblieb, die Musik,
das Gelächter und  der Gesang waren nicht  persönlich  gemeint  und  konnten
ihnen nichts anhaben.
     Fabian berichtete von der Nachtredaktion, von der Zigarettenfabrik, von
der verfressenen  Familie  Fischer und  vom Kölner Dom.  Labude  blickte den
Freund an und sagte: "Du müßtest endlich vorwärtskommen."
     "Ich kann doch nichts."
     "Du kannst vieles."
     "Das ist  dasselbe",  meinte Fabian. "Ich kann  vieles und will nichts.
Wozu soll  ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir einmal an,  ich
sei der  Träger einer Funktion. Wo ist das System,  in dem ich funktionieren
kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn."
     "Doch, man verdient beispielsweise Geld."
     "Ich  bin  kein   Kapitalist."   "Eben  deshalb."   Labude  lachte  ein
bißchen.
     "Wenn ich sage, ich bin kein  Kapitalist, dann meine ich: ich habe kein
pekuniäres  Organ.  Wozu soll ich Geld verdienen? Was soll ich mit dem  Geld
anfangen? Um  satt zu werden,  muß man  nicht  vorwärtskommen.  Ob ich
Adressen schreibe, Plakate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist
überhaupt  gleichgültig. Sind  das Aufgaben für einen erwachsenen  Menschen?
Rotkohl en  gros oder  en detail,  wo steckt der Unterschied?  Ich  bin kein
Kapitalist,  wiederhole ich dir! Ich  will  keine Zinsen,  ich  will  keinen
Mehrwert."
     Labude schüttelte den Kopf. "Das ist Indolenz. Wer Geld verdient und es
nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen."
     "Was  fang ich mit der Macht  an?" fragte  Fabian. "Ich  weiß, du
suchst sie. Aber  was  fange  ich  mit der Macht an, da ich nicht mächtig zu
sein wünsche? Machthunger  und Geldgier  sind Geschwister, aber mit mir sind
sie nicht verwandt."
     "Man kann  die Macht im Interesse  anderer  verwenden." "Wer  tut  das?
Dieser wendet  sie für sich an,  jener für seine Familie, der eine für seine
Steuerklasse, der andere für diejenigen, die blonde Haare haben, der  fünfte
für  solche,  die über zwei  Meter  groß sind,  der sechste,  um  eine
mathematische Formel an der  Menschheit  auszuprobieren. Ich pfeif auf  Geld
und  Macht!"  Fabian  hieb mit  der Faust auf  die  Brüstung,  aber sie  war
gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb stumm.
     "Wenn  es eine  Gärtnerei gäbe, wie  ich sie mir  erträume! Ich brächte
dich, an  Händen  und Füßen  gefesselt, hin  und  ließe  dir ein
Lebensziel einpflanzen!" Labude war  ernstlich bekümmert  und legte die Hand
auf den Arm des Freundes.
     "Ich sehe zu. Ist das nichts?"
     "Wem ist damit geholfen?"
     "Wem ist zu helfen?"  fragte Fabian. "Du willst Macht haben. Du willst,
träumst  du,  das Kleinbürgertum sammeln  und führen. Du willst  das Kapital
kontrollieren  und  das  Proletariat einbürgern. Und dann willst du  helfen,
einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und
ich sage dir: Noch in deinem Paradies  werden sie sich die Fresse vollhauen!
Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird... Ich weiß ein
Ziel, aber es  ist leider keines.  Ich möchte helfen, die Menschen anständig
und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich  damit beschäftigt, sie auf ihre
diesbezügliche Eignung hin anzuschauen."
     Labude hob sein  Glas und  rief: "Viel Vergnügen!" Er  trank, setzte ab
und sagte:  "Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden
sich die Menschen anpassen."
     Fabian trank und schwieg.
     Labude  fuhr erregt  fort:  "Das siehst du  ein,  nicht wahr? Natürlich
siehst  du  das  ein. Aber du phantasierst  lieber von  einem unerreichbaren
vollkommenen  Ziel  anstatt  einem  unvollkommenen  zuzustreben,   das  sich
verwirklichen läßt.  Es ist dir bequemer so.  Du  hast keinen Ehrgeiz,
das ist das Schlimme."
     "Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere  fünf Millionen  Arbeitslosen
begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf  Unterstützung. Stell dir vor, sie
wären ehrgeizig!"
     Da  lehnten sich  zwei Trikotengel über die Brüstung. Die eine Frau war
dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei sie serviert. Die
andere  Person  war mager, und ihr Gesicht  sah aus,  als  hätte sie  krumme
Beine. "Schenkt  uns  'ne  Zigarette",  sagte die Blonde. Fabian  hielt  die
Schachtel hin,  Labude gab Feuer. Die  Frauen rauchten,  blickten die jungen
Männer  abwartend  an,  und  die  Magere konstatierte nach  einer  Pause mit
verrosteter Stimme: "Na ja, so ist das."
     "Wer spendiert 'nen Schnaps?" fragte die Dicke.
     Sie  gingen zu viert der Theke zu. Rebenlaub und gewaltige Weintrauben,
alles aus Pappe, umsäumten den Pfad. Sie setzten sich in eine Ecke. Die Wand
war  mit  der Pfalz  bei  Caub  bemalt. Fabian  dachte  an  Blücher,  Labude
bestellte  Likör. Die Frauen  flüsterten miteinander.  Vermutlich verteilten
sie die zwei Kavaliere. Denn unmittelbar danach schleuderte die dicke Blonde
den Arm um Fabian, legte eine Hand auf sein Bein und tat  wie zu  Hause. Die
Magere  trank  ihr  Glas auf einen Zug leer,  zupfte Labude an der Nase  und
kicherte   blöde.  "Oben  sind  Nischen",  sagte  sie,  strich  die   blauen
Trikothosen von  den  Schenkeln zurück und zwinkerte. "Woher  haben  Sie  so
rauhe Hände?"  fragte  Labude.  Sie drohte mit  dem  Finger. "Nicht,  was du
denkst", rief sie und verschluckte sich vor Schelmerei.
     "Paula  hat  früher  in einer  Konservenfabrik gearbeitet",  sagte  die
Blonde, nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so lange über die Brüste,
bis die Brustwarzen groß und fest  wurden. "Gehen wir dann ins Hotel?"
fragte sie.
     "Ich  bin  überall  rasiert",  erläuterte  die  Magere  und  war  nicht
abgeneigt,  den  Nachweis zu erbringen.  Labude  hielt  sie  mühsam  von dem
äußersten zurück.
     "Man schläft nachher  besser", sagte die Blondine zu Fabian und  reckte
die fetten Beine.
     Lottchen  von  der  Theke  füllte die Gläser. Die  Frauen  tranken, als
hätten sie acht Tage  nichts gegessen. Die Musik  drang gedämpft herüber. An
der  Bar saß ein riesenhafter Kerl und gurgelte mit Kirschwasser.  Der
Scheitel reichte ihm  bis  ins Rückgrat.  Hinter der Pfalz bei  Caub brannte
eine elektrische Birne und besonnte den Rhein, wenn auch nur von hinten.
     "Oben sind  Nischen", sagte die  Magere wieder, und  man stieg  hinauf.
Labude bestellte kalten Aufschnitt. Als der Teller mit Fleisch und Wurst vor
den  Mädchen  stand,  vergaßen  sie alles übrige und kauten  drauflos.
Unten im Saal wurde  die  schönste  Figur prämiiert. Die Frauen drehten sich
mit  ihren knappen  Badeanzügen im Kreis, spreizten  die Arme und Finger und
lächelten verführerisch. Die Männer standen wie auf dem Viehmarkt.
     "Der  erste Preis  ist  eine  große  Bonbonniere",  erklärte  die
kauende  Paula,  "und  wer  sie  gekriegt  hat,  muß   sie  dann  beim
Geschäftsführer wieder abliefern."
     "Ich esse lieber, außerdem findet man meine Beine immer zu dick",
sagte die Blondine. "Dabei sind dicke  Beine das beste, was es gibt. Ich war
einmal  mit einem russischen Fürsten zusammen,  der schreibt mir  noch jetzt
Ansichtskarten."
     "Quatsch!" knurrte Paula.  "Jeder Mann will was anderes. Ich habe einen
Herrn  gekannt,  einen Ingenieur,  der  liebte  Lungenkranke. Und  Viktorias
Freund hat  einen Buckel, und sie sagt,  sie braucht  das zum Leben. Da mach
was dagegen. Ich finde, Hauptsache, man versteht seinen Kram."
     "Gelernt ist  gelernt",  behauptete die Dicke und  angelte  das  letzte
Stück Schinken von der Platte. Unten im Saal wurde gerade die schönste Figur
ausgerufen. Die Kapelle spielte einen Tusch. Der Geschäftsführer überreichte
der   Siegerin  eine  große  Bonbonniere.  Sie  dankte  ihm  beglückt,
verneigte sich vor den  klatschenden und johlenden Gästen und zog mit  ihrem
Geschenk davon, wahrscheinlich trug sie's ins Büro zurück.
     "Warum arbeiten  Sie eigentlich  nicht  mehr in Ihrer Konservenfabrik?"
fragte Labude, und seine Frage klang recht vorwurfsvoll.
     Paula  schob den leeren Teller zurück,  strich sich über  den Magen und
erzählte:  "Erstens war  es gar  nicht  meine Fabrik, und zweitens wurde ich
abgebaut. Glücklicherweise  wußte ich was über den  Direktor. Er hatte
ein  vierzehnjähriges  Mädchen  verführt. Verführt ist übertrieben.  Aber er
glaubte den  Zimt. Und dann  rief  ich ihn  alle vierzehn Tage an, ich müsse
fünfzig  Mark haben, oder ich würde die Sache rumreden. Am nächsten Tag ging
ich dann jedesmal zur Kasse und holte das Geld ab." "Das ist ja Erpressung!"
rief Labude.
     "Der Rechtsanwalt, den mir der Direktor auf den Hals schickte, fand das
auch. Ich mußte einen Wisch  unterschreiben, bekam hundert  Mark,  und
aus war's mit der Lebensrente. Na ja, nun bin ich hier und lebe vom Bauch in
den Mund."
     "Es  ist  furchtbar", sagte Labude  zu Fabian, "es ist schrecklich, wie
viele Direktoren das Angestelltenverhältnis mißbrauchen."
     Die Dicke rief: "Ach Mensch, was redest  du da. Wenn ich ein Mann wäre,
und  ein  Fabrikdirektor  dazu, ich hätte dauernd Angestelltenverhältnisse."
Dann fuhr sie Fabian in  die Haare, versetzte ihm  einen  Kuß, ergriff
seine Hand  und legte sie  platt auf ihren satten Magen.  Labude  und  Paula
tanzten miteinander. Sie hatte tatsächlich krumme Beine.
     In der Nachbarnische sang eine Frau laut mit betrunkener Stimme:

     "Die Liebe ist ein Zeitvertreib.
     Man nimmt dazu den Unterleib."

     Die Dicke  sagte: "Die nebenan  ist  'ne  Marke. Sie gehört  gar  nicht
hierher,  kommt in  teuren Pelzmänteln an, aber darunter  trägt sie was ganz
Durchsichtiges.  Es  soll  eine  reiche  Frau  aus dem  Westen  sein,  sogar
verheiratet. Sie holt sich junge Kerle in die Nische,  bezahlt für  sie  und
gibt an, daß die Wände rot werden." Fabian erhob sich und blickte über
die halbhohe Zwischenwand hinweg nebenan.
     Dort  saß  in  einem  grünseidenen   Badeanzug  eine  große
gutgewachsene  Frau  und  war, unter  Absingung von  Liedern,  dabei,  einen
Reichswehrsoldaten, der sich verzweifelt wehrte,  auszuziehen. "Kerl!"  rief
sie. "Mach nicht so einen schlappen Eindruck! Los!  Zeig  den Ausweis!" Aber
der brave  Infanterist stieß  sie zurück.  Fabian fiel  jene  bekannte
ägyptische  Ministergattin  ein, die den armen  Josef, den begabten  Urenkel
Abrahams, so schamlos belästigt hatte.  Da  stand die Grüne  auf, packte ein
Sektglas und taumelte zur Brüstung.
     Es  war nicht Frau Potiphar, sondern Frau Moll. Jene Irene  Moll, deren
Schlüssel er im Mantel hatte. Schwankend  stand  sie  an der Balustrade, hob
das spitze Glas hoch und warf es in den Saal hinunter. Es zersprang  auf dem
Parkett.  Die  Musiker  setzten  die  Instrumente  ab.  Die Tanzpaare  hoben
erschrocken die Köpfe. Alle blickten zu der Nische herauf.
     Frau Moll streckte die Hand aus und rief: "Männer  nennt sich das! Wenn
man sie anpackt, gehen sie aus dem  Leim!  Meine sehr verehrten  Damen,  ich
schlage  vor,  die  Bande  einzusperren. Meine  sehr  verehrten  Damen,  wir
brauchen Männerbordelle! Wer dafür ist, der  hebe die Hand!" Sie schlug sich
emphatisch  vor  die Brust  und bekam davon  den  Schlucken.  Im Saal  wurde
gelacht.  Der Geschäftsführer war  schon  unterwegs. Irene  Moll fing an  zu
weinen. Das Schwarz der getuschten Wimpern verflüssigte sich, und die Tränen
liniierten ihr Gesicht. "Laßt uns  singen!" schrie sie schluchzend und
schluckend. "Wir singen  das  schöne  Lied vom  Klavierspiel!"  Sie breitete
beide Arme aus und brüllte:

     "Auch der Mensch ist nur ein Tier,
     Immer, und erst recht zu zweit,
     Komm und spiel auf mir Klavier!
     Komm und spieleee auf mir
     Die Schule der Geläufigkeit.
     Dazu bin ich ja..."

     Der  Geschäftsführer  hielt ihr den Mund  zu, sie mißverstand die
Bewegung und fiel ihm um  den Hals.  Dabei sah sie den zu ihr  hinblickenden
Fabian, riß sich los und schrie: "Dich kenne ich doch!" und  wollte zu
ihm.  Aber der  Reichswehrsoldat, der sich inzwischen erholt hatte, und  der
Geschäftsführer packten  sie und drückten sie auf einen Stuhl. Im Saal wurde
wieder  musiziert und getanzt. Labude  hatte  während der Szene bezahlt, gab
Paula und der Dicken etwas Geld, faßte Fabian unter und zog ihn fort.
     In  der  Garderobe  fragte er:  "Sie kennt dich wirklich?"  "Ja", sagte
Fabian,  "sie  heißt Moll, ihr  Mann  ist Rechtsanwalt und zahlt  jede
Summe, wenn man mit ihr schläft. Die Schlüssel dieser komischen Familie habe
ich noch in der Tasche. Hier sind sie."
     Labude  nahm die  Schlüssel  weg, rief: "Ich komme gleich wieder!"  und
lief in Hut und Mantel zurück.


     SECHSTES KAPITEL

     Der Zweikampf am Märkischen Museum
     Wann findet der nächste Krieg statt?
     Ein Arzt versteht sich auf Diagnose

     Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: "Hast du
mit dieser Verrückten etwas gehabt?"
     "Nein,  ich  war  nur in  ihrem  Schlafzimmer, und  sie zog  sich  aus.
Plötzlich kam noch ein Mann hinzu,  behauptete, mit ihr verehelicht zu sein,
ich  solle  mich  aber  nicht  stören  lassen.  Dann  deklamierte  er  einen
ungewöhnlichen Kontrakt, den die beiden geschlossen haben. Dann ging ich."
     "Warum nahmst du die Schlüssel mit?"
     "Weil die Haustür verschlossen war."
     "Ein schauderhaftes  Weib", sagte  Labude.  "Sie  hing  besoffen  überm
Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die Handtasche."
     "Sie  hat  dir  nicht  gefallen?"  fragte  Fabian.  "Sie  ist doch sehr
eindrucksvoll  gewachsen, und das freche Konfirmandengesicht obendrauf wirkt
so wunderbar unpassend."
     "Wenn  sie  häßlich wäre,  hättest du die Schlüssel  längst  beim
Portier abgegeben." Labude zog den Freund weiter. Sie bogen langsam in  eine
Nebenstraße   ein,   kamen    an   einem   Denkmal,   auf   dem   Herr
Schulze-Delitzsch  stand,  und am  Märkischen  Museum vorbei, der  Steinerne
Roland  lehnte  finster in  einer  Efeuecke, und auf  der Spree jammerte ein
Dampfer. Oben auf der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen
Fluß und  auf  die fensterlosen Lagerhäuser.  Über der  Friedrichstadt
brannte der Himmel.
     "Lieber  Stephan", sagte Fabian  leise, "es ist rührend, wie du dich um
mich bemühst. Aber ich  bin  nicht unglücklicher  als unsere Zeit. Willst du
mich   glücklicher  machen,   als  sie   es  ist?  Und  wenn  du  mir  einen
Direktorposten,  eine  Million  Dollar oder  eine anständige  Frau, die  ich
lieben könnte, verschaffst, oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht
gelingen." Ein  kleines  schwarzes  Boot, mit  einer roten Laterne  am Heck,
trieb den Fluß  entlang. Fabian  legte die Hand auf die  Schulter  des
Freundes.  "Als  ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit  damit, neugierig
zuzusehen, ob die Welt  zur Anständigkeit Talent habe, war das nur die halbe
Wahrheit.  Daß  ich mich so herumtreibe, hat noch einen anderen Grund.
Ich treibe mich herum,  und ich warte wieder,  wie damals im  Krieg, als wir
wußten:  Nun werden wir eingezogen.  Erinnerst du dich? Wir  schrieben
Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es war gleichgültig, ob wir
es taten oder unterlie­ßen.  Wir sollten  ja in den Krieg. Saßen
wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus der man langsam, aber unaufhörlich
die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten  nicht aus
Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich?  Wir wollten
nichts versäumen, und wir  hatten  einen gefährlichen Lebenshunger, weil wir
glaubten, es sei die Henkersmahlzeit."
     Labude lehnte  am  Geländer und blickte auf die Spree hinunter.  Fabian
ging hin und  her, als  liefe er in seinem  Zimmer auf und ab. "Erinnerst du
dich?" fragte er. "Und ein halbes Jahr  später  waren wir marschbereit.  Ich
bekam acht Tage Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin,  weil ich als Kind
einmal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief melancholisch
über den schwankenden Boden der Erlenwälder.  Die Ostsee  war verrückt,  und
die Kurgäste konnte man zählen. Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit
sechsen  schlief   ich.  Die   nächste   Zukunft  haltenden  Entschluß
gefaßt, mich  zu Blutwurst  zu  verarbeiten.  Was sollte ich bis dahin
tun?  Bücher lesen? An  meinem  Charakter  feilen  ? Geld  verdienen  ?  Ich
saß  in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa.  Acht
Tage später fuhr der Zug. Das wußte ich.  Aber  wohin er fuhr, und was
aus mir  werden sollte, das wußte kein Mensch.  Und jetzt  sitzen  wir
wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir
nicht,  was  geschehen  wird. Wir leben  provisorisch, die Krise nimmt  kein
Ende!"
     "Zum Donnerwetter!"  rief Labude, "wenn alle so denken wie du, wird nie
stabilisiert!  Empfinde  ich vielleicht  den  provisorischen  Charakter  der
Epoche  nicht? Ist dieses Mißvergnügen dein  Privileg?  Aber  ich sehe
nicht zu, ich versuche, vernünftig zu handeln."
     "Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen", sagte Fabian, "und
die Gerechten noch weniger."
     "So?" Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit beiden Händen
am Mantelkragen. "Aber sollten sie es nicht trotzdem wagen?"
     In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen Aufschrei
und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung. Labude rannte ins Dunkel,
die Brücke entlang,  auf das Museum  zu. Wieder klang ein Schuß. "Viel
Spaß!"  sagte  Fabian  zu  sich selber,  während  er lief, und suchte,
obwohl sein Herz schmerzte, Labude zu erreichen.
     Am Fuße des Märkischen Roland kauerte ein Mann, fuchtelte mit dem
Revolver  und  brüllte:  "Warte  nur,  du Schwein!" Und  dann schoß er
wieder über die Straße weg auf einen unsichtbaren Gegner. Eine Laterne
zerbrach. Glas klirrte aufs Pflaster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der
Hand, und Fabian fragte: "Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?"
     "Weil mich's am Bein erwischt hat", knurrte der Mann. Es war ein junger
stämmiger Mensch, und er  trug eine Mütze. "So ein  Mistvieh",  brüllte  er.
"Aber ich weiß, wie du heißt." Und er drohte der Dunkelheit.
     "Quer  durch  die Wade", stellte Labude fest, kniete  nieder,  zog  ein
Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Notverband.
     "Drüben in der  Kneipe ging's  los",  lamentierte  der Verwundete.  "Er
schmierte  ein  Hakenkreuz aufs Tischtuch.  Ich sagte was. Er sagte was. Ich
knallte ihm eine hinter die Ohren. Der Wirt  schmiß uns raus. Der Kerl
lief mir nach und schimpfte auf  die  Internationale. Ich drehte mich um, da
schoß er schon."
     "Sind Sie nun wenigstens  überzeugt?" fragte Fabian und blickte auf den
Mann  hinunter,  der  die  Zähne  zusammenbiß,   weil  Labude  an  der
Schußwunde hantierte.
     "Die Kugel  ist nicht mehr drin", bemerkte Labude. "Kommt denn hier gar
kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf."
     "Nicht einmal ein Schutzmann ist da", stellte Fabian bedauernd fest.
     "Der  hätte  mir   gerade  noch  gefehlt!"   Der  Verletzte   versuchte
aufzustehen.  "Damit  sie  wieder einen  Proleten  einsperren,  weil  er  so
unverschämt  war, sich von einem Nazi  die  Knochen  kaputtschießen zu
lassen."
     Labude hielt  den Mann  zurück, zog  ihn wieder zu Boden und befahl dem
Freund,  ein   Taxi  zu  besorgen.  Fabian  rannte  davon,   quer  über  die
Straße, um die Ecke, den nächtlichen Uferweg entlang.
     In der nächsten Nebenstraße standen  Wagen. Er gab dem  Chauffeur
den Auftrag, zum Märkischen Museum zu  fahren, am Roland gäbe es eine Fuhre.
Das Auto verschwand. Fabian folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam.
Das Herz schlug wie verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals.
Es pochte unterm Schädel.  Er blieb  stehen und  trocknete die Stirn. Dieser
verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein krankes Herz dabei  erwischt zu
haben, war zwar eine  Kinderei, aber  Fabian  genügte  das Andenken.  In der
Provinz   zerstreut  sollte  es   einsame  Gebäude   geben,  wo  noch  immer
verstümmelte  Soldaten  lagen.  Männer  ohne  Gliedmaßen,  Männer  mit
furchtbaren Gesichtern,  ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor
nichts  zurückschreckten, füllten diesen  entstellten Kreaturen Nahrung ein,
durch  dünne  Glasröhren,   die  sie  dort  in   wuchernd  vernarbte  Löcher
spießten,  wo früher einmal  ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte
lachen und sprechen und schreien können. Fabian bog um  die Ecke. Drüben war
das Museum. Das Auto hielt davor. Er schloß die Augen und entsann sich
schrecklicher Fotografien, die er gesehen hatte  und die  mitunter in seinen
Träumen  auftauchten  und  ihn erschreckten. Diese armen Ebenbilder  Gottes!
Noch immer lagen sie  in jenen von der Welt isolierten Häusern, mußten
sich füttern lassen und mußten weiterleben. Denn es war ja  Sünde, sie
zu töten. Aber es war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu
zerfressen. Die Familien wußten  nichts von diesen Männern  und Vätern
und Brüdern. Man hatte ihnen  gesagt,  sie wären  vermißt. Das war nun
fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten wieder geheiratet. Und der Selige, der
irgendwo in der Mark Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde,  lebte zu
Hause  nur  noch als hübsche  Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen im
Gewehrlauf, und  darunter  saß  der Nachfolger  und  ließ sich's
schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein?
     Plötzlich rief  jemand "Hallo!" Fabian öffnete die Augen und suchte den
Rufer.  Der  lag auf der  Erde, hatte sich  auf  den Ellenbogen gestützt und
preßte seine Hand aufs Gesäß.
     "Was ist denn mit Ihnen los?"
     "Ich bin der andere", sagte der Mann. "Mich hat's auch erwischt."
     Da  stellte sich  Fabian breitbeinig  hin und  lachte. Von der  anderen
Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte ein Echo mit.
     "Entschuldigen  Sie",  rief Fabian, "meine Heiterkeit ist nicht  gerade
höflich." Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Grimasse, betrachtete die
Hände,  die voll Blut  waren, und sagte verbissen:  "Wie's beliebt.  Der Tag
wird kommen, wo Ihnen das Lachen vergeht."
     "Warum stehst du  denn da herum?" schrie Labude und  kam ärgerlich über
die Straße.
     "Ach, Stephan",  sagte Fabian, "hier sitzt die andere Hälfte des Duells
mit einem Steckschuß im Allerwertesten."
     Sie  riefen den Chauffeur und transportierten  den  Nationalsozialisten
ins Auto, neben den kommunistischen  Spielgefährten.  Die Freunde kletterten
hinterdrein und gaben dem Chauffeur Anweisung,  sie zum nächsten Krankenhaus
zu bringen.
     Das Auto fuhr los.
     "Tut's sehr weh?" fragte Labude.
     "Es   geht",  antworteten  die   beiden  Verwundeten  gleichzeitig  und
musterten sich finster.
     "Volksverräter!" sagte der Nationalsozialist.  Er war  größer als
der Arbeiter,  etwas  besser gekleidet und sah etwa wie ein Handlungsgehilfe
aus.
     "Arbeiterverräter!" sagte der Kommunist.
     "Du Untermensch!" rief der eine.
     "Du Affe!" rief der andere. Der Kommis griff in die Tasche.
     Labude faßte sein  Handgelenk.  "Geben  Sie  den  Revolver  her!"
befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die Waffe heraus und steckte
sie ein.
     "Meine  Herren",  sagte  er.  "Daß es mit  Deutschland  so  nicht
weitergehen kann, darüber  sind wir  uns wohl alle  einig. Und daß man
jetzt  versucht,  mit  Hilfe  der  kalten  Diktatur unhaltbare  Zustände  zu
verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre  Strafe finden wird. Trotzdem
hat  es  keinen  Sinn,  wenn  Sie einander Reservelöcher in die entlegensten
Körperteile schießen. Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins
Leichenschauhaus führen, statt in  die  Klinik, wäre auch nichts  Besonderes
erreicht. Ihre Partei", er meinte den  Faschisten, "weiß nur,  wogegen
sie kämpft, und auch das  weiß sie nicht genau.  Und Ihre  Partei", er
wandte sich an den Arbeiter, "Ihre Partei..."
     "Wir kämpfen gegen die  Ausbeuter  des Proletariats", erklärte  dieser,
"und Sie sind ein  Bourgeois." "Freilich",  antwortete Fabian, "ich bin  ein
Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort."
     Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite geneigt, auf
der  heilen Sitzfläche  und hatte  Mühe,  mit seinem Kopf nicht  an den  des
Gegners zu stoßen.
     "Das Proletariat ist ein  Interessenverband", sagte Fabian. "Es ist der
größte Interessenverband.  Daß ihr  euer  Recht  wollt, ist eure
Pflicht. Und ich  bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil  ich
die  Gerechtigkeit liebe. Ich  bin euer  Freund, obwohl  ihr darauf  pfeift.
Aber, mein Herr, auch wenn  Sie  an die Macht kommen, werden die  Ideale der
Menschheit im verborgenen sitzen und  weiterweinen.  Man ist noch  nicht gut
und klug, bloß weil man arm ist."
     "Unsere Führer..." begann der Mann.
     "Davon wollen wir lieber nicht reden", unterbrach ihn Labude.
     Das  Auto  hielt. Fabian  klingelte  am Portal  des  Krankenhauses. Der
Portier  öffnete. Krankenwärter  kamen  und  trugen die  Verletzten aus  dem
Wagen. Der wachhabende Arzt gab den Freunden die Hand.
     "Sie bringen mir zwei Politiker?" fragte er lächelnd. "Heute nacht sind
insgesamt  neun  Leute   eingeliefert  worden,   einer  mit  einem  schweren
Bauchschuß. Lauter  Arbeiter  und  Angestellte. Ist Ihnen  auch  schon
aufgefallen,  daß  es sich meist um Bewohner von  Vororten handelt, um
Leute, die  einander  kennen? Diese politischen  Schießereien gleichen
den Tanzbodenschlägereien  zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um
Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat  man den Eindruck, sie
wollen die Arbeitslosenziffer  senken, indem sie einander totschießen.
Merkwürdige Art von Selbsthilfe."
     "Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist", meinte Fabian.
     "Ja, natürlich." Der Arzt  nickte. "Der Kontinent hat den Hungertyphus.
Der  Patient beginnt bereits zu phantasieren und um sich  zu schlagen. Leben
Sie wohl!" Das Portal schloß sich.
     Labude gab dem Chauffeur Geld  und schickte  den  Wagen weg. Sie gingen
schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb Labude stehen und sagte: "Ich kann
jetzt  noch  nicht  nach  Hause  gehen. Komm, wir  fahren  ms  Kabarett  der
Anonymen."
     "Was ist das?"
     "Ich  kenne es  auch  noch  nicht. Ein findiger  Kerl hat Halbverrückte
aufgelesen und  läßt  sie singen und tanzen.  Er zahlt  ihnen ein paar
Mark,  und sie lassen  sich dafür  vom Publikum beschimpfen  und  auslachen.
Wahrscheinlich merken sie  es gar nicht. Das Lokal soll  sehr  besucht sein.
Das ist ja  auch verständlich. Es gehen sicher Leute  hin, die sich  darüber
freuen,  daß es  Menschen  gibt,  die  noch  verrückter sind  als  sie
selber."
     Fabian  war einverstanden.  Er  blickte  noch  einmal  zum  Krankenhaus
zurück, über dem der Große Bär funkelte.
     "Wir leben in einer großen Zeit", sagte er, "und  sie wird  jeden
Tag größer."


     SIEBENTES KAPITEL

     Verrückte auf dem Podium
     Die Todesfahrt von Paul Müller
     Ein Fabrikant in Badewannen

     Vor  dem Kabarett parkten viele  Privatautos. Ein rotbärtiger Mann, der
einen Pleureusenhut  trug und  eine riesige Hellebarde hielt, lehnte an  der
Tür des Lokals und rief: "Immer herein in die Gummizelle!" Labude und Fabian
traten  ein,  gaben die Garderobe ab und fanden nach  langem  Suchen  in dem
überfüllten, verqualmten Raum an einem Ecktisch Platz.
     Auf  der  wackligen  Bühne machte ein  zwecklos  vor sich hinlächelndes
Mädchen  Sprünge. Es handelte sich  offenbar um  eine Tänzerin. Sie trug ein
giftgrünes selbstge­schneidertes Kleid, hielt eine  Ranke künstlicher Blumen
und warf sich und die Ranke in regelmäßigen Zeitabständen in die Luft.
Links  von der  Bühne  saß  ein zahnloser Greis an  einem  verstimmten
Klavier und spielte die Ungarische Rhapsodie.
     Ob der  Tanz und das Klavierspiel miteinander in Beziehung standen, war
nicht  ersichtlich. Das Publikum, ausnahmslos elegant gekleidet, trank Wein,
unterhielt sich laut und lachte.
     "Fräulein,  Sie  werden  dringend  am  Telefon  verlangt!"  schrie  ein
glatzköpfiger Herr, der  mindestens Generaldirektor war. Die anderen lachten
noch  mehr  als vorher. Die Tänzerin  ließ  sich  nicht  aus der  Ruhe
bringen  und fuhr fort zu lächeln und zu springen. Da hörte das Klavierspiel
auf.  Die Rhapsodie  war  zu  Ende.  Das Mädchen  auf  der  Bühne  warf  dem
Klavierspieler einen  bösen Blick  zu und hüpfte weiter, der  Tanz war  noch
nicht aus.  "Mutter, dein Kind ruft!"  kreischte eine Dame,  die ein Monokel
trug.
     "Ihr Kind auch", bemerkte jemand von einem entfernten Tisch.
     Die Dame drehte sich um. "Ich  habe keine  Kinder." "Da können Sie aber
lachen!" rief man aus dem Hintergrund.
     "Ruhe!" brüllte jemand anders. Der Wortwechsel hörte auf.
     Das Mädchen  tanzte noch  immer,  obwohl ihr  längst  die  Beine wehtun
mußten. Schließlich  fand sie selber, es sei  genug,  landete in
einem  mißlungenen  Knicks,  lächelte  noch  alberner  als  vorher und
breitete die Arme aus. Ein dicker Herr im Smoking stand auf. "Gut, sehr gut!
Sie können morgen zum Teppichklopfen kommen!"
     Das  Publikum lärmte  und klatschte. Das  Mädchen  knickste wieder  und
wieder.
     Da kam  ein  Mann aus  der Kulisse,  zog die Tänzerin,  die sich heftig
sträubte, von der Bühne und trat selber an die Rampe.
     "Bravo, Caligula!" rief eine Dame aus der ersten Tischreihe.
     Caligula, ein rundlicher junger Jude mit Hornbrille, wandte sich an den
Herrn, der neben der Ruferin saß. "Ist das Ihre Frau?" fragte er.
     Der Herr nickte.
     "Dann  sagen  Sie Ihrer Frau, sie  soll  die  Schnauze  halten!"  sagte
Caligula.  Man  applaudierte. Der Mann  m der  ersten Tischreihe  wurde rot.
Seine Frau fühlte sich geschmeichelt. "Ruhe, ihr Armleuchter!" rief Caligula
und  hob  die Hände. Es wurde ruhig. "War die Tanzdarbietung nicht  geradezu
ein Erlebnis?"
     "Jawohl", brüllten alle.
     "Aber es kommt noch  besser.  Jetzt schicke ich einen  heraus, der Paul
Müller heißt. Er ist aus Tolkewitz. Das liegt  in Sachsen. Paul Müller
spricht sächsisch  und  gibt  vor,  Rezitator  zu  sein. Er wird Ihnen  eine
Ballade vortragen. Machen Sie sich auf das Äußerste gefaßt. Paul
Müller aus Tolkewitz ist, wenn nicht alles täuscht, verrückt. Ich habe keine
Kosten  gescheut, diese  wertvolle Kraft für mein Kabarett zu gewinnen. Denn
ich kann es nicht dulden, daß nur im Zuschauerraum Verrückte sind."
     "Das geht entschieden zu  weit!" rief ein Besucher, dessen  Gesicht mit
Schmißnarben verziert  war. Er  war aufgesprungen und zog sich  empört
das  Jackett  straff.  "Hin­setzen!" sagte  Caligula  und verzog  den  Mund.
"Wissen Sie, was Sie sind? Ein Idiot!"
     Der Akademiker rang nach Luft.
     "Im  übrigen", fuhr der Kabarettinhaber  fort,  "im  übrigen meine  ich
Idiot nicht in beleidigendem Sinn, sondern als Charakteristikum."
     Die  Leute lachten und klatschten.  Der  Herr mit den Schmissen und der
Empörung wurde von seinen Bekannten auf den Stuhl gezogen und beschwichtigt.
Caligula nahm eine Klingel in die Hand,  schellte wie  ein Nachtwächter  und
rief: "Paul Müller, erscheine!" Dann ver­schwand er.
     Aus dem Hintergrund nahte ein langaufgeschossener, ungewöhnlich blasser
Mensch in abgerissener Kleidung. "Tag, Müller!" brüllte man.
     "Er ist zu schnell gewachsen", meinte jemand.
     Paul Müller verbeugte sich,  zeigte  herausfordernden Ernst im Gesicht,
fuhr sich durch die  Haare und preßte dann die Hände vor die Augen. Er
sammelte sich.  Plötzlich zog  er  die Hände vom  Gesicht fort, streckte sie
weit von sich, spreizte die Finger, riß die Augen auf und sagte:  "Die
Todesfahrt von Paul Müller." Dann trat er noch einen Schritt vor.
     "Fall  nicht  runter!"  rief  die  Dame,  der  von Caligula  eigentlich
befohlen worden  war, die Schnauze zu halten. Paul  Müller machte aus  Trotz
noch ein  Schrittchen, blickte verächtlich  auf  das Publikum  da unten  und
begann wieder: "Die Todesfahrt von Paul Müller."

     "Das war der Graf von Hohenstein.
     Der sperrte seine Tochter ein.
     Sie liebte einen Offizier.
     Der Vater sprach: "Du bleibst bei mir"!"

     In  diesem   Augenblick  warf   jemand   aus  dem  Publikum  ein  Stück
Würfelzucker auf die Bühne. Paul Müller bückte sich, steckte  den Zucker ein
und fuhr mit unheilschwangerer Stimme fort:

     "Da half nur Flucht, und die Komteß
     entfloh in ihrem zehn PS.
     Sie steuerte durch Nacht und Not.
     Doch auf dem Kühler saß der Tod!"

     Wieder warf man Zucker auf die Bühne. Vermutlich saßen Stammgäste
in dem Raum, die den Gewohnheiten der Künstler Rechnung trugen. Andere Gäste
folgten  dem  Beispiel,  und  allmählich  kam  ein  Würfelzuckerbombardement
zustande,  dem Müller dadurch zu begegnen  wußte,  daß  er  sich
dauernd bückte.
     Es entwickelte  sich  ein  Balladenvortrag  mit  Kniebeugen.  Auch  mit
aufgerissenem  Mund   versuchte  Müller,   den   ihm   zufliegenden   Zucker
aufzufangen.  Sein Gesicht wurde immer drohender. Seine  Stimme klang  immer
schwärzer. Man  entnahm  der  Rezitation,  daß  in jener schrecklichen
Nacht nicht  nur die Komteß Hohenstein Auto fuhr, um zu ihrem Offizier
zu  gelangen, sondern daß auch der  Geliebte in seinem Wagen unterwegs
war und sich dem Schloß näherte, wo er das Fräulein vermutete, während
sie   ihm   doch  entgegeneilte.  Da   die   zwei   Liebenden   die  gleiche
Landstraße  benutzten,   da  es  sich  ferner  um  eine  ausgesprochen
regnerische,  neblige  Nacht  handelte,  und  da  das  Gedicht  "Todesfahrt"
hieß, war mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchten, daß
die beiden Autos  zusammen­stoßen würden. Paul  Müller beseitigte auch
den letzten Zweifel darüber.
     "Mach  den Mund zu,  sonst fallen dir die Sägespäne  aus dem  Schädel!"
brüllte eine Stimme. Aber das Autounglück war nicht mehr aufzuhalten.

     "Das Auto jenes Offiziers
     kam links gefahren, rechts kam ihrs.
     Der Nebel war entsetzlich dick.
     Und so vollzog sich das Geschick.
     Von links ein Schrei,
     von rechts ein Schrei - "

     "Das macht nach Adam Riese zwei!" schrie jemand. Die  Leute johlten und
klatschten. Sie  hatten von  Paul Müller genug und waren auf den Ausgang der
Tragödie nicht länger neugierig.
     Er deklamierte weiter. Aber man sah nur, daß er den Mund bewegte.
Zu hören war nichts, die Todesfahrt ging im Lärm der Überlebenden  unter. Da
packte den dürren Balladendichter die blasse  Wut.  Er sprang vom Podium und
rüttelte die Dame derartig an den Schultern, daß ihr die Zigarette aus
dem Mund und in den blauseidenen Schoß fiel. Sie sprang schreiend auf.
Ihr  Begleiter erhob  sich  ebenfalls und schimpfte. Es klang, als belle ein
Hund. Paul Müller gab dem  Kavalier  einen Stoß, daß  er  in den
Stuhl zurücktaumelte.
     Da tauchte  Caligula  auf. Er  war wütend  und glich einem knirschenden
Tierbändiger,  zog den Mann aus Tolkewitz an der Krawatte und führte ihn ins
Künstler­zimmer.
     "Pfui Teufel", sagte Labude, "unten Sadisten und oben Verrückte."
     "Dieser  Sport  ist  international",  meinte Fabian, "in  Paris gibt es
dieselbe Sache. Dort schreien die Zuschauer: "Tue-le!" und dann schiebt sich
eine  riesengroße  hölzerne  Hand  aus der Kulisse  und  schaufelt den
Ärmsten aus dem Gesichtskreis. Er wird weggefegt!"
     "Caligula nennt sich der  Bursche.  Er  kennt  sich  aus. Sogar  in der
römischen  Geschichte."  Labude  stand  auf und ging.  Er hatte genug.  Auch
Fabian  erhob  sich. Da schlug ihn  jemand derb auf die Schulter. Er  drehte
sich um. Der Mann strahlte über  das ganze Gesicht und rief vergnügt: "Alter
Junge, wie geht's dir denn?"
     "Danke, gut."
     "Nein, wie  ich mich  freue, dich  altes  Haus mal wiederzusehen!"  Der
Akademiker  gab Fabian einen Freuden­stoß  vor  den Brustkasten, genau
auf  einen der  Hemdknöpfe.  "Kommen Sie",  meinte Fabian,  "prügeln wir uns
draußen  weiter!" Dann drängte er sich, zwischen Stühlen hindurch,  in
den Vorraum. "Mein Lieber", sagte  er zu Labude, der sich den  Mantel anzog,
"wir wol­len schnell machen. Eben hat mich einer ununterbrochen geduzt." Sie
nahmen die Hüte. Aber es war schon zu spät.
     Der Mann  mit den Schmissen  schob  eine  sommersprossige Frau vor sich
her, als könne sie nicht allein laufen, und sagte zu ihr: "Siehst  du, Meta,
der Herr war auf dem Pennal unser Primus." Und  zu Fabian sagte er: "Das ist
meine Frau, alter Knabe. Meine bessere Hälfte gewissermaßen. Wir leben
in Remscheid. Ich habe den Assessor an den Nagel gehängt und bin im Geschäft
meines Schwiegervaters.  Wir machen Badewannen.  Wenn  du mal eine  brauchen
solltest, kannst  du sie zum Engrospreis  haben! Haha! Ja, es geht mir  gut.
Danke,  glückliche  Ehe,  Wohnung  in  einem Zweifamilienhaus,  großer
Garten  dahinter,  nicht ganz  ohne Bargeld,  Kind haben wir auch, aber noch
nicht lange."
     "Es ist erst so groß", entschuldigte sich Meta und zeigte mit den
Händen,  wie klein  das Kind war.  "Es  wird  schon noch  wachsen", tröstete
Labude.  Die Frau blickte ihn dankbar an und hängte sich bei ihrem Mann ein.
"Also, alter Schwede",  fing der Akademiker wieder an, "nun erzähle mal, was
du die ganze Zeit über gemacht hast."
     "Nichts  Besonderes", bemerkte Fabian. "Augenblicklich  bastle  ich  an
einer Weltraumrakete. Ich will mir mal den Mond ansehen."
     "Ausgezeichnet",  rief der  Mann, der in  die Badewannen  eingeheiratet
hatte. "Deutschland allen voran! Und wie geht's deinem Bruder?"
     "Sie überschütten  mich  mit  frohen  Neuigkeiten,  mein  Herr",  sagte
Fabian.  "Ein  Brüderchen  habe ich  mir  schon  lange  gewünscht.  Nur eine
bescheidene Zwischenfrage: Wo sind Sie eigentlich aufs Gymnasium gegangen?"
     "In Marburg natürlich."
     Fabian  hob bedauernd  die Schultern.  "Es soll eine  bezaubernde Stadt
sein, aber ich kenne Marburg leider gar nicht."
     "Dann  entschuldigen  Sie   vielmals",  knarrte  der   andere.  "Kleine
Verwechslung,  täuschende Ähnlichkeit, nichts  für ungut."  Er  knallte  die
Absätze  zusammen, befahl:  "Komm,  Meta!" und entfernte sich.  Meta blickte
Fabian  verlegen  an,  nickte  Labude  zu  und folgte  dem  Gemahl. "So  ein
dämlicher Affe!"  Fabian war entrüstet. "Spricht wildfremde Leute an und tut
familiär. Ich  habe diesen Caligula im Verdacht,  daß die Anpöbelei zu
seiner Kabarettregie gehört."
     "Das  glaube ich  nicht", meinte  Labude.  "Die Badewannen waren sicher
echt, und das entsetzlich kleine Kind auch." Sie  gingen  heimwärts.  Labude
schaute trübselig aufs Pflaster. "Es ist eine Schande", sagte er  nach einer
Weile.  "Dieser  gewesene Assessor hat  eine  Wohnung,  einen Garten,  einen
Beruf,  eine  Frau mit Sommersprossen  und  was noch  alles.  Und  unsereins
vegetiert herum wie ein Landstreicher  ohne Land, man hat noch keinen festen
Beruf, man hat kein festes Einkommen, man hat kein festes Ziel und nicht mal
eine feste Freundin."
     "Du hast doch Leda."
     "Und was mich besonders aufbringt", fuhr  Labude fort, "so ein Kerl hat
ein eigenes, selbstgemachtes Kind."
     "Sei nicht  neidisch",  sagte Fabian,  "dieser  juristisch vorgebildete
Badewannenfabrikant ist  ein  Ausnahmefall.  Wer  von den Leuten, die  heute
dreißig Jahre  alt sind,  kann  heiraten? Der eine ist arbeitslos, der
andere verliert morgen seine Stellung.  Der dritte hat noch nie eine gehabt.
Unser Staat ist  darauf,  daß Generationen nachwachsen, momentan nicht
eingerichtet. Wem  es dreckig geht,  der bleibt am besten allein, statt Frau
und Kind an seinem Leben proportional zu beteiligen. Und wer trotzdem andere
mit hineinzieht, der handelt  mindestens  fahrlässig. Ich weiß  nicht,
von wem der Satz stammt, daß geteiltes Leid halbes Leid sei, aber wenn
der Quatschkopf noch leben sollte,  dann wünsche ich  ihm  zweihundert  Mark
monatlich und eine achtköpfige Familie.  Da soll er sein Leid so lange durch
acht dividieren, bis er schwarz wird."  Fabian  sah den Freund von der Seite
an.  "Übrigens,  wozu bedrückt dich das? Dein Vater gibt dir doch Geld.  Und
wenn  du  die  Venia  legendi   hast,   wirst  du  noch  ein  paar  Groschen
dazuverdienen. Dann heiratest du Leda, und deinen Vaterfreuden  steht nichts
mehr im Wege."
     "Es gibt ja auch andere Schwierigkeiten außer den  ökonomischen",
sagte Labude, blieb  stehen und winkte einem Taxi. "Sei mir nicht böse, wenn
ich jetzt allein sein will. Kannst du mich morgen bei meinen Eltern abholen?
Ich muß dir  verschiedenes erzählen." Er  drückte dem  Freund etwas in
die Hand und stieg in den wartenden Wagen.
     "Handelt es sich um Leda?"  fragte Fabian durchs offene Fenster. Labude
nickte  und senkte den  Kopf. Das Auto fuhr an. Der andere blickte dem Wagen
nach. "Ich komme!" rief er. Doch  das Auto  war schon weit weg, und das rote
Schlußlicht konnte  ein  Glühwürmchen sein.  Dann  besann er  sich und
stellte fest, was er in der Hand hielt. Es war ein Fünfzigmarkschein.


     ACHTES KAPITEL

     Studenten treiben Politik
     Labude sen. liebt das Leben
     Die Ohrfeige an der Außenalster

     Labudes Eltern bewohnten im Grunewald  einen  großen griechischen
Tempel.  Eigentlich war es kein  Tempel, sondern eine  Villa. Und eigentlich
bewohnten sie die Villa gar nicht. Die Mutter war viel auf  Reisen, meist im
Süden, in einem Landhaus bei Lugano. Erstens gefiel es ihr am Lago di Lugano
besser  als  am Grunewaldsee. Und  zweitens fand  Labudes  Vater,  die zarte
Gesundheit seiner Frau erfordere südlichen Aufenthalt. Er liebte  seine Frau
sehr, besonders in ihrer Abwesenheit. Seine  Zuneigung wuchs im  Quadrat der
Entfernung, die  zwischen  ihnen lag. Er war  ein bekannter  Verteidiger. Da
seine  Klienten viel  Geld  und viele Prozesse hatten, hatte  auch er  viele
Prozesse und  viel Geld. Die Aufregungen des Berufs, den er liebte, genügten
ihm nicht.  Fast jede Nacht saß er in  Spielklubs. Die Ruhe, die  sein
Haus  verbreitete,  war  ihm  höchst zuwider. Und  die  vorwurfsvollen Augen
seiner  Frau brachten  ihn  zur Verzweiflung.  Da  beide  befürchteten,  den
anderen  anzutreffen, mieden  beide die  Villa,  sooft das möglich war.  Und
Stephan, der Sohn, mußte, wenn er seinen Eltern  begegnen wollte,  auf
die  Gesellschaften   gehen,  die   sie  im   Winter  gaben.  Da  ihn  diese
Veranstaltungen von  Jahr zu  Jahr mehr abstießen, bis er  sie endlich
nicht mehr besuchte, traf er seine Eltern nur noch aus Versehen.
     Das  meiste, was er  über den  Vater wußte,  hatte er einmal  von
einer jungen Schauspielerin erfahren. Das war auf einem  Maskenball gewesen,
und sie  hatte ihm  sehr  eingehend  den Mann  geschildert,  der  sie damals
finanzierte. Leichtfertige  Frauen  versuchen ja gelegentlich,  Liebhaber zu
erwerben, indem sie die intimen Sitten und Gebräuche der ehemaligen Besitzer
ausplauderten.  Im  Laufe  des  Gesprächs  hatte   es  sich  herausgestellt,
daß von Justizrat Labude die Rede gewesen war,  und  Stephan hatte das
Fest fluchtartig verlassen. Fabian kam  nicht gern m  die Grunewaldvilla. Er
empfand den Aufwand, den solche Häuser mit  sich treiben lassen, als albern.
Er  konnte  sich  überhaupt  nicht  vorstellen,  daß  man   mitten  in
derartigem Luxus das Gefühl, man sei nur auf Besuch, jemals loswerden könne.
Und  er  fand  es,  von  allen  anderen  Gründen  abgesehen,  schon  deshalb
vollkommen  in  Ordnung,  daß  sich Labudes  Eltern in dem  Wohnmuseum
entfremdet hatten.
     "Schrecklich", sagte er  zu  dem Freund, der am Schreibtisch saß,
"jedesmal, wenn ich  hierher  komme,  erwarte ich, daß mir euer Diener
Filzpantoffeln überzieht und mit einer Schloßführung beginnt. Falls du
mir erzählen solltest, daß der Große Kurfürst auf  diesem  Stuhl
hier in  die Schlacht von Fehrbellin  geritten ist, könnte  ich mich  bereit
erklären, es zu glauben. Im übrigen danke ich dir für das Geld."
     Labude winkte  ab. "Du weißt, daß ich mehr davon habe,  als
notwendig ist.  Lassen wir das. Ich bat dich  hierher, weil ich dir erzählen
will, was mir in Hamburg passiert ist."
     Fabian stand auf und setzte sich aufs Sofa. Jetzt befand er sich hinter
Labudes  Rücken, und  der Freund brauchte ihn  während des  Sprechens  nicht
anzusehen.  Sie blickten beide  zum Fenster hinaus, auf grüne  Bäume und auf
rote  Villendächer.  Das  Fenster war  offen, und  manchmal  kam  ein Vogel,
spazierte auf dem  Fensterbrett  hin und her,  musterte mit schiefgehaltenem
Kopf  das Zimmer und flog wieder in den Garten zurück.  Außerdem hörte
man, wie jemand mit einem Rechen die Kieswege harkte.
     Labude sah  starr in  die Zweige  des nächsten  Baumes. "Rassow schrieb
mir,  er  spräche  im  Hamburger  Auditorium  Maximum,  vor Studenten  aller
Richtungen,  über  das Thema "Tradition  und Sozialismus". Und er schlug mir
vor, als Korreferent oder im Rahmen  der Diskussion  von meinen  politischen
Plänen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag  begann. Rassow berichtete
den Studenten von  seiner Rußlandreise  und von seinen Erfahrungen und
Gesprächen mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern. Er  wurde von  den
Vertretern  der  sozialistischen  Studentenschaft  wiederholt  unterbrochen.
Anschließend  sprach  ein  Kommunist und  wurde  seinerseits  von  den
Bürgerlichen  gestört.  Dann  kam  ich an  die  Reihe.  Ich  skizzierte  die
kapitalistische Situation Europas und stellte die  Forderung auf,  daß
die   bürgerliche   Jugend   sich  radikalisieren   und  daß  sie  den
kontinentalen  Ruin,  der von allen Seiten, passiv  oder aktiv,  vorbereitet
wird,  aufhalten  müsse.  Diese  Jugend,  sagte  ich,  sei  im  Begriff,  in
absehbarer  Zeit  die  Führerschaft  in  Politik, Industrie, Grundbesitz und
Handel zu übernehmen, die Väter  hätten abgewirtschaftet, und es  sei unsere
Aufgabe,  den  Kontinent  zu  reformieren:  durch  freiwillige  Kürzung  des
privaten Profits, durch Zurückschraubung  des  Kapitalismus  und der Technik
auf ihre vernünftigen Maße, durch  Steigerung der sozialen Leistungen,
durch kulturelle  Vertiefung der Erziehung und  des  Unterrichts. Ich sagte,
diese  neue  Front,  diese  Querverbindung der Klassen  sei möglich, da  die
Jugend  wenigstens  die Elite,  den  hemmungslosen Egoismus verabscheue  und
außerdem  klug genug sei,  eine  Zurückführung in organische  Zustände
einem  unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems  vorzuziehen. Wenn es schon
ohne Klassenherrschaft nicht  abgehe, sagte ich, dann solle man sich für das
Regime  unserer  Altersklasse entscheiden.  Bei  den Vertretern der extremen
Gruppen erntete mein  Vortrag die übliche  Heiterkeit. Aber  als Rassow  den
Antrag zur  Bildung einer radikal-bürgerlichen  Initiative  einbrachte, fand
das doch Beifall.  Die Gruppe kam zustande. Wir entwarfen einen  Aufruf, der
an  alle  europäischen Universitäten verschickt werden wird. Rassow, ich und
ein paar andere wollen die  deutschen Hochschulen besuchen,  Vorträge halten
und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen,  mit  den sozialistischen  Studenten
eine  Art Kartellverbindung einzugehen.  Wenn  wir  an  allen  Universitäten
Gruppen  gebildet  haben,  werden  von  diesen  auch  andere  intellektuelle
Körperschaften bearbeitet. Die  Sache  kommt in Gang. Ich  habe  dir gestern
nichts davon erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne."
     "Ich freue mich",  sagte Fabian, "ich freue mich sehr, daß du nun
an  die Verwirklichung deines Planes herangehen  kannst.  Hast du dich schon
mit  der  Gruppe  der unabhängigen  Demokraten  in  Verbindung  gesetzt?  In
Kopenhagen ist ein "Club Europa" gebildet worden, notiere es dir. Und ärgere
dich nicht zu sehr über meine  Zweifel an der  Gutartigkeit  der Jugend. Und
sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht
jemals  heiraten  werden. Es handelt sich leider um  eine Antinomie. Ich bin
der Überzeugung, daß es  für die Menschheit, so wie  sie ist, nur zwei
Möglichkeiten gibt.  Entweder ist man  mit seinem Los  unzufrieden, und dann
schlägt man einander tot, um die Lage  zu verbessern, oder man  ist, und das
ist eine  rein theoretische Situation,  im  Gegenteil  mit sich und der Welt
einverstanden,  dann bringt man  sich  aus  Langeweile  um.  Der Effekt  ist
derselbe.  Was nützt  das göttliche System,  solange der  Mensch ein Schwein
ist? Aber was meinte Leda dazu?"
     "Sie enthielt sich jeder Meinung. Denn sie war gar nicht dabei."
     "Warum denn nicht?"
     "Sie wußte nicht, daß ich in Hamburg war."
     Fabian erhob sich erstaunt, setzte sich aber schweigend wieder hin.
     Labude  breitete  die  Arme  aus  und  hielt  sich  an  den  Ecken  der
Schreibtischplatte  fest.  "Ich  wollte  Leda überraschen.  Ich  wollte  sie
heimlich  beobachten. Denn ich war mißtrauisch  geworden.  Wenn man in
jedem  Monat nur  zwei Tage und  eine Nacht  beisammen  ist,  dann  wird die
Beziehung unterminiert,  und wenn  so  ein  Zustand, wie bei  uns, jahrelang
dauert,  geht  die  Beziehung  in die Brüche. Das  hat  mit der Qualität der
Partner nicht sehr viel zu tun, der Vorgang ist zwangsläufig. Ich machte dir
vor Monaten einmal Andeutungen, daß Leda sich verändert habe. Sie fing
an, sich zu verstellen.  Sie markierte. Die Begrüßung auf dem Bahnhof,
die Zärtlichkeit des Gesprächs, die Leidenschaft im Bett, alles war nur noch
Theater."
     Labude  hob den  Kopf  kerzengerade. Er  sprach sehr leise.  "Natürlich
entfremdet man  sich.  Man  weiß nicht mehr,  welche Sorgen der andere
hat.  Man  kennt  die  Bekannten  nicht,  die  er findet. Man  sieht  nicht,
daß er  sich verwandelt, und weswegen er's tut.  Briefe sind zwecklos.
Und dann reist man hin, gibt sich  einen Kuß, geht ins Theater,  fragt
nach Neuigkeiten,  verbringt  eine Nacht miteinander und trennt sich wieder.
Vier   Wochen   später   vollzieht  sich  derselbe  Unfug.  Seelische  Nähe,
anschließend Geschlechtsverkehr nach dem Kalender, mit der  Uhr in der
Hand. Es ist unmöglich, sie in Hamburg, ich in Berlin, die Liebe krepiert an
der Geographie."
     Fabian nahm  eine Zigarette und  strich das  Zündholz  behutsam an, als
fürchte er, der Reibfläche weh zu tun. "Ich habe in den letzten Monaten  vor
jeder  dieser Zusammenkünfte Angst gehabt.  Ich  hätte  Leda,  wenn  sie mit
geschlossenen  Augen dalag, sich zitternd unter mir bewegte und mich mit den
Armen umklammerte, das Gesicht wie eine Maske abreißen mögen. Sie log.
Aber wen wollte sie belügen? Nur mich, oder sich selber auch? Da sie, obwohl
ich  sie  brieflich   wiederholt  dazu  aufforderte,  Erklärungen   vermied,
mußte ich tun,  was ich  tat. Ich verabschiedete mich in der Nacht, in
der wir  die Initiativgruppe  gegründet hatten, von  Rassow und  den anderen
sehr bald  und begab mich zu dem Haus, in dem Leda wohnt.  Die Fenster waren
dunkel. Vielleicht schlief  sie schon. Aber mir war nicht nach Logik zumute.
Ich wartete." Labudes Stimme schwankte. Er  griff auf den Schreibtisch, nahm
mehrere Bleistifte  und rollte sie nervös zwischen den Händen. Das hölzerne,
klappernde Geräusch begleitete den  Fortgang des Berichts. "Die Straße
ist  breit  und  nur  an einer  Stelle  bebaut.  Die andere Seite grenzt  an
Blumenbeete,   Wiesen,   Wege   und   Gebüsch,   und   dahinter   liegt  die
Außenalster.  Dem Haus  gegenüber steht eine Bank. Dorthin setzte  ich
mich,   rauchte   zahllose  Zigaretten   und  wartete.  So  oft  jemand  die
Straße entlang kam, dachte  ich, das müsse Leda sein. So saß ich
von zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, ersann heftige Gespräche und böse
Bilder.  Und  die  Zeit  verging.  Kurz  nach  drei  bog  ein  Taxi  in  die
Straße und  hielt vor dem Haus. Ein großer schlanker Mann  stieg
aus und bezahlte den Chauffeur. Dann sprang eine  Frau  aus dem Wagen, eilte
zur  Tür,  schloß  auf,  trat ins  Haus, hielt die  Tür, bis der  Mann
gefolgt war,  und schloß  von innen wieder zu.  Das Auto fuhr  in  die
Stadt zurück."
     Labude war aufgestanden. Er warf  die Bleistifte auf  den Schreibtisch,
ging rasch  im Zimmer  auf und ab und machte  in der  äußersten  Ecke,
dicht vor der Wand, halt. Er blickte auf  das Tapetenmuster und zeichnete es
mit dem Finger nach. "Es  war  Leda. In ihren Fenstern wurde Licht. Ich sah,
wie sich zwei Schatten  hinter den  Gardinen bewegten.  Das Wohnzimmer wurde
wieder  dunkel. Jetzt erhellte sich  das Schlafzimmer. Die  Balkontür  stand
halb offen. Manchmal hörte ich Leda lachen. Du  entsinnst dich, sie lacht so
merkwürdig  hoch. Manchmal war  es ganz still, droben im Haus und  unten auf
meiner Straße, und ich hörte bloß, wie mein Herz schlug."
     In  diesem  Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat Labude trat
ein, ohne Hut und Mantel. "Tag, Stephan!" sagte er, kam näher und gab seinem
Sohn die  Hand.  "Lange  nicht  gesehen,  was?  War ein paar Tage unterwegs.
Mußte  mal  ausspannen. Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie
geht's?  Siehst schlecht  aus.  Sorgen? Was  über  die  Habilitationsschrift
gehört? Nein? Langweilige Bande.  Hat Mutter geschrieben? Mag noch ein  paar
Wochen  bleiben.  Heißt mit Recht Paradiso, das Nest. Hat's  die  Frau
gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gespräche,  wie? Gibt  es ein  Fortleben nach
dem Tode? Im  Vertrauen gesagt, es gibt keins. Muß alles vor  dem Tode
erledigt werden. Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht."
     "Fritz, nun komm aber endlich!" rief im Treppenhaus eine Frauenstimme.
     Der Justizrat  zuckte  die Achseln. "Da  habt ihr's.  Kleine  Sängerin,
großes  Talent, keine Beschäftigung.  Kann sämtliche Opern  auswendig.
Bißchen laut  auf die  Dauer.  Na,  Wiedersehen. Amüsiert euch lieber,
statt die Menschheit  zu  erlösen. Wie gesagt, das Leben muß  noch vor
dem Tode erledigt werden.  Zu näheren Auskünften bin ich gerne bereit. Nicht
so ernst, mein Junge."  Er gab  beiden die Hand,  ging und warf  die Tür ins
Schloß.  Labude  hielt  sich  nachträglich  die Ohren zu, trat  an den
Schreibtisch, dachte eine Weile nach und fuhr dann in seiner Erzählung fort:
"Gegen  fünf  Uhr früh begann  es zu  regnen.  Nach  sechs hörte es auf. Der
Himmel wurde  hell, und der Tag  fing an. In  dem  Schlafzimmer brannte noch
immer  Licht.   Das   sah  im  Morgengrauen  seltsam   aus.  Um  sieben  Uhr
verließ der Mensch  das  Haus. Er pfiff, als er aus  der Tür trat, und
blickte nach oben. Leda stand in ihrem japanischen Schlafrock auf dem Balkon
und  winkte. Er winkte wieder. Sie  breitete den Schlafrock für einen Moment
noch einmal auseinander, damit er ihren Körper noch einmal sehe. Er warf ein
Kußhändchen,  es  war zum Speien.  Er ging pfeifend  die  Straße
hinunter. Ich senkte den Kopf. Oben wurde die Balkontür geschlossen."
     Fabian wußte  nicht,  wie  er sich  verhalten  sollte.  Er  blieb
sitzen.  Plötzlich  hob  Labude  den  Arm und  schlug mit der Faust  auf den
Schreibtisch. "Diese Kanaille!" schrie er. Fabian sprang  vom Sofa, aber der
andere winkte  ab  und  sagte ganz ruhig: "Schon gut.  Höre weiter.  Mittags
telefonierte ich. Sie war erfreut, daß ich wieder einmal bei  ihr sei.
Warum  ich nicht geschrieben  habe.  Ob ich um fünf  Uhr  kommen  wolle. Die
wissenschaftlichen Arbeiter hörten seit ein paar Wochen früher auf. Ich lief
durchs Hafenviertel, bis es soweit war. Dann fuhr ich hin. Sie hatte Tee und
Kuchen  zurechtgestellt und begrüßte  mich zärtlich.  Ich  trank  eine
Tasse  Tee  und sprach  über  gleichgültige  Dinge.  Dann  begann  sie  sich
automatisch zu entkleiden, nahm den  Kimono um und legte sich auf die Couch.
Da fragte ich, wie sie darüber dächte, wenn wir unsere Beziehung lösten. Sie
fragte, was  mit mir los sei.  Es gelte doch  für ausgemacht,  daß wir
heiraten, sobald ich mich habilitiert habe. Ob ich sie nicht mehr liebe. Ich
erklärte,  daß  es sich  darum  jetzt  nicht  handle.  Die  zunehmende
Entfremdung, an der sie die Schuld  trage, lasse das Auseinandergehen ratsam
erscheinen.
     Sie rekelte sich, gab dem Schlafrock Gelegenheit, zur Seite zu gleiten,
und  meinte mit  kindlicher  Stimme, ich  sei so  kalt.  Und die Entfremdung
scheine,  wie die unzweideutige Situation eindeutig beweise, eher an mir als
an ihr zu  liegen. Sie gab zu, daß es schwer sei, die Strecke zwischen
Hamburg und Berlin  seelisch zu überbrücken. Und in sexueller Beziehung gebe
es Konflikte. Wenn sie mich haben wolle, sei ich  nicht da,  und wenn ich da
sei, müsse die Liebe wie ein Mittagbrot erledigt  werden,  ob man Hunger hat
oder nicht. Aber  wenn  wir erst verheiratet  wären,  würde das anders.  Ich
solle  übrigens  nicht  böse  sein.  Sie  habe  vor  mehreren  Wochen  einen
ärztlichen Eingriff vornehmen lassen. Sie wolle unsere Kinder als meine Frau
zur  Welt bringen,  nicht  vorher.  Mitgeteilt habe sie  mir  diesen kleinen
Unfall nicht,  um  mich nicht  zu  ängstigen.  Sie sei aber  wieder auf  dem
Posten, und ich solle mich endlich neben sie setzen. Sie habe Sehnsucht.
     "Von  wem war das wieder rückgängig  gemachte  Kind?" fragte  ich.  Sie
setzte sich auf und zog ein gekränktes Gesicht.
     "Und  wer war der Mann, der heute nacht bei dir  schlief  ?" fragte ich
weiter.
     "Du  siehst Gespenster",  sagte  sie.  "Du  bist eifersüchtig,  es  ist
geradezu albern."
     Da gab ich ihr eine Ohrfeige und ging  fort.  Sie lief  hinter mir her,
die  Treppe hinunter, bis  vor die Tür. Dort stand  sie, nackt,  im wehenden
Schlafrock, nachmittags gegen sechs, und  rief, ich solle bleiben.  Aber ich
rannte davon und fuhr zur Bahn."
     Fabian trat hinter Labude  und legte  die Hände  auf  die Schultern des
Freundes. "Warum hast du mir das nicht schon gestern erzählt?"
     "Na, ich komme schon darüber weg", sagte Labude.
     "Mich so zu belügen."
     "Aber was hätte sie tun sollen? Die Wahrheit sagen?"
     "Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Mir  ist, als  sei  ich schwer
krank gewesen!"
     "Du bist noch krank", meinte Fabian. "Du hast sie noch lieb."
     "Das ist wahr",  sagte Labude. "Aber  ich bin  schon  mit ganz  anderen
Kerlen fertig geworden als mit mir."
     "Wenn sie dir nun schreibt?"
     "Der Fall ist erledigt. Ich  habe  fünf  Jahre  damit zugebracht, unter
einer falschen Voraussetzung zu leben, das  reicht. Das Schlimmste habe  ich
dir noch nicht gesagt. Sie liebt mich nicht, und sie  hat mich noch nie lieb
gehabt! Erst jetzt, nach dem Schlußstrich, geht plötzlich die Rechnung
auf.  Erst als sie neben mir lag und mich kaltblütig belog, verstand ich die
vergangenen Jahre. In fünf Minuten verstand ich alles. Zu den Akten!" Labude
schob  den Freund zur Tür. "Jetzt gehen wir. Ruth Reiter hat uns eingeladen.
Komm, ich habe verschiedenes nachzuholen."
     "Wer ist Ruth Reiter?"
     "Ich  lernte sie heute kennen. Sie hat ein Atelier und bildhauert, wenn
man ihr  glauben darf." "Modellstehen  wollte ich  schon  immer  mal", sagte
Fabian und zog den Mantel an.


     NEUNTES KAPITEL

     Sonderbare junge Mädchen
     Ein Todeskandidat wird lebendig
     Das Lokal heißt "Cousine"

     "Endlich ein paar  Männer!" rief die Reiter.  "Macht's euch bequem. Die
Kulp hat  gerade  gestöhnt, so ginge  das  nicht weiter. Sie hat  zwei  Tage
keinen Mann gehabt,  und  der letzte war auch bloß ein Verkehrsunfall.
Sie   ist  Modezeichnerin,   und  der  Kerl   hätte  ihr,  ohne  die  kleine
Gegenleistung, keinen  Auftrag  gegeben.  Ein  beinahe impotenter  Lebegreis
war's, sagte sie."
     "Das   sind   die   Schlimmsten",   meinte   Labude.   "Sie   probieren
ununterbrochen, um  nachzusehen, ob  sich  der Scha­den  inzwischen  behoben
hat." Er blickte sich nach dem Mädchen um, das Kulp hieß.
     Sie hockte, mit hochgezogenen Beinen, auf einer Chaiselongue und winkte
ihm.
     l.abude  setzte sich neben die Kulp.  Fabian wartete  unschlüssig.  Das
Atelier war groß. In der  Mitte des Raumes, unter der Lampe, vor einer
Reihe von  Skulpturen,  stand ein holzgezimmerter  Tisch, und auf dem  Tisch
saß  eine nackte, dunkelhaarige  Frau.  Die  Reiter kauerte  auf einem
Schemel, nahm den Skizzenblock und zeichnete.  "Abendakt",  erläuterte  sie,
ohne  sich  umzudrehen.  "Heißt  Selow.  Neue  Position, mein  Schatz!
Stehend, Beine breit, Oberkörper rechtwinklig drehen.  So,  Hände im  Nacken
ver­schränken. Halt!" Die  nackte  Frau,  die  Selow hieß, hatte  sich
aufgerichtet  und stand nun breitbeinig  auf  dem Tisch.  Sie war vorzüglich
gebaut und  blickte  gleichgültig, aus  schwermütigen Augen,  vor  sich hin.
"Baron, was zu trinken, mich friert", sagte sie plötzlich.
     "Wahrhaftig, Fräulein  Selow hat überall Gänsehaut",  pflichtete Fabian
bei. Er war nähergetreten und stand vor  dem Modell wie ein Kunstkenner  vor
einer weiblichen Bronze.
     "Berühren  verboten!"  Die Stimme der  Bildhauerin klang  äußerst
unfreundlich.
     Fräulein  Kulp, die sich  in  Labudes Armen  wie in  warmem  Badewasser
dehnte, rief Fabian zu: "Hand von der Butter.  Der  Baron  ist eifersüchtig.
Sie hat mit dem Abendakt ein gutgehendes Verhältnis."
     "Halt  den  Rand!"  knurrte die Reiter. "Labude, wenn Sie  mit der Kulp
etwas Unaufschiebbares vorhaben sollten,  genieren Sie sich nicht.  Ich habe
nur diesen Raum, aber der ist an Kummer gewöhnt."
     Labude äußerte, er habe moralische Bedenken.
     "Was  es so alles gibt",  meinte  die  Kulp traurig. Die Reiter blickte
vorübergehend von ihrem Block hoch und sah Fabian an. "Falls Sie sich an der
Kulp beteiligen wollen, halten Sie sich ran! Ihr braucht weiter  nichts dazu
als einen Groschen. Labude wählt Wappen. Sie nehmen Zahl. Die Kulp wirft den
Groschen  hoch,  das  regt ihr  Sonnengeflecht an.  Wer oben liegt,  hat den
Vortritt."
     "Welche  tiefe  Wahrheit!" rief die  Kulp.  "Aber  einen  Groschen?  Du
verdirbst die Preise!"
     Fabian sagte höflich, er sei kein  Freund von Glücksspielen. Die nackte
Frau stampfte mit dem Fuß auf: "Was zu trinken!"
     "Battenberg,  neben deinem  Lehnstuhl steht ein Tischchen, und auf  dem
Tischchen steht Gin. Gib doch mal was rüber."
     "Gern", sagte eine Stimme. Hinter den Statuen klirrte es. Dann trat ein
fremdes Mädchen in  den  Lichtkreis  der Lampe und reichte dem Abendakt  ein
gefülltes  Glas.  Fabian war überrascht.  "Wie viele  weibliche  Wesen  sind
eigentlich hier?" fragte er.
     "Ich  bin das einzige", erklärte Fräulein Battenberg und lachte. Fabian
sah ihr ins Gesicht und  fand, sie passe nicht in das Milieu. Sie  spazierte
wieder  hinter  die  Plastiken.  Er  folgte  ihr.  Sie  setzte sich  in  den
Lehnstuhl. Er stellte sich neben eine  Diana aus Gips, legte  den Arm um die
Hüfte der  trainierten Göttin und schaute  durch das Atelierfenster auf  die
Bogen  und Veduten der  Jugendstilgiebel. Man  hörte den Baron kommandieren.
"Letzte  Position,  mein  Schatz,  Rumpfbeuge  vorwärts,   Knie  einknicken,
Gesäß  heraus, Hände auf die Knie, gut,  halt!" Und aus  der  vorderen
Hälfte des Ateliers klangen  kleine, zugespitzte Schreie. Fräulein Kulp litt
vorübergehend an Atemnot. "Wie kommen Sie  eigentlich  in  diesen Saustall?"
fragte Fabian.
     "Ruth Reiter  und  ich  sind aus  derselben Stadt.  Wir  gingen in  die
gleiche Schule. Neulich trafen wir uns  zufällig  auf  der Straße. Und
weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken
ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt."
     "Das   freut   mich",   sagte   er.  "Ich   bin   kein  ausgesprochener
Tugendbewahrer,  und  trotzdem betrübt es  mich, wenn  ich  sehen muß,
daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt." Sie sah ihn ernst an. "Ich bin
kein Engel, mein Herr. Unsere  Zeit ist mit den Engeln böse.  Was sollen wir
anfangen?  Wenn  wir  einen Mann  liebhaben, liefern  wir  uns ihm  aus. Wir
trennen uns von  allem, was  vorher  war, und kommen zu  ihm. "Da bin  ich",
sagen wir freundlich lächelnd. "Ja", sagt er, "da bist du",  und kratzt sich
hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun habe ich sie auf dem Hals. Leichten
Herzens schenken wir ihm, was wir  haben. Und  er flucht. Die Geschenke sind
ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein
wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von  zwei Männern wurde
ich  stehengelassen.  Stehengelassen  wie  ein  Schirm, den man  absichtlich
irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?"
     "Es geht vielen  Frauen so.  Wir  jungen Männer  haben Sorgen. Und  die
Zeit,  die  übrigbleibt,  reicht fürs Vergnügen, nicht  für  die  Liebe. Die
Familie liegt im  Sterben. Zwei Möglichkeiten  gibt es  ja doch nur für uns.
Verantwortung zu  zeigen. Entweder  der  Mann verantwortet die Zukunft einer
Frau,  und  wenn  er  in der  nächsten Woche  die Stellung verliert, wird er
einsehen, daß  er  verantwortungslos  handelte. Oder  er wagt  es, aus
Verantwortungs­gefühl,  nicht,  einem   zweiten  Menschen  die   Zukunft  zu
versauen,  und wenn die  Frau darüber  ins  Unglück gerät,  wird  er  sehen,
daß  auch  diese  Entscheidung  verantwortungslos  war.  Das ist  eine
Antinomie, die es früher nicht gab."
     Fabian  setzte  sich  aufs  Fensterbrett.  Gegenüber  war  ein  Fenster
erleuchtet. Er blickte  in ein  mäßig  möbliertes  Zimmer.  Eine  Frau
saß am Tisch und  stützte  den  Kopf  in die Hand. Und  ein Mann stand
davor,  gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund,  riß
den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die  Hände
vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann  legte sie den Kopf auf den Tisch,
ganz langsam  und ganz ruhig,  als warte sie auf  ein niederfallendes  Beil.
Fabian  wandte  sich ab  und  betrachtete  das  Mädchen,  das neben  ihm  im
Lehnstuhl saß.  Auch  sie  hatte  die  Szene  drüben im  anderen  Haus
beobachtet und sah ihn traurig an.
     "Schon wieder ein verhinderter Engel", meinte er.
     "Der  zweite  Mann, den ich  liebte  und  damit  belästigte", sagte sie
leise, "ging eines schönen Abends  aus der  Wohnung, um  einen  Brief in den
Kasten zu werfen. Er ging die Treppe  hinunter  und kam nicht  wieder."  Sie
schüttelte  den Kopf, als verstehe  sie das Erlebnis  noch immer nicht. "Ich
wartete  drei  Monate  darauf,  daß  er  vom Briefkasten  zurückkehre.
Komisch, nein? Dann  schickte er eine Ansichtskarte aus Santiago, mit vielen
herzlichen Grüßen. Meine  Mutter sagte: "Du bist eine Dirne!", und als
ich zu bedenken gab, daß sie ihren ersten Mann mit achtzehn Jahren und
das erste Kind mit neunzehn Jahren gehabt habe, rief sie entrüstet: "Das war
etwas ganz anderes!" Freilich, das war etwas ganz anderes."
     "Warum sind Sie nach Berlin gekommen?"
     "Früher verschenkte man sich  und wurde wie ein Geschenk bewahrt. Heute
wird  man  bezahlt und eines  Tages,  wie jede  bezahlte und benutzte  Ware,
weggetan. Bezahlung ist billiger, denkt der Mann."
     "Früher war das Geschenk etwas ganz anderes als die Ware. Heute ist das
Geschenk eine Ware, die null  Mark kostet. Diese Billigkeit macht den Käufer
mißtrauisch. Sicher ein faules  Geschäft, denkt er.  Und meist  hat er
recht. Denn später präsentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich  soll er
den moralischen Preis des Geschenks  rückvergüten. In seelischer Valuta. Als
Lebensrente zu zahlen."
     "Genauso  ist es",  sagte sie. "Genauso denken  die Männer.  Aber warum
nennen Sie dann dieses  Atelier einen Saustall? Hier sind doch die Frauen so
ähnlich, wie ihr sie haben  wollt! Oder etwa nicht? Ich weiß, was euch
zu eurem Glück noch  fehlt. Wir sollen zwar kommen und  gehen,  wann  ihr es
wollt.  Aber  wir  sollen  weinen, wenn ihr uns  fortschickt. Und wir sollen
selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber
die  Ware  soll  verliebt  sein.  Ihr  zu allem  berechtigt  und  zu  nichts
verpflichtet, wir zu allem  verpflichtet und zu nichts  berechtigt, so sieht
euer Paradies aus. Doch das  geht  zu weit!" Fräulein Battenberg putzte sich
die Nase. Dann  fuhr sie  fort: "Wenn wir euch nicht behalten dürfen, wollen
wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns kaufen wollt, dann  sollt ihr teuer
dafür bezahlen." Sie schwieg. Ihr liefen kleine Tränen übers Gesicht.
     "Sie sind deswegen nach Berlin gekommen?" fragte Fabian.
     Sie weinte geräuschlos.
     Er  trat  neben sie und streichelte  ihre Schulter. "Sie verstehen auch
nichts von Geschäften", sagte er und  blickte zwischen zwei  Gipsfiguren  in
den  anderen Teil  des  Ateliers. Der Abendakt saß  auf dem Tisch  und
trank Gin. Die Bildhauerin beugte sich über die nackte  Frau und küßte
sie auf  den  wenig  gewölbten  Bauch und  auf  die  Brust. Die  Selow trank
inzwischen  das  Glas leer und strich der  Freundin  gleichgültig  über  den
Rücken. Diese küßte, jene trank, keine schien recht zu wissen, was die
andere tat. Und  im Hintergrund, auf der  Chaiselongue,  lagen die Kulp  und
Labude, zu einem flüsternden Knäuel verwickelt.
     Jetzt klingelte es draußen. Die Reiter richtete sich auf und ging
mit schweren  Schritten hinaus. Die Selow zog die Strümpfe  an. Ein riesiger
Mann kam durch die  Tür. Er atmete  keuchend, hatte ein Holzbein und ging an
einem Stock.
     "Ist  die  Kulp  da?" fragte er.  Die  Reiter  nickte. Er  zog ein paar
Geldscheine aus der Tasche, gab sie der Bildhauerin  und sagte: "Ihr anderen
solltet eine  Stunde  fortgehen.  Die  Selow  kannst  du  mir eventuell noch
dalassen." Er  sank auf  einen  Stuhl und lachte  schwerfällig. "Nein, nein,
Baron, es war nur Spaß."
     Die  Kulp kroch von der  Chaiselongue, strich sich das Kleid  glatt und
gab dem Mann die Hand. "Tag, Wilhelmy, noch immer nicht tot?"
     Wilhelmy wischte sich  den Schweiß  von  der Stirn und schüttelte
den Kopf.
     "Lange kann's aber nicht mehr dauern. Sonst ist das Geld früher zu Ende
als ich." Er gab ihr ein paar Geldscheine. "Selow!" rief  er, "sauf den  Gin
nicht aus! Und zieh dich schneller an."
     "Geht  in die "Cousine". Ich komme nach", sagte die Kulp. Dann rüttelte
sie  Labude munter. "Mein  Lieber, du wirst rausgeschmissen. Hier ist einer,
dem  die Ärzte erzählt  haben, daß er  noch in diesem Monat stirbt. Er
lauert auf  den Tod wie unsereins  auf die Periode.  Ich helf ihm bloß
ein  Viertelstündchen  warten.  Später  treff ich euch wieder." Labude stand
auf.  Die  Reiter  holte ihren  Mantel. Fabian  kam mit Fräulein  Battenberg
hinter den Plastiken vor. Die Selow war mit Anziehen fertig. Sie gingen. Der
Todeskandidat und die Kulp blieben zurück.
     "Hoffentlich prügelt er sie nicht so sehr  wie beim letzten Mal", sagte
die Bildhauerin auf der Treppe. "Es bringt  ihn auf, daß andere länger
leben dürfen als er."
     "Die hat nichts  dagegen, die  liebt die Keile", meinte die Selow. "Und
außerdem,  von  ihrer  Zeichnerei  kann  sie  nicht  leben  und  nicht
sterben."
     "Feine Berufe haben wir!" Die Reiter lachte wütend.
     Die "Cousine" war ein Klublokal, in dem vorwiegend  Frauen  verkehrten.
Sie  tanzten  miteinander. Sie  saßen  Arm  in Arm auf  kleinen grünen
Sofas. Sie sahen einander tief in die Augen. Sie tranken Schnaps, und manche
trugen Smokingjacken  und  hochgeschlossene  Blusen,  um den  Männern  recht
ähnlich zu  sein. Die Inhaberin hieß wie ihr  Lokal, rauchte  schwarze
Zigarren  und vermittelte Bekanntschaften.  Sie  ging  von  Tisch zu  Tisch,
begrüßte die Gäste, erzählte handfeste Witze und soff wie ein Budiker.
Labude schien sich vor Fabian und  vor sich selber zu schämen. Er tanzte mit
dem Abendakt,  setzte sich  dann  mit  der Frau an die Theke und  drehte dem
Freund den Rücken.
     Ruth Reiter war eifersüchtig, nahm sich aber zusammen. Sie blickte ganz
selten nach der Bar, sah blaß aus und begann zu trinken.  Später schob
sie  an einen anderen Tisch und unterhielt sich dort mit einer älteren Dame,
die  schrecklich geschminkt  war  und, wenn  sie lachte, derartig  gackerte,
daß man dachte: Gleich legt sie ein Ei.
     "Ich  kann  unser  Gespräch  noch  nicht  vergessen",  sagte Fabian  zu
Fräulein Battenberg. "Halten Sie wirklich alle Frauen,  die  hier versammelt
sind, für gebürtige Abnormitäten? Die  Blondine  da drüben war jahrelang die
Freundin eines Schauspielers, bis er sie ruckartig an die  Luft setzte. Dann
ging sie ins Büro und schlief mit dem Prokuristen.  Sie kriegte ein Kind und
verlor  den Prozeß. Der  Prokurist  leugnete die Vaterschaft. Das Kind
wurde  aufs  Land gegeben. Die Blondine bekam  eine neue Stellung. Aber  sie
hat, vielleicht für immer, mindestens vorübergehend,  von den Männern genug,
und  mancher, die außer  ihr  hier sitzt, erging es ähnlich. Die  eine
findet keinen Mann, die andere zu viele,  die dritte hat  panische Angst vor
den Folgen. Hier sitzen viele Frauen, die mit den Männern nur böse sind. Die
Selow, die mit meinem  Freunde zusammenhockt,  gehört  auch zu dieser Sorte.
Sie ist nur lesbisch, weil sie mit dem anderen Geschlecht schmollt."
     "Wollen Sie mich nach Hause bringen?" fragte Fräulein Battenberg.
     "Es gefällt Ihnen hier nicht?"
     Sie schüttelte den Kopf.
     Da ging die Tür auf, die Kulp taumelte ins Lokal. Vor dem Tisch, an dem
die Bildhauerin saß, blieb sie stehen und öffnete den Mund. Sie schrie
nicht,  sie sprach nichts.  Sie  brach  zusammen.  Die Frauen drängten  sich
neugierig  um die Ohnmächtige. Die Cousine brachte Whisky. "Der Wilhelmy hat
sie wieder geschlagen", sagte die Reiter.
     "Ein Hoch auf die Männer!" schrie ein Mädchen und lachte hysterisch.
     "Holt  den Doktor  aus dem Hinterzimmer!" rief die Cousine.  Man rannte
durcheinander.  Der  Klavierspieler,  der ebenso  witzig  wie betrunken war,
intonierte den Trauermarsch von Chopin.
     "Das  soll der Doktor  sein?" fragte  Fräulein  Battenberg.  Durch  die
Seitentür trat  eine  große, hagere Dame  im  Abendkleid, das  Gesicht
glich einem weißgepuderten Totenkopf.
     "Ja, das ist ein medizinisch vorgebildeter Mann", sagte Fabian. "Er war
sogar einmal Korpsstudent. Sehen Sie die Schmisse unterm Puder? Jetzt ist er
Morphinist und hat polizeiliche Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen. Er lebt
davon, daß er Morphiumrezepte verschreibt. Eines Tages werden  sie ihn
erwischen, dann vergiftet er  sich." Man trug die Kulp ins Hinterzimmer. Der
Doktor  im Abendkleid folgte.  Der  Klavierspieler  begann einen Tango.  Die
Bildhauerin  holte  den Abendakt zum Tanz, preßte die Freundin  eng an
sich und sprach heftig  auf sie  ein. Die Selow war völlig  betrunken, hörte
kaum  zu  und schloß die  Augen.  Plötzlich riß  sie  sich  los,
überquerte  schwankend das Parkett, schlug den  Klavierdeckel  zu, daß
das Instrument jammerte, und brüllte: "Nein!"
     Es wurde totenstill.  Die Bildhauerin  stand allein  auf der Tanzfläche
und hatte die Hände ineinandergekrampft.
     "Nein!" brüllte  die Selow  noch  einmal. "Ich  habe  genug davon!  Bis
dahin! Ich  will einen Mann haben! Einen Mann will ich haben! Steig mir doch
den Buckel runter, du geile Ziege!" Sie zerrte Labude von seinem Hocker, gab
ihm einen Kuß, hieb sich den Hut auf den Kopf und zog den jungen Mann,
kaum daß er den Mantel mitnehmen konnte,  zur Tür. "Es lebe der kleine
Unterschied!" schrie sie. Dann waren die beiden ver­schwunden.
     "Es ist wirklich besser, wenn wir gehen." Fabian erhob sich, legte Geld
auf den Tisch und half  der Battenberg beim Anziehen.  Als sie gingen, stand
Ruth Reiter, auch der Baron genannt, noch immer auf dem Tanzparkett. Niemand
wagte es, sich ihr zu nähern.


     ZEHNTES KAPITEL

     Topographie der Unmoral
     Die Liebe höret nimmer auf!
     Es lebe der kleine Unterschied!

     "Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?" fragte sie auf der Straße.
     "Sie kennen  ihn doch gar nicht!" Er  ärgerte sich über ihre Frage  und
ärgerte sich über seine Antwort.  Sie gingen schweigend nebeneinander.  Nach
einer Weile sagte er: "Labude hat Pech gehabt. Er  ist nach Hamburg gefahren
und hat zugesehen,  wie ihn seine zukünftige Gattin betrügt.  Er organisiert
gern.  Seine Zukunft  war, nach der familiären Seite,  bis  auf  die  fünfte
Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun  stellt sich über  Nacht heraus,
es war alles falsch. Er  will  das rasch vergessen und versucht es  zunächst
auf horizontale Art."
     Sie  blieben  vor einem  Geschäft  stehen.  Der  Laden  war  trotz  der
nächtlichen  Stunde   hell  erleuchtet,  und  die  Kleider  und  Blusen  und
Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern wie auf einer kleinen, von der
Sonne beschienenen Insel.
     "Können Sie mir sagen, wie spät es ist?" fragte jemand neben ihnen.
     Fräulein Battenberg  erschrak und faßte den Arm ihres Begleiters.
"Zehn nach zwölf", sagte Fabian.
     "Danke schön. Da  muß  ich mich beeilen." Der junge Mann, der sie
angesprochen  hatte,   bückte  sich   und  nestelte  umständlich  an   einem
Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf und fragte verlegen lächelnd:
"Haben Sie zufällig fünfzig Pfennige,  die Sie entbehren könnten?" "Zufällig
ja", antwortete Fabian und gab ihm ein Zweimarkstück.
     "Oh, das ist schön.  Haben Sie vielen  Dank, mein Herr.  Da brauche ich
nicht bei der Heilsarmee zu  übernachten."  Der Fremde zuckte entschuldigend
die Achseln, lüftete den Hut und lief hastig davon.
     "Ein gebildeter Mensch", meinte Fräulein Battenberg.
     "Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte."
     Sie  setzten ihren Weg fort. Fabian  wußte  nicht, wo das Mädchen
wohnte. Er  ließ sich  führen, obwohl er die Gegend besser  kannte als
sie. "Das Schlimmste an der ganzen  Geschichte  ist das", sagte  er, "Labude
hat, allerdings fünf Jahre zu spät, bemerkt, daß  ihn Leda,  eben jene
Frau aus Hamburg, niemals lieb hatte. Sie hat ihn nicht betrogen, weil er zu
selten bei ihr war. Sie betrog ihn, weil sie  ihn nicht liebte. Er stand ihr
nur  individuell nahe, er war  nicht ihr Typus. Es gibt auch den umgekehrten
Fall.  Man kann  jemanden  mögen, weil er den rechten Typus verkörpert, aber
man kann seine Individualität nicht leiden."
     "Und daß  jemand in jeder Beziehung  der  Richtige ist, kommt das
nicht vor?"
     "Man soll  nicht  gleich das  Äußerste hoffen", erwiderte Fabian.
"Und was führt Sie, außer Ihrem  kriegerischen Vorsatz, nach Sodom und
Gomorrha?"
     "Ich  bin  Referendar", erklärte sie.  "Meine  Dissertation betraf eine
Frage  zum  internationalen   Filmrecht,  und   eine  große   Berliner
Filmgesellschaft  will mich in  ihrer Vertragsabteilung  volontieren lassen.
Hundertfünfzig Mark im Monat."
     "Werden Sie doch Filmschauspielerin!"
     "Wenn  es sein muß, auch das", sagte  sie entschlossen. Und beide
lachten. Sie gingen durch die  Geisbergstraße.  Nur selten durchquerte
ein Auto die Nachtruhe.  In  den  Vorgärten  dufteten Blumenbeete. In  einer
Haustür streichelte sich ein Liebespaar.
     "Sogar  der Mond scheint in  dieser  Stadt", bemerkte  die Kennerin des
internationalen  Filmrechts.  Fabian drückte ihren  Arm  ein wenig.  "Ist es
nicht fast wie zu Hause?" fragte er. "Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein
und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im Torbogen
sind  Illusionen. Dort drüben, an dem  Platz, ist ein Café,  in dem Chinesen
mit  Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da  vorn ist ein Lokal, wo
parfümierte  homosexuelle Burschen  mit  eleganten Schauspielern und smarten
Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den  Preis bekanntgeben, und zum
Schluß  bezahlt  das  Ganze  eine  blondgefärbte  Greisin,  die  dafür
mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen,
daneben liegt ein Restaurant, wo  russische  und ungarische  Juden  einander
anpumpen oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen gibt
es   eine  Pension,  wo   sich   nachmittags  minderjährige  Gymnasiastinnen
verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor einem halben Jahr gab es einen
Skandal, der  nur schlecht vertuscht wurde;  ein  älterer  Herr fand  in dem
Zimmer, das er  zu Vergnügungszwecken  betrat, zwar,  wie er erwartet hatte,
ein  sechzehnjähriges   entkleidetes  Mädchen  vor,  aber   es  war   leider
seineTochter, und das hatte er nicht erwartet... Soweit  diese riesige Stadt
aus Stein besteht,  ist sie  fast noch wie  einst. Hinsichtlich der Bewohner
gleicht sie  längst einem  Irrenhaus.  Im Osten residiert das Verbrechen, im
Zentrum die Gaunerei,  im  Norden  das  Elend, im Westen die Unzucht, und in
allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang."
     "Und was kommt nach dem Untergang?"
     Fabian pflückte  einen kleinen Zweig, der über ein Gitter hing, und gab
zur Antwort: "Ich fürchte, die Dummheit."
     "In  der Stadt, aus der  ich bin, ist die Dummheit schon eingetroffen",
sagte das Mädchen. "Aber was soll man tun?"
     "Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir
kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre
nichts von jenem Tatendrang, der andere nötigt, so  lange mit dem Kopf gegen
die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe  zu und warte. Ich warte
auf den  Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen.
Aber ich warte  darauf  wie ein Ungläubiger auf Wunder. Liebes Fräulein, ich
kenne Sie noch nicht. Trotzdem,  oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich
Ihnen für den Umgang  mit  Menschen  eine Arbeitshypothese  anvertrauen, die
sich bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht richtig zu sein
braucht. Aber sie führt in der Praxis zu verwendbaren Ergebnissen."
     "Und wie lautet Ihre Hypothese?"
     "Man halte hier  jeden  Menschen, mit Ausnahme der  Kinder  und Greise,
bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich bewiesen ist, für verrückt. Richten
Sie sich danach, Sie werden bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann."
     "Soll ich bei Ihnen damit beginnen?" fragte sie.
     "Ich bitte darum", meinte er.
     Sie  schwiegen und überquerten  den Nürnberger Platz. Ein Auto  bremste
dicht   vor   ihnen.    Das   Mädchen   zitterte.   Sie    gingen   in   die
Schaperstraße. In  einem verwahrlosten Garten schrien  Katzen.  An den
Rändern  der  Fußsteige standen  Alleebäume,  bedeckten  den  Weg  mit
Dunkelheit und  verbargen den Himmel.  "Ich bin  angelangt",  sagte  sie und
machte vor  dem Hause  Nummer 17  halt. In  dem  Hause, in dem  auch  Fabian
wohnte!  Er  verbarg seine Verwunderung  und  fragte, ob er  sie wiedersehen
dürfe.
     "Wollen Sie es wirklich?"
     "Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen." Sie nickte und
legte einen  Augenblick lang den  Kopf an  seine Schulter. "Diese Stadt  ist
groß", flüsterte sie und schwieg unschlüssig. "Werden Sie  mich falsch
verstehen, wenn ich  Sie bitte, für eine halbe Stunde zu mir hinaufzukommen?
Das  Zimmer  ist  mir noch  so  fremd.  Kein  Wort  klingt  nach  und  keine
Erinnerung, denn  ich habe darin noch mit niemandem  gesprochen,  und nichts
ist da, woran es mich erinnern könnte.  Und  vor den  Fenstern schwanken des
Nachts schwarze Bäume."
     Fabian   sagte   lauter,  als   er  wollte:   "Ich   komme   gern  mit.
Schließen Sie nur auf." Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und
drehte um.  Doch ehe sie die Tür aufschob,  wandte sie  sich  noch einmal zu
ihm.  "Ich bin sehr  in  Sorge, daß  Sie mich mißverstehen."  Er
drückte  die Tür auf  und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. Dann ärgerte
er sich, daß er  sich dadurch verraten  haben  könnte. Aber sie  wurde
nicht  stutzig, schloß hinter ihm ab und  ging  voraus. Er folgte  und
amüsierte sich über die Heimlichkeit, mit der er heute  dieses Haus  betrat.
In welcher Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür seiner
Wirtin, vor  der Tür der Witwe Hohlfeld, stehen und öffnete. Im Flur brannte
Licht.  Zwei junge  Mädchen  in  rosa Hemdhöschen spielten  mit einem grünen
Luftballon  Fußball.  Sie  erschraken  und  begannen  vor  Schreck  zu
kichern.  Fräulein Battenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und
Herr Dröger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama.
     "Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß", brummte Fabian.
     Herr Dröger  grinste, trieb die Mädchen in sein Serail und riegelte ab.
Fabian legte die Hand versehentlich auf die Klinke zu seinem eigenen Zimmer.
     "Um Gottes willen",  flüsterte  Fräulein Battenberg. "Da  wohnt  jemand
anderes."
     "Pardon", sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor in den letzten
Raum.  Er  legte Hut  und  Mantel aufs Sofa, sie  hängte ihren Mantel in den
Schrank. "Eine fürchterliche Bude", sagte sie lächelnd. "Und achtzig Mark im
Monat."
     "Ich zahle genausoviel", tröstete er. Nebenan wurde gelärmt.
     Die  Sprungfedern  knirschten  unwillig.  "Die  Nachbarschaft habe  ich
gratis", meinte sie.
     "Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Eintritt."
     "Ach, ich bin  so froh", sie rieb sich die Hände wie  vor  einem Kamin.
"Wenn ich  allein bin, wirkt dieser Salon noch viel häßlicher. Ich bin
Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die schaurigen Bäume anschauen?"
     Sie  traten  ans  Fenster.  "Heute sind sogar die  Bäume freundlicher",
stellte sie  fest.  Dann sah sie ihn an und murmelte: "Das  macht,  weil ich
sonst allein bin." Er zog sie behutsam an sich und gab ihr einen  Kuß.
Sie küßte ihn wieder. "Nun wirst du denken, daß ich dich deshalb
bat, mitzukommen."
     "Freilich denke ich das", gab er zur Antwort. "Aber du wußtest es
selber noch nicht."
     Sie rieb  ihre Wange  an der seinen  und blickte durchs  Fenster.  "Wie
heißt du eigentlich?" fragte er.
     "Cornelia."
     Als  sie  nebeneinander  im  Bett lagen,  sagte er  ehrlich  bekümmert,
während  er  ihr  mit  den Händen übers Gesicht strich  und dabei  die Augen
schloß, um  das Gepräge des Gesichts zu spüren: "Weißt du  noch,
daß  wir  heute  abend einmal  in einem  Atelier  saßen,  hinter
Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest, wie du die Männer für ihren
Egoismus bestrafen willst?"
     Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine  Hände.  Dann  holte sie tief
Atem und  antwortete:  "An  dem Vorsatz hat sich  nichts geändert,  wirklich
nicht. Aber mit dir mach ich eine Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich
liebhabe."
     Er setzte  sich hoch. Aber  sie zog ihn wieder  zu sich herab. "Vorhin,
als wir uns  umarmten,  hab ich  geweint", flüsterte sie. Und  als  sie sich
dessen  erinnerte,  traten  ihr  von neuem  Tränen in  die  Augen, aber  sie
lächelte  unter diesen Tränen, und er war  seit langem wieder einmal beinahe
glücklich. "Ich  habe geweint, weil ich  dich liebhabe. Aber  daß  ich
dich liebhabe, das ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Du
sollst  kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst,  will ich mich
freuen, und wenn  du gehst, will ich nicht traurig sein.  Das verspreche ich
dir." Sie drängte sich an  ihn und preßte ihren Körper an den  seinen,
daß beiden der Atem verging.
     "So", rief sie, "und jetzt hab ich Hunger!"
     Er zog ein so verdutztes Gesicht, daß sie lachte.
     Sie erklärte ihm  die Sache.  "Das ist so: wenn ich  wen  liebhabe, ich
meine, wenn mich jemand liebgehabt hat -  aber du verstehst mich  schon, ja?
-, dann  habe ich hinterher immer fürchterlichen Hunger.  Der Hunger hat nur
einen  Haken. Ich habe nichts  zu  essen  da. Ich  konnte  ja nicht  wissen,
daß ich in dieser fürchterlichen Stadt so bald solchen Hunger bekäme."
Sie lag auf dem Rücken  und lächelte die Zimmerdecke an, die Engelsköpfe aus
Stuck inbegriffen.
     Fabian stand auf und  meinte: "Da müssen wir eben einbrechen." Dann hob
er sie aus dem Bett, öffnete die Tür  und zog die widerstrebende Cornelia in
den Korridor.  Sie sträubte  sich, aber er  faßte  sie unter, und  sie
spazierten, Adam und Eva zum Verwechseln ähnlich, den  Flur entlang, bis vor
Fabians Tür.
     "Das ist ja entsetzlich", jammerte sie und  wollte entfliehen.  Aber er
drückte die Klinke nieder und transportierte das Mädchen in sein Zimmer. Sie
klapperte  kläglich mit den Zähnen.  Er  machte Licht,  verbeugte  sich  und
äußerte feierlich: "Herr  Doktor  Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor
Battenberg in  seinen  Gemächern willkommen zu  heißen." Dann  warf er
sich auf sein Bett und biß vor Vergnügen ins Kopfkissen.
     "Nein!"  sagte sie  hinter  ihm.  "Das  ist  nicht möglich." Aber  dann
glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen.
     Er stand auf  und sah ihr zu.  "Du darfst dir nicht so laut hintendrauf
klatschen", erklärte er würdevoll.
     "Das  ist beim  Schuhplattler  nicht  anders", meinte  sie  und  tanzte
weiter, so echt und  so laut  es ging. Dann  schritt sie gemessen zum Tisch,
setzte  sich  auf einen Stuhl, tat dabei, als ob sie ihr Kleid glattstriche,
obwohl sie, augenfällig genug, nichts Derartiges anhatte, und sagte: "Bitte,
die Speisekarte."
     Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und  Wurst und Keks herbei und
markierte,  während  sie  aß,  den  aufmerksamen  Oberkellner.  Später
stöberte  sie auf seinem Bücherbrett  herum, klemmte sich Lektüre  unter den
Arm,  bot  ihm  den  linken  und  befahl  majestätisch:  "Bringen  Sie  mich
unverzüglich in mein Appartement zurück."
     Bevor sie  das Licht auslöschten, verabredeten  sie noch, daß sie
ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich dafür, daß sie
ihn,  bis  er munter sei, am Ohr zupfen werde. Abends  wollten sie sich dann
wieder  in  der  Wohnung treffen. Wer  zuerst  da wäre,  würde  neben  seine
Türklinke ein Bleistiftkreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfeld
nach Möglichkeit nichts merken zu lassen.
     Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie  bettete  sich  neben  ihn und
sagte:  "Komm!" Er streichelte ihren Körper. Sie  nahm seinen  Kopf  in ihre
Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und flüsterte: "Komm! Was rief die
Selow? Es lebe der kleine Unterschied!"


     ELFTES KAPITEL

     Die Überraschung in der Fabrik
     Der Kreuzberg und ein Sonderling
     Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit

     Am anderen Morgen war Fabian schon eine Viertelstunde vor Bürobeginn an
der  Arbeit.  Er  pfiff  vor  sich  hin  und  überflog  die Notizen  zu  dem
Preisausschreiben, das die Direktion von ihm erwartete.
     Die   Fabrik   sollte  dem  Einzelhandel  hunderttausend  sehr  billige
Sonderpackungen zugänglich machen. Die Schachteln sollten numeriert sein und
Zigaretten sechs verschie­dener Sorten ohne jeden Schriftaufdruck enthalten.
Die Käuferschaft  sollte  erraten,  wieviel  Zigaretten der  sechs bekannten
Marken der Firma in der Packung enthalten wären. Wer  eine billige Schachtel
erwarb, mußte, wenn er die Aufgabe lösen und einen der Preise gewinnen
wollte, notgedrungen  je  eine  der sechs Spezialpackungen kaufen, die  seit
langem  im  Handel  waren,  also sechs  Packungen außer  der  billigen
Sonderschachtel.  Wenn sich  hunderttausend  Interessenten  fanden,  konnten
automatisch      sechshunderttausend     andere     Packungen,     insgesamt
siebenhunderttausend Schachteln,  umgesetzt werden. Dazu kam  die allgemeine
Absatzsteigerung, die  einem  geschickt propagierten  Kundenfang  zu  folgen
pflegt. Fabian begann eine Kalkulation aufzustellen.
     Da erschien  Fischer, rief: "Nanu?" und  blickte dem Kollegen neugierig
über die Schulter.
     "Der  Entwurf  fürs  Preisausschreiben",  sagte Fabian. Fischer zog das
graue Lüsterjackett an, das  er im  Büro trug, und fragte: "Darf  ich  Ihnen
nachher mal meine Zweizeiler zeigen?"
     "Gern. Heute habe ich Sinn für Lyrik."
     Da  klopfte  es.  Der Hausbote Schneidereit,  ein ältliches,  wackliges
Faktotum, auch  "der  Erfinder  des  Plattfußes" geheißen, schob
sich ins Zimmer. Er legte  mürrisch  einen  großen  gelben  Brief  auf
Fabians Schreibtisch und entfernte sich wieder.  Der  Brief enthielt Fabians
Papiere,  eine  Anweisung  an die  Hauptkasse  und ein kurzes Schreiben  mit
diesem Inhalt:
     "Sehr geehrter Herr,  die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen unter
dem  heutigen Tage die Kündigung  auszusprechen. Das am  Monatsende zahlbare
Gehalt wird Ihnen schon heute an der Kasse ausgefolgt  werden. Wir haben uns
erlaubt, aus freien Stücken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen
auch an dieser Stelle gern bekunden, daß Sie für die propagandistische
Tätigkeit  besonders  qualifiziert   erscheinen.   Die  Kündigung  ist  eine
bedauerliche   Folge   der  vom  Aufsichtsrat   beschlossenen   Senkung  des
Reklamebudgets. Wir danken Ihnen für  die dem Unternehmen geleistete  Arbeit
und wünschen  Ihnen  für  Ihr weiteres Fortkommen das Beste."  Unterschrift.
Aus.
     Fabian saß minutenlang, ohne sich  zu  rühren. Dann stand er auf,
zog  sich  an,  steckte den Brief in den  Mantel und sagte zu Fischer:  "Auf
Wiedersehen. Lassen Sie sich's gutgehen."
     "Wo wollen Sie denn hin?"
     "Man hat mir eben gekündigt."
     Fischer sprang  auf.  Er war  grün  im Gesicht. "Was  Sie nicht  sagen!
Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!"
     "Ihr Gehalt ist kleiner", meinte Fabian. "Sie dürfen bleiben."
     Fischer trat auf  den  gekündigten  Kollegen  zu  und  drückte  ihm mit
feuchter Hand  sein Bedauern  aus. "Na, zum Glück läßt  Sie  die Sache
kalt.  Sie  sind ein patenter  Kerl, und  zweitens haben  Sie keine Frau  am
Hals."
     Plötzlich stand  Direktor  Breitkopf im  Zimmer, zögerte,  als er  sah,
daß Fischer  nicht allein  war,  und  wünschte schließlich einen
guten Morgen.
     "Guten Morgen, Herr Direktor",  grüßte Fischer und verbeugte sich
zweimal.  Fabian tat, als sehe  er Breitkopf nicht, wandte sich dem Kollegen
zu und sagte: "Auf dem Schreibtisch liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich
vermache  es  Ihnen."  Damit verließ Fabian  seine Wirkungs­stätte und
holte  sich   an  der  Kasse  zweihundertsiebzig  Mark.  Bevor  er  auf  die
Straße trat, blieb er minutenlang im Tor  stehen.  Lastautos ratterten
vorbei. Ein  Depeschenbote  sprang vom  Rad und eilte ins  gegenüberliegende
Ge­bäude. Das Nebenhaus war von einem Gerüst vergittert. Maurer standen  auf
den Laufbrettern und verputzten den grauen, bröckeligen  Bewurf.  Eine Reihe
bunter  Möbelwagen  bog   schwerfällig  in   die   Seitenstraße.   Der
Depe­schenbote kam zurück, stieg hastig auf sein Rad und fuhr weiter. Fabian
stand  im  Torbogen, griff in  die Tasche,  ob  das Geld noch  drin sei, und
dachte:  "Was  wird  mit  mir?"  Dann ging er, da er nicht arbeiten  durfte,
spazieren.
     Er lief  kreuz  und quer durch  die Stadt,  trank  gegen Mittag, Hunger
hatte er nicht, bei Aschinger eine Tasse Kaffee und setzte sich von neuem in
Bewegung, obwohl er sich lieber traurig in den tiefen Wald verkrochen hätte.
Aber wo war  hier ein tiefer Wald?  Er lief und  lief  und rannte  sich  den
Kummer in den Stiefelsohlen ab. Auf der Belle-Alliance-Straße erkannte
er  das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student gelebt  hatte.
Es stand wie ein alter Bekannter da, den man lange nicht gesehen hat und der
verlegen abwartet, ob man ihn grüßen wird oder nicht. Fabian stieg die
Treppe hinauf und sah  nach, ob  die alte Geheimratswitwe  noch  immer  hier
wohnte.  Aber da war ein fremdes Schild an der  Tür. Er  kehrte um. Die alte
Dame war  ganz weißhaarig und sehr  schön gewesen. Er entsann sich des
regelmäßigen  dummen Greisinnenge­sichts. Im Inflationswinter hatte er
kein  Geld  zum  Heizen  gehabt. Er hatte, im  Mantel  vergraben,  dort oben
gehockt  und  an  einem  Vortrag  über  Schillers  moralästhetisches  System
gearbeitet. Sonntags war er gelegentlich von der alten Dame zum  Mittagessen
eingeladen  und  über  die  familiären  Vorgänge   in  ihrem   umfangreichen
Bekannten­kreis  aufgeklärt worden. Vorher, damals  und heute,  er war stets
ein armes  Luder  gewesen, und  er  hatte  große  Aussichten, eines zu
bleiben. Seine Armut war schon eine schlechte  Angewohnheit, wie bei anderen
das Krummsit­zen oder das Nägelkauen.

     Gestern nacht, bevor er einschlief,  hatte  er noch gedacht: Vielleicht
sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in dieser Stadt, wo Ehrgeiz so
rasch Früchte trug; vielleicht sollte man sich doch ein wenig ernster nehmen
und  in dem  wackligen Weltgebäude,  als  ob  alles  in  Ordnung  sei,  eine
lauschige Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war  es Sünde,  das Leben
zu  lieben  und kein  seriöses Verhältnis  mit ihm zu haben.  Cornelia,  der
weibliche Referendar,  hatte danebengelegen und ihm noch im Schlaf  die Hand
gedrückt. Mitten in der Nacht,  hatte sie  ihm am Morgen  berichtet, sei sie
zusammengefahren und erwacht. Denn  er  habe  sich im  Bett  aufgesetzt  und
energisch  erklärt: "Ich werde  die  Annoncen leuchten lassen!" Dann sei  er
wieder zurückgesunken.
     Er stieg langsam auf  das  Plateau des Kreuzberges und  setzte sich auf
eine Bank,  die der  Pflege  des  Publikums empfohlen  war. Auf einem Schild
stand:   "Bürger,   schont   eure   Anlagen!"   Der   Magistrat   hatte  den
außerordentlich   zweideutigen   Satz  unterschrieben,  der  Magistrat
mußte es  wissen. Fabian betrachtete den riesigen  Stamm eines Baumes.
Die  Rinde war von tausend  senkrechten Falten  zerpflückt. Sogar die  Bäume
hatten Sorgen. Zwei kleine Schüler gingen an der Bank  vorbei. Der eine, der
die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt,  fragte gerade empört: "Soll man
sich das gefallen lassen?" Der andere ließ sich  mit der Antwort Zeit:
"Gegen die  Bande kannst du gar nichts machen", meinte er schließlich.
Was sie weiter sprachen, war nicht mehr zu hören.
     Von der  anderen  Seite  des  Platzes  näherte  sich  eine  merkwürdige
Gestalt: ein  alter  Herr, mit  einem weißen Knebelbart und  mit einem
schlechtgerollten  Schirm.  Statt  eines  Mantels  trug er  eine  grünliche,
verschossene  Pelerine, und der Kopf gipfelte in einem steifen  grauen  Hut,
der  vor Jahren schwarz gewesen  sein mochte. Der  Pelerinen­träger steuerte
auf die Bank zu, ließ  sich,  eine  Begrü­ßungsformel  murmelnd,
neben Fabian nieder, hustete umständlich und zeichnete mit dem Schirm Kreise
in  den  Sand. Er  machte einen der  Kreise zu einem Zahnrad, brachte dessen
Mittelpunkt mit  dem  Zentrum  eines  ande­ren  Kreises durch eine Gerade in
Verbindung, kompli­zierte  die Skizze durch  Kurven und  Linien immer  mehr,
schrieb  Formeln daneben und darüber,  rechnete, strich durch,  rechnete von
neuem, unterstrich  eine Zahl  zweimal  und  fragte: "Verstehen Sie  was von
Maschinen?"
     "Bedaure",   sagte   Fabian.   "Wer   mich  sein  Grammophon  aufziehen
läßt,  kann  sicher   sein,  daß  es  nie  mehr   funktio­niert.
Mechanische Feuerzeuge, mit denen ich  mich befas­se, brennen nicht. Bis zum
heutigen  Tage  halte  ich  den  elektrischen  Strom,  wie mir  der  Name zu
bestätigen  scheint, für eine Flüssigkeit.  Und  wie es möglich ist, auf der
einen Seite geschlachtete  Ochsen in elektrisch betrie­bene Metallgehäuse zu
sperren  und auf  der Rückseite Cornedbeef  herauszudestillieren, werde  ich
niemals  be­greifen.  -  Übrigens  erinnert  mich  Ihre  Pelerine  an  meine
Internatszeit. Jeden Sonntag marschierten  wir in solchen Pelerinen und  mit
grünen Mützen nach der Martin-Luther-Kirche  zum  Gottesdienst.  Während der
Predigt schliefen wir alle bis auf den, der  die anderen wecken mußte,
wenn der Organist den  Choral intonierte oder  wenn  der Hauslehrer  auf die
Empore  kam." Fabian  blickte auf die Pelerine des Nachbarn und spürte,  wie
dieses  Kleidungsstück die  Vergangenheit  alarmierte.  Er  sah den blassen,
dicken Direktor vor sich, wie der jeden Morgen, zu Beginn der Andacht, bevor
er sich setzte und das Gesangbuch aufschlug, die Knie einknickte und mit der
Hand  an  die Hose  faßte,  um  sich  zu vergewissern, ob der  sündige
Erdenrest noch anwesend sei. Und er  sah  sich selber abends  durchs Tor der
Anstalt  schleichen,  durch  die dämmerigen  Straßen,  an den Kasernen
vorbei,  über  den   Exerzierplatz  rennen,  die  Treppe  eines  Mietshauses
hin­aufjagen  und auf  eine Klingel drücken. Er hörte  die  zitternde Stimme
seiner  Mutter hinter der  Tür: "Wer  ist denn draußen?"  Und er hörte
sich, außer Atem,  rufen: "Ich bin's, Mama! Ich wollte bloß  mal
nachsehen, ob's dir heute besser geht."
     Der  alte Herr fuhr mit der Spitze seines schlechtgerollten Schirmes so
lange über den Sand, bis die Rechnung weggewischt war. "Vielleicht verstehen
Sie  mich, da Sie von Maschinen nichts  verstehen",  sagte  er. "Ich bin ein
sogenannter Erfinder, Ehrenmitglied von fünf wissen­schaftlichen  Akademien.
Die   Technik   verdankt  mir   er­hebliche   Fortschritte.  Ich  habe   der
Textilindustrie dazu verholfen, pro Tag fünfmal soviel Tuch herzustellen als
früher. An meinen Maschinen haben viele Leute Geld verdient, sogar ich." Der
alte  Herr  hustete  und  zupfte  sich  nervös  am  Spitzbart.  "Ich  erfand
friedliche Maschi­nen  und  merkte  nicht, daß  es Kanonen waren.  Das
konstante  Kapital  wuchs unaufhörlich, die Produktivität der Betriebe  nahm
zu,  aber, mein Herr, die Zahl  der  beschäftigten  Arbeiter  nahm ab. Meine
Maschinen waren Kanonen, sie setzten  ganze Armeen von Arbeitern außer
Gefecht. Sie zertrümmerten den  Existenzanspruch  von Hunderttausenden.  Als
ich in  Manchester  war, sah ich, wie die Polizei auf  Ausgesperrte losritt.
Man schlug mit  Säbeln auf ihre  Köpfe. Ein kleines Mädchen wurde  von einem
Pferd niedergetrampelt.  Und ich war daran schuld."  Der alte Herr schob den
steifen  Hut  aus  der Stirn  und hustete. "Als ich  zurückkam, stellte mich
meine Familie unter Kuratel. Es paßte ihnen  nicht, daß ich Geld
wegzuschenken  begann  und daß  ich erklärte, ich wolle  mit Maschinen
nichts mehr zu schaffen haben. Und dann  ging ich  fort. Sie haben zu leben,
sie wohnen in meinem Haus am Starnberger See, ich bin seit einem halben Jahr
ver­schollen. Vorige Woche las  ich in der Zeitung,  daß meine Tochter
ein Kind geboren hat. So bin ich  nun Großvater geworden und laufe wie
ein Strolch durch Berlin."
     "Alter schützt vor Klugheit  nicht", sagte  Fabian. "Leider sind  nicht
alle Erfinder so sentimental."
     "Ich dachte daran,  nach Rußland zu fahren und mich zur Verfügung
zu stellen. Aber ohne Paß darf  man nicht hinüber. Und wenn man meinen
Namen erfährt, hält man  mich erst recht zurück.  In meiner Brusttasche sind
Skizzen  und  Berechnungen  für  eine  Webstuhlanlage,  die alle  bisherigen
Textilmaschinen in den  Schatten  stellt.  Millionenwerte stecken in  meiner
geflickten Tasche.  Aber lieber  will ich  verhungern." Der alte Herr schlug
sich  stolz  an die Brust und hustete  wieder.  "Heute abend übernachte  ich
Yorckstraße 93.  Kurz  bevor das Tor geschlossen wird, betrete ich das
Haus.  Wenn  der  Portier fragt,  wohin  ich  will,  sage  ich,  ich besuche
Grünbergs.  Die   Leute   wohnen  in  der   vierten  Etage.   Der  Mann  ist
Oberpostschaffner. Ich steige hinauf.  Ich  gehe an der  Wohnung der Familie
Grünberg  vorbei und klettere  zum  Dachboden. Dort setze ich  mich  auf die
Treppe. Viel­leicht  ist die Bodentür  offen.  Manchmal liegt gar  eine alte
Matratze in irgendeiner Ecke. Morgen früh verschwinde ich dann wieder."
     "Woher kennen Sie Grünbergs?"
     "Aus dem Adreßbuch", antwortete der Erfinder. "Ich muß doch
einen  Hausbewohner  nennen  können,  falls  sich  der  Portier nach  meinen
Absichten  erkundigt. Am näch­sten Morgen kommt der Schwindel häufig heraus.
Aber die jahrtausendealte  Aufforderung, vor einem  grauen Haupt aufzustehen
und die Alten zu ehren,  hat  Früchte  getragen, bis zu  den Portiers hinab.
Außerdem wechsle ich täglich meine  Adresse. Im Winter erteilte ich an
einer Privatschule Physikunterricht.  Es  wurde leider ein  Auf­klärungskurs
gegen  die Wunder der Technik daraus. Das gefiel weder den Schülern noch dem
Direktor. Ich zog es vor, mich ein Vierteljahr lang in Postämtern zu wärmen.
Jetzt brauche  ich  die Postämter nicht mehr. Es ist warm.  Jetzt sitze  ich
stundenlang  auf den Bahnhöfen  und schaue  den Menschen zu, die fortreisen,
ankommen und zurück­bleiben.  Das ist alles sehr unterhaltend. Ich  sitze da
und bin froh, daß ich lebe."
     Fabian  notierte seine Adresse und gab sie dem  alten Mann. "Heben  Sie
sich  den Zettel gut auf. Und wenn  Sie  mal ein Portier vorzeitig  von  der
Stiege holt, kommen Sie zu mir. Sie  können auf  meinem Sofa schlafen."  Der
alte  Herr las den Zettel  und fragte: "Was wird Ihre  Wirtin  dazu  sagen?"
Fabian zuckte die Achseln.
     "Wegen  meines Hustens brauchen  Sie sich nicht zu ängsti­gen",  meinte
der Alte. "Wenn  ich  nachts in den dunklen Treppenhäusern  sitze, huste ich
überhaupt nicht. Ich nehme mich dann zusammen, um die Hausbewohner  nicht zu
erschrecken.  Eine komische Lebensführung, was? Ich habe arm angefangen, ich
war später  ein reicher Mann,  ich bin  jetzt wieder  ein armer  Teufel,  es
spielt keine Rolle. Wie's kommt,  wird's  gefressen.  Ob mich die Sonne  auf
meiner Terrasse in Leoni bescheint oder hier auf dem Kreuzberg, das ist  mir
so egal wie der Sonne."  Der  alte Herr hustete und  streckte die Beine weit
von sich. Fabian stand auf und sagte, er müsse weiter.
     "Was sind Sie eigentlich von Beruf?" fragte der Erfinder. "Arbeitslos",
erwiderte  Fabian und  schritt  einer  Allee  zu, die  in  die Straßen
Berlins zurückführte.
     Als  er am Abend,  taumelig von dem vielstündigen  Marsch,  die Wohnung
betrat, wollte er sofort zu Cornelia  und ihr sein Malheur berichten.  Schon
die bloße Vorstel­lung  von  der  kommenden  Szene  rührte  ihn  tief.
Vielleicht hatte er auch Hunger.
     Frau Hohlfeld,  die Wirtin,  vereitelte  sein  Vorhaben.  Sie stand  im
Korridor und flüsterte, unnötig geheimnisvoll, aber das war ihre Art, Labude
sei  da.  Labude  saß  in  Fabians  Zimmer  und  hatte  offensichtlich
Kopfschmerzen. Er sei gekommen, sich zu entschuldigen, weil er gestern nacht
ohne Gruß den  Tisch und das Lokal verlassen  habe. Faktisch wollte er
etwas ganz  anderes.  Er  wollte  wissen, wie  Fabian über die Sache mit der
Selow dachte.
     Labude war ein moralischer Mensch, und es  war immer schon sein Ehrgeiz
gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und ohne  Fehler gleich ins reine zu
schreiben. Er hatte  als Kind niemals Löschblätter bekritzelt. Sein Sinn für
Moral  war eine  Konsequenz  der Ordnungsliebe.  Die  Hamburger Enttäuschung
hatte sein privates Ordnungs­system  und  in der Folge  seine Moral lädiert.
Der seelische Stundenplan war  gefährdet. Dem Charakter fehlte das Geländer.
Nun kam er, der die  Ziele liebte und brauchte, zu Fabian,  dem Fachmann der
Planlosigkeit. Er hoffte, von  ihm  zu  lernen, wie man Unruhe  erfahren und
trotz­dem ruhig bleiben kann.
     "Du siehst schlecht aus", sagte Fabian.
     "Ich habe die Nacht kein Auge  zugemacht", gestand der  Freund.  "Diese
Selow  ist  schwermütig  und  ordinär,  beides  in  einem  Atem.  Sie   kann
stundenlang auf dem Diwan  sitzen und Schweinereien vor sich hinmurmeln, als
bete sie  eine Litanei.  Es  ist nicht zum  Anhören.  Alkohol trinkt sie  in
solchen Mengen, daß man vom bloßen Zuschauen besoffen wird. Dann
fällt ihr wieder ein,  daß sie mit einem Mann allein  in  der  Wohnung
ist, und  man möchte sich gegen Hagelschlag versichern. Dabei empfindet  sie
bestimmt nicht  wie eine normale Frau. Für lesbisch halte ich  sie aber auch
nicht. Ich glaube, obwohl das  komisch klingt,  sie ist homosexuell." Fabian
ließ den Freund reden.
     Und weil er sich über  nichts wunderte, wurde der andere ruhig. "Morgen
fahre ich auf zwei Tage nach Frankfurt", erzählte Labude noch, bevor er sich
verabschiedete. "Rassow kommt auch hin, wir wollen dort eine Initiativgruppe
einrichten. Inzwischen mag das Mädchen in  der Wohnung Nummer  Zwei bleiben.
Ihr ist's in den letzten  Monaten verdammt dreckig gegangen.  Sie soll  sich
mal ausschlafen. Auf Wiedersehen, Jakob." Dann ging er.
     Fabian betrat  Cornelias Zimmer. Was  würde sie zu der Kündigung sagen?
Aber Ruth Reiter, die  Bildhauerin, saß  da,  sah elend  aus,  war gar
nicht erstaunt, ihm hier zu begegnen, und resümierte, was sie der Battenberg
aus­führlich  schon berichtet  hatte.  Die kleine  Kulp war in  die  Charité
gebracht worden. Sie hatte innere Verletzungen davongetragen,  und Wilhelmy,
der  Todeskandidat mit  dem Holzbein,  lag seit  gestern  nacht  im Atelier,
kriegte keine Luft, keuchte und beschäftigte sich mit dem Sterben.
     Cornelia hatte ein paar Tassen, Teller und  Bestecke aus  ihrem  Koffer
geholt, etwas zum Essen  besorgt und den Tisch  hübsch  garniert. Sogar eine
weiße  Decke  und ein Blumenstrauß  waren  vorrätig. Die  Reiter
sagte, sie gehe jetzt. Aber ehe sie  es vergesse: ob  denn niemand wisse, wo
der junge Labude wohne. Es war klar, daß sie nur deshalb gekommen war.
Sie hatte gehofft, von ihrer Schulfreundin Fabians Adresse und  durch Fabian
Labudes Wohnung  zu erfahren, da ihr  das  Personal der Grunewaldvilla keine
Auskunft hatte geben können.  "Ich weiß, wo er wohnt", meinte  Fabian.
"Außerdem hat er bis  vor  wenigen Minu­ten nebenan  in meinem  Zimmer
gesessen. Die Adresse darf ich nicht sagen."
     "Er  war hier?" rief  die  Bildhauerin.  "Auf  Wiedersehen!" Sie rannte
davon.
     "Ihr fehlt die Selow", sagte Cornelia.
     "Ihr fehlt die schlechte Behandlung", sagte Fabian.
     "Mir nicht." Sie küßte ihn und zog ihn an den Tisch, daß er
ihre Vorbereitungen zum Abendessen bewundere.
     "Gefällt dir das?" fragte sie.
     "Großartig. Sehr schön. Sei übrigens so nett und sage mir  immer,
wenn es etwas zum Bewundern gibt. Hast du etwa ein neues Kleid an? Kenne ich
diese Ohrringe schon? Trugst du auch gestern  den Scheitel in der Mitte? Was
mir gefällt,  merke ich  nicht.  Du mußt  mich  mit  der  Nase  darauf
stoßen."
     "Du hast  nichts  als Fehler", rief sie. "Jeden einzelnen deiner Fehler
könnte  ich  hassen,  alle miteinander  habe ich  lieb." Während  des Essens
erzählte sie, daß  sie  morgen  ihren Posten  antreten  solle. Sie war
heute   einer  Reihe  von  Kollegen,  Dramaturgen,  Produktionsleitern   und
Direk­toren vorgestellt  worden  und beschrieb das  merkwürdige, weitläufige
Haus, in dem bis unters Dach wichtige Leute saßen, aus einer Konferenz
in  die  andere stürzten und der  Entwicklung  des Tonfilms  das Leben sauer
machten. Fabian  verschob die Mitteilung  auf später. Als sie  mit dem Essen
fertig waren, stellte sie einen Teller mit zwei belegten Broten beiseite und
sagte lächelnd: "Die eiserne Ration."
     "Du bist rot geworden", rief er.
     Sie nickte. "Manchmal merkst du also  doch, wenn es etwas zum Bewundern
gibt."
     Er schlug einen  kleinen Spaziergang vor. Sie zog sich an. Er überlegte
inzwischen,   wie  er  ihr  die  Kündigung  bei­bringen   wollte.  Aber  der
Spaziergang kam nicht zustande. Als sie vor dem Haus standen, hustete jemand
hinter ihnen, und ein fremder Mann wünschte guten Abend. Es war der Erfinder
mit der Pelerine.  "Die Beschreibung, die Sie  mir  von Ihrem  Sofa  gegeben
haben, hat mir für heute den Spaß an sämtlichen Treppen  und Dachböden
verdor­ben",  erzählte er.  "Ich habe  um die Yorckstraße einen  Bogen
gemacht  und  bin  hierhergekommen.   Eigentlich  mache  ich  mir  Vorwürfe,
daß  ich  Sie  behellige,  denn   schließlich  sind  Sie  selber
arbeitslos."
     "Arbeitslos bist du?" fragte Cornelia.  "Ist das wahr?"  Der alte  Herr
entschuldigte  sich  umständlich,  er  habe  gedacht,  die junge  Dame wisse
Bescheid.
     "Heute morgen hat  man mir gekündigt."  Fabian ließ Cornelias Arm
los. "Zum Abschied bekam  ich zweihundertsiebzig  Mark in die Hand gedrückt.
Wenn  ich meine Miete  vorausbezahlt habe, bleiben uns  noch  hundertneunzig
Mark. Gestern hätte ich darüber gelacht." Als sie den alten Herrn  aufs Sofa
gepackt  und  ihm die Stehlampe danebengestellt  hatten, denn  er  wollte an
seiner geheimen Maschine  herumrechnen,  wünschten  sie  ihm gute  Nacht und
gingen in  Cornelias Zimmer. Fabian kam  noch einmal zurück  und brachte dem
Gast ein paar belegte Brote.
     "Ich verspreche, nicht zu husten", flüsterte der Alte.
     "Hier darf gehustet  werden. Ihr  Zimmernachbar geht  noch ganz anderen
Vergnügungen  nach, ohne daß  die Wirtin,  eine gewisse Frau Hohlfeld,
die es früher nicht  nötig gehabt hat,  deshalb aus dem Bett kippte. Nur wie
wir's morgen früh machen, weiß  ich noch nicht. Die Wirtin findet ihre
Möbel  reizend, und daß  ein  Fremder die ganze Nacht  auf  ihrem Sofa
biwakiert, würde  sie  ernstlich erzürnen. Schlafen Sie gut. Ich  wecke  Sie
morgen früh. Bis dahin wird mir schon was Passendes einfallen."
     "Gute  Nacht,  junger  Freund",  bemerkte  der  Alte  und  holte  seine
kostbaren Papiere aus der Tasche. "Empfehlen Sie mich dem Fräulein Braut."
     Cornelia schien  so  glücklich, daß  Fabian  sich wunderte.  Eine
Stunde  später fraß sie bereits die eiserne Ration  auf. "Ach, ist das
Leben schön!" sagte sie. "Wie denkst du über die Treue?"
     "Kau  erst fertig,  bevor  du so  große  Worte  aussprichst!"  Er
saß  neben  ihr,  hielt  seine Knie  umschlungen und blickte  auf  das
ausgestreckte Mädchen nieder. "Ich glaube, ich warte nur auf die Gelegenheit
zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich wäre dafür verdorben."
     "Das  ist  ja eine Liebeserklärung", sagte  sie leise. "Wenn  du  jetzt
heulst, zieh ich dir die Hosen stramm!" sagte er.
     Sie kugelte aus dem Bett,  zog ihren kleinen  rosafarbenen Schlüpfer an
und stellte  sich vor  Fabian hin. Sie lächelte  unter Tränen.  "Ich heule",
murmelte sie. "Nun halte auch du dein Versprechen." Dann bückte sie sich. Er
zog sie aufs Bett. Sie  sagte:  "Mein  Lieber, mein  Lieber! Mach dir  keine
Sorgen."


     ZWÖLFTES KAPITEL

     Der Erfinder im Schrank
     Nicht arbeiten ist eine Schande
     Die Mutter gibt ein Gastspiel

     Als er am  nächsten Morgen  den  Erfinder  wecken wollte, war der schon
aufgestanden, gewaschen und angezogen, saß am Tisch und rechnete.
     "Haben Sie gut geschlafen?"
     Der alte Mann war vorzüglicher Laune und  schüttelte ihm die Hand. "Das
geborene Schlafsofa", sagte er und  streichelte  die  braune  Sofalehne, als
handle sich's um einen Pferderücken. "Muß ich jetzt verschwinden?"
     "Ich  will Ihnen einen Vorschlag machen", meinte Fa­bian. "Während  ich
bade, bringt die Wirtin  das Früh­stück  ins  Zimmer, und  da darf sie Ihnen
nicht begegnen, sonst gibt's Krach. Wenn sie wieder draußen ist,  sind
Sie mir  wieder  willkommen.  Dann  können Sie ruhig  noch ein  paar Stunden
hierbleiben. Ich werde Sie allerdings allein lassen, weil ich mich um Arbeit
kümmern muß." "Das macht nichts", erklärte der Alte. "Ich werde in den
Büchern  blättern,  wenn  Sie  erlauben.  Wohin  gehe  ich aber, während Sie
baden?"
     "Ich  dachte,  in   den  Schrank",  sagte  Fabian.  "Der  Schrank   als
Wohnstätte,  das war bis heute ein Privileg der Ehebruchslustspiele. Brechen
wir  mit der  Tradition,  verehrter  Gastfreund!  Ist Ihnen  mein  Vorschlag
ange­nehm?"
     Der Erfinder öffnete den Schrank, blickte skeptisch hin­ein und fragte:
"Pflegen Sie sehr  lange zu baden?" Fabian beruhigte ihn,  schob den zweiten
Anzug, den er besaß, beiseite und hieß  den Gast einsteigen. Der
alte  Herr nahm seine Pelerine um, setzte den Hut auf,  klemmte  den  Schirm
unter den  Arm  und kroch in  den Schrank, der in allen  Fugen krachte. "Und
wenn sie mich hier findet?"
     "Dann ziehe ich am Ersten aus."
     Der  Erfinder  stützte  sich  auf den  Schirm,  nickte und sagte:  "Nun
scheren  Sie sich in die Wanne!"  Fabian schloß  den Schrank  zu, nahm
vorsichtshalber den Schlüssel an sich und rief im Korridor: "Frau  Hohlfeld,
das Frühstück!" Als er das Badezimmer betrat, saß schon Cornelia, über
und über eingeseift, in der Wanne und lachte. "Du mußt mir  den Rücken
abreiben", flüsterte sie. "Ich habe so entsetzlich kurze Ärmchen."
     "Die  Reinlichkeit wird mir zum  Vergnügen", bemerkte Fabian und seifte
ihr  den  Rücken.   Später  vergalt  sie  ihm  Gleiches  mit  Gleichem.  Zum
Schluß saßen  sich beide im  Wasser gegenüber und spielten hohen
Seegang.
     "Schrecklich", sagte er, "in meinem Schrank steht inzwi­schen der König
der Erfinder und wartet  auf seine Befrei­ung.  Ich muß mich beeilen."
Sie kletterten  aus  der  Wan­ne  und  frottierten  einander,  bis die  Haut
brannte. Dann trennten sie sich.
     "Auf Wiedersehen am Abend", flüsterte sie.
     Er  küßte sie. Er verabschiedete sich  von ihren Augen, von ihrem
Mund und Hals, von jedem  Körperteil ein­zeln. Dann lief  er in sein Zimmer.
Das  Frühstück  war  eingetroffen. Er sperrte den Schrank auf. Der alte Herr
stieg  mit  steifen  Beinen  heraus  und  hustete  lange, um  das  Versäumte
nachzuholen.
     "Nun der zweite Teil der Komödie", sagte Fabian, ging  in den Korridor,
öffnete die Flurtür, schlug sie wieder zu und rief: "Großartig, Onkel,
daß du mich  mal besuchst. Tritt bitte näher!" Er komplimentierte  die
imaginäre Person ins Zimmer und  nickte dem verwunderten Erfin­der  zu. "So,
nun  sind Sie offiziell eingetroffen. Nehmen Sie Platz. Hier ist eine zweite
Tasse."
     "Und Ihr Onkel bin ich außerdem."
     "Verwandtschaftliche   Beziehungen    wirken   auf    Wirtinnen   immer
schmerzstillend", erläuterte Fabian. "Aber der Kaffee  ist gut. Darf ich mir
ein Brötchen nehmen?"  Der alte Herr begann den Schrank zu verges­sen. "Wenn
ich nicht unter Kuratel  stünde,  machte ich  Sie  zu meinem Universalerben,
geehrter Herr Neffe", sagte er und aß mit großer Andacht.
     "Ihr   hypothetischer  Antrag  ehrt   mich",  entgegnete  Fa­bian.  Sie
stießen  auf  Drängen des  neuen  Onkels mit den  Kaffeetassen  an und
riefen: "Prost!"
     "Ich liebe  das  Leben", gestand der Alte und wurde fast verlegen. "Ich
liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manchmal könnte ich vor Freude
in  den Sonnenschein hineinbeißen, oder in die Luft,  die in den Parks
weht. Wissen Sie, woran das liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das
heute?  Niemand denkt an  den Tod. Jeder läßt sich von ihm überraschen
wie    von   einem   Eisenbahn­zusammenstoß    oder    einer   anderen
unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen geworden. Ich denke
täglich an  ihn,  denn täglich  kann er  winken. Und  weil ich an ihn denke,
liebe ich das Leben. Es ist eine herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich
sachver­ständig."
     "Und die Menschen?"
     "Der Globus hat die Krätze", knurrte der Alte.
     "Das Leben lieben und zugleich die Menschen  verachten, das geht selten
gut  aus",  sagte Fabian und  stand auf. Er verließ den Gast, der noch
immer Kaffee trank, bat  Frau Hohlfeld, den Onkel nicht zu  stören, und ging
zum Arbeitsamt seines Bezirks.
     Nachdem  er  drei  Beamte absolviert  hatte, das heißt nach  zwei
Stunden, erfuhr er, daß er fehl am Ort sei und  sich an eine westliche
Filiale zu wenden  habe,  die speziell für  Büroangestellte bestimmt war. Er
fuhr mit  dem Autobus zum Wittenbergplatz und ging  in das angegebene Lokal.
Die Auskunft war falsch gewesen. Er geriet mitten in eine Schar arbeitsloser
Krankenschwestern, Kindergärtnerin­nen und Stenotypistinnen und erregte, als
einziger männ­licher Besucher, die größte Aufmerksamkeit.
     Er  zog  sich  zurück, trat  auf  die Straße  und  fand, ein paar
Hausnummern  weiter, einen Laden, der wie das  Geschäft eines  Konsumvereins
aussah,  jetzt aber eben jene Filiale des Arbeitsamtes darstellte, in der er
sich melden sollte. Hinter dem  ehemaligen Ladentisch saß ein Beamter,
davor  standen, in langer Kette, erwerbslose Angestellte, legten, einer nach
dem  anderen,  die   Stempelkarte  vor  und   erhielten  den  erforderlichen
Kontrollvermerk.
     Fabian war erstaunt, wie sorgfältig diese Arbeitslosen gekleidet waren,
manche  konnten geradezu  elegant ge­nannt  werden,  und wer ihnen  auf  dem
Kurfürstendamm   begegnet  wäre,   hätte   sie   fraglos   für   freiwillige
Müßiggänger gehalten. Vermutlich verbanden die Leute den morgendlichen
Gang   zur    Stempelstelle   mit   einem   Bummel   durch   die   vornehmen
Geschäftsstraßen.  Vor den Schau­fenstern stehen  zu  bleiben, kostete
noch immer nichts, und wer wollte  erkennen, ob sie nichts  kaufen  konnten,
oder ob sie es nur  nicht wollten? Sie trugen ihre Feiertags­anzüge, und sie
taten recht daran, denn wer hatte so viele Feiertage wie sie?
     Ernst  und  auf  Haltung  erpicht, standen  sie in Reih und  Glied  und
warteten, bis  sie ihre Stempelkarte wieder  einstecken durften. Dann gingen
sie hinaus, als verließen sie eine zahnärztliche Klinik.
     Manchmal  schimpfte  der  Beamte  und  legte eine  Karte beiseite.  Ein
Gehilfe  trug  sie  in  den Nebenraum. Dort thronte  ein  Inspektor  und zog
unregelmäßige Besucher der Kontrollstelle  zur Rechenschaft. Von  Zeit
zu  Zeit trat eine Art von Portier aus der Tür und rief  einen Namen. Fabian
las die Druckschriften, die an den Wänden hingen. Es war verboten, Armbinden
zu tragen. Es  war verboten,  Umsteigebilletts der Straßenbahn von den
Erstinhabern  zu  übernehmen  und  weiter  zu  benutzen.  Es  war  verboten,
politische Debatten hervorzurufen und sich an ihnen  zu beteiligen. Es wurde
mitgeteilt, wo  man  für dreißig Pfennige ein ausgesprochen nahrhaftes
Mittagessen   erhal­ten    könne.   Es    wurde   mitgeteilt,   für   welche
Anfangsbuch­staben   sich  die  Kontrolltage  verschoben  hatten.  Es  wurde
mitgeteilt,   für  welche   Berufszweige   die   Nachweisadressen  und   die
Auskunftszeiten geändert worden waren. Es wurde mitgeteilt. Es war verboten.
Es war verboten. Es wurde mitgeteilt.
     Das  Lokal leerte  sich  allmählich.  Fabian legte  dem Beam­ten  seine
Papiere vor. Der Mann sagte, Propagandisten seien hier nicht  üblich, und er
empfehle Fabian,  sich  an  die  Stelle zu  wenden,  die für  freie  Berufe,
Wissenschaftler und Künstler zuständig sei. Er nannte die Adresse.
     Fabian fuhr mit dem Autobus bis zum Alexanderplatz. Es war fast Mittag.
Er  geriet  in der  neuen  Filiale in  eine sehr gemischte Gesellschaft. Den
Anschlägen entnahm er, daß  es sich möglicherweise um Ärzte, Juristen,
Ingenieure, Diplomlandwirte und Musiklehrer handelte. "Ich bin jetzt bei der
Krisenfürsorge", sagte  ein kleiner  Herr. "Ich kriege 24,50 Mark. Auf jeden
Kopf meiner Familie kom­men in  der Woche  2,72 Mark, und auf einen Tag  für
einen Menschen 38 Pfennige. Ich habe es in meiner chronischen Freizeit genau
ausgerechnet. Wenn das so weitergeht, fange ich nächstens an, einzubrechen."
     "Wenn  das  so leicht wäre", seufzte  sein  Nachbar,  ein kurzsichtiger
Jüngling. "Sogar Stehlen will gelernt  sein. Ich habe ein Jahr im  Gefängnis
gesessen. Also, es gibt erfreulichere Milieus."
     "Es ist  mir egal, wenigstens vorher", erklärte der kleine Herr erregt.
"Meine  Frau  kann den Kindern  nicht  mal  ein  Stück  Brot in  die  Schule
mitgeben. Ich sehe mir das nicht länger mit an."
     "Als ob Stehlen  Sinn hätte",  sagte ein großer,  breiter Mensch,
der am Fenster lehnte. "Wenn der Kleinbürger nichts zu fressen hat, will  er
gleich   zum   Lumpenproleta­riat  übergehen.   Warum   denken   Sie   nicht
klassenbewußt, Sie kleine  häßliche Figur? Merken Sie noch immer
nicht, wo Sie hingehören? Helfen Sie die politische Revolution vorbereiten."
     "Bis dahin sind meine Kinder verhungert."
     "Wenn man Sie einsperrt, weil Sie geklaut haben, verhungern Ihre werten
Herren Kinder  noch rascher",  sagte der Mann  am Fenster.  Der kurzsichtige
Jüngling  lachte  und  schaukelte  entschuldigend mit  der Schulter.  "Meine
Soh­len  sind völlig  zerrissen", sagte der kleine Herr. "Wenn ich  jedesmal
hierherlaufe, sind die Schuhe in  einer Woche  hin, und zum Fahren  habe ich
kein Geld."
     "Kriegen Sie keine Stiefel von der Wohlfahrt?" fragte der Kurzsichtige.
     "Ich habe so empfindliche Füße", erklärte der kleine Herr.
     "Hängen Sie sich auf!" meinte der Mann am Fenster.
     "Er hat einen so empfindlichen Hals", sagte Fabian.
     Der Jüngling hatte ein paar Münzen auf den Tisch gelegt und zählte sein
Vermögen.    "Die    Hälfte   des   Geldes    geht   regelmäßig    für
Bewerbungsschreiben drauf.  Porto braucht  man.  Rückporto  braucht man. Die
Zeugnisse  muß  ich   mir  jede   Woche   zwanzigmal  abschreiben  und
beglaubigen lassen. Kein  Mensch  schickt  die Papiere  zurück. Nicht einmal
Antwort  erhält man.  Die Bürofrit­zen  legen  sich  vermutlich  mit  meinem
Rückporto Brief­markensammlungen an."
     "Aber die Behörden tun, was sie tun können", sagte der Mann am Fenster.
"Unter anderem haben  sie  Gratiszeichenkurse für  Arbeitslose eingerichtet.
Das  ist  eine wahre  Wohltat, meine Herren.  Erstens  lernt  man  Äpfel und
Beefsteaks malen, und zweitens wird  man davon satt. Die Kunsterziehung  als
Nahrungsmittel."
     Der  kleine Herr,  dem  jeder  Humor abhanden gekommen zu  sein schien,
sagte bedrückt: "Das nützt mir gar nichts. Ich bin nämlich Zeichner."
     Dann ging ein Beamter durch den Warteraum, und Fabian  erkundigte sich,
vorsichtig  geworden, ob er  Aussicht habe, hier  abgefertigt zu werden. Der
Beamte fragte nach dem Ausweis des regionalen Arbeitsamts.
     "Sie haben sich noch nicht gemeldet? Das müssen Sie vorher erledigen."
     "Jetzt  geh ich wieder dorthin,  wo  ich vor fünf  Stunden  die Tournee
begonnen habe", sagte Fabian. Aber der Beamte war nicht mehr da.
     "Die Bedienung ist zwar höflich", meinte der Jüngling,  "aber daß
die Auskünfte immer stimmen, kann kein Mensch behaupten."
     Fabian fuhr mit dem Autobus zum Arbeitsamt seines Wohnbezirks. Er hatte
bereits  eine  Mark Fahrgeld ver­braucht und  blickte  vor Wut nicht aus dem
Fenster.
     Als  er ankam,  war  das Amt geschlossen. "Zeigen Sie  mal Ihre Papiere
her", sagte der Portier. "Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein." Fabian
gab  dem  Biedermann  das  Zettelpaket:  "Aha", erklärte  der Türsteher nach
eingehender Lektüre. "Sie sind ja gar nichts arbeitslos." Fabian setzte sich
auf einen der bronzenen Meilensteine, welche die Einfahrt zierten.
     "Sie haben bis zum Monatsende gewissermaßen bezahlten Urlaub. Das
Geld haben Sie doch von Ihrer Firma er­halten?"
     Fabian nickte.
     "Dann kommen Sie  mal in vierzehn Tagen wieder", schlug der andere vor.
"Bis dahin können Sie es ja mit Bewerbungsschreiben probieren. Lesen Sie die
Stellenan­gebote  in  den Zeitungen. Viel Sinn hat es nicht, aber man soll's
nicht beschreien."
     "Glückliche Reise",  sprach Fabian,  nahm die  Papiere in  Empfang  und
begab  sich in den  Tiergarten, wo er ein paar Brötchen verzehren wollte. Zu
guter Letzt verfütterte er  sie aber an die Schwäne, die mit ihren Jungen im
Neuen See spazieren fuhren.
     Als  er gegen Abend das  Zimmer betrat, fand er  seine Mutter  vor. Sie
saß auf dem Sofa, legte ein Buch  beiseite und sagte: "Da  staunst du,
mein Junge."
     Man umarmte sich. Sie fuhr  fort: "Ich  mußte  nachsehen, was  du
machst.  Vater  paßt  inzwischen  auf, daß niemand ins  Geschäft
kommt. Ich hatte Sorgen  um  dich. Du beantwortest meine Briefe nicht  mehr.
Zehn Tage hast du nicht geschrieben. Es ließ mir keine Ruhe, Jakob."
     Er  setzte sich neben die Mutter,  streichelte ihre Hände und erklärte,
es gehe ihm gut.
     Sie betrachtete ihn prüfend. "Komme ich dir ungelegen?"
     Er schüttelte den Kopf. Sie  stand auf.  "Die Wäsche habe ich dir schon
in den Schrank geräumt.  Deine Wirtin  könnte mal reinemachen.  Ist sie noch
immer  zu fein  dazu? Was  denkst du, was ich mitgebracht habe." Sie öffnete
den Spankorb  und legte Pakete auf den Tisch. "Blutwurst",  sagte  sie, "ein
Pfund, aus der Breiten Straße, du weißt schon. Kaltes Schnitzel.
Leider  kann  man  hier  nicht in die  Küche, sonst würde  ich's  aufbraten.
Schinkenspeck. Eine halbe Salamiwurst. Tante Martha läßt grüßen.
Ich war gestern bei ihr im Garten. Ein paar Stück  Seife aus dem Laden. Wenn
das  Geschäft bloß nicht  so  schlecht  ginge. Ich  glaube,  die Leute
waschen sich nicht mehr. Und hier eine Krawatte, gefällt sie dir?"
     "Du bist so gut", sagte Fabian. "Aber du  sollst nicht so viel Geld für
mich ausgeben."
     "Quatsch mit Sauce", sagte die Mutter  und  legte die Eßwaren auf
einen Teller. "Sie mag uns ein bißchen Tee kochen, deine  Gnädige. Ich
hab's  ihr schon erzählt. Morgen abend  fahre  ich  zurück. Ich  bin mit dem
Perso­nenzug gekommen. Die Zeit verging schnell. Ein Kind war im Abteil. Wir
haben viel gelacht. Was macht dein Herz? Du rauchst zu  viel? Überall stehen
leere Zigaretten­schachteln herum."
     Fabian  sah der  Mutter  zu.  Sie hantierte vor lauter Rührung wie  ein
Gendarm.
     "Ich mußte gestern daran denken", sagte  er, "wie das damals war,
als ich im  Internat  steckte,  und  du  warst krank, und ich rannte  abends
davon,  über den Exerzier­platz, nur  um zu sehen, wie es dir ginge. Einmal,
das weiß  ich  noch, schobst du einen Stuhl vor dir  her und stütztest
dich darauf, sonst hättest du mir gar nicht öffnen können."
     "Du  hast  viel  durchgemacht  mit  deiner  Mutter",  sagte  sie.  "Man
müßte sich öfter sehen. Wie geht's in der Fabrik?"
     "Ich habe ihnen ein  Preisausschreiben vorgeschlagen. Daran  können sie
eine Viertelmillion verdienen."
     "Für zweihundertsiebzig Mark  im  Monat,  diese Bande." Die  Mutter war
empört. Dann klopfte es. Frau Hohlfeld brachte den Tee,  stellte das Tablett
auf den Tisch und sagte: "Ihr Onkel ist schon wieder da."
     "Dein Onkel?" fragte die Mutter erstaunt.
     "Ich habe mich schon gewundert", erklärte die Wirtin.
     "Hoffentlich haben Sie sich dabei keinen  Schaden getan, gnädige Frau",
erwiderte Fabian,  und Frau Hohlfeld  entfernte sich  gekränkt. Fabian holte
den Erfinder ins Zimmer und sagte: "Mama, das ist ein alter  Freund von mir.
Er  hat gestern auf dem Sofa  geschlafen,  und ich habe  ihn zu meinem Onkel
ernannt, um das Verfahren abzu­kürzen." Er wandte sich an den Erfinder. "Das
ist meine Mutter, lieber Onkel. Die beste Frau des Jahrhunderts.  Nehmen Sie
Platz.  Aus  dem  Sofa wird  heute  freilich nichts. Aber ich möchte Sie für
morgen einladen, wenn es Ihnen recht ist."
     Der alte Herr setzte sich, hustete, stülpte den Hut auf den Schirmknauf
und drückte Fabian ein  Kuvert in die Hand. "Stecken Sie das rasch ein", bat
er. "Es ist meine  Maschine. Man ist hinter mir her. Meine Familie will mich
wieder einmal ins Irrenhaus bringen. Sie hofft wahrscheinlich, mir dabei die
Notizen abzujagen und zu Geld zu machen."
     Fabian  steckte  den Briefumschlag  ein.  "Man  will  Sie ins Irrenhaus
sperren?"
     "Ich habe nichts dagegen", bemerkte der Alte. "Man hat seine Ruhe dort.
Der Park ist wundervoll. Der leitende Arzt ist ein erträglicher Kerl, selber
ein  bißchen  verrückt und spielt ausgezeichnet Schach. Ich war  schon
einmal dort.  Wenn mir's  zu dumm wird, rück  ich  wieder aus. Entschuldigen
Sie, meine Dame", sagte  er zu der Mutter. "Ich mache Ihnen Ungelegenheiten.
Erschrecken  Sie nicht, wenn man mich abholt.  Es wird gleich  klingeln. Ich
bin soweit.  Die  Papiere  sind gut  aufgehoben.  Verrückt bin  ich übrigens
nicht,  ich bin  meinen  werten Angehörigen zu  vernünftig.  Lieber  Freund,
schreiben Sie mir ein paar Zeilen nach Bergendorf in die Heilanstalt."
     Es klingelte.
     "Da  sind sie  schon",  rief  der Alte. Frau Hohlfeld  ließ  zwei
Herren eintreten.
     "Ich bitte, die Störung zu entschuldigen", sagte der eine und verbeugte
sich. "Vollmachten, die  Sie gern  einsehen können,  veranlassen mich, Herrn
Professor Kollrepp aus Ihrem Kreise  zu  entfernen. Unten wartet mein Auto."
"Wozu die Umstände, lieber Sanitätsrat? Sie sind dünner geworden. Ich merkte
es schon  gestern,  daß  ihr mir auf der Spur wart.  Tag, Winkler.  Da
wollen wir mal in Ihren Wagen klettern. Wie geht's meiner lieben Familie?"
     Der Arzt hob die Schultern.
     Der  Alte  ging  zum  Schrank  hinüber, öffnete  ihn,  sah  hinein  und
schloß die  Tür wieder. Dann trat er  zu  Fabian und nahm dessen Hand.
"Ich danke Ihnen  sehr."  Er schritt zur Tür. "Sie haben einen guten  Sohn",
sagte er zu der alten Frau. "Das kann nicht jeder von sich behaup­ten." Dann
verließ er das Zimmer. Der Arzt und der Wärter folgten ihm. Fabian und
seine Mutter blickten durchs  Fenster. Ein Auto stand vor dem Haus. Die drei
Männer traten aus  der Tür. Der Chauffeur half dem alten  Erfinder  in einen
Staubmantel. Die Pelerine wurde ver­staut.
     "Ein komischer Mann", sagte die  Mutter, "aber verrückt ist  er nicht."
Das Auto fuhr davon. "Warum sah er eigentlich in den Schrank?"
     "Ich  habe  ihn heute früh in den  Schrank gesperrt,  damit  die Wirtin
nichts  merkte",  sagte  der  Sohn.  Die Mutter  goß  Tee  ein.  "Aber
leichtsinnig  ist es  trotzdem von dir, wildfremde Menschen hier schlafen zu
lassen. Wie schnell kann etwas passieren. Hoffentlich hat er deine Sachen im
Schrank nicht schmutzig gemacht."
     Fabian  schrieb sich die Adresse  der Irrenanstalt auf  das  Kuvert und
schloß es weg. Dann setzte er sich zum Essen. Nach dem Abendbrot sagte
er: "Komm,  mach dich fertig. Wir gehen  ins Kino." Während sich  die Mutter
anzog, besuchte er Cornelia und erzählte ihr, daß seine Mutter da sei.
Die Freundin war  müde und lag schon  im  Bett. "Ich schlafe, bis du aus dem
Kino  zurück bist", meinte sie. "Siehst du dann noch einmal zu mir  herein?"
Er versprach es.
     Der  Tonfilm,  den  Fabian  und seine Mutter  sahen, war  ein  albernes
Theaterstück,  das  in zwei  Dimensionen  verlief. Abgesehen davon war nicht
gespart worden, der vorge­führte Luxus überschritt  jede  Grenze. Man hatte,
obwohl dergleichen anstandshalber nicht gezeigt wurde,  den Ein­druck, unter
den Betten stünden goldene Nachttöpfe. Die Mutter lachte wiederholt, und das
freute Fabian so sehr, daß er mitlachte.
     Nach Hause gingen sie zu Fuß. Die  Mutter war vergnügt. "Wenn ich
früher  so gesund gewesen  wäre wie heute,  mein  Junge, dann  hättest du es
besser gehabt", meinte sie nach einiger Zeit.
     "Es  war auch so nicht übel",  sagte  er. "Und  außerdem  ist  es
vorbei."
     Zu Hause  stritten sie sich  ein bißchen, wer im Bett und wer auf
dem  Sofa  schlafen solle. Endlich siegte Fabian. Die  Mutter bereitete  das
Sofa  zur Nacht. Er müsse  erst  einmal nebenan, sagte  er dann. "Dort wohnt
eine junge Dame, und ich bin mit ihr befreundet." Er verabschiedete sich für
alle Fälle, gab der Mutter einen Kuß und öffnete leise die Tür.
     Eine Minute später kam er wieder. "Sie schläft schon", flüsterte er und
bestieg sein Sofa.
     "Früher wäre das nicht möglich gewesen", bemerkte Frau Fabian.
     "Das hat ihre Mutter auch gesagt", meinte der Sohn und drehte sich nach
der Wand. Plötzlich, kurz vor  dem Einschlafen,  stand  er  noch einmal auf,
tappte durchs dunkle Zimmer, beugte sich  über das Bett und sagte wie einst:
"Schlaf gut, Muttchen."
     "Du auch",  murmelte  sie und öffnete die  Augen.  Er konnte  das nicht
sehen. Er tastete sich im Finstern zum Sofa zurück.


     DREIZEHNTES KAPITEL

     Das Kaufhaus und Arthur Schopenhauer
     Das reziproke Bordell
     Die zwei Zwanzigmarkscheine

     Am anderen  Morgen  wurde  er von  seiner  Mutter geweckt.  "Aufstehen,
Jakob! Du  kommst zu spät  ins Büro!" Er machte sich rasch fertig, trank den
Kaffee im Stehen und verabschiedete sich.
     "Ich  werde inzwischen Ordnung schaffen", sagte sie. "Sowas  von  Staub
überall. Und an deinem Mantel ist der Henkel abgerissen. Geh ohne Mantel. Es
ist  ja warm draußen." Fabian lehnte an  der Tür und  sah zu,  wie die
Mutter hantierte. Ihr aus Nervosität und Ordnungsliebe addierter Fleiß
wirkte anheimelnd. Das Zimmer war erfüllt  davon, es erinnerte  plötzlich an
zu Hause. "Daß du dich ja nicht fünf Minuten hinsetzt und die Hände in
den Schoß legst", warnte er.
     "Wäre  es nicht schöner, wenn ich jetzt Zeit hätte? Wir  könnten in den
Tiergarten  gehen. Oder ins Aquarium. Oder wir blieben hier, und du  würdest
mir wieder einmal davon erzählen, wie  komisch ich als Kind war. Als ich die
Bettstelle mit der Stecknadel zerkratzte und dich dann bei der Hand nahm, um
dir  das herrliche  Gemälde  zu  zeigen.  Oder  als ich dir  zum  Geburtstag
weißen  und schwarzen Zwirn und ein  Dutzend Nähnadeln und Druckknöpfe
schenkte."
     "Und ein Heft Stecknadeln und weiße und schwarze Nähseide. Es ist
mir  noch wie heute", sagte die Mutter  und  strich sein Jackett glatt. "Der
Anzug müßte gebügelt werden."
     "Und eine Frau müßte ich haben und sieben  kleine ulkige Kinder",
ergänzte er in  weiser  Voraussicht. "Scher  dich an die Arbeit!" Die Mutter
stemmte  die Arme  in  die Hüften. "Arbeiten ist gesund. Übrigens, ich  hole
dich am Nachmittag vom Büro ab.  Ich warte vor der Tür. Dann bringst du mich
zum Bahnhof."
     "Es ist sehr schade, daß du nur einen Tag bleiben kannst." Er kam
noch einmal zurück.
     Die Mutter sah ihn nicht an.  Sie machte sich am Sofa zu schaffen. "Ich
hielt  es drüben  nicht  mehr aus", murmelte  sie.  "Aber  nun  geht's schon
wieder, du mußt nur länger schlafen, und du darfst das  Leben nicht zu
schwer neh­men, mein Junge. Es wird dadurch nicht leichter."
     "Nun gehe ich aber, sonst komme ich wirklich noch zu spät", sagte er.
     Sie blickte  ihm vom  Fenster aus nach und nickte. Er winkte und lachte
und lief schnell, bis das Haus nicht mehr zu sehen war. Dann verlangsamte er
den  Schritt  und blieb schließlich stehen. Ein hübsches Versteckspiel
trieb er da  mit der alten Frau! Rannte auf und  davon,  obwohl er nichts zu
tun  hatte. Ließ sie  da oben  allein in  dem fremden, häßlichen
Zimmer, obwohl  er  wußte, daß sie jede Stunde, die sie mit  ihm
Zusammensein  durfte,  bereit  war,  gegen  ein  ganzes  Jahr  ihres  Lebens
einzutauschen. Am Nachmittag würde  sie ihn vom Büro abholen. Er mußte
ihr eine Komödie vorspielen. Sie durfte nicht wissen, daß er entlassen
war.  Der   Anzug,  den  er  trug,  war   der  einzige,   den  er  sich   in
zweiunddreißig Jahren selber gekauft  hatte. Ihr Leben lang hatte  sie
deswegen geschuf­tet und gespart. Sollte das denn nie ein Ende nehmen?
     Weil  es zu regnen anfing, ging er  im Kaufhaus des Westens  spazieren.
Kaufhäuser   sind,   obwohl   das  gar   nicht  in   ihrer   Absicht  liegt,
außerordentlich  geeignet,  Leuten,  die kein  Geld und  keinen Schirm
haben,  Unterhaltung  zu  bieten.  Er höre einer  Verkäuferin  zu, die  sehr
gewandt  Klavier  spielte. Aus  der Lebensmittelabteilung  vertrieb  ihn der
Fischgeruch, den  er  seit  seiner  Kindheit,  vielleicht  auf  Grund  einer
embryonalen Erinnerung, nicht ausstehen konnte. In der Möbeletage wollte ihm
ein junger Mann unbedingt einen  großen Kleiderschrank verkaufen.  Das
Stück  sei  preiswert, die Gelegenheit unwiederbringlich. Fabian entzog sich
der  unerhörten Zumutung  und wan­derte in  die Buchabteilung. Er  geriet an
einem  der  Anti­quariatstische  über  einen Auswahlband von  Schopenhau­er,
blätterte und las sich fest. Der Vorschlag  dieses verbiesterten  Onkels der
Menschheit, Europa  mit  Hilfe einer indischen Heilpraxis  zu veredeln,  war
freilich  eine Kateridee, wie bisher  alle positiven Vorschläge, ob  sie nun
von Philosophen des neunzehnten oder  von Nationalöko­nomen  des zwanzigsten
Jahrhunderts stammten.  Aber  davon  abgesehen war der Alte unübertrefflich.
Fabian fand eine typologische Erörterung und las:
     "Eben  dieser  Unterschied  ist  es,  den  Plato  durch  die  Ausdrücke
̉έυχολος                         und
δύσχολος    bezeichnete.   Dersel­be
läßt  sich  zurückführen  auf  die  bei  verschiedenen  Menschen  sehr
verschiedene  Empfänglichkeit  für  ange­nehme  und  unangenehme  Eindrücke,
infolge  welcher der  eine noch lacht bei  dem,  was  den  anderen fast  zur
Verzweiflung  bringt,  und  zwar  pflegt die Empfänglichkeit  für  angenehme
Eindrücke  desto schwächer zu sein, je stärker sie  für unangenehme ist, und
umgekehrt. Nach  gleicher  Möglichkeit  des  glücklichen  und unglück­lichen
Ausgangs          einer           Angelegenheit           wird           der
δύσχολος bei dem unglücklichen  sich
ärgern  oder  grämen,  bei  dem  glücklichen  sich  aber nicht  freuen;  der
̉έυχολος   hingegen  wird  über  den
glücklichen            sich            freuen.           Wenn            dem
δύσχολος  von   zehn  Vorhaben  neun
gelingen,  so freut  er  sich nicht über diese, sondern ärgert sich über das
eine  mißlungene: der ̉έυχολος
weiß,  im  umgekehrten  Fall, sich  doch  mit dem  einen gelungenen zu
trösten und auf­zuheitern.
     Wie  nun aber  nicht leicht  ein Übel ohne alle Kompensa­tionen ist, so
ergibt         sich         auch         hier,         daß         die
δύσχολοι,  also  die  finsteren  und
ängstlichen  Charaktere, im ganzen zwar imaginäre, dafür aber weniger  reale
Unfälle  und  Leiden  zu  überstehen  haben  werden  als  die  heiteren  und
sorglosen; denn wer alles schwarz sieht, stets das Schlimmste befürchtet und
demnach seine Vorkehrun­gen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet haben,
als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht leiht."
     "Was darf ich Ihnen verkaufen?" fragte ein ältliches Fräulein.
     "Haben Sie baumwollene Socken?" fragte Fabian.
     Das  ältliche  Fräulein  betrachtete  ihn   entrüstet  und  sagte:  "Im
Erdgeschoß." Fabian legte das Buch auf den Tisch und stieg eine Treppe
abwärts. Hatte Schopenhauer  damit recht, daß er, gerade er, jene zwei
menschlichen  Gattun­gen  als  einander ebenbürtig  gegenüberstellte?  Hatte
nicht  gerade  er  in seiner Psychologie behauptet:  die  Lustempfindung sei
nichts anderes als ein seelisches Minimum an Unlust? Hatte er in diesem Satz
die Anschauung  der  δύσχολοι  wider
besseres   Wissen  verabsolutiert?   In  der  Abteilung  für  Porzellan  und
keramisches  Kunstgewerbe  war  ein  Auflauf.  Fabian  trat  hinzu.  Käufer,
Verkäuferin­nen und  Bummler umstanden  ein kleines verheultes Mäd­chen, das
zehn  Jahre sein mochte, einen Schulranzen trug  und ärmlich  angezogen war.
Das  Kind  zitterte  am ganzen Körper  und  blickte  entsetzt in die  bösen,
aufgeregten Gesichter der Erwachsenen ringsum. Der Abteilungschef  kam. "Was
ist los?"
     "Ich habe das freche Ding erwischt,  wie es einen Aschen­becher stahl",
erklärte eine alte  Jungfer.  "Hier!" Sie hob eine  kleine bunte Schale hoch
und zeigte sie dem Vorge­setzten.
     "Marsch zum Direktor!" kommandierte der Cutaway.
     "Jugend von heute", sagte eine aufgetakelte Gans.
     "Marsch zum  Direktor!"  rief eine  der  Verkäuferinnen und packte  die
Kleine an der Schulter. Das Kind weinte sehr.
     Fabian schob sich durch die Versammlung. "Lassen Sie auf der Stelle das
Kind los!"
     "Erlauben Sie mal", meinte der Abteilungsleiter.
     "Was fällt Ihnen ein, sich einzumischen?" fragte jemand. Fabian gab der
Verkäuferin   einen  Klaps  auf   die   Finger,  daß  sie   das   Kind
losließ, dann zog er das kleine Mädchen an seine Seite. "Warum hast du
denn  ausgerechnet einen Aschenbecher  weggenommen?" fragte er. "Rauchst  du
schon Zigarren?"
     "Ich hatte kein Geld", sagte  das  Mädchen. Dann hob  es  sich  auf die
Zehenspitzen. "Mein Papa hat heute Ge­burtstag."
     "Einfach  stehlen,  weil  man kein Geld  hat.  Es  wird immer schöner",
bemerkte die aufgetakelte Gans. "Schreiben Sie uns einen Kassenzettel  aus",
sagte Fabian zu der Verkäuferin. "Wir behalten den Aschenbecher."
     "Das  Kind  verdient  aber Strafe",  behauptete der  Abtei­lungsleiter.
Fabian trat auf  den Mann zu. "Wenn  Sie sich  meinem Vorschlag  widersetzen
wollen, schmeiße ich Ihnen den ganzen Porzellanladen kaputt."
     Der Cutaway zuckte  mit  den Schultern,  die  Verkäuferin schrieb einen
Zettel aus  und  brachte den Aschenbecher zur Auslieferung. Fabian ging  zur
Kasse, zahlte und nahm das Päckchen in Empfang.  Dann begleitete er das Kind
bis  zum  Ausgang.  "Hier  hast  du deinen  Aschenbecher",  sagte  er. "Aber
paß gut auf, daß er nicht entzweigeht. Es war einmal ein kleiner
Junge, der kaufte  einen  großen  Koch­topf,  um ihn seiner  Mutter am
Heiligen Abend zu schen­ken. Als es soweit war, nahm er den Topf in die Hand
und  segelte  durch  die   halb  offene  Tür.  Der   Christbaum  schim­merte
großartig. "Da, Mutter, da hast du..." sagte er und  wollte sagen: "Da
hast du den Topf." Es gab aber einen Krach,  der Topf zerbrach  an  der Tür.
"Da, Mutter, da hast du den  Henkel", sagte der Junge nun, denn er hatte nur
noch den Henkel in der Hand."
     Das kleine  Mädchen sah zu ihm auf,  hielt das Paket  mit beiden Händen
fest und meinte: "Mein Aschenbecher  hat ja gar keinen Henkel." Sie knickste
und lief fort. Dann drehte sie sich noch einmal um, rief: "Danke schön!" und
verschwand.
     Fabian trat  auf  die  Straße. Es regnete  nicht mehr. Er stellte
sich an  die Bordschwelle  und sah den Autos zu.  Ein Wagen hielt. Eine alte
Dame,  mit  Paketen behangen,  schob sich schwerfällig vom Sitz  und  wollte
aussteigen.  Fabian öffnete  den Wagenschlag, half der Dame vom  Trittbrett,
zog höflich den Hut und trat zur Seite. "Da!" sagte jemand neben ihm. Es war
die  alte Dame.  Sie drückte ihm  etwas  in die  Hand,  nickte und  ging ins
Kaufhaus. Fabian machte  die  Hand auf.  Er hielt einen  Groschen.  Er hatte
unfreiwillig einen Groschen verdient. Sah er bereits wie ein Bettler aus?
     Er steckte  die Münze  ein, trat trotzig an  den Straßenrand  und
öffnete einen zweiten Wagen.  "Da!"  sagte jemand  und gab  ihm wieder einen
Groschen. "Das wächst sich zu einem Beruf aus", dachte Fabian und hatte eine
Viertel­stunde später  fünfundsechzig Pfennig verdient.  "Wenn jetzt  Labude
vorbeikäme  und  den  literarhistorisch  vorge­bildeten   Autoöffner  sähe",
überlegte er. Aber der Gedan­ke erschreckte  ihn nicht. Nur der Mutter hätte
er nicht begegnen mögen und auch Cornelia nicht. "Eine milde Gabe gefällig?"
fragte eine Frau und gab ihm ein größeres Geldstück. Es war Frau Irene
Moll.  "Ich habe  dich  lange  Zeit  beobachtet, mein Junge",  sagte sie und
lächelte schadenfroh.  "Wir begegnen einander, wo wir können. Geht's dir  so
dreckig? Du warst voreilig, als du das Angebot meines Mannes ablehntest, und
auch die  Schlüssel hättest du behalten  können. Ich wartete darauf, dich in
meinem Bett wiederzusehen. Deine Zurückhal­tung  macht  sinnlich. Hier, hilf
mir die Pakete tragen. Das Trinkgeld hast du schon."
     Fabian ließ sich die Pakete aufladen und folgte schweigsam.
     "Was  kann  ich  für  dich  tun?"  fragte  sie  nachdenklich. "Stellung
eingebüßt, was? Ich  bin nicht nachtragend. Auf Moll  ist leider nicht
mehr zu zählen.  Er ist zu Schiff nach Frankreich oder sonstwohin. Und jetzt
wohnt die Krimi­nalpolizei bei uns. Moll hat die seinem Notariat übergebenen
Gelder unterschlagen. Seit Jahren schon,  nie hätte ich  ihm  das zugetraut.
Wir haben ihn unterschätzt." "Wovon leben Sie denn nun?" fragte Fabian.
     "Ich  habe eine  Pension  eröffnet.  Große  Wohnungen  sind jetzt
billig. Die  Möbel hat mir ein alter  Bekannter ge­schenkt, das heißt,
die Bekanntschaft ist jung, der Be­kannte ist alt. Ihm  gehören nur ein paar
Gucklöcher in den Türen."
     "Und wer wohnt in dieser übersichtlichen Pension?"  "Junge Männer, mein
Herr.   Wohnung  und  Verpflegung  gratis.   Außerdem   erhalten   sie
dreißig Prozent der Ein­nahmen."
     "Welche Einnahmen?"
     "Mein  Verein   unchristlicher  Männer  wird  von   Damen  der   besten
Gesellschaft mit wahrer  Leidenschaft  frequentiert.  Die Damen  sind  nicht
immer schön und schlank, und daß sie mal jung waren, glaubt ihnen kein
Mensch. Aber sie haben Geld. Und wieviel  ich auch verlange, sie zahlen. Und
wenn sie  vorher ihre  Herren Ehemänner bestehlen oder ermorden sollten, sie
kommen. Meine Pensionäre  verdienen. Der Möbelhändler  sieht  zu. Die  Damen
gehen ihren  Passionen  nach.  Drei junge Leute  sind  mir  schon  abgekauft
worden.  Sie  haben  beträchtliche  Einkünfte,  eigene  Wohnung  und  kleine
Freundinnen nebenher,  heimlich, versteht sich. Der  eine, ein Ungar,  wurde
von der  Frau eines  Industriellen  erworben. Er lebt wie ein Prinz. Wenn er
klug  ist,  hat  er  in  einem  Jahr  ein Vermö­gen.  Dann kann  er die alte
Schießbudenfigur abschaffen."
     "Also ein Männerbordell", sagte Fabian.
     "So  ein Institut hat  heute  viel  mehr Existenzberechti­gung  als ein
Frauenhaus", erklärte  Irene  Moll. "Außer­dem träumte  ich  schon als
junges Mädchen  davon, Be­sitzerin eines  solchen  Etablissements zu werden.
Ich  bin sehr  zufrieden.  Ich  habe Geld, ich engagiere fast  täglich  neue
Kräfte für  das Unternehmen,  und  jeder, der sich um  eine  Pensionärstelle
bewirbt, muß  bei  mir eine Art  Aufnahmeprüfung bestehen.  Ich  nehme
nicht jeden!  Wirkliche Talente sind selten. Naturbegabungen gibt  es  schon
eher. Ich werde Fortbildungskurse einrichten müssen."
     Sie  blieb  stehen.  "Ich  bin  angelangt."  Die Pension lag  in  einem
großen eleganten  Mietshaus.  "Ich  möchte dir einen Vorschlag machen.
Als Pensionär kommst  du nicht in Frage, mein Lieber. Du bist zu wählerisch,
du  bist  auch schon zu  alt für  die  Branche,  meine  Kundschaft bevorzugt
Zwanzigjährige. Außerdem leidest du an falschem Stolz. Ich könnte dich
als   Sekretär  verwenden.   Allmählich  wird  eine   geordnete  Buchführung
notwendig. Du  könntest in meinen Privaträumen arbeiten, wohnen  könntest du
auch dort. Wie denkst du darüber?"
     "Hier sind die Pakete", sagte  Fabian.  "Ich  möchte mei­nem  Brechreiz
nicht zuviel zumuten."
     In  diesem Augenblick kamen zwei junge Burschen aus dem Haus. Sie waren
schick angezogen, zögerten,  als  sie  Frau  Moll erblickten, und nahmen die
Hüte ab.
     "Gaston,  hast du heute Ausgang?" fragte sie.  "Mackie meinte, ich soll
mir mal das Auto  ansehen, das ihm Nummer Sieben versprochen hat. In zwanzig
Minu­ten bin ich wieder da."
     "Gaston,  du gehst sofort auf  dein  Zimmer.  Was ist das denn für eine
Wirtschaft? Mackie geht allein.  Marsch! Für drei Uhr hat  sich Nummer Zwölf
angemeldet. Bis dahin schläfst du, los!"
     Der junge Mann  ging  ins  Haus  zurück,  der  andere setzte,  nochmals
grüßend, seinen Weg fort.
     Frau Moll wandte sich Fabian zu. "Du willst wieder nicht?" Sie nahm ihm
die Pakete ab. "Ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit. Die Adresse  weißt
du  nun.  Überlege  dir's.  Verhungern ist  Geschmackssache.  Außerdem
tätest  du  mir  einen  persönlichen  Gefallen. Wirklich.  Je  mehr  du dich
sträubst, um  so mehr reizt  mich der Gedanke.  Es eilt  nicht, Zeitvertreib
habe ich mittlerweile genug." Sie ging ins Haus.
     "Das grenzt an Zwangsläufigkeit", murmelte Fabian und kehrte um.
     Er aß in  einer Kneipe Bockwurst mit Kartoffelsalat. Dazu  las er
die  Zeitungen, die im Lokal aushingen,  und notierte sich  Stellenangebote.
Dann   kaufte   er   in  einem  muffigen  Papierladen  Schreibmaterial   und
verfaßte vier Bewer­bungsschreiben. Als er sie in den Kasten  gesteckt
hatte,  fand  er,  es  sei  Zeit.  Und  er  pilgerte,  recht  müde,  zu  der
Zigarettenfabrik.
     "Sieht man Sie auch mal wieder?" fragte der Portier.
     "Ich will mich mit meiner Mutter hier treffen", antwortete Fabian.
     Der Portier kniff ein Auge zu. "Verlassen Sie sich ganz auf mich."
     Es war Fabian peinlich,  daß der Mann die Komödie zu durchschauen
schien.  Er  ging  rasch  ins  Verwaltungsge­bäude,  setzte   sich  in  eine
Fensternische und sah  alle fünf  Minuten auf  die  Uhr.  Sooft er  Schritte
hörte,  drückte er  sich dicht  an den  Fensterrahmen.  In zehn Minuten  war
Büroschluß.  Die Angestellten  hatten es  eilig.  Sie  bemerk­ten  ihn
nicht.
     Er wollte sein Versteck gerade verlassen,  als  er wieder  Schritte und
Stimmen vernahm, die sich näherten.
     "Ich  werde morgen in der Direktionssitzung von  dem  Preisausschreiben
berichten, das Sie  da  vorbereitet  haben, lieber  Fischer", sagte die eine
Stimme. "Der Vorschlag ist beachtlich, man wird Sie würdigen lernen."
     "Herr  Direktor  sind  sehr  gütig",   erwiderte  die   andere  Stimme.
"Eigentlich habe ich das Projekt ja nur von Herrn Fabian geerbt."
     "Erbmasse ist ein Besitz  wie  jeder andere, Herr Fischer!" Der Ton des
Direktors war unfreundlich. "Ist Ihnen mein Vorschlag unangenehm? Wäre Ihnen
eine Gehaltszulage so zuwider? Nun also!  Außerdem bedarf das  Projekt
einiger  Verbesserungen.  Ich  werde  gleich,  unter  Zugrun­delegung  Ihres
Materials, ein  Expose in die Maschine diktieren. Glauben Sie  mir,  es wird
Effekt machen, unser Preisausschreiben. Sie  können jetzt nach Hause  gehen.
Sie haben es gut."
     "Meister muß sich  immer plagen. Von Schiller", bemerkte Fischer.
Fabian  trat aus  der  Nische.  Fischer sprang  er­schrocken  einen  Schritt
zurück. Direktor Breitkopf fin­gerte im Kragen. "Ich  bin weniger überrascht
als Sie", sagte Fabian und ging zur Treppe.
     "Da kommt er ja schon", meinte der Portier, der sich mit Fabians Mutter
unterhielt. Sie hatte den Koffer abgestellt, die Reisetasche, die Handtasche
und  den  Schirm  auf  den  Koffer  gelegt und nickte  dem  Sohn zu. "Hübsch
fleißig  gewesen?"  fragte  sie.  Der Portier  lächelte  gutmütig  und
spazierte in seinen Verschlag.
     Fabian  gab  der Mutter  die Hand. "Wir  haben noch  eine halbe  Stunde
Zeit", sagte er und nahm  das  Gepäck auf.  Als sie  einen  Eckplatz im  Zug
belegt  hatten  (im  mittelsten  Wagen,  denn  Frau  Fabian   hielt  es  für
angebracht, die üblen Folgen eines etwaigen Eisenbahnunglücks von vornherein
zu reduzieren), bummelten sie vor dem Kupee auf und ab.
     "Nicht so  weit weg." Sie hielt den Sohn am Ärmel. "Wie leicht wird ein
Koffer gestohlen. Kaum dreht  man  sich um, fort ist  er." Schließlich
wurde Fabian mißtrauischer als die Mutter  und spähte unentwegt durchs
Fenster zum Gepäcknetz.
     "Nun kann's  wieder  abgehen", sagte sie.  "Der  Henkel vom  Mantel ist
angenäht.  Im  Zimmer  sieht's  wieder  menschlich aus.  Frau  Hohlfeld  ist
beleidigt. Darauf kann man aber keine Rücksicht nehmen."
     Fabian   lief   zu   einem  der  fahrbaren  Büfetts  und  brachte  eine
Schinkensemmel, eine Packung Keks und zwei Apfelsinen.
     "Junge,  bist du leichtsinnig", sagte  sie.  Er lachte,  kletterte  ins
Abteil,  schob ihr heimlich  einen Zwanzigmarkschein  in die Handtasche  und
kletterte wieder auf den Bahnsteig.
     "Wann wirst du endlich mal wieder nach Hause  kommen?" fragte sie. "Ich
koche alle deine Lieblingsgerichte,  jeden Tag ein anderes, und wir gehen zu
Tante Martha in den Garten. Im Geschäft ist ja so wenig los."
     "Ich komme, sobald ich kann", versicherte er.
     Als sie aus dem Kupeefenster blickte, meinte sie: "Bleib recht  gesund,
Jakob. Und wenn's hier nicht vorwärts gehen will, pack dein Bündel und  komm
heim."
     Er nickte. Sie sahen einander an und lächelten, wie man auf Bahnsteigen
zu lachen pflegt, ähnlich wie beim Foto­grafen, nur daß weit und breit
kein Fotograf zu sehen ist. "Laß  dir's gutgehen",  flüsterte er.  "Es
war schön, daß du da warst."
     Auf  dem Tisch standen Blumen. Ein Brief  lag daneben. Er  öffnete ihn.
Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und  ein Zettel. "Wenig  mit Liebe, Deine
Mutter", war  daraufge­schrieben.  In  der  unteren  Ecke war noch  etwas zu
lesen.  "Iß  das  Schnitzel   zuerst.  Die  Wurst  hält  sich  in  dem
Pergamentpapier mehrere Tage."
     Er  steckte den  Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die  Mutter  im
Zug, und bald mußte sie den anderen  Zwanzig­markschein finden, den er
ihr in  die Handtasche gelegt hatte.  Mathematisch gesehen  war das Ergebnis
gleich  Null. Denn nun besaßen  beide dieselbe Summe wie  vorher. Aber
gute Taten lassen sich  nicht stornieren. Die  moralische Gleichung verläuft
anders als die arithmetische.
     Am  selben  Abend bat ihn  Cornelia um  hundert Mark. Im  Korridor  des
Filmkonzerns sei ihr Makart  begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins
Gebäude  der  Kon­kurrenz gekommen.  Er hatte sie angesprochen.  Sie sei der
Typ, den er  schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht
sich. Sie solle ihn morgen im  Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der
Regisseur wä­ren auch da. Vielleicht probiere man's mal mit ihr.
     "Ich  muß  mir über  Mittag  einen  neuen Jumper  und  einen  Hut
besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast gar kein  Geld mehr. Aber ich
kann mir  diese  Chance  nicht  entgehen lassen. Denke dir, wenn  ich  jetzt
Filmschauspielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?"
     "Doch",  sagte  er  und  gab  ihr  seinen  letzten  Hundertmark­schein.
"Hoffentlich bringt dir das Glück." "Mir?" fragte sie.
     "Uns", korrigierte er ihr zu Gefallen.


     VIERZEHNTES KAPITEL

     Der Weg ohne Tür
     Fräulein Selows Zunge
     Die Treppe mit den Taschendieben

     In dieser Nacht träumte Fabian. Wahrscheinlich träumte er häufiger, als
er glaubte. Aber in dieser Nacht weckte ihn Cornelia, und so entsann er sich
des Traumes.  Wer hätte  ihn, vor  Tagen  noch, aus  seinen  Träumen  wecken
sollen? Wer hätte ihn mitten in der Nacht ängstlich rütteln sollen, bevor er
neben  Cornelia schlief? Er hatte  mit vielen Frauen und Mädchen geschlafen,
das war richtig, aber neben ihnen?
     Er  lief im Traum durch  eine  endlose Straße. Die  Häuser  waren
unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häuser hatten weder
Fenster noch  Türen. Und  der  Him­mel  war weit entfernt und fremdartig wie
über einem tiefen Brunnen. Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. Er
sah, die Straße hörte nicht auf, aber er ging und wollte sie  zu  Ende
gehen.
     "Es hat keinen Zweck",  sagte da eine Stimme. Er  blickte sich um.  Der
alte  Erfinder  stand hinter ihm, in der  verschossenen  Pelerine,  mit  dem
schlechtgerollten Schirm und dem ergrauten steifen Hut.
     "Guten  Tag, lieber Professor", rief Fabian. "Ich dachte,  Sie wären im
Irrenhaus."
     "Hier ist es ja",  sagte der Alte und schlug mit der Schirmkrücke gegen
eines der Gebäude. Es hallte ble­chern,  dann ging  ein Tor  auf, wo  keines
war.
     "Meine neueste  Erfindung",  sagte  der Alte.  "Gestatten  Sie,  lieber
Neffe, daß ich  vorausgehe,  ich bin hier zu Hause." Fabian folgte. In
der Portierloge hockte Direktor Breitkopf, hielt sich den Bauch und stöhnte:
"Ich kriege ein Kind. Die Sekretärin hat sich wieder mal nicht vorge­sehen."
Dann schlug er sich dreimal auf die Glatze, und das klang laut wie ein Gong.
     Der Professor steckte dem Direktor den schlechtgerollten Schirm tief in
den  Schlund  und spannte den Schirm auf. Breitkopfs Gesicht  zerplatzte wie
ein Ballon.
     "Verbindlichen Dank", sagte Fabian.
     "Nicht  der Rede  wert",  erwiderte  der  Erfinder.  "Haben  Sie  meine
Maschine schon gesehen?" Er nahm  Fabian an  der  Hand und  führte ihn durch
einen Gang, in dem bläuliches Neonlicht brannte, ins Freie.
     Eine Maschine,  groß wie  der  Kölner Dom, türmte sich  vor ihnen
auf.  Halbnackte Arbeiter  standen  davor,  mit  Schau­feln  bewaffnet,  und
schippten Hunderttausende von klei­nen Kindern  in einen riesigen Kessel, in
dem ein rotes Feuer brannte.
     "Kommen  Sie an  das andere Ende", sagte  der Erfinder. Sie fuhren  auf
laufenden Bändern durch den grauen Hof.
     "Hier", sagte der alte Mann und zeigte in die Luft.
     Fabian blickte  empor. Gewaltige, glühende Bessemerbir­nen senkten sich
nieder,  kippten  automatisch  um  und schüttelten  ihren Inhalt  auf  einen
horizontalen Spiegel. Der Inhalt war lebendig.  Männer und Frauen fielen auf
das glitzernde Glas, stellten sich gerade  und starrten wie gebannt  auf ihr
handgreifliches und  doch unerreichbares Abbild. Manche winkten in die Tiefe
hinunter, als  kenn­ten sie sich. Einer zog eine  Pistole aus der Tasche und
schoß. Er traf,  obwohl  er,  gestrichen Korn,  seinem Bild  ins  Herz
gezielt hatte, seine wirkliche  große Zehe und verzog das Gesicht. Ein
anderer  drehte sich im  Kreise. Offensichtlich wollte  er seinem Abbild die
Kehrseite zuwenden, der Versuch mißlang.
     "Hunderttausend am Tag", erläuterte  der Erfinder. "Da­bei habe ich die
Arbeitszeit verkürzt und die Fünftagewo­che eingeführt."
     "Lauter Verrückte?" fragte Fabian.
     "Das ist eine Frage der Terminologie", antwortete der Professor. "Einen
Moment,  die Kupplung versagt." Er trat an die Maschine  heran und stocherte
mit seinem  Schirm  in einer Öffnung. Plötzlich verschwand der  Schirm, dann
verschwand die Pelerine,  sie zog  den  alten Mann  hinter sich her.  Er war
fort. Seine Maschine hatte ihn verschluckt.
     Fabian fuhr auf dem laufenden Band  zurück, quer durch den  grauen Hof.
"Es ist ein Unglück passiert!" schrie  er einem der halbnackten Arbeiter zu.
Da purzelte ein Kind aus dem Kessel. Es trug eine Hornbrille und hielt einen
schlechtgerollten Schirm im Händchen. Der Arbeiter nahm den Säugling auf die
Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden Kessel zurück. Fabian fuhr von
neuem den Hof entlang  und wartete  unter  den schwankenden Besse­merbirnen,
daß sein alter Freund, erneut verwandelt, wiederkäme.
     Er wartete vergebens. Statt dessen fiel er selbst, ein  zweiter Fabian,
aber mit Pelerine,  Schirm  und  Hut, aus  einem der  gewaltigen Kippkästen,
stellte  sich zu  den anderen  Figuren und  starrte,  gleich ihnen,  auf die
Spiegel­bilder. An seinen Sohlen, mit dem Kopf nach unten, hing sein Abbild,
ein dritter Fabian, im Spiegel  und starrte aufwärts, dem zweiten Fabian ins
Gesicht.  Dieser  zeigte mit dem Daumen hinter  sich  auf die  Maschine  und
sagte: "Mechanische Seelenwanderung,  Patent Kollrepp." Dann schritt  er auf
den wirklichen Fabian  zu, der im Hof stand,  ging mitten  in ihn hinein und
war nicht mehr da.
     "Wie angegossen", gestand Fabian, nahm dem Maschi­nenmenschen,  der ihn
unsichtbar ausfüllte, den Schirm ab, zog die Pelerine zurecht und war wieder
das einzige Exemplar seiner selbst.
     Er blickte zu  dem glänzenden  Spiegel hinüber. Die Men­schen versanken
plötzlich  darin  wie in einem durchsichti­gen Sumpf. Sie rissen  die Münder
auf, als ob sie vor Schreck schrien, aber es war nichts zu hören. Sie sanken
völlig unter die Spiegelfläche. Ihre  Abbilder  flohen, wie  Fische, mit dem
Kopf voran,  wurden  immer  kleiner  und verschwanden ganz. Nun  standen die
wirklichen Men­schen unten, und es war, als seien sie in Bernstein gefangen.
Fabian trat ganz nahe. Das  war kein  Spiegelbild mehr, was er sah. Über den
untergegangenen Wesen  lag bloß  eine Glasplatte, und die Leute lebten
weiter. Fabian kniete nieder und blickte hinab.
     Fette, nackte Frauen, mit Sorgenfalten quer überm  Leib, saßen an
Tischen  und tranken  Tee.  Sie trugen durchbro­chene Strümpfe und im Genick
geflochtene  Hütchen. Armbänder  und Ohrgehänge blitzten.  Eines  der  alten
Weiber hatte sich einen  goldenen Ring durch  die Nase gezogen.  An  anderen
Tischen  saßen  dicke Männer, halb­nackt, behaart  wie  Gorillas,  mit
Zylindern,  manche  in  lila  Unterhosen,  alle  mit  großen  Zigarren
zwischen den dicken Lippen. Die Männer  und Frauen schauten gierig auf einen
Vorhang.  Er  wurde zur  Seite gezogen,  und junge  geschminkte  Burschen in
enganliegenden  Trikots  stolzier­ten  wie  gezierte  Mannequins über  einen
erhöhten Lauf­steg. Den  Jünglingen folgten, auch in Trikots, junge Mädchen,
sie  lächelten  affektiert  und brachten  alles,  was  an  ihnen  rund  war,
angestrengt zur  Geltung. Fabian erkannte einige, die Kulp, die Bildhauerin,
die Selow, auch Paula aus Haupts Festsälen war dabei.
     Die alten Frauen und Männer preßten die Operngläser an die Augen,
sprangen  auf, stolperten über Stühle und Tische,  drängten dem Laufsteg zu,
schlugen einander, um vorwärts zu  kommen, und  wieherten  wie geile Pferde.
Die dicken  mit Schmuck beladenen  Weiber rissen junge Bur­schen  vorn Steg,
warfen sie  heulend auf  die  Erde,  knieten  flehend nieder, spreizten  die
fetten Beine,  zerrten sich Brillanten von den Armen und Fingern und aus den
Ohrlappen   und  hielten  sie  bettelnd  den  verhurt  lächelnden  Gestalten
entgegen. Die  alten Männer  griffen mit ihren Affenarmen nach  den Mädchen,
auch  nach  Jünglingen,  und  umarmten,  blaurot  vor  Aufregung,   wen  sie
faßten.  Unterhosen,  Krampfadern, Sockenhalter,  zerrissene  far­bige
Trikots, fette  und faltige  Gliedmaßen,  verzerrte Visagen, grinsende
Pomadenmünder,  braune schlanke  Arme, im Krampf zuckende Füße füllten
den Boden aus.  Es war, als  läge ein lebendiger Perserteppich auf der Erde.
"Deine Cornelia ist auch dabei", sagte Frau Irene Moll. Sie  saß neben
ihm, und sie  naschte aus einer großen Bonbontüte kleine junge Männer.
Sie riß ihnen zuerst die Kleider ab. Das sah aus, als ob sie in Papier
gewickelte Napolitains schälte.  Fabian suchte Cornelia. Sie  stand, während
sich alle anderen wild verknäuelt am Boden  wälzten, allein auf dem Laufsteg
und wehrte sich gegen einen dicken brutalen Mann, der ihr mit der einen Hand
den Mund aufsperrte und  mit  der anderen  seine brennende Zigarre, mit  der
Glut  voran,  in  den  Mund  stoßen wollte. "Sträuben  nützt  bei  dem
nichts", meinte die Moll  und  kramte in  ihrer  Tüte. "Das ist Makart,  ein
Filmfabrikant, Geld wie Heu. Seine Frau hat sich vergiftet." Cornelia wankte
und stürzte neben Makart in den Tumult.
     "Spring ihr doch  nach", sagte  die Moll. "Aber du hast Angst, das Glas
zwischen dir und den anderen könnte zerbrechen. Du hältst die  Welt für eine
Schaufensterausla­ge." Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber  jetzt sah
Fabian den  Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke Bein war eine
Prothese. Er  stand auf einem Himmelbett  und fuhr wie ein Wellenreiter über
das Gezappel der Menschen. Er schwang seinen Krückstock und schlug der Kulp,
die sich an dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände,  bis das
Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank.
     Wilhelmy  befestigte eine  Schnur  am Stock, band  einen Geldschein ans
Ende  der Schnur und  warf diese Angel aus.  Die Menschen unter ihm sprangen
wie Fische in die Luft, schnappten nach der Banknote, fielen ermattet zurück
und schnellten  wieder hoch. Da! Eine  Frau hielt den Schein im Mund. Es war
die  Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken  hatte ihre Zunge durchbohrt.
Wilhelmy zog  die Schnur ein, die  Selow näherte sich, verzerrten Ge­sichts,
dem  Bett.  Aber hinter ihr  tauchte  die  Bildhauerin  auf,  umschlang  die
Freundin mit beiden Armen und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt  weit
aus  dem Mund. Wilhelmy und die  Bildhauerin suchten das Mädchen  an sich zu
ziehen, jeder auf seine  Seite. Die  Zunge wurde immer länger,  lang wie ein
rotes Gummiband, und sie war  zum Reißen  gespannt. Wilhelmy rang nach
Luft und lachte.
     "Wunderbar", rief Irene Moll. "Das  grenzt an Tauziehen.  Wir leben  im
Zeitalter  des  Sports."  Sie  zerknüllte  die leere Tüte  und sagte: "Jetzt
freß  ich dich." Sie riß ihm  die Pelerine herunter. Ihre Finger
griffen wie Scheren  inein­ander und  zerschnitten Fabians Anzug.  Er schlug
ihr mit der Schirmkrücke auf den Kopf. Sie taumelte und ließ ihn  los.
"Ich liebe dich doch", flüsterte  sie und weinte.  Ihre Tränen  drangen  wie
kleine  Seifenblasen aus ihren  Augen­winkeln, wurden immer größer und
stiegen schillernd in die Luft.
     Fabian erhob sich und ging weiter.
     Er geriet in einen Saal, der keine Wände hatte. Unzählige Treppenstufen
führten von dem einen  Ende des  Saales hinauf  zum anderen Ende. Auf  jeder
Stufe  standen  Leute.  Sie  blickten  interessiert  nach oben  und  griffen
einander in die Taschen.  Jeder bestahl jeden. Jeder wühlte  heimlich in den
Taschen  des Vordermannes, und während  er das  tat, wurde er vom Hintermann
beraubt. Es war ganz ruhig im  Saal.  Trotzdem  war alles in  Bewegung.  Man
stahl emsig, und  man ließ sich  bestehlen. Auf  der  untersten  Stufe
stand ein kleines zehnjähriges Mädchen und  zog dem Vorder­mann einen bunten
Aschenbecher aus  dem Mantel. Plötz­lich war Labude  auf der obersten Stufe.
Er  hob  die   Hände,  blickte  die  Treppe  hinunter  und  rief:  "Freunde!
Mitbür­ger! Die Anständigkeit muß siegen!"
     "Aber natürlich!"  brüllten die anderen im Chor und kramten einander in
den Taschen.
     "Wer für mich ist, hebe die Hand!" schrie Labude. Die anderen hoben die
Hand. Jeder hob eine Hand, mit der anderen stahl er  weiter.  Nur das kleine
Mädchen auf der untersten Stufe hob beide Hände.
     "Ich  danke  euch", sagte Labude, und seine  Stimme klang gerührt. "Das
Zeitalter der Menschenwürde bricht an. Vergeßt diese Stunde nicht!"
     "Du bist  ein Narr!"  rief Cornelia, stand neben  Labude  und zog einen
großen hübschen Mann hinter sich her.
     "Meine besten Freunde sind meine größten  Feinde",  sagte  Labude
traurig. "Mir  ist  es gleich.  Die  Vernunft  wird  siegen,  auch  wenn ich
untergehe."
     Da fielen  Schüsse. Fabian sah hoch. Überall waren Fen­ster und Dächer.
Und überall standen finstere Gestalten mit Revolvern und Maschinengewehren.
     Die  Menschen  auf der Treppe  warfen  sich lang  hin, aber sie stahlen
weiter. Die  Schüsse knatterten. Die Menschen starben, die Hände  in fremden
Taschen. Die Treppe lag voller Leichen.
     "Um die ist es nicht schade", sagte  Fabian zu dem Freund.  "Nun komm!"
Aber  Labude  blieb in  dem Ku­gelregen stehen. "Um mich auch  nicht  mehr",
flüsterte er, drehte sich nach den Fenstern und Dächern um und drohte ihnen.
Aus den  Dachluken und aus den Giebeln fielen  Schüsse in die Tiefe. Aus den
Fenstern hingen Verwundete. Auf  einer Giebelkante  rangen zwei athleti­sche
Männer.  Sie würgten und bissen  einander, bis der eine  taumelte  und beide
abstürzten.  Man   hörte  den   Auf­schlag  der  hohlen  Schädel.  Flugzeuge
schwirrten  unter der  Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser. Die
Dächer begannen zu brennen. Grüner Qualm quoll aus den Fenstern.
     "Warum machen  das  die  Leute?"  Das  kleine  Mädchen aus dem Kaufhaus
faßte Fabians Hand.
     "Sie wollen neue Häuser bauen", erwiderte er. Dann nahm er das Kind auf
den Arm und stieg, über die Toten kletternd, die Stufen hinunter. Auf halbem
Weg begegne­te er einem kleinen Mann. Der stand da, schrieb Zahlen auf einen
Block und rechnete mit den Lippen. "Was machen Sie da?" fragte Fabian.
     "Ich  verkaufe   die  Restbestände",   war  die  Antwort.  "Pro  Leiche
dreißig  Pfennig, für wenig getragene Charaktere  fünf  Pfennig extra.
Sind Sie verhandlungsberechtigt?"
     "Gehen Sie zum Teufel", schrie Fabian.
     "Später", sagte  der  kleine Mann und rechnete weiter. Am Fuß der
Treppe setzte Fabian das kleine Mädchen hin.
     "Nun geh nach Hause", meinte  er. Das Kind  lief davon. Es  hüpfte  auf
einem Bein und sang.
     Er  stieg  wieder  die Stufen  empor.  "Ich  verdiene keinen  Pfennig",
murmelte  der kleine Mann, an dem er wieder vorbeikam.  Fabian beeilte sich.
Oben brachen die Häuser  zusammen. Stichflammen stiegen aus den Steinhaufen.
Glühende Balken neigten sich und sanken um, als tauch­ten sie in Watte. Noch
immer ertönten vereinzelt Schüsse. Menschen mit  Gasmasken krochen durch die
Trümmer.  Sooft  sich  zwei  begegneten,  hoben  sie  Gewehre,  zielten  und
schössen. Fabian sah sich um. Wo war Labude?
     "Labude!" schrie er. "Labude!"
     "Fabian!" rief eine Stimme. "Fabian!"
     "Fabian!" rief Cornelia und rüttelte ihn.  Er erwachte. "Warum rufst du
Labude?" Sie strich ihm über die Stirn.
     "Ich habe geträumt", sagte er. "Labude ist in Frankfurt."
     "Soll ich Licht machen?" fragte sie.
     "Nein, schlaf rasch  wieder ein, Cornelia, du  mußt morgen hübsch
aussehen. Gute Nacht."
     "Gute Nacht", sagte sie.
     Und dann lagen beide noch lange wach. Jeder wußte es vom anderen,
aber sie schwiegen.


     FÜNFZEHNTES KAPITEL

     Ein junger Mann, wie er sein soll
     Vom Sinn der Bahnhöfe
     Cornelia schreibt einen Brief

     Am nächsten Morgen saß er, als Cornelia ins Büro ging, am offenen
Fenster. Sie  hatte eine  Mappe unterm Arm und schritt eifrig aus. Sie hatte
Arbeit.  Sie verdiente Geld. Er saß am Fenster und ließ sich von
der Sonne kitzeln. Sie  schien  warm,  als sei die Welt  in bester  Ordnung,
nichts brachte sie aus der Fassung.
     Cornelia war schon weit.  Er durfte sie nicht zurückrufen.  Wenn er  es
getan und wenn  er,  aus  dem Fenster  gebeugt,  gesagt hätte:  "Komm wieder
herauf, ich will nicht, daß du arbeitest, ich will nicht, daß du
zu Makart gehst!", hätte  sie  geantwortet: "Was fällt dir ein? Gib mir Geld
oder halte mich nicht auf."
     Er  konnte  sich nicht anders helfen, er streckte  der Sonne  die Zunge
heraus.
     "Was  machen  Sie  denn  da?" fragte Frau Hohlfeld. Sie  war  unbemerkt
eingetreten.
     Fabian  sagte abweisend: "Ich  fange Fliegen. Sie sind heuer groß
und knusprig."
     "Gehen Sie nicht ins Geschäft?"
     "Ich bin in den Ruhestand  getreten.  Vom nächsten  Ersten ab erscheine
ich im Defizit des Finanzministeriums, als unvorhergesehene Mehrausgabe." Er
schloß das Fenster und setzte sich aufs Sofa.
     "Stellungslos?" fragte sie.
     Er  nickte und holte Geld aus der  Tasche.  "Hier sind die achtzig Mark
für den nächsten Monat."
     Sie  nahm  rasch  das Geld und  meinte:  "Das war  nicht so eilig, Herr
Fabian."
     "Doch." Er legte  die letzten Scheine und Münzen über­sichtlich auf den
Tisch und zählte, was ihm blieb. "Wenn ich mein Kapital auf die Bank bringe,
krieg ich drei Mark Zinsen im Jahr", sagte er. "Das lohnt sich kaum."
     Die  Wirtin  wurde  gesprächig.  "In  der  Zeitung  schlug gestern  ein
Ingenieur vor, man solle den Spiegel  des Mittelmeeres um zweihundert  Meter
senken, dann  kä­men große Ländereien ans Licht, wie vor  der Eiszeit,
und man  könne  sie besiedeln  und Millionen  von  Menschen darauf ernähren.
Außerdem   sei,   mit   Hilfe   kurzer   Däm­me,   eine   durchgehende
Eisenbahnverbindung von Berlin bis Kapstadt möglich!"
     Frau  Hohlfeld  war  noch  jetzt  von  dem   Vorschlag  des  Ingenieurs
eingenommen und sprach voller Feuer.
     Fabian pochte auf  die Armlehne des Sofas,  daß der Staub tanzte.
"Na  also!"  rief er.  "Auf, ans Mittelmeer!  Laßt uns  seinen Spiegel
senken! Kommen Sie mit, Frau Hohl­feld?"
     "Gern.  Ich  war  seit  meiner  Hochzeitsreise  nicht  mehr dort.  Eine
herrliche Gegend. Genua, Nizza, Marseille, Paris. Paris liegt übrigens nicht
am  Mittelmeer."  Sie  gab  dem Gespräch eine  Wendung: "Da war das Fräulein
Doktor wohl sehr traurig?"
     "Schade,  daß sie schon fort ist, sonst  hätten  wir  sie  fragen
können."
     "Ein  bezauberndes Mädchen, und  so vornehm, ich finde, sie  ähnelt der
Königin von Rumänien, als sie noch jung war."
     "Erraten." Fabian erhob sich und brachte  die  Wirtin zur Tür. "Es soll
eine Tochter der Königin sein. Aber bitte, nicht weitersagen."
     Nachmittags  saß  er in  einem  großen  Zeitungsverlag  und
wartete,  daß Herr  Zacharias  Zeit  fände.  Herr  Zacharias  war  ein
Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu  ihm gesagt
hatte:  "Wenn  Sie  mich mal  brauchen, melden Sie sich."  Fabian  blätterte
gedankenlos  in  einer  der  Zeitschriften,  die den  Tisch  des  Warteraums
zierten,  und  entsann  sich  des  Gesprächs.  Zacharias  hatte  damals  der
Behauptung von H. G. Wells,  daß das Wachs­tum der christlichen Kirche
nicht  zuletzt  auf  geschickte  Propaganda  zurückzuführen sei,  begeistert
zugestimmt;  er  hatte auch Wells' Forderung verfochten, daß es an der
Zeit sei, die Reklame  nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife
und Kaugummi  zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in  den Dienst
von Idealen zu stellen. Fabian  hatte  geäußert, die Erziehbarkeit des
Menschengeschlechts  sei   eine  fragwürdige   These;   die   Eig­nung   des
Propagandisten   zum   Volkserzieher  und  das  Talent  des  Erziehers   zum
Propagandisten  stünden außer­dem  in  Frage; Vernunft  könne  man nur
einer  beschränk­ten  Zahl  von  Menschen  beibringen,  und  die  sei  schon
vernünftig. Zacharias  und  er hatten  sich  förmlich  gestrit­ten, bis  sie
fanden, der  Meinungsstreit trage allzu akade­mischen  Charakter, denn beide
möglichen  Resultate  - der  Sieg oder  die Niederlage jener  idealistischen
Aufklärung - setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe keiner Geld.
Boten  liefen geschäftig durch  das  Labyrinth der  Gänge. Papphülsen fielen
klappernd  aus  Metallröhren.  Das  Telefon  des  Aufsichtsbeamten klingelte
fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer
ins  andere. Ein Direktor des  Betriebes eilte, mit einem  Stab untertäniger
Mitarbeiter, die Treppe hinunter.
     "Herr Zacharias läßt bitten."
     Ein Bote brachte ihn bis zur Tür. Zacharias  gab Fabian temperamentvoll
die  Hand. Es  war die hervorstechendste  Eigenschaft dieses jungen  Mannes,
alles, was er tat, außerordentlich lebhaft zu besorgen. Er kam aus der
Begeisterung  nicht  heraus.  Ob  er sich nun  die  Zähne putzte oder ob  er
debattierte, ob  er Geld  ausgab oder ob er seinen  Vorgesetzten  Vorschläge
machte, stets riß er sich  ein Bein  aus. Wer in seine Nähe kam, wurde
von  dieser Humorlosigkeit infiziert. Plötzlich wurde ein  Gespräch über das
Binden  von  Krawatten zum  aufregendsten  The­ma  der  Gegenwart.  Und  die
Vorgesetzten merkten, wenn sie  mit Zacharias Geschäftliches erörterten, wie
ungeheu­er wichtig  ihr Beruf, ihr Verlag  und ihr Posten  eigentlich waren.
Die  Karriere  des  Mannes  war  nicht  aufzuhalten.  Daß  er   selbst
Wesentliches  leistete,  war unwahrschein­lich.  Er diente  dem  Betrieb als
Katalysator,  den   Menschen  seiner   Umgebung   als  Stimulans.  Er  wurde
unentbehrlich  und  hatte  jetzt  schon,   mit  achtundzwanzig  Jahren,  ein
Monatsgehalt  von  zweitausendfünfhundert  Mark. Fabian erzählte,  was es zu
erzählen gab.
     "Frei  ist  nichts",  sagte  Zacharias,  "und  ich wäre Ihnen  so  gern
gefällig.  Außerdem bin ich  überzeugt,  daß wir beide  glänzend
miteinander auskämen.  Was machen wir bloß?" Er preßte die Hände
an die Schläfen wie ein Wahrsager dicht vor der Erleuchtung. "Was halten Sie
von Folgen­dem:  Wenn  ich Sie bei  mir anstelle, als privaten Mitarbei­ter,
den  ich aus eigener Tasche  bezahle? Ich  könnte eine  Kraft  wie  Sie  gut
gebrauchen. Man erwartet hier  im Hause pro  Tag  ein Dutzend Anregungen von
mir. Bin ich ein Automat?  Was  kann ich  dafür, daß den  anderen noch
weniger einfällt? Wenn das so weitergeht, läuft sich mein Gehirn einen Wolf.
Ich  habe  seit  kurzem  ein  kleines  nettes  Auto,  Steyr,  Sechszylinder,
Spezialkarosserie. Wir könn­ten  jeden Tag ein paar Stunden ins Grüne fahren
und  Eier legen. Ich  chauffiere gern, es  beruhigt die Nerven. Drei­hundert
Mark würde  ich für  Sie lockermachen. Und sobald hier ein Posten frei wird,
hätten sie  ihn. Na?" Ehe Fabian  antworten konnte,  fuhr der  andere  fort:
"Nein,  es   geht  nicht.  Man  würde  sagen,  Zacharias  hält   sich  einen
weißen Neger.  Ich bin vor keinem dieser Kerle sicher. Sie stehen alle
mit der Axt hinter der Tür, um mir eins über den Kürbis zu hauen. Was machen
wir bloß? Fällt Ihnen nichts ein?"
     Fabian sagte:  "Ich könnte mich auf  den  Potsdamer  Platz stellen, mit
einem  großen Schild vorm Bauch, auf  dem etwa stünde:  "Dieser  junge
Mann  macht  augenblicklich nichts, aber  probieren  Sie's,  und Sie  werden
sehen,  er macht alles."  Ich  könnte den Text auch  auf  einen großen
Luftballon malen."
     "Wenn Sie den Vorschlag  ernst  meinten, wäre er  gut!" rief Zacharias.
"Aber er ist nichts  wert, weil Sie nicht daran glauben.  Sie nehmen nur die
wirklich ernsten Dinge ernst,  und vielleicht  nicht einmal  die. Es ist ein
Jammer. Mit Ihrer Begabung wäre  ich  heute leitender Direktor."  Za­charias
wandte bei Leuten, die ihm überlegen waren, einen  höchst raffinierten Trick
an: er gab diese Überlegen­heit zu, er bestand geradezu auf ihr.
     "Was nützt es mir, daß ich begabter  bin?" fragte Fabian betrübt.
Diese  rhetorische  Anfrage hatte Zacharias  nicht erwartet. Wenn  er selber
offen war, genügte  das. Statt  dessen kam einer des Wegs,  bat  um  Rat und
wurde obendrein vorlaut.
     "Es  ist  schade,  daß  Sie mir die Bemerkung  übelnehmen", sagte
Fabian.  "Ich  wollte Sie nicht  kränken.  Ich  bin auf meine  Talente nicht
eingebildet,  sie reichen glatt zum Verhungern.  Und so  schlecht, daß
ich auf sie stolz sein müßte, geht es mir erst in vierzehn Tagen."
     Zacharias stand auf und begleitete den Besucher betont bis  zur Treppe.
"Rufen  Sie mich  morgen mal an,  gegen zwölf Uhr,  nein, da  habe  ich eine
Konferenz,  sagen  wir nach zwei. Vielleicht  fällt mir inzwischen  was ein.
Servus."
     Fabian hätte gern Labude angerufen, doch der war in Frankfurt. Er hätte
ihm beileibe  nichts von seinen Sorgen erzählt. Sorgen  hatte Labude selber.
Die  bekannte  Stimme  wollte er hören,  weiter  nichts.  Zwischen  Freunden
konn­ten Gespräche  übers Wetter  Wunder wirken. Die Mutter war wieder fort.
Der ulkige alte  Erfinder war,  samt Pelerine, auf  dem  Weg  ins Irrenhaus.
Cornelia  kaufte sich  einen neuen Hut, um  ein paar Filmleuten zu gefallen.
Fabian war allein. Warum konnte man nicht, bis auf Widerruf, vor sich selber
davonlaufen?  Obwohl er  ziellos  durch  die City wanderte,  stand  er wenig
später vor  dem Haus, in  dem Cornelia angestellt war. Er setzte,  ärgerlich
über sich,  den  Weg fort  und ertappte  sich dabei,  daß er  in jedes
Hutgeschäft  schielte.  Saß  sie  jetzt  noch im  Büro? Probierte  sie
bereits Hüte und Jumper?
     Am Anhalter  Bahnhof  kaufte er eine  Zeitung. Der  Mann, der im  Kiosk
saß, sah gemütlich aus.  "Könnten Sie  jemanden  brauchen,  der  Ihnen
hilft?" fragte Fabian.
     "Nächstens lerne  ich Strümpfe stricken", sagte  der  Mann,  "vor einem
Jahr hatte ich doppelten Umsatz,  und  auch der war nicht üppig.  Die  Leute
lesen  die Zeitungen neuerdings nur noch beim  Friseur  oder im Café. Bäcker
hätte man werden sollen. Das Brot kriegen die Leute  beim Friseur noch nicht
umsonst."
     "Neulich hat jemand  vorgeschlagen, das Brot von  Staats wegen ins Haus
zu  liefern, genau wie das  Leitungswas­ser",  erzählte Fabian.  "Passen Sie
auf, eines Tages schützt nicht mal das Brotbacken vorm Verhungern."
     "Wollen Sie eine Stulle haben?" fragte der Mann im Kiosk.
     "Eine Woche reicht's schon noch", sagte Fabian, bedankte sich  und ging
zum Bahnhof hinüber. Er studierte den Fahrplan. Sollte er, vom letzten Geld,
ein Billett kaufen und zur  Mutter  kutschieren? Aber vielleicht wußte
Zacharias morgen einen Ausweg? Als er aus dem Bahnhof  trat und wieder diese
Straßenfluchten und Häuserblocks  vor sich sah, dieses  hoffnungslose,
unbarmherzige Labyrinth, wurde ihm schwindlig. Er lehnte sich neben ein paar
Gepäckträgern an die Wand  und schloß die Augen.  Doch nun  quälte ihn
der Lärm. Ihm war, als führen die Straßen­bahnen  und Autobusse mitten
durch  seinen Magen.  Er kehrte wieder um, stieg die  Treppe  zum  Wartesaal
hinauf und legte dort den Kopf auf eine harte Bank. Eine halbe Stunde später
war ihm wohler. Er ging zur Straßenbahn­haltestelle,  fuhr nach Hause,
warf sich aufs Sofa und schlief sofort ein.
     Abends erwachte er. Die Vorsaaltür schlug  laut zu. Kam Cornelia? Nein,
jemand lief rasch die Treppe hinunter. Er ging ins andere Zimmer hinüber und
erschrak.
     Der Schrank stand offen. Er war leer. Die Koffer fehlten. Fabian machte
Licht, obwohl es erst  dämmerte.  Auf dem Tisch, von der  Vase beschwert, in
der Blumen aufs Wegwerfen warteten, lag ein Brief. Er nickte, nahm den Brief
und ging in sein Zimmer zurück.
     "Lieber Fabian", schrieb Cornelia,  "ist  es nicht besser, ich gehe  zu
früh  als zu  spät? Eben stand ich  neben Dir  am Sofa. Du schliefst, und Du
schläfst  auch jetzt, während ich Dir schreibe.  Ich bliebe gern, aber stell
Dir vor, ich bliebe! Ein  paar Wochen noch, und Du  wärst recht unglücklich.
Dich bedrückt nicht  das Gewicht der Not, sondern der Gedanke, daß Not
so  wichtig  werden  kann.  Solange  Du  allein  warst,  konnte  Dir  nichts
geschehen, was auch geschah. Es wird wieder werden, wie es war. Bist Du sehr
traurig?
     Sie  wollen mich im nächsten  Film  herausstellen. Morgen unterschreibe
ich  den  Kontrakt.  Makart hat mir zwei Zimmer gemietet.  Es  ist  nicht zu
umgehen.  Er sprach darüber, als handle es sich um  einen Zentner  Briketts.
Fünfzig  Jahre  ist  er  alt,  und er  sieht aus wie ein zu gut  angezogener
Ringkämpfer im  Ruhestand.  Mir  ist,  als hätte ich  mich  an  die Anatomie
verkauft.  Wenn ich  noch  einmal in Dein Zimmer  käme und Dich weckte?  Ich
lasse  Dich  schlafen.  Ich  werde  nicht  zugrunde  gehen.  Ich  werde  mir
einbilden, der Arzt  untersucht mich. Er  mag  sich mit mir beschäftigen, es
muß sein. Man  kommt nur  aus  dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig
macht. Und wir wollen doch heraus! Ich schreibe: Wir. Verstehst Du mich? Ich
gehe  jetzt von  Dir  fort,  um mit  Dir  zusammenzubleiben.  Wirst  Du mich
liebbehalten? Wirst Du mich noch anschauen  wollen und umarmen können  trotz
dem  anderen?  Morgen  nachmittag  werde  ich,  von  vier  Uhr  ab, im  Café
Schottenhaml auf Dich warten. Was soll aus mir werden, wenn Du nicht kommst?
Cornelia."
     Fabian  saß ganz still. Es wurde  immer  finsterer. Das  Herz tat
weh.  Er hielt die Knäufe  des  Sessels umklammert, als  wehre er sich gegen
Gestalten, die ihn fortziehen wollten. Er nahm sich  zusammen. Der Brief lag
unten auf dem Teppich und glänzte im Dunkel.
     "Ich wollte mich doch ändern, Cornelia!" sagte Fabian.


     SECHZEHNTES KAPITEL

     Fabian fährt auf Abenteuer
     Schüsse am Wedding
     Onkel Felles Nordpark

     Am selben Abend fuhr er mit der Untergrundbahn in den Norden hinauf. Er
stand am Fenster des Wagens und blickte unverwandt in den schwarzen Schacht,
in dem  manchmal kleine  Lampen vorbeizogen. Er  starrte  auf  die  belebten
Bahnsteige  der unterirdischen Bahnhöfe. Er starrte,  wenn sich der Zug  aus
dem   Schacht   emporhob,   auf   die   grauen   Häuserzeilen,   in  düstere
Querstraßen  und in erleuchtete Zimmer hinein, wo fremde Menschen rund
um den Tisch saßen und auf ihr Schicksal warteten.  Er starrte auf das
glitzernde  Gewirr der Eisenbahngeleise  hinunter, über denen  er dahinfuhr;
auf die  Fernbahnhöfe, in  denen  die roten  Schlafwagenzüge ächzend  an die
weite  Reise  dachten;  auf  die   stumme   Spree,  auf   die  von   grellen
Leuchtschriften  belebten Theatergiebel  und  auf den stern­losen  violetten
Himmel über der Stadt.
     Fabian sah  das alles,  als führen  nur  seine  Augen  und  Ohren durch
Berlin, und er selber sei weit, weit weg. Sein  Blick war gespannt, aber das
Herz war besinnungslos. Er hatte lange in seinem möblierten Zimmer gesessen.
Ir­gendwo  in  dieser  unabsehbaren  Stadt  lag  jetzt  Cornelia  mit  einem
fünfzigjährigen Mann im Bett und schloß ergeben die Augen. Wo war sie?
Er hätte  die Wände von allen  Häusern reißen  mögen, bis er  die zwei
fand.  Wo war Cornelia?  Warum verdammte sie ihn zur  Untätigkeit? Warum tat
sie das  in einem der wenigen Augenblicke,  wo es  ihn zu handeln trieb? Sie
kannte  ihn  nicht. Sie hatte lieber  falsch  gehandelt,  als ihm  zu sagen:
"Handle du richtig!" Sie  glaubte, er könne eher tausend  Schläge erdul­den,
als selber  einmal den Arm erheben. Sie wußte nicht, daß er sich
danach sehnte, Dienst zu tun und Verantwor­tung zu tragen. Wo aber waren die
Menschen,  denen  er so gern  gedient  hätte? Wo  war Cornelia? Unter  einem
dicken alten  Mann lag sie und ließ sich  zur  Hure machen, damit  der
liebe  Fabian  Lust  und  Zeit   zum  Nichtstun  hatte.   Sie  schenkte  ihm
großzügig jene  Freiheit wieder, von der sie  ihn befreit  hatte.  Der
Zufall hatte ihm einen  Menschen in die Arme geführt,  für  den  er  endlich
handeln  durfte,  und dieser  Mensch  stieß  ihn  in  die  ungewollte,
verfluchte Freiheit zurück.  Beiden war geholfen gewesen, und nun war beiden
nicht zu helfen.  In dem  Augenblick, wo  die  Arbeit Sinn erhielt,  weil er
Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und weil  er  die Arbeit verlor, verlor
er Cornelia.  Er hatte, durstig, ein Gefäß in der Hand gehalten und es
nicht tragen  mögen, weil es  leer war. Da, als er es kaum  noch hoffte, war
das Schicksal  gnädig  gewesen und hatte das Gefäß  gefüllt.  Er hatte
sich  darübergeneigt  und  end­lich  trinken  wollen.  "Nein", hatte  da das
Schicksal gesagt, "nein, du hieltest ja den  Becher  nicht  gern",  und  das
Gefäß war ihm  aus den Händen  geschlagen  worden, und  das Wasser war
über seine Hände zur Erde geflossen.
     Hurra! Nun war  er frei. Er lachte so  laut  und  böse,  daß  die
anderen Fahrgäste, leicht verstimmt, von ihm abrückten. Er stieg aus. Es war
ja gleichgültig,  wo  er  ausstieg, er war frei,  Cornelia  erschlief  sich,
weiß  der Teufel wo, eine Karriere oder eine Verzweiflung oder beides.
Auf  der Chausseestraße, am  Trakt der  Polizeikasernen, sah er in den
geöffneten Toren grüne Autos, Scheinwerfer  blitzten. Polizisten  kletterten
auf  die Wagen und standen, entschlossen,  in stummer  Kolonne. Einige Autos
ratterten   in  nördlicher  Richtung  davon.  Fabian   folgte   ihnen.   Die
Straße war voller Menschen. Zurufe flogen  den Wagen nach. Zurufe, als
wären es schon Steine. Die Mannschaf­ten blickten geradeaus.
     Am Weddingplatz riegelten sie die Reinickendorfer Straße  ab, auf
der  Arbeitermassen  näherzogen.  Berittene  Polizei   wartete   hinter  der
Sperrkette darauf, zur Attacke befohlen zu  werden. Uniformierte Proletarier
warteten,  den Sturmriemen  unterm Kinn,  auf proletarische  Zivilisten. Wer
trieb sie  gegeneinander? Die  Arbeiter waren nahe, ihre Lieder wurden immer
lauter, da ging die Polizei schrittweise vor, ein Meter Abstand von Mann  zu
Mann. Der Gesang  wurde von wütendem Gebrüll  abgelöst. Man spürte, ohne die
Vorgänge sehen zu können, am  Lärm, und wie er wuchs, daß die Arbeiter
und die Polizei dort vorn gleich aufeinanderstoßen würden.

     Eine Minute  später  bestätigten Aufschreie  die  Vermu­tung.  Man  war
zusammengetroffen,  die  Polizei schlug zu. Jetzt setzten  sich  die  Pferde
schaukelnd in Bewegung und trabten in das Vakuum hinein, die Hufe klapperten
übers Pflaster. Von vorn ertönte ein Schuß. Scheiben zerspran­gen. Die
Pferde galoppierten.  Die Menschen auf dem Weddingplatz wollten nachdrängen.
Eine   zweite   Polizei­kette  sperrte   den   Zugang   zur  Reinickendorfer
Straße, rückte langsam vor und säuberte den Platz. Steine flogen.
     Ein  Wachtmeister  erhielt  einen  Messerstich.  Die  Polizei  hob  die
Gummiknüppel  und  ging  zum  Laufschritt  über.  Auf  drei   Lastautos  kam
Verstärkung,  die  Mannschaften  sprangen  von  den  langsamfahrenden  Wagen
herunter. Die Arbeiter ergriffen die Flucht, an den äußersten  Rändern
des Platzes und in den Zugangsstraßen machten sie wieder halt.  Fabian
drängte sich  durch  die  lebendige  Mauer und  ging  seiner  Wege. Der Lärm
entfernte  sich.  Drei Straßen weiter schien  es  schon, als  herrsche
überall  Ruhe und Ordnung. Ein paar Frauen  standen  in  einem Haustor. "He,
Sie!" sagte die eine. "Stimmt das, am Wedding gibt's Keile?"
     "Sie nehmen einander Maß", antwortete er und ging vorbei.
     "Ich lasse mich fressen, Franz ist  wieder mittendrin", rief die  Frau.
"Na, komm  du nur nach Hause!" Mitten in  der Straßenfront, unvermutet
zwischen alten, soliden Mietskasernen, lag ein Rummelplatz, der Onkel Pelles
Nordpark hieß. Leierkastenmusik überspülte die  Gespräche der Mädchen,
die, Arm in Arm, in langer  Kette vor dem Eingang bummelten. Verwegen tuende
Burschen mit schiefgezogenen Mützen strichen entlang und riefen Frechheiten.
Die  Mädchen   kicherten  geschmeichelt  und  gaben  unmißverständlich
Antwort.
     Fabian trat  durch  das  Tor.  Das  Gelände  glich einem  Trockenplatz.
Azetylenflammen zuckten  und ließen die Wege und Buden  halb  finster.
Der  Boden war  klebrig und  von  Grasstoppeln bewachsen. Das Karussell war,
wegen  mangelnder  Nachfrage,  mit  Zeltbahnen verhangen. Män­ner in  derben
Joppen,  alte  Frauen mit Kopftüchern, Kinder,  die  längst  hätten  im Bett
liegen müssen, trotteten den Budenweg entlang.
     Ein  Glücksrad rasselte. Die Menschen  standen  dicht zusammengedrängt,
die Augen hingen an  der rotierenden Scheibe.  Sie lief  langsamer, überwand
noch ein paar Nummern, hielt still. "Fünfundzwanzig!" schrie der Aus­rufer.
     "Hier, hier!" Eine alte Frau, mit der Brille auf der Nase, hob ihr Los.
Man reichte ihr den Gewinn. Was hatte sie gewonnen? Ein Pfund Würfelzucker.
     Wieder schnurrte das Rad. "Siebzehn!"
     "Hallo, das bin ich!" Ein junger Mann schwenkte  sein Los. Er bekam ein
Viertelpfund Bohnenkaffee. "Was für Muttern", sagte er zufrieden und zog ab.
     "Und  jetzt folgt die große  Prämie!  Der Gewinner darf sich  was
aussuchen!"  Das Rad schwankte, tickte, stand still,  nein, es  rückte  noch
eine Nummer weiter.
     "Neun!"
     "Mensch, hier!" Ein Fabrikmädchen  klatschte in die Hände. Sie  las die
Lotteriebestimmungen.  "Der  Hauptge­winn  besteht  aus  fünf  Pfund   prima
Weizenmehl oder einem Pfund Butter oder dreiviertel Pfund  Bohnenkaffee oder
eindreiviertel  Pfund  magerem  Speck."  Sie  verlangte  ein  Pfund  Butter.
"Allerhand für einen Groschen", rief sie. "Das kann man mitnehmen."
     "Es folgt die  nächste Ziehung!" brüllte  der  Ausrufer. "Wer  hat noch
nicht,  wer  will  noch  mal? Sie da, Großmut­ter! Hier ist  das Monte
Carlo  der  armen  Luder!  Keine  Mark,  keine  halbe  Mark,  sondern  einen
Groschen!"  Ge­genüber  war  ein ähnliches  Unternehmen. Aber  die  Tom­bola
bestand aus Fleisch und Wurst, und das Los kostete doppelt soviel.
     "Der  Hauptgewinn, meine  Herrschaften, der Hauptgewinn besteht diesmal
aus einer halben Hamburger Gans!" kreischte eine Schlächtersgattin. "Zwanzig
Pfennige, nur Mut,  mein Volk!" Ihr Gehilfe schnitt mit  einem Riesen­messer
dünne Scheiben  von  einer  Schlackwurst  und  ver­teilte an  die  Loskäufer
Kostproben. Den anderen lief das Wasser im  Munde  zusammen. Sie gruben zwei
Groschen aus dem Portemonnaie und griffen zu.
     "Wie denkst du über Gänsebraten?"  fragte einer ohne Schlips und Kragen
eine Frau.
     "Schade ums Geld", sagte sie. "Wir haben kein Glück, Willem."
     "Laß man", meinte er, "es ist manchmal komisch." Er nahm ein Los,
steckte der Frau die Scheibe Wurst, die er zugekriegt hatte, in den Mund und
blickte erwartungsvoll auf das Rad.
     "Die    Ziehung    nimmt   hiermit   ihren   Anfang",   kreischte   die
Schlächtersgattin. Das Glücksrad surrte. Fabian ging wei­ter. "Hippodrom und
Tanz" stand über einem großen Zelt. 20 Pfennig Entree. Er ging hinein.
Das Lokal bestand aus zwei Kreisen. Der eine war  überhöht, wie ein Pfahlbau
stand er  im Zelt, dort  oben  wurde  getanzt.  In  der Mitte saß eine
Blechkapelle und spielte, als hätten die Musiker miteinander Streit  gehabt.
Die Mädchen lehnten am Geländer. Die jungen  Männer griffen zu.  Man  machte
keine Umstände. Der andere Kreis war eine Sandmanege, in der, zu den Klängen
der  Kapelle, drei ausrangierte Gäule vor sich hintrabten.  Sie  wurden  von
einem  zylin­dergeschmückten  Stallmeister,  der  die  Peitsche schwang  und
wiederholt "Terrab!" schrie, vom Einschlafen  abge­halten. Auf einem kleinen
einäugigen Schimmel saß eine  Frau im  Herrensitz.  Der  Rock war hoch
über  die Knie  gerutscht. Sie trabte deutsch und lachte, sooft sie auf  den
Sattel fiel.
     Fabian  setzte sich neben die Manege und  trank ein Bier.  Die Reiterin
zog  jedesmal,  wenn  sie   an  ihm   vorbeikam,  den  Rock  herunter.   Die
Beschäftigung war sinnlos. Der Rock rutschte immer wieder  hoch. Als sie zum
vierten  Male  Fabians Tisch  passierte, lächelte sie  ein bißchen und
ließ  den Rock oben. In der  fünften Runde blieb der Schimmel  vor dem
Tisch stehen  und  glotzte mit  dem blinden Auge ins  Bierglas.  "Da  gibt's
keinen Zucker", sagte die Frau und sah Fabian ins Gesicht. Der Stallmei­ster
knallte mit der Peitsche, und der kleine Schimmel schob weiter. Kaum war die
Frau vom  Pferd  gestiegen,  setzte sie sich  betont  unabsichtlich  an  den
Nebentisch,  schräg vor  Fabian,  so daß  er ihre körperlichen Vorzüge
nicht übersehen  konnte.  Sein  Blick  blieb auf  der Figur  haften,  und da
erwachte  sein Schmerz  aus  der  Narkose. Wo  war  Cornelia?  War  ihr  die
Umarmung, in  der  sie jetzt  lag,  zuwider? Empfand  sie,  während er  hier
saß, in einem  fremden  Bett Vergnügen? Er sprang auf. Der Stuhl  fiel
um. Die Frau am Nebentisch blickte ihm wieder ins Gesicht, ihre Augen wurden
groß, der Mund krümmte und öffnete sich leicht, die  Zungenspitze fuhr
feucht an der Oberlippe entlang.
     "Kommen Sie mit?" fragte er unwillig. Sie kam mit, und sie gingen, ohne
viel zu reden, ins "Theater". Das war eine elende Bretterbaracke. "Auftreten
der    renommierten    Rheingoldsänger.    Rauchen    erlaubt.    Zu     den
Abendvor­stellungen haben Kinder  keinen  Anspruch auf Sitzplätze." Die Bude
war  halbvoll.  Die  Zuschauer  hatten die Hüte auf, rauchten Zigaretten und
ließen  sich im Dunkel von der unüberbietbar albernen  und  verlogenen
Romantik, die  ihnen  für  dreißig Pfennige  vorgesetzt  wurde, bis zu
Tränen rühren. Sie hatten mehr Mitleid mit dem  ver­kitschten Kulissenzauber
als mit ihrer eigenen Not.
     Fabian legte den Arm um  die fremde  Frau. Sie schmiegte sich  dicht an
ihn und atmete schwer,  damit  er es höre. Das  Stück war  tieftraurig.  Ein
flotter Student - Direktor Blasemann, grauhaarig und über fünfzig Jahre alt,
spielte  die  Rolle persönlich - kam jeden Morgen betrunken nach Hause.  Das
lag an dem verdammten Sekt. Er sang Studen­tenlieder, bestellte einen sauren
Hering,  wurde  von der  Portiersfrau abgekanzelt und schenkte  einer  alten
gichtkranken Hofsängerin,  daß  sie das Singen  lasse,  seinen letzten
Taler.
     Doch  das Schicksal schritt, so schnell es konnte. Die alte Hofsängerin
war  - wer hätte sie  sonst sein sollen? - niemand anders als die Mutter des
fünfzigjährigen Stu­denten! Zwölf Jahre hatte er sie nicht gesehen,  erhielt
allmonatlich  Geld  von  ihr  und  glaubte,  sie sei noch immer, wie  einst,
Hofopernsängerin. Natürlich erkann­te  er sie nicht. Aber  Mutteraugen sehen
schärfer, sie wußte  sofort:  der oder keiner. Jedoch,  die Zuspitzung
des Dramas verzögerte  sich.  Eine Liebesaffäre  brach  herein.  Der Student
liebte und  wurde geliebt, letzteres  geschah  durch Fräulein  Martin,  jene
bildhübsche  Nähe­rin,  die gegenüber  wohnte,  die Nähmaschine trat und wie
eine Lerche sang. Ellen Martin, die singende  Ler­che, wog gut zwei Zentner.
Sie  hüpfte,  daß  sich die  Bühne bog, aus der  Kulisse und  sang mit
Direktor   Bla­semann,   dem    Studenten,   Couplets.   Der    Anfang   des
er­folgreichsten Duetts lautete:

     "Schatzi du, ach Schatzi mein,
     sollst mein ein und alles sein!"

     Das junge Paar, das zusammen an die hundert  Lenze zählen mochte, schob
sich wuchtig auf dem Hof, den die Szene darstellen sollte, hin und her; dann
versprach er ihr die Ehe, sie  aber wurde traurig, weil er alte  Sängerinnen
vom Hofe zu treiben pflege. Dann sangen sie das nächste Couplet.
     Die Leute klatschten Beifall. Die Frau, um die Fabian seine Hand liegen
hatte, machte eine  leichte  Drehung, sie gab ihm  die Brust. "Ach,  ist das
schön", sagte sie. Vermutlich meinte sie das Stück.
     Im  Zuschauerraum  herrschte  wieder  feierliche   Stille.   Die  alte,
gebeugte, gichtkranke Hofsängerin, die den Sohn  Medizin studieren und einem
feudalen Korps angehören ließ, wackelte aus der Kulisse, erreichte den
Hof  mit Müh und  Not, hob  den Zeigefinger, der Pianist ge­horchte, und ein
rührseliges Mutterlied war im Entste­hen begriffen.
     "Gehen  wir", sagte Fabian und ließ den Büstenhalter der  fremden
Frau los.
     "Schon?" fragte sie erstaunt, aber sie folgte ihm.
     "Hier  wohne  ich", erklärte  sie  vor  einem großen  Haus in der
Müllerstraße. Sie schloß auf. Er sagte: "Ich komme mit hinauf."
     Sie sträubte sich,  es klang nicht überzeugend.  Er drückte  sie in den
Hausflur. "Was werden  bloß  meine  Wirtsleute sagen?  Nein, sind  Sie
stürmisch. Aber recht leise, ja?"
     An der Tür stand: Hetzer.
     "Wieso sind zwei Betten in deinem Zimmer?" fragte er.
     "Pst, man kann uns hören",  flüsterte sie. "Die Wirtsleute haben keinen
Platz zum Abstellen."
     Er  zog sich  aus. "Mach nicht so  viel Umstände", sagte er. Sie schien
Koketterie für unerläßlich zu  halten  und zierte sich  wie eine späte
Jungfrau. Schließlich lagen sie neben­einander. Sie löschte das Licht,
und erst jetzt entkleidete  sie sich völlig. "Einen Moment",  flüsterte sie,
"nicht böse  sein." Sie knipste eine Taschenlampe an, breitete ein Tuch über
sein Gesicht  und untersuchte ihn  im Schein  der Taschenlampe wie ein alter
Kassenarzt. "Entschuldigen Sie, man kann heutzutage  nicht  vorsichtig genug
sein", erklärte sie anschließend. Und nun stand nichts mehr im Wege.
     "Ich bin Verkäuferin in einem Handschuhgeschäft", be­richtete sie etwas
später. "Willst du bis morgen früh bleiben?" fragte sie nach  einer weiteren
halben Stunde.  Er nickte.  Sie verschwand  in der Küche, er hörte,  wie sie
spülte.  Sie  brachte  warmes   Seifenwasser,  wusch  ihn  sorg­fältig,  mit
hausfraulichem Eifer, und stieg wieder  ins Bett. "Stört es deine Wirtsleute
nicht, wenn du in der  Küche Wasser wärmst?" fragte er. "Laß das Licht
brennen!"
     Sie  erzählte  belanglose Dinge,  fragte,  wo er  wohne, und nannte ihn
"Schatz". Er musterte die Zimmereinrichtung. Außer den Betten war noch
ein  leidenschaftlich  ge­schwungenes   Plüschsofa  anwesend,   ferner   ein
Waschtisch  mit Marmorplatte, ein scheußlicher Farbendruck,  wo­selbst
eine  junge mollige Frau, im Nachthemd auf einem  Eisbärenfell hockend,  mit
einem  rosigen Baby  spielte,  und  ein Schrank  mit  einem  Türspiegel, der
schlecht funktio­nierte. "Wo ist  Cornelia?" dachte er und  fiel wieder über
die nackte, erschrockene Verkäuferin her.
     "Man sollte Angst vor dir haben", flüsterte sie danach. "Willst du mich
umbringen? Aber  es ist wunderbar."  Sie  kniete sich neben ihn, betrachtete
aus geweiteten Augen sein gleichgültiges Gesicht und küßte ihn.
     Als sie  todmüde eingeschlafen  war, lag er noch  immer wach, allein in
einem fremden  Zimmer, blickte ange­spannt ins Dunkel und dachte: "Cornelia,
was haben wir getan?"


     SIEBZEHNTES KAPITEL

     Kalbsleber, aber ohne Flechsen
     Er sagt ihr die Meinung
     Ein Reisender verliert die Geduld

     "Ich habe  gelogen", sagte die Frau am  anderen  Morgen. "Ich gehe  gar
nicht  ins Geschäft. Und die Wohnung gehört  mir. Und wir sind  ganz allein.
Komm in die Küche."
     Sie goß Kaffee ein, strich Brötchen, klopfte ihm zärtlich auf die
Wange, band  die  Schürze  ab und setzte  sich  zu  ihm an den  Küchentisch.
"Schmeckt's?"  fragte  sie  munter, obwohl  er nicht  aß.  "Blaß
siehst du aus, Schatz. Es ist aber auch kein Wunder. Greif tüchtig zu, damit
du wieder groß  und  stark  wirst."  Sie  legte  ihren  Kopf  an seine
Schulter und spitzte wie ein Backfisch die Lippen.
     "Du  hattest Angst, ich könnte dir das Sofa stehlen oder dir den  Bauch
aufschlitzen?"  fragte Fabian.  "Und  wie kom­men die zwei  Betten  in  dein
Schlafzimmer?"
     "Ich   bin   verheiratet",   sagte  sie.  "Mein  Mann  reist  für  eine
Trikotagenfirma. Augenblicklich ist er  im Rheinland.  Dann  fährt  er  nach
Württemberg. Er ist mindestens noch zehn Tage unterwegs. Willst du  so lange
bleiben?"
     Er trank Kaffee  und gab keine Antwort. "Ich brauche wen", erklärte sie
heftig, als hätte ihr jemand widersprochen.
     "Nie ist er da, und wenn er da ist,  lohnt sich's auch nicht. Bleib die
zehn Tage bei mir. Mach dir's bequem. Ich koche gut. Geld habe ich auch. Was
willst  du  heute  mittag  essen?" Sie  begann  zu wirtschaften  und blickte
ängstlich  zu ihm hin.  "Ißt du gern  Kalbsleber  mit  Bratkartoffeln?
Warum antwortest du denn gar nicht?"
     "Habt ihr Telefon?" fragte er.
     "Nein", sagte sie. "Willst du fort? Bleib doch. Es war so schön. Es war
so  schön wie noch nie." Sie  trocknete sich  die Hände und fuhr streichelnd
über sein Haar.
     "Ich bleibe  ja",  meinte  er.  "Aber ich muß  telefonieren." Sie
sagte, telefonieren könne man beim Fleischer Rarisch,  und ob er ein  halbes
Pfund frische Kalbsleber  mitbringen wolle, ohne Flechsen. Dann gab sie  ihm
Geld,  öffnete  vorsichtig die  Vorsaaltür,  und weil die Treppe  leer  war,
durfte er aus der Wohnung.
     "Ein halbes Pfund frische Kalbsleber, aber ohne Flech­sen", sagte er im
Fleischerladen. Dann rief er,  während  man ihn  bediente, Zacharias an. Das
Telefon war fettig. "Nein", erklärte Zacharias, "mir ist nichts eingefallen.
Aber  ich  gebe die Hoffnung nicht auf, das wäre doch  gelacht, mein Lieber.
Wissen  Sie was,  kommen Sie  mor­gen wieder mal  vorbei.  Es geht  manchmal
schnell.  Schlimmstenfalls  plaudern  wir ein  bißchen.  Ist  es Ihnen
recht? Wiedersehen."

     Fabian  nahm die Kalbsleber  in Empfang. Das Papier blutete. Er  zahlte
und  trug  das Fleischpaket  vorsichtig  ins Haus. Weil  die  Nachbarin  die
Türklinke  putzte,  stieg  er  bis zur  vierten  Etage hinauf.  Nach einigen
Minuten  kam  er   wieder  herunter.   Die  Frau,  mit   der  er  die  Nacht
zusam­mengewesen war, öffnete, ohne  daß  er zu klingeln brauchte, und
zog ihn in die Wohnung.
     "Gott sei  Dank", flüsterte  sie. "Ich  dachte schon, die  Klatschtante
würde  uns  erwischen. Setz dich ins Wohn­zimmer, Schatz. Willst du  Zeitung
lesen? Ich räume inzwischen auf."
     Er legte das Geld, das er zurückbekommen  hatte, auf den Tisch,  setzte
sich  ins Wohnzimmer  und las  die  Zeitung.  Er hörte die Frau singen. Nach
einer Weile brachte sie ihm Zigaretten und Kirschwasser und blickte ihm über
die Schulter.  "Um eins  wird gegessen", sagte  sie. "Hoffentlich  fühlst du
dich recht behaglich."
     Dann verschwand sie wieder und sang draußen weiter. Er
     las  den  Polizeibericht  über  den  Krawall  in  der   Reinickendorfer
Straße. Der Wachtmeister, der den Messerstich erhalten  hatte,  war im
Krankenhaus  gestorben.  Von  den Demonstranten  waren drei  schwer verletzt
worden.  Eini­ge  andere  hatte man  verhaftet.  Die Redaktion  schrieb  von
unverantwortlichen   Elementen,   welche   die  Arbeitslosen   immer  wieder
aufzuwiegeln  versuchten, und von der  bedeutenden Aufgabe,  die der Polizei
zufalle.  Es gehe  nicht an, obwohl  es von gewissen Kreisen ununterbro­chen
versucht  werde, den Etat  für die Schutzpolizei zu senken. Vorkommnisse wie
das gestrige  führten, hieß es, so recht  vor  Augen, wie notwendig es
sei, prophylaktisch zu denken und zu handeln.
     Fabian sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die Möbel waren, wo sich dazu
die  Gelegenheit  bot,   verschnörkelt.   Auf   dem   Vertiko  standen  drei
Leitzordner. Auf dem Tisch prangte ein bunter Glasteller,  der schlug Wellen
und enthielt Ansichtskarten. Fabian nahm  die oberste Karte. Sie zeigte  den
Kölner Dom, und er dachte an das  Zigaret­tenplakat. "Liebe Mucki",  las er,
"geht's  dir gut,  und reicht  das  Geld?  Ich  habe ganz  hübsche  Aufträge
gemacht, morgen geht's  nach Düsseldorf. Gruß und Kuß, Kurt." Er
legte die Karte auf den Teller zurück und trank ein Glas Kirschwasser.
     Mittags aß er, um Mucki nicht zu verstimmen, den Teller leer. Sie
war froh darüber, als habe ein  Hund den Napf saubergefressen. Hinterher gab
es Kaffee.
     "Willst du mir gar nichts von dir erzählen, Schatz?" fragte sie.
     "Nein", sagte er und ging ins Wohnzimmer. Sie  lief  hinter ihm her. Er
stand am Fenster.
     "Komm aufs Sofa", bat sie. "Man könnte dich sehen. Und sei nicht böse."
     Er  setzte sich  aufs Sofa.  Sie brachte  den Kaffee herein, nahm neben
Fabian Platz und knöpfte die Bluse auf.
     "Jetzt  kommt   der   Nachtisch",   sagte   sie.  "Aber  nicht   wieder
beißen."
     Gegen drei Uhr ging er.
     "Wirst du auch bestimmt wiederkommen?" Sie stand vor ihm, brachte ihren
Rock und die Strümpfe in Ordnung und sah ihn bittend an. "Schwöre, daß
du wieder­kommst."
     "Wahrscheinlich komme ich", sagte er. "Versprechen kann ich es nicht."
     "Ich warte mit dem Abendbrot", erklärte sie, dann öffnete sie die Tür.
     "Rasch!" flüsterte sie. "Die Luft ist rein."
     Er sprang die Treppe  hinunter.  "Die Luft ist  rein",  dachte  er  und
empfand Abscheu vor dem Haus, das er verließ. Er fuhr zum Großen
Stern,  durchquerte den Tiergarten bis zum  Brandenburger  Tor, verlor  sich
wieder  in   den  Anlagen,  die  Rhododendren  blühten.  Er  geriet  in  die
Siegesallee. Die Dynastie  der Hohenzollern und der Bildhauer Begas schienen
unverwüstlich.
     Vor dem Café Schottenhaml machte Fabian kehrt. Was ließ sich hier
noch  besprechen  ? Es  war zu spät zum Reden. Er  ging weiter, kam  auf die
Potsdamer Straße, stand unentschlossen  auf  dem Potsdamer Platz, lief
die Bellevuestraße hinauf und befand  sich  wieder  vor dem  Café. Und
jetzt trat er ein.
     Cornelia saß da, als warte sie seit Jahren, und winkte ein wenig.
     Er setzte sich. Sie nahm  seine Hand. "Ich glaubte  nicht, daß du
kämst", sagte  sie schüchtern.  Er schwieg  und sah  an  ihr vorbei. "Es war
nicht recht von mir, nicht wahr?" flüsterte  sie und senkte den Kopf. Tränen
fielen in ihren  Kaffee. Sie schob die Tasse beiseite und trocknete sich die
Augen.
     Er  blickte  vom Tisch fort. Die Wände zwischen  den zwei Treppen, die,
barock  gedrechselt,  in das  Obergeschoß  führten, waren  mit  vielen
bunten  Papageien und  Kolibris  bevölkert. Die Vögel  waren  aus Glas.  Sie
hockten  auf  gläsernen Lianen  und  Zweigen und warteten auf den Abend  und
seine Lampen, damit der zerbrechliche Ur­wald zu leuchten beginne.
     Cornelia flüsterte: "Warum siehst du mich  nicht an?" Dann preßte
sie das Taschentuch  vor den Mund. Und ihr  Weinen  klang, als  wimmere weit
entfernt ein verzweifeltes Kind. Das Lokal  war leer. Die Gäste  saßen
draußen  vor  dem Haus,  unter großen  roten Schirmen.  Nur  ein
Kellner  stand  in der Nähe, Fabian  blickte  ihr  ins  Gesicht. Ihre  Augen
zitterten vor  Aufregung. "Sprich  endlich ein Wort", sagte sie  mit  rauher
Stimme. Sein Mund war ausgetrocknet. Die Kehle war zusammengepreßt. Er
schluckte mühsam.
     "Sprich  ein  Wort",  wiederholte  sie ganz leise und  faltete  auf dem
Tischtuch, zwischen dem Nickelgeschirr, die Hände.
     Er aß und schwieg.
     "Was soll bloß aus mir werden?" flüsterte sie, als spreche sie zu
sich  selber und er  sei  gar nicht mehr da. "Was  soll bloß  aus  mir
werden?"
     "Eine  unglückliche  Frau,  der  es  gutgeht", sagte  er viel  zu laut.
"Überrascht  dich  das?  Kamst  du  nicht deswegen  nach  Berlin?  Hier wird
getauscht. Wer haben will, muß hingeben, was er hat."
     Er wartete eine Weile, doch sie schwieg. Sie nahm die Puderdose aus der
Tasche, ließ sie dann aber ungeöffnet liegen. Er  hatte sich wieder in
der  Gewalt.  Sein  leicht ermüdbares  Gefühl gab Ruhe und  wich dem  Drang,
Ordnung zu  schaffen. Er blickte auf  das,  was  geschehen war, wie  auf ein
verwüstetes Zimmer,  und begann, kalt  und kleinlich, aufzuräumen. "Du kamst
mit Absichten  hierher, die sich rascher erfüllt haben, als zu hoffen stand.
Du hast  einen einflußreichen  Menschen gefunden, der dich finanziert.
Er  finanziert  dich  nicht nur,  er  gibt dir  eine berufliche Chance.  Ich
bezweifle nicht, daß  du Erfolg haben wirst.  Dadurch verdient er  das
Geld zurück, das er gewissermaßen  in dich hineingesteckt hat; dadurch
wirst du auch selber Geld verdienen und eines Tages sagen können: Mein Herr,
wir sind quitt."  Fabian  wunderte sich.  Er erschrak vor  sich  selber  und
dachte:  Es fehlt  nur, daß ich die Interpunktion mitspreche. Cornelia
betrachtete  ihn, als  sehe sie  ihn  zum  ersten Mal. Dann klappte  sie die
Puderdose auf, musterte sich in dem kleinen runden Spiegel und fuhr  mit der
weißen  stäubenden  Quaste  über ihr verweintes,  kindlich  erstauntes
Ge­sicht. Sie nickte, er möge fortfahren.
     "Was dann werden wird", sagte er, "was dann werden wird, wenn du Makart
nicht mehr brauchst, läßt sich nicht vorher sagen, es steht auch nicht
zur Debatte. Du wirst arbeiten,  und dann  bleibt von einer Frau  nicht viel
übrig.  Der  Erfolg  wird  sich  steigern, der  Ehrgeiz  wird  wachsen,  die
Absturzgefahr nimmt  zu, je höher man  steigt. Wahr­scheinlich wird er nicht
der einzige  bleiben,  dem  du dich ausliefern wirst. Es findet  sich  immer
wieder ein Mann,  der einer Frau den  Weg versperrt  und mit  dem  sie  sich
langlegen muß,  wenn sie  über  ihn  hinweg will.  Du wirst dich daran
gewöhnen, den Präzedenzfall hast du ja seit gestern hinter dir."
     "Ich weine schon, und er schlägt mich noch", dachte sie verwundert.
     "Aber die  Zukunft  ist nicht  mein Thema", sagte  er und  machte  eine
abschließende  Handbewegung, als  erdroßle  er den Gedanken. "Zu
besprechen  bleibt die  Vergangen­heit.  Du  fragtest gestern nicht,  als du
gingst.  Warum  interessiert  dich  nun  meine  Antwort?  Du  wußtest,
daß ich  dich  los sein wollte. Du wußtest, daß ich darauf
brannte,  eine Geliebte zu haben,  die in anderen  Betten das Geld verdient,
das ich nicht besitze. Wenn  du recht hattest, war ich ein Halunke. Wenn ich
kein Halunke war, war alles, was du tatest, falsch."
     "Es war alles falsch", sagte sie und stand auf. "Leb wohl, Fabian."
     Er folgte ihr und war mit sich sehr zufrieden. Er kränk­te sie, weil er
ein Recht dazu hatte, aber war das ein Grund? Auf der Tiergartenstraße
holte er sie ein. Sie gingen schweigend und taten sich und einander leid. Er
dachte noch: "Wenn sie jetzt fragt, soll ich zu dir zu­rückkommen, was werde
ich antworten? Ich habe noch sechsundfünfzig Mark in der Tasche."
     "Es war so  schrecklich  gestern", sagte  sie  plötzlich.  "Er  war  so
widerwärtig! Was soll erst daraus werden, wenn du mich nicht mehr magst? Nun
brauchten  wir keine Sorgen zu haben, und  sie sind  größer als zuvor.
Was fange ich an, wenn ich weiß, du willst mich nicht mehr sehen?"
     Er faßte ihren  Arm. "Vor allem, nimm  dich zusammen. Das  Rezept
ist alt, aber brauchbar. Du hast dir den Kopf abgehackt, gib acht, daß
es  wenigstens  nicht  um­sonst war.  Und  entschuldige, daß  ich dich
vorhin so gekränkt habe."
     "Ja, ja."  Sie war  noch traurig und schon wieder froh.  "Und darf  ich
morgen nachmittag zu dir kommen?"
     "Es ist gut", sagte er.
     Da  umarmte  sie  ihn  mitten auf  der Straße,  küßte  ihn,
flüsterte: "Ich danke dir", und rannte aufschluchzend davon.
     Er  blieb  stehen. Ein Spaziergänger rief: "Sie  können lachen!" Fabian
wischte  mit  der Hand  über den Mund und ekelte sich. Was hatten  Cornelias
Lippen  inzwi­schen  berührt?  Half  es  ihm, daß sie  sich die  Zähne
geputzt hatte? War seinem Abscheu mit Hygiene beizu­kommen?
     Er überschritt die Straße  und trat in den  Park.  Moral  war die
beste Körperpflege. Wasserstoffsuperoxyd zum Gurgeln genügte nicht.
     Und erst jetzt fiel  ihm ein, wo er in  der vergangenen  Nacht  gewesen
war.
     Er wollte nicht  in die Müllerstraße zurück. Aber der bloße
Gedanke  an sein eigenes  Zimmer,  an  die  Neugier  der Witwe  Hohlfeld, an
Cornelias  leere  Stube,  an  die  ganze  einsame Nacht, die ihn  erwartete,
während  ihn  Cornelia  zum  zweiten  Mal  betrog,  trieb   ihn   durch  die
Straßen,  dem Norden zu,  in  die Müllerstraße  hinein, in jenes
Haus und zu der Frau, die er nicht wiedersehen wollte. Sie strahlte. Sie war
stolz, daß er wiederkam, und froh, daß sie ihn wieder hatte. "So
ist's recht", sagte sie zur Begrüßung. "Komm, du wirst Hunger haben."
     Sie hatte  im Wohnzimmer gedeckt. "Wir essen sonst in der Küche", sagte
sie. "Aber wozu hat man seine Drei­zimmerwohnung?" Es gab Wurst und Schinken
und  Camembert. Plötzlich legte sie  Messer  und  Gabel  beiseite,  murmelte
"Hokuspokus!" und  brachte eine  Flasche Mo­sel zum Vorschein.  Sie schenkte
ein und stieß mit ihm an.  "Auf unser Kind!" rief sie. "Wie du soll es
sein, und wenn's kein Junge wird, mußt du strafexerzieren!"
     Sie  trank  das  Glas leer,  goß  wieder ein  und hatte glänzende
Augen. "So ein  Glück, daß ich dich traf", sagte sie und trank weiter.
"Wein regt mich schrecklich auf." Sie fiel ihm um den Hals.
     Da klapperten draußen die Schlüssel. Schritte kamen  den Korridor
entlang.  Die Tür ging  auf. Ein mittelgroßer,  untersetzter Mann trat
ins  Zimmer. Die Frau sprang auf. Sein Gesicht wurde  düster. "Wünsche guten
Appetit allerseits", sagte er und näherte sich der Frau.
     Sie schob sich rückwärts, und ehe er sie  erreicht hatte, riß sie
die Tür zum Schlafzimmer auf, sprang hinüber, schlug die Tür zu und riegelte
ab.
     Der Mann rief: "Du kriegst schon noch den Hintern voll!" Er drehte sich
zu Fabian herum, der sich verlegen erhoben hatte: "Behalten Sie bitte Platz.
Ich bin der Gatte."  Sie saßen einander eine Weile gegenüber, ohne  zu
sprechen.  Dann nahm der  Mann die Moselflasche  in  die  Hand,  betrachtete
umständlich das Etikett und schenkte sich ein Glas voll. Er trank und meinte
hinterher: "Die Züge sind
     um diese Zeit schrecklich überfüllt."
     Fabian nickte zustimmend.
     "Aber der Wein ist gut. Hat er Ihnen geschmeckt?" fragte der Mann.
     "Ich mache  mir  nicht viel  aus  Weißwein",  erklärte Fabian und
stand auf.
     Der andere folgte ihm. "Sie wollen schon gehen?" fragte er.
     "Ich möchte nicht länger stören", erwiderte Fabian.
     Plötzlich  sprang ihm  der Reisende an  den Hals und würgte ihn. Fabian
gab ihm einen Faustschlag in die Zähne. Der Mann ließ los, setzte sich
und hielt die Backe.
     "Entschuldigen Sie vielmals", sagte Fabian betrübt. Der Mann winkte ab,
spuckte rot ins Taschentuch und war vollauf mit sich beschäftigt.
     Fabian verließ die Wohnung. Wo sollte er jetzt noch hingehen?  Er
fuhr nach Hause.


     ACHTZEHNTES KAPITEL

     Er geht aus Verzweiflung nach Hause
     Was mag die Polizei wollen ?
     Ein trauriger Anblick

     Obwohl  Fabian sehr leise aufschloß, empfing ihn Frau Hohlfeld im
Korridor.  Sie   trug,  weil  es   Abend  war,   einen  Morgenrock  und  war
außerordentlich aufgeregt. "Ich  habe  meine Tür offengelassen, um Sie
zu hören", sagte sie. "Die Kriminalpolizei war da. Man wollte Sie holen."
     "Die Kriminalpolizei?" fragte er überrascht. "Wann war sie da?"
     "Vor  drei  Stunden  und vor  einer  Stunde  wieder.  Sie  sollen  sich
unverzüglich  melden.  Ich  habe  natürlich erzählt,  daß  Sie  in der
vorigen  Nacht  nicht  zu  Hause  waren  und  daß Fräulein  Battenberg
gestern,  ohne  ein Wort zu sagen, das Zimmer  geräumt  hat und verschwunden
ist."  Die Witwe wollte einen Schritt  näherkommen,  statt  dessen  trat sie
einen  Schritt zurück.  "Es ist  furchtbar", flüsterte  sie ergriffen,  "was
haben Sie da angestellt?"
     "Liebe  Frau Hohlfeld", antwortete  er. "Ihre Phantasie hat die Motten.
Das möchte  Ihnen passen, ein kleines Liebes­drama mit letalem Ausgang, wie?
Frau Hohlfeld als Zeugin in Trauerkleidung, Ihre beiden Untermieter in allen
Zeitungen abgebildet, der Mörder Fabian auf der Anklagebank, bilden Sie sich
keine Schwachheiten ein!"
     "Nun", sagte sie, "mich  geht  es  ja  nichts  an." Seine Verstocktheit
kränkte sie  tief. Zwei Jahre wohnte dieser Mensch bei  ihr, hatte  sie  ihn
nicht wie ihren Sohn gehegt und gepflegt? Und jetzt hielt er es nicht einmal
für nötig, sein Herz auszuschütten.
     "Wo soll ich mich melden?" fragte er.
     Sie gab ihm einen Zettel. Er las die Adresse.
     "Da  haben  wir's",  sagte  sie triumphierend.  "Warum sind Sie denn so
blaß geworden?"
     Er riß die Tür auf und  jagte die Treppe hinunter.  Am Nürnberger
Platz hielt er ein Auto  an, nannte die Adresse und sagte:  "Fahren  Sie, so
schnell Sie können!"
     Der Wagen  war alt und gebrechlich und holperte  sogar auf dem Asphalt.
Fabian zerrte das Schiebefenster auf:
     "Fahren  Sie doch  schneller!" rief  er. Dann  versuchte er zu rauchen,
aber   seine  Hand  zitterte,  und  der  Wind   blies  ihm  die   brennenden
Streichhölzer aus. Er lehnte sich zurück  und  schloß  die Augen.  Von
Zeit  zu  Zeit  öffnete  er  sie und  sah  nach,  wo sie waren.  Tiergarten,
Tiergarten,  Tiergar­ten,  Brandenburger Tor.  Unter den  Linden.  An  jeder
Straßenecke  mußten sie halten. An  jeder Verkehrsampel  glühte,
kurz bevor sie anlangten, das rote Licht auf. Ihm war, als  führen sie durch
zähen, dickflüssigen Leim. Hinter der Friedrichstraße wurde es besser.
Universität, Staatsoper, Dom und  Schloß lagen endlich im  Rücken. Das
Auto bog rechts ein. Es hielt. Fabian zahlte und  lief gehetzt ins Haus. Ein
fremder  Mann öffnete. Fabian  nannte  seinen  Namen. "Endlich",  sagte  der
fremde Mann.  "Ich bin Kriminalkommissar Donath. Wir kommen ohne  Sie  nicht
weiter."
     Im  ersten  Zimmer saßen  fünf junge  Damen,  ein Polizist  stand
dabei. Fabian erkannte die Selow und die  Bildhauerin. "Endlich",  sagte die
Selow. Das Zimmer war demo­liert, Gläser und Flaschen lagen am Boden.
     Im nächsten Zimmer stand  ein junger Mann vom Schreib­tisch auf.  "Mein
Assistent", erklärte der Kommissar. Fabian blickte sich um und erschrak. Auf
dem  Sofa lag Labude, kalkweiß, mit  geschlossenen Augen, Labude hatte
ein Loch in der Schläfe. Geronnenes Blut verklebte die Haare.
     "Stephan", sagte Fabian leise  und  setzte sich  neben  die  Leiche. Er
legte seine Hand auf die eisigen Hände des Freundes und schüttelte den Kopf.
     "Aber Stephan", sagte er, "das macht  man doch nicht." Die zwei Beamten
traten ans Fenster. "Doktor Labude  hat für  Sie  einen Brief hinterlassen",
berichtete  der Kommissar. "Wir  bitten Sie, den Brief zu lesen und uns über
den  Inhalt, soweit  es uns  interessiert, zu  unterrichten. Wir teilen Ihre
Vermutung,  daß  es sich um  einen  Selbstmord handelt,  und die  fünf
jungen  Da­men,  die wir  vorläufig  in  der  Wohnung zurückbehalten  haben,
behaupten, im Nebenzimmer gewesen zu sein,  als der  Schuß  fiel. Aber
ganz  aufgeklärt scheint  der Vorfall  nicht. Sie werden vielleicht  bemerkt
haben, daß das Nebenzimmer demoliert worden ist. Was hat  es damit für
eine Bewandtnis?"
     Der  Kriminalassistent  reichte  Fabian  ein  Kuvert.  "Wollen  Sie  so
freundlich sein und den Brief lesen? Die Damen  behaupten, das Zimmer sei im
Laufe einer  privaten  Mei­nungsverschiedenheit in Unordnung geraten. Doktor
La­bude  habe damit  nichts zu tun gehabt. Er sei nicht einmal dabeigewesen,
sondern habe gesagt, er wolle einen Brief schreiben,  und dann sei er in das
Zimmer hier gegangen."
     "Die  Damen stehen, wie  sich  aus Andeutungen entnehmen ließ, in
einigermaßen  ungewöhnlichen Beziehungen zueinander.  Ich vermute,  es
gab  eine  Art  von  Eifer­suchtsszene   zwischen   ihnen",  erläuterte  der
Kommissar.   "Sie   haben,  und  auch  das  spricht   gegen   ihre  konkrete
Mittäterschaft,  sofort  die Polizei  verständigt  und  uns  hier  erwartet,
anstatt davonzulaufen.  Wollen Sie, bitte, den Brief lesen?"  Fabian öffnete
das  Kuvert  und  nahm den  gefalteten  Briefbogen  heraus.  Dabei  fiel ein
Banknoten­bündel zur Erde. Der Assistent hob es auf und legte es aufs Sofa.
     "Wir  warten nebenan",  sagte  der  Kommissar rücksichts­voll, und  sie
ließen Fabian allein. Er  erhob sich  und  brannte das  Licht an. Dann
setzte er sich  wieder  und sah  auf  den  toten Freund, dessen  gelbes,  in
Müdigkeit erfrorenes  Gesicht  genau unter der Lampe  lag. Der  Mund war ein
wenig  geöffnet,  der  Unterkiefer gab  nach. Fabian faltete den  Briefbogen
auseinander und las: "Lieber Jakob!
     Als  ich  heute  mittag  im  Institut  war, um  mich  wieder einmal  zu
erkundigen, war der Geheimrat  wieder einmal nicht da. Aber Weckherlin, sein
Assistent,  war  da,  und  er  sagte  mir,  meine  Habilitationsschrift  sei
abgelehnt   wor­den.  Der   Geheimrat  habe   sie  als   völlig   ungenügend
cha­rakterisiert  und erklärt, sie  der Fakultät weiterzugeben, halte er für
Belästigung. Außerdem habe es keinen Zweck, meine  Blamage populär  zu
machen.  Fünf Jahre hat mich diese  Schrift gekostet, es war die fünfjährige
Arbeit  an einer Blamage, die man nur aus Barmherzigkeit  im eng­sten Kreise
begraben will.
     Ich dachte daran, Dich anzurufen, aber ich schämte  mich. Ich habe kein
Talent zum  Trostempfänger, auch hierin bin ich talentlos. Das Gespräch über
Leda,  das wir  vor Tagen  miteinander  hatten,  überzeugte mich  davon.  Du
hättest mich über  die mikroskopische  Bedeutung  meines wissen­schaftlichen
Unfalls  aufgeklärt, ich hätte  Dir  zum  Schein  recht gegeben, wir  hätten
einander  belogen.   Die   Ablehnung  meiner  Arbeit   ist,   faktisch   und
psycholo­gisch,  mein  Ruin, vor allem psychologisch. Leda wies mich zurück,
die Universität weist mich zurück,  von allen Seiten  erhalte ich die Zensur
Ungenügend. Das hält mein Ehrgeiz nicht aus, das bricht meinem Kopf das Herz
und meinem Herzen das Genick, Jakob. Mir hilft keine histo­rische Statistik,
wie viele  bedeutende  Männer  schlechte  Schüler und unglückliche Liebhaber
waren.
     Mein  politischer  Ausflug nach  Frankfurt war auch  zum  Bespeien.  Am
Schluß prügelten wir uns. Als ich gestern wiederkam, lag die Selow mit
der  Bildhauerin   in  meinem  Bett,  ein  paar  andere  Frauenzimmer  gaben
Hilfestellung.  Und  jetzt,  während ich  schreibe, schmeißen  sie  im
Ne­benzimmer  mit  Gläsern  und  Blumenvasen.  Ich  kann,  wenn  ich  meinen
augenblicklichen Zustand betrachte, sagen: Die ganze Richtung paßt mir
nicht! Aus den Bezirken, in die ich gehöre, wies man mich aus. Dort,  wo man
mich aufnehmen will, will ich nicht hin. Sei mir nicht böse, mein Guter, ich
haue ab. Europa wird  auch ohne mich weiterleben oder zugrunde gehen, es hat
mich nicht nötig. Wir  stecken in einer Zeit,  wo der ökonomische  Kuhhandel
nichts  ändert,   er   wird  den   Zusammenbrach   nur  beschleunigen   oder
vergrößern.  Wir  stehen   an   einem  der  seltenen   geschichtlichen
Wendepunkte,  wo  eine  neue  Weltanschauung konstituiert werden  muß,
alles  andere  ist  nutzlos.  Ich  habe  nicht  mehr den Mut, mich  von  den
politischen Fachleuten auslachen  zu  lassen, die mit ihren Mittelchen einen
Kontinent zu Tode kurieren. Ich weiß, daß ich recht  habe,  doch
heute genügt  mir das nicht  mehr.  Ich bin eine lächerliche Figur geworden,
ein  in  den Fächern  Liebe und Beruf  durchgefallener  Menschheitskandidat.
Laß  mich  den  Kerl  umbringen.  Der  Revolver,  den ich  neulich  am
Märkischen Museum dem Kommuni­sten  abnahm, kommt  zu  neuen Ehren. Ich nahm
ihn an  mich, damit kein  Unglück angerichtet würde. Lehrer hätte ich werden
müssen, nur die Kinder sind für Ideale reif.
     Also,  Jakob, leb wohl.  Fast hätte ich  ganz ernsthaft hingeschrieben:
ich werde oft  an Dich denken.  Aber damit  ist  es ja  nun aus. Trag es mir
nicht nach, daß ich uns so enttäusche. Du bist der einzige Mensch, den
ich  liebhatte,  obwohl  ich ihn kannte. Grüße  meine  Eltern, und vor
allem Deine Mutter. Wenn du Leda zufällig einmal begegnen solltest, sage ihr
nicht,  wie  schwer  mich  ihr Betrug traf. Sie mag  glauben,  ich wäre  nur
gekränkt gewesen. Es braucht nicht jeder alles zu wissen.
     Ich würde Dich bitten,  meine  Angelegenheiten zu  regeln, aber es gibt
nichts,  was  der Regelung bedürfte. Die  Wohnung  Nummer zwei sollen  meine
Eltern auflösen, mit den Möbeln können sie tun, was sie wollen. Meine Bücher
gehören Dir. Ich fand vorhin in meinem Schreib­tisch zweitausend  Mark, nimm
das Geld, viel ist es nicht, zu einer kleinen Reise wird es reichen.
     Leb wohl, mein Freund. Lebe besser als ich. Mach's gut.
     Dein Stephan."
     Fabian  strich  dem Toten behutsam über die Stirn. Der Unterkiefer  war
noch tiefer  herabgesunken. Der Mund  klaffte auf. "Daß  man lebt, ist
Zufall;  daß  man  stirbt,  ist  gewiß",  flüsterte  Fabian  und
lächelte dem Freunde zu, als wolle er ihn jetzt noch trösten.
     Der Kommissar öffnete leise die  Tür. "Entschuldigen Sie, daß ich
schon wieder störe." Fabian reichte ihm den Brief. Der Beamte las und sagte:
"Da kann ich ja die  Mädchen nach Hause schicken." Er gab den  Brief  zurück
und ging ins Nebenzimmer. "Die Sache ist erledigt, ich will Sie nicht länger
aufhalten", rief er.
     "Nur  noch  einen Augenblick",  sagte eine weibliche Stim­me. "Ich habe
ein  Faible  für Tote." Die fünf  Frauen  drängten  sich  durch die Tür  und
standen  schweigend  vor  dem  Sofa.   "Man  müßte  ihm  die  Kinnlade
hochbinden",  sagte schließlich ein  Mädchen, das Fabian nicht kannte.
Die  Bildhauerin  lief ins  andere Zimmer  und kehrte  mit  einer  Serviette
wieder.  Sie band Labude  den Unterkiefer  hoch, so  daß der Mund sich
schloß, und knüpfte die Enden der  Serviette auf  seinem  Kopfhaar  zu
einem Knoten.
     "Ein Toter mit Zahnschmerzen", bemerkte die Selow und lachte bösartig.
     Ruth Reiter  sagte:  "Es ist  eine  Schande. Bei  mir im  Atelier sitzt
Wilhelmy  und wird von Tag  zu Tag gesünder, das  Schwein, obwohl  die Ärzte
jede Hoffnung aufgegeben haben.  Und dieser  kräftige junge Kerl hier bringt
sich um die Ecke."
     Dann  schob der  Assistent die  Frauen  aus  dem Zimmer. Der  Kommissar
setzte sich  an  den Schreibtisch  und  entwarf  einen  Polizeibericht.  Der
Assistent  kam  zurück.  "Ist  es  nicht  das  beste, wenn wir  einen  Wagen
bestellen und den Toten  in die Villa der Eltern bringen lassen?" fragte er.
Dann bückte er  sich.  Die  Geldscheine waren vom  Sofa gefallen  und  lagen
wieder auf der Erde. Er hob sie auf und steckte sie Fabian in die Tasche.
     "Sind die Eltern eigentlich schon verständigt?" fragte Fabian.
     "Sie sind leider nicht erreichbar", erwiderte der Assistent. "Justizrat
Labude befindet sich auf einer kleinen  Reise,  das  Hauspersonal weiß
nichts Näheres. Die Mutter ist in Lugano. Man hat ihr depeschiert."
     "Also gut", sagte Fabian. "Bringen  wir ihn  nach Hause!" Der Assistent
telefonierte der nächsten Feuerwache. Dann warteten sie alle drei stumm, bis
der  Wagen  kam. Sanitäter packten Labude auf  eine Bahre und trugen ihn die
Treppe hinunter. Vor dem Haus standen Neugierige  aus der Nachbarschaft. Die
Bahre  wurde  in   den  Wagen  geschoben.  Fabian   setzte  sich  neben  den
ausgestreckten Freund. Die Beamten  verabschiedeten sich. Er  gab  ihnen die
Hand. Ein Sanitäter klappte die Leiter hoch und schloß die Tür. Fabian
und Labude fuhren zum letzten Male gemeinsam durch Berlin.
     Das Fenster war heruntergelassen, in seinem Rahmen zeigte sich der Dom.
Dann wechselte das Bild. Fabian sah die Schinkelsche Wache, die Universität,
die Staatsbiblio­thek. Wie lange war das her, daß sie hier miteinander
im Autobus gefahren waren?
     Am selben Abend hatten  sie,  draußen am  Märkischen Museum, zwei
Raufbolden  die  Revolver abgenommen. Nun lag  Labude  auf der  Bahre,  fuhr
durchs Brandenbur­ger Tor  und wußte nichts mehr  davon.  Zwei straffe
Gurte hielten ihn fest. Der Kopf rutschte langsam schräg.
     "Denkst du  nach?"  fragte  Fabian leise,  schob Labudes  Kopf auf  dem
Kissen  wieder  zurecht  und  ließ  die  Hand  dort.  "Ein  Toter  mit
Zahnschmerzen", hatte die Selow gesagt.
     Als   das   Krankenauto   vor  der   Grunewaldvilla  hielt,  stand  das
Dienstpersonal  an  der  Tür. Die Haushälterin schluchzte, der  Diener  ging
würdevoll  vor  den Sanitätern  her, die  Mädchen  folgten, ihre  Füße
hielten mit der ernsten Stunde Schritt. Labude wurde in sein Zimmer gebracht
und auf das Sofa gelegt. Der Diener öffnete die Fenster weit.
     "Die Leichenfrau kommt morgen  früh", sagte  die Haus­hälterin, und nun
schluchzten  auch   die  Mädchen.  Fabian  gab  den   Sanitätern  Geld.  Sie
grüßten militärisch und gingen.
     "Der Herr Justizrat ist noch immer nicht da", bemerkte der Diener. "Ich
habe keine  Ahnung, wo er sich  aufhält. Aber  er wird es ja in der  Zeitung
lesen."
     "Es steht schon in der Zeitung?" fragte Fabian.
     "Jawohl", entgegnete  der Diener. "Die gnädige Frau ist benachrichtigt.
Sie dürfte morgen mittag in Berlin  eintref­fen,  wenn ihr Zustand die Reise
gestattet. Der FD-Zug ist um diese Stunde in Bellinzona."
     "Gehen Sie schlafen",  sagte Fabian. "Ich  bleibe die Nacht über hier."
Er zog  einen Stuhl zum Sofa. Die anderen verließen das Zimmer. Er war
allein.
     In Bellinzona war Labudes Mutter  jetzt?  Fabian setzte sich  neben den
Freund und dachte: "Welch eine Strafe für eine schlechte Mutter!"


     NEUNZEHNTES KAPITEL

     Fabian verteidigt den Freund
     Ein Lessingporträt geht entzwei
     Einsamkeit in Halensee

     Labudes Gesicht wurde von der Serviette nur scheinbar zusammengehalten,
es veränderte sich. Als werde das Fleisch dickflüssig und sickere allmählich
ins  Körperinne­re, so traten die Backenknochen hervor. Die Augen waren tief
in  die  schwärzlichen  Höhlen gesunken. Die  Nasenflü­gel  fielen  ein  und
wirkten verkniffen. Fabian beugte sich vor und dachte: "Warum verwandelst du
dich? Willst du mir den Abschied leicht machen? Ich wünschte,  du  könn­test
reden, denn ich  hätte viel zu fragen, mein Lieber. Ist dir jetzt wohl? Bist
du auch jetzt  noch, nachdem du  starbst, damit zufrieden, daß du  tot
bist? Oder bereust du, was du tatest? Und möchtest du rückgängig machen, was
für ewig geschah? Früher habe ich  mir eingebildet, ich  könne an der Leiche
eines Menschen, den ich liebe, nie begreifen, daß er tot ist. Wie soll
man verstehen, daß  jemand  nicht mehr da  ist, obwohl er sichtbar vor
einem liegt, mit Schlips und Kragen, im selben Anzug wie kurz vorher? dachte
ich.  Wie  soll  man  glauben,  daß  einer,  nur,  weil  er  zu  atmen
vergaß,  eine Portion Fleisch geworden  ist,  die man drei Tage später
achtlos  verscharrt?  dachte  ich.  Wird  man,  wenn  das  geschieht,  nicht
aufschreien: Hilfe,  er  erstickt!  Ich  muß  dir sagen, Stephan,  ich
verstehe meine Angst, man könnte am Tod und seiner Tragweite zweifeln, nicht
mehr. Du bist tot, mein Guter, und du liegst da wie eine  schlecht  fixierte
Fotografie von dir, die zusehends vergilbt. Man wird deine Fotografie in den
Ofen werfen,  den man Krematorium  nennt.  Du wirst verbrennen, und  niemand
wird um Hilfe rufen, und auch ich werde still sein."
     Fabian trat zum Schreibtisch  und nahm aus dem gelben Holzkästchen, das
seit Jahren dort stand, eine Zigarette.
     Ein Kupferstich hing an der Wand, es  war ein Porträt von Lessing. "Sie
sind schuld  daran", sagte Fabian zu  dem  Mann mit dem Zopf und  zeigte auf
Labude.  Aber Gott­hold Ephraim Lessing übersah und überhörte  den Vor­wurf,
der ihm, hundertfünfzig Jahre nach seinem Tode,  gemacht  wurde. Er  blickte
ernst und höchst charaktervoll geradeaus. Sein breites,  bäuerisches Gesicht
verzog keine Miene.  "Schon gut", sagte Fabian, drehte dem  Bild den  Rücken
und setzte sich wieder neben den Freund.
     "Siehst du",  sagte er zu  Labude, "das war ein  Kerl", und er wies mit
dem  Daumen  hinter sich. "Der biß zu und kämpfte  und schlug  mit dem
Federhalter  um sich,  als sei  der Gänsekiel ein  Schleppsäbel. Der war zum
Kämpfen da, du nicht. Der  lebte gar nicht seinetwegen, den gab es gar nicht
privat,  der  wollte gar nichts für sich.  Und als  er sich  doch  auf  sich
besann, als er vom Schicksal Frau und Kind verlangte, da  brach  alles  über
ihm zusammen und  begrub ihn. Und das  war in  Ordnung. Wer für  die anderen
dasein will,  der muß sich selber fremd bleiben. Er muß wie  ein
Arzt  sein,  dessen Wartezimmer Tag und Nacht voller Menschen ist, und einer
muß mitten darunter sitzen, der nie an die Reihe kommt und nie darüber
klagt: das ist er selber. Hättest du so zu leben vermocht?"
     Fabian strich dem  Freund übers  Knie  und  schüttelte  den Kopf.  "Ich
wünsche dir Glück, denn du bist tot. Du warst ein guter Mensch, du warst ein
anständiger  Kerl, du warst  mein  Freund, aber das, was  du vor allem  sein
wolltest,  das   warst  du  nicht.  Dein  Charakter  existierte   in  deiner
Vor­stellung, und als die zerstört wurde, blieb  nichts mehr  übrig  als ein
Schießeisen und das, was hier auf dem Sofa liegt. Siehst du, nächstens
wird  ein  gigantischer Kampf einsetzen, erst um die Butter aufs  Brot,  und
später  ums Plüschsofa; die einen wollen es behalten,  die anderen wollen es
erobern,  und  sie werden sich wie  die Titanen  ohrfeigen,  und sie  werden
schließlich  das  Sofa  zerhacken,  damit es keiner kriegt. Unter  den
Anführern werden auf allen Seiten Marktschreier stehen, die  stolze  Parolen
erfinden und die das eigene Gebrüll besoffen macht. Vielleicht werden  sogar
zwei  oder  drei  wirkliche  Männer  darunter  sein.  Sollten  sie   zweimal
hintereinander  die  Wahrheit  sagen, wird  man sie aufhängen.  Sollten  sie
zweimal hintereinander lügen, wird man sie aufhängen. Dich hätte  man  nicht
einmal gehängt, dich hätte man totgelacht. Du warst kein  Reformator, und du
warst kein Revolutionär. Mach dir nichts draus." Labude lag, als höre er zu.
Aber er  tat nur so.  Die  Ansprache  verhallte,  Fabian wurde  müde. "Warum
ge­nügte es  dir  nicht, schön  zu finden, was schön ist?"  dachte er. "Dann
hätte dich das Pech mit Herrn  Lessing nicht  so gekränkt. Dann säßest
du  vielleicht in  Paris, statt  hier zu liegen.  Dann hättest du  die Augen
offen   und  blicktest  glücklich  von  Sacré  Cœur  hinunter  auf  die
schimmern­den  Boulevards,  über  denen  die  Luft  kocht.  Oder  wir  beide
spazierten  durch Berlin. Die Bäume sind ganz frisch gestrichen,  der  blaue
Himmel ist mit Gold ausgelegt; die Mädchen  sind appetitlich zubereitet, und
wenn  die  eine  bei  einem  Filmdirektor übernachtet,  sucht man sich  eine
bessere. Mein alter Erfinder, der  liebte das Leben! Ich  habe dir noch  gar
nicht erzählt, wie er bei  mir im Schrank stand. Er hatte  den Hut  auf  und
hielt den  Schirm in  der Hand,  als habe  er Angst,  es  könne  im  Schrank
regnen."

     Fabian  konnte  nicht lange geschlafen  haben,  als er aufschreckte. Er
hörte Stimmen auf der Straße und trat ans Fenster. Ein  Auto hielt vor
der Tür,  der Diener kam aus dem Haus  und öffnete den Schlag. Der Justizrat
stieg aus und hielt dem Diener eine Zeitung  entgegen. Der Diener nickte und
zeigte zu dem Fenster hinauf, an dem Fabian lehnte. Eine Frau wollte aus dem
Wagen, der  Justizrat stieß sie auf den Sitz zurück. Der Wagen  setzte
sich  in Bewegung. Die Frau preßte,  während das  Auto sie weg­führte,
das Gesicht  an die  Scheibe. Der Justizrat ging ins Haus. Der Diener folgte
und hielt die Arme besorgt angehoben, um, wenn es nötig werde, den Justizrat
zu stützen.
     Fabian trat auf den Korridor hinaus, denn er wollte nicht zugegen sein,
wenn der Vater den Sohn liegen sah. Der Justizrat kam  die Treppe herauf, er
klammerte sich am Geländer fest,  und der  alte Diener hinter  ihm hielt die
Hände schützend  vorgestreckt,  aber Labudes  Vater sank nicht um.  Er ging,
ohne Fabian  anzusehen, in das erleuch­tete Zimmer. Der  Diener schloß
die Tür und neigte den Kopf vor, um zu hören, ob er nötig sei. Doch es blieb
still in  dem Zimmer. Fabian und  der Diener standen davor, jeder auf seinem
Fleck, sie sahen einander nicht an und lauschten gespannt. Ihre Bereitschaft
zum Mitleid wartete auf einen Klagelaut oder dergleichen. Aber sie vernahmen
nichts. Die Szene hinter der Tür ließ sich nicht deuten.
     Es  klingelte. Der Diener verschwand im Zimmer und  kam wieder  auf den
Korridor.  "Der Herr Justizrat  möchte  Sie sprechen." Fabian trat  ein. Der
alte  Labude  saß  am Schreibtisch und hatte  den  Kopf  in  die  Hand
gestützt. Nach einer  Weile richtete er sich hoch, stand auf, um den  Freund
seines Sohnes  zu begrüßen und  lächelte künstlich.  "Ich  habe  keine
Beziehung   zu  tragischen  Erlebnissen",  sagte   er   gepreßt.  "Das
bißchen  Mitgefühl,  das  mein  Egoismus zuläßt,  hat durch  die
vielen Plädoyers, die ich hielt, und durch die prozessuale Routine überhaupt
einen unechten Glanz angenommen, in dem sich alles andere  eher spiegelt als
wahre Teilnahme." Er drehte sich  um,  betrachtete seinen  Sohn, und es  sah
aus, als ob er sich bei dem Toten entschuldigen wolle. "Es hat keinen Zweck,
sich  Vorwürfe zu machen", fuhr  er fort. "Ich war  kein Vater, der für  den
Sohn lebt.  Ich bin ein vergnügungssüchtiger älterer  Herr, der in das Leben
verliebt ist. Und dieses Leben verliert  seinen Sinn keineswegs  durch diese
Tatsache."  Er zeigte mit dem  vorgestreckten  Arm auf  die  Leiche. "Er hat
gewußt, was er tat. Und wenn er es für das Klügste hielt, brauchen die
anderen nicht zu weinen." "Man könnte, gerade  weil Sie so  nüchtern darüber
spre­chen, vermuten, daß Sie sich Vorwürfe machen", sagte Fabian. "Das
wäre unangebracht. Der sichtbare  Anlaß für Stephans Selbstmord  liegt
außerhalb  unserer Sphäre." "Was  wissen Sie  darüber? Hat  er  Briefe
hinterlassen?" fragte der Justizrat.
     Fabian  verschwieg  den  Brief. "Eine  kurze Notiz  gab  Auskunft.  Der
Geheimrat hat Stephans Habilitations­schrift als ungenügend abgelehnt."
     "Ich habe  sie nicht gelesen. Man  hat nie Zeit. War sie  so schlecht?"
fragte der andere.
     "Es ist eine der besten und originellsten literarhistorischen Arbeiten,
die ich  kenne", erwiderte  Fabian. "Hier ist  sie."  Er nahm eine Kopie des
Manuskripts vom Bücherbord und legte sie auf den Schreibtisch.
     Der  Justizrat  blätterte  darin,  dann  klingelte  er,  ließ das
Telefonbuch bringen  und suchte  eine Nummer. "Es ist zwar sehr spät", sagte
er  und  ging  ans  Telefon,   "aber  das  kann  nichts  helfen."  Er  bekam
Anschluß. "Kann ich  den Geheimrat  sprechen?" fragte er.  "Dann holen
Sie die  gnädige Frau an den Apparat. Ja, auch wenn  sie schon schläft. Hier
spricht  Justizrat  Labude."  Er wartete.  "Ent­schuldigen Sie die Störung",
sagte er. "Ich höre, daß Ihr Gatte unterwegs  ist. In Weimar? So,  zur
Tagung  der  Shakespeare-Gesellschaft. Wann kommt er zurück? Ich  werde  mir
erlauben, ihn  morgen im Institut aufzusuchen. Sie  wissen nicht, ob er  die
Habilitationsschrift meines  Sohnes schon gelesen  hat?" Er hörte lange Zeit
zu, dann verabschiedete er sich, legte  den Hörer auf die Gabel, drehte sich
zu Fabian herum und fragte: "Verstehen  Sie  das?  Der Geheimrat hat neulich
während des Essens gesagt, die Arbeit über Lessing sei außerordentlich
inter­essant,  und  er sei auf  die Schlußfolgerung, also auf das Ende
der Arbeit,  sehr gespannt.  Von Stephans Tod  scheint  man  noch  nichts zu
wissen."  Fabian  sprang erregt auf.  "Er hat die  Arbeit gelobt? Lehnt  man
Arbeiten ab, die man gelobt hat?"
     "Daß  man  Arbeiten,  die  man   schlecht  findet,  annimmt,  ist
jedenfalls häufiger",  antwortete  der  Justizrat.  "Wollen  Sie  mich jetzt
allein lassen? Ich bleibe bei meinem Jungen und werde sein Manuskript lesen.
Fünf Jahre hat er  daran  gesessen, nicht?" Fabian nickte  und  gab ihm  die
Hand. "Da hängt ja  die Todesursache", sagte der alte Labude  und zeigte auf
das Lessingporträt. Er  nahm  das  Bild  von der  Wand,  betrachtete es  und
zerschlug es, ohne jede sichtbare Aufregung, am Schreibtisch. Dann klingelte
er. Der Die­ner erschien.  "Kehre den Dreck fort  und  bringe Heftpflaster",
befahl der  Justizrat. Er blutete an der rechten Hand.  Fabian  blickte noch
einmal  auf den toten Freund. Dann  ging er hinaus und ließ die beiden
allein.

     Er  war  zu  müde  zum  Schlafen,  und  er  war  zu  müde,  die  Trauer
aufzubringen,  die dieser  Tag von ihm forderte. Der  Trikotagenreisende aus
der  Müllerstraße  hielt sich die Backe, hieß  er  nicht Hetzer?
Seine  Frau  lag  unbefriedigt  im Bett,  Cornelia  war zum zweiten Mal  bei
Makart, Fabian sah die Erlebnisse wie lebende Bilder, ohne dritte Dimension,
weit  weg am Horizont seines Gedächtnisses. Und  auch,  daß Labude  in
irgendeiner Villa  draußen tot auf dem Sofa lag,  beschäftigte ihn  im
Augenblick   nur   als  Gedanke.   Der   Schmerz   war  wie   ein   Zündholz
heruntergebrannt und erloschen.  Er entsann  sich  aus seiner Kindheit eines
ähnlichen Zustandes: wenn er  damals eines Kummers wegen, der ihm riesenhaft
und unheilbar erschien, lange Zeit geweint hatte, war das Reservoir, aus dem
der Schmerz floß, leer geworden. Das Gefühl starb ab, wie später, nach
jedem seiner Herzkrämpfe, das  Leben in den Fingern erstarb. Die Trauer, die
ihn ausfüllte, war empfindungslos, der Schmerz war kalt.
     Fabian  ging die  Königsallee  entlang.  Er kam  an der  Rathenau-Eiche
vorbei. Zwei  Kränze  hingen an dem Baum. An dieser Straßenbiegung war
ein kluger  Mann ermordet worden. "Rathenau mußte sterben",  hatte ein
nationalsozialistischer Schriftsteller einmal zu ihm gesagt. "Er mußte
sterben, seine Hybris trug  die Schuld. Er war ein Jude und wollte deutscher
Außenminister werden. Stellen Sie sich vor,  in Frankreich kandidierte
ein Kolonialneger für den Quai d'Orsay, das ginge genausowenig." Politik und
Liebe,  Ehrgeiz und  Freundschaft,  Leben und Tod,  nichts berührte ihn.  Er
schritt, ganz allein mit sich selber,  die  nächtliche Allee hinunter.  Über
dem Lunapark  stieg Feuerwerk  in  den Himmel  und sank in  bunten  feurigen
Garben  zur  Erde.  Aber  auf  halbem Wege lösten sich die  Garben  auf, sie
verschwanden spurlos,  und  neue Raketen drängten  krachend in die  Luft. Am
Eingang zum Park hing ein Schild: "Fernando, der Weltmeister im Dauertanzen,
überbietet  seinen   eigenen  Rekord.  Er  will  200  Stunden  tanzen.  Kein
Weinzwang."  Fabian  setzte  sich   in   ein   Bierlokal,  dicht   vor   der
Eisenbahnunterführung von Halensee. Die Gespräche der Umsitzenden erschienen
ihm vollkommen  sinnlos. Ein kleiner  illuminierter  Zeppelin,  auf  dem  in
großer  Leuchtschrift  "Trumpfschokolade" stand, flog  über den Köpfen
der Stadt  zu. Ein  Zug mit  hellen  Fenstern  fuhr  unter der  Brücke  hin.
Autobusse   und  Straßenbahnen   passierten   in   langer  Kette   die
Straße.  Am Nebentisch erzählte ein  Mann,  dem  der Nacken  über  den
Kragen gerutscht war,  Witze, und ein paar Frauen, die bei ihm  saßen,
kreischten, als hätten  sie Mäuse unterm Rock. "Was soll das alles?"  dachte
er, zahlte rasch und ging nach Hause.
     Auf dem Tisch lagen  etliche  Briefe.  Die  Bewerbungs­schreiben  waren
zurückgekommen.   Nirgends   war   ein    Posten   frei,    man    bedauerte
hochachtungsvoll.  Fabian  wusch  sich.   Später  ertappte  er  sich  dabei,
daß er  regungs­los, mit dem Handtuch vor dem nassen Gesicht, auf  dem
Sofa saß und, an der unteren Kante des Tuches vorbei, auf den  Teppich
stierte. Er trocknete sich ab,  warf das  Handtuch fort, legte  sich  um und
schlief ein. Das Licht brannte die ganze Nacht.


     ZWANZIGSTES KAPITEL

     Cornelia im Privatauto
     Der Geheimrat weiß von nichts
     Frau Labude wird ohnmächtig

     Als er am nächsten Morgen erwachte und das Licht brennen sah, waren ihm
die Ereignisse des Vortags nicht gegenwärtig. Er  fühlte  sich  bedrückt und
elend, doch er wußte noch nicht, warum. Er schloß die Augen, und
erst jetzt,  und nur  ganz allmählich, vergegenständlichte sich sein Kummer.
Das, was geschehen war, fiel ihm ein, als werfe  es jemand von draußen
her  durch  eine  Scheibe.  Er  wußte  wieder,  was  er vor  Müdigkeit
vergessen  hatte,  und vom  Bewußtsein  aus  sanken  die  Erinnerungen
tiefer, wuchsen und verwandelten sich im Fallen, es war, als erhöhe sich ihr
spezifisches Gewicht, und dann rollten sie wie Steinschlag auf sein Herz. Er
drehte sich zur Wand und hielt sich die Ohren zu.
     Frau  Hohlfeld  machte,  als  sie  das Frühstück hereintrug, trotz  des
brennenden  Lichts, und obwohl  er statt im Bett  auf dem Sofa  lag,  keinen
Skandal. Sie setzte das Tablett auf den Tisch, löschte das Licht und vollzog
sämtliche Hand­lungen nach dem Ritus, der in Krankenzimmern üblich ist. "Ich
versichere Sie meines tiefsten Beileids", sagte  sie, "ich las es vorhin  in
der Zeitung. Ein harter  Schlag für Sie.  Und die armen Eltern." Der Ton und
die Stimmlage waren gut gemeint. Die Teilnahme war ehrlich. Es war nicht zum
Aushalten.
     Er überwand sich und murmelte:  "Danke."  Bis sie das  Zimmer verlassen
hatte,  blieb  er  liegen, dann  stand  er auf und  fuhr in die  Kleider. Er
mußte  den  Geheimrat spre­chen.  Seit gestern abend marterte ihn  ein
Verdacht,  der, ohne  jedes Zutun, immer quälender wurde. Er mußte  in
die Universität. Als er aus dem Haus trat, fuhr ein großer Privatwagen
vor und hielt.
     "Fabian!"  rief  jemand. Es war Cornelia.  Sie saß im  Wagen  und
winkte. Während er nähertrat, stieg sie aus. "Mein armer Fabian", sagte  sie
und streichelte seine  Hand. "Ich hielt es nicht bis zum Nachmittag aus, und
er lieh mir  den  Wagen. Stör  ich  dich?" Dann senkte sie  die Stimme. "Der
Chauffeur  paßt  auf."  Lauter  sagte  sie: "Wo willst  du hin?"  "Zur
Universität. Er hat sich umgebracht, weil seine Arbeit abgelehnt worden ist.
Ich muß den Geheimrat sprechen."
     "Ich bringe dich hin. Darf ich?" fragte sie. "Fahren Sie uns  bitte zur
Universität",  sagte  sie zu dem Chauffeur,  sie  stiegen  in den  Wagen und
fuhren stadteinwärts.
     "Und wie war  es gestern abend bei  dir?"  fragte Fabian. "Sprich nicht
davon", bat sie.  "Ich hatte immer das Gefühl, dir  drohe ein Unheil. Makart
erzählte  mir von der Rolle, die ich spielen  soll,  ich hörte kaum  zu,  so
bedrängte mich meine Vorahnung. Es war wie vor einem Gewitter."
     "Was  für eine Rolle?"  Auf Cornelias Vorahnungen ging er nicht ein. Er
haßte die Angewohnheit, die Zukunft  wie eine Bettdecke zu lüften, und
noch mehr haßte er den nachträglichen Stolz, schon vorher recht gehabt
zu haben. Wie plumpvertraulich war  diese Art des Umgangs mit dem Schicksal!
Seine  Abneigung hatte damit, ob  Vorah­nungen  möglich  seien  oder  nicht,
nichts zu  tun.  Er empfand  es  als  Anmaßung, sich mit dem, was noch
verhüllt war,  herumzuduzen. So  passiv  er auch  zu sein pflegte: mit einer
Fügung in Unvermeidliches hatte das nichts zu schaffen.
     "Eine sehr merkwürdige Rolle", sagte sie. "Stell dir vor, daß ich
in dem Film die Frau eines Mannes zu sein habe, der, um seiner verschrobenen
Phantasie Genüge zu  tun, von mir verlangt,  daß  ich mich  unablässig
verwandle.  Er  ist  ein pathologischer  Mensch  und  nötigt mich, bald  ein
unerfahrenes Mädchen  und bald  eine raffinierte Frau zu spielen,  bald  ein
ordinäres Weib und dann wieder ein hirnloses, elegantes Luxusgeschöpf. Dabei
stellt  sich,  für  mich  später als  für  ihn  und  die  Zuschauer, heraus,
daß ich ein ganz  anderes Wesen bin, als ich selber glaube. Beide,  er
und  ich,  werden   überrascht  sein,  denn  ich  werde  mich  unaufhaltsam,
schließlich  gegen  seinen Willen,  verändern  und  erst  dadurch  das
geworden  sein, was ich  schon  immer war. Gemein und herrschsüchtig, stellt
sich heraus,  bin  ich im Grunde, und  in dem Konflikt,  den er durch  seine
Befehle beschwor, wird er tragisch unterliegen."
     "Ist  der Einfall  von Makart?  Sieh dich vor, Cornelia,  der  Mann ist
gefährlich.  Er  wird dich  diese  Verwandlung  zwar  spielen  lassen,  aber
insgeheim wird er mit sich selber wetten, ob du in Wirklichkeit so wirst."
     "Das wäre kein Unglück, Fabian. Solche Männer wollen überfahren werden.
Der Film wird ein Privatkursus fürs ganze Leben."
     Er kramte in den Taschen, fand  das Geldbündel, zählte  tausend Mark ab
und gab sie Cornelia. "Da,  Labude hinterließ mir das  Geld. Nimm  die
Hälfte. Es beruhigt mich."
     "Wenn wir vor drei Tagen zweitausend Mark gehabt hätten", sagte sie.
     Fabian  beobachtete  den Chauffeur,  der  fortwährend  in  den  kleinen
konkaven Sucherspiegel blickte und sie  darin überwachte. "Deine Gouvernante
wird uns noch  an einen Baum fahren. Vorn ist die Musik!" schrie er, und der
Chauffeur ließ sie vorübergehend mit dem Blick los.
     "Heute  nachmittag  komme  ich  ohne  ihn",  sagte sie. "Ich weiß
nicht,  ob  ich zu Hause bin",  erwiderte  er.  Sie lehnte sich flüchtig und
schüchtern an ihn. "Ich  komme auf  alle Fälle, vielleicht  kannst  du  mich
brauchen."   Vor  der  Universität  stieg  er  aus.  Sie   fuhr  mit   ihrem
Gefängnisinspektor weiter.

     Der Institutsdiener öffnete ihm. Der Geheimrat sei noch nicht da, werde
aber jeden Augenblick von der Reise zurückerwartet. Ob der Assistent da sei?
Jawohl.  Im Vorzimmer  saßen Justizrat Labude und seine Frau.  Sie sah
sehr alt  aus, weinte, als Fabian sie begrüßte,  und sagte: "Wir haben
uns nicht um ihn gekümmert."
     "Es ist sinnlos, sich Vorwürfe zu machen", entgegnete Fabian.
     "War er nicht alt genug?"  fragte der Justizrat. Seine  Frau schluchzte
laut auf, und er verzog  die Stirn. "Ich  habe heute  nacht  Stephans Arbeit
gelesen", erzählte er. "Ich  verstehe zwar  nichts von eurem  Fach, und  ich
weiß nicht, ob die Grundlagen der Untersuchung stimmen. Aber daß
die  Folgerungen  klug  und  scharfsinnig  sind,  steht   außer  allem
Zweifel."
     "Auch  die  Grundlagen  der  Untersuchungen sind  in  Ordnung",  meinte
Fabian. "Die Arbeit ist meisterhaft. Wenn nur der Geheimrat käme!"
     Frau Labude weinte vor sich hin. "Warum wollt ihr ihm, nun  er tot ist,
die  Ursache rauben, derentwegen  er starb?" fragte sie. "Kommt,  wir wollen
von hier fortgehen!"  Sie stand  auf und packte die zwei Männer. "Laßt
ihn in Frieden!"
     Aber der Justizrat sagte: "Setz dich hin, Luise."
     Und dann kam der Geheimrat. Er war ein Mann von altväterlicher Eleganz,
außerdem  standen  ihm  die  Augen  etwas zu  weit  aus dem  Kopf. Der
Institutsdiener  kletterte  hinter  ihm  die  Treppe  hoch  und  trug  einen
Handkoffer. "Das ist ja fürchterlich", erklärte  der Geheimrat und ging, mit
seitlich  geneigtem Kopf, auf Labudes  Eltern  zu.  Die Frau des Justizrates
weinte  lauter, als er ihr  die  Hand drückte,  und auch  der Justizrat  war
ergriffen. "Wir  kennen uns", sagte  der alte Literaturhistoriker zu Fabian.
"Sie waren sein Freund." Er schloß die Tür zu  seinem  Zimmer auf, bat
näherzutreten,  entschuldigte sich  für  einen  Augen­blick  und wusch sich,
während die anderen stumm um den Tisch saßen, die Hände, wie vor einer
ärztlichen Ordination. Der Diener hielt das Handtuch bereit.
     Der Geheimrat sagte, während er sich abtrocknete: "Ich bin  für  keinen
Menschen zu sprechen." Der Diener  entfernte sich, der Geheimrat nahm Platz.
"Ich kaufte mir heute morgen in Naumburg eine  Zeitung", berichtete er, "und
das  erste, was  ich las, war die  Meldung von dem tragischen Geschick Ihres
Sohnes. Ist  es allzu indiskret,  wenn  ich  die nächstliegende Frage an Sie
stelle? Was, um des Himmels willen, hat Ihren Sohn zu diesem äußersten
Schritt bewogen?"
     Der  Justizrat  ballte  die Hand, die auf dem  Tisch  lag,  zur  Faust.
"Können Sie sich das nicht denken?" Der Geheimrat schüttelte  den Kopf. "Ich
habe nicht die geringste Ahnung."
     Labudes Mutter hob die Hände und faltete sie in der Luft. Ihr Blick bat
die Männer, innezuhalten. Aber  Labudes Vater beugte  sich weit  vor.  "Mein
Sohn hat sich erschossen, weil Sie seine Arbeit abgelehnt haben."
     Der Geheimrat  zog das seidene Tuch aus der Tasche und fuhr  sich damit
über die Stirn. "Was?" fragte er tonlos. Er stand auf und starrte aus seinen
vorgewölbten  Augen  die  Umsitzenden  an,  als  befürchte   er,  sie  seien
wahnsinnig.
     "Aber das ist ja gar nicht möglich", flüsterte er.
     "Doch, es ist möglich!" rief der  Justizrat.  "Nehmen Sie Ihren Mantel,
kommen Sie mit, sehen Sie sich unseren Jungen an! Auf dem Sofa liegt er  und
ist so tot, wie man nur sein kann."
     Frau Labude blickte aus weitgeöffneten, unbeweglichen  Augen und sagte:
"Sie töten ihn zum zweiten Male."
     "Das ist ja grauenhaft", murmelte  der Geheimrat. Er packte den Arm des
Justizrates. "Ich hätte die Arbeit abgelehnt? Wer hat das behauptet? Wer hat
das  behaup­tet?" rief  er. "Ich  habe  die Arbeit mit dem  Bemerken bei der
Fakultät in  Umlauf  gesetzt, daß sie die  reifste literarhi­storische
Leistung der letzten Jahre darstelle. Ich habe in meinem Votum  geschrieben,
Doktor  Stephan Labude könne, infolge  dieser  Arbeit, auf  das  lebhafteste
Interesse  der  Fachkreise Anspruch erheben.  Ich  habe  geschrieben, Doktor
Labude  leiste mit  diesem  Beitrag  zur Aufklärung  der  modernen Forschung
unschätzbare  Dienste.  Ich  habe  geschrieben,  noch   nie   sei  mir   aus
Schülerkreisen eine Schrift von ähnlicher Bedeutung vorgelegt worden und ich
ließe  sie  in der Schriftenreihe als Sonderdruck erschei­nen. Wer hat
behauptet, die Arbeit sei von mir abgelehnt worden?"
     Labudes Eltern saßen regungslos.
     Fabian  zitterte am ganzen Körper. "Einen Augenblick", sagte er heiser,
"ich  hole   ihn."  Dann  rannte  er   hinaus,  die  Treppe  hinunter,   ins
Katalogzimmer.   Doktor   Weckherlin,   der  wissenschaftliche  Gehilfe  des
Instituts, saß über  eine Kartothek gebückt und ordnete  Kärtchen ein,
auf denen die Neuanschaffungen  der Bibliothek verzeichnet waren. Er blickte
ungehalten hoch  und kniff  die  kurz­sichtigen  Augen zusammen. "Was wollen
Sie?" fragte er.
     "Sie sollen sofort  zum  Geheimrat kommen", sagte Fa­bian,  und als der
andere keine Anstalten traf,  sondern bloß nickte und in der Kartothek
zu blättern fortfuhr, faßte er ihn am Kragen, zerrte ihn vom Stuhl und
stieß ihn zur Tür hinaus.
     "Was erlauben Sie sich eigentlich?" fragte er. Aber Fa­bian schlug ihm,
statt zu antworten, mit der  Faust ins Gesicht. Weckherlin  hob den Arm,  um
sich  zu schützen, und stolperte, ohne länger zu  widersprechen,  die Treppe
hinauf.  Vor  dem Zimmer  des Geheimrats  zögerte  er  wieder,  aber  Fabian
riß die Tür auf. Der Geheimrat und Labudes Eltern fuhren zusammen. Der
Assistent blutete aus der Nase.
     "Ich  muß  in  Ihrer  Gegenwart  einige  Fragen  an diesen  Herrn
richten", sagte Fabian. "Doktor Weckherlin, ha­ben Sie gestern mittag meinem
Freund Labude erzählt, seine Arbeit sei abgelehnt worden? Haben Sie erzählt,
der Geheimrat habe geäußert,  die Arbeit  der  Fakultät weiterzugeben,
heiße die Professoren belästigen? Haben Sie ihm erzählt, der Geheimrat
wolle  ihm  außerdem durch diese  private  Ablehnung  eine öffentliche
Blamage er­sparen?"
     Frau Labude stöhnte und glitt ohnmächtig  vom Stuhl. Keiner  der Männer
kümmerte sich um  sie. Weckherlin war  bis zur Tür zurückgewichen. Die  drei
anderen Män­ner standen vorgeneigt und warteten auf Antwort.
     "Weckherlin", flüsterte der Geheimrat und  stützte  sich schwer auf die
Stuhllehne.
     Der Assistent verzog das breite, blasse Gesicht, als  wolle er lächeln,
er öffnete wiederholt den Mund. "Wird's bald?" fragte der Justizrat drohend.
Weckherlin  legte  die  Hand auf  die Klinke und sprach:  "Es  war  nur  ein
Scherz!"
     Da schrie  Fabian,  es war ein unartikulierter Laut, er  klang  wie der
Schrei eines Tieres. Im nächsten Augenblick sprang er vor und schlug auf den
Assistenten ein, mit beiden Fäusten, unablässig, ohne zu überlegen, wohin er
traf.  Besinnungslos,  wie  ein  automatischer Hammer, schlug er  zu,  immer
wieder. "Du Schuft!" brüllte er und hieb dem anderen beide Fäuste mitten ins
Gesicht. Weckherlin  lächelte noch immer, als wolle er  sich entschuldi­gen.
Er hatte vergessen, daß  er die  Hand auf der Klinke hielt und aus dem
Zimmer fliehen wollte. Er sank unter den Schlägen vorübergehend in die Knie.
Er zog  sich an der Klinke wieder  hoch,  die  Tür schnappte auf. Jetzt erst
besann er sich auf seinen Vorsatz, drängte durch  die Tür auf  den Korridor,
Fabian folgte ihm,  sie  näherten sich, Schritt für Schritt, der Treppe, die
ins Untergeschoß führte, der eine schlug, der andere blutete.
     Unten  am Fuß der Treppe  sammelten  sich Studenten, die der Lärm
aus den Institutsräumen gelockt hatte. Sie  standen stumm und abwartend, als
spürten sie, was dort oben geschah, sei gerecht. "Du Hund!" sagte Fabian und
traf den Assistenten unterm Kinn. Weckherlin kippte hintenüber, schlug dumpf
mit dem  Kopf auf eine Stufe  und  rollte klappernd die Holztreppe hinunter.
Fabian lief hinter ihm her und wollte sich über ihn stürzen. Da sprangen ein
paar Studenten vor  und  hielten ihn fest. "Laßt  mich los!" schrie er
und  riß wie  ein  Tobsüchtiger an den  Armen, die  ihn  umklammerten.
"Laßt mich los, ich schlag ihn tot!" Jemand hielt ihm den Mund zu. Der
Institutsdiener   kniete  neben   dem   Assistenten.  Der  ver­suchte   sich
aufzurichten,   sank   aber   stöhnend  zurück.   Man   schleppte   ihn  ins
Katalogzimmer.
     Im  Obergeschoß, dicht an der Treppe, standen  der Ge­heimrat und
Labudes Vater. Durch die geöffnete  Tür vernahm man langgezogene Klagelaute,
Stephans Mutter war aus der Ohnmacht erwacht.
     "Ach  so,  es  war  nur  ein  Scherz!"  rief der Justizrat  und  lachte
verzweifelt.
     Der Geheimrat sagte markig, als habe  er endlich einen Ausweg gefunden:
"Doktor Weckherlin  ist entlassen." Die  Studenten  gaben  Fabian  frei,  er
senkte  den  Kopf, vielleicht bedeutete  es einen  Abschiedsgruß,  und
verließ das Institut.


     EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

     Juristin wird Filmstar
     Eine alte Bekannte
     Die Mutter verkauft Schmierseife

     Es war nur ein Scherz gewesen!
     Herr Weckherlin hatte einen dummen  Witz gemacht, und Labude  war daran
gestorben. Es war nur scheinbar ein Selbstmord gewesen. Ein Subalternbeamter
des  Mittel­hochdeutschen  hatte  den  Freund   umgebracht.   Er  hatte  ihm
vergiftete Worte ins  Ohr geträufelt, wie Arsenik  ins  Trinkglas. Er hatte,
zum Spaß,  auf Labude gezielt und abgedrückt.  Und aus der ungeladenen
Waffe war ein tödlicher Schuß gefallen.
     Fabian sah, während er durch die Friedrichstraße lief, immer noch
Weckherlins  feig  lächelndes   Gesicht   vor  Augen,  und  er  fragte  sich
nachträglich überrascht:  Warum  habe ich auf  den  Kerl  eingeschlagen, als
müsse alles vernichtet werden? Warum war meine Wut auf  ihn größer als
die Trauer über  Labudes  unsinniges  Ende? Verdient  ein  Mensch, der,  wie
jener,  unabsichtlich  solches  Unheil anstiftet,  nicht  eher  Mitleid  als
Haß?
     Wird er jemals wieder ruhig schlafen können?
     Fabian  verstand allmählich seinen  Instinkt. Weckherlin hatte es nicht
absichtlich  getan.  Er  hatte  Labude  treffen  wollen,  nicht töten,  aber
verwunden. Der  talentlose Kon­kurrent hatte sich am Begabten gerächt. Seine
Lüge war eine Sprengkapsel gewesen.  Er  hatte sie  in Labude hineingeworfen
und  war  davongelaufen,  um,  aus  sicherer  Ent­fernung,  schadenfroh  die
Explosion zu beobachten.
     Weckherlin war entlassen, verprügelt worden war  er auch. Aber  wäre es
nicht besser gewesen, er hätte seinen Posten nicht verloren  und die Schläge
nicht erhalten?  Wäre es nicht besser  gewesen, Weckherlins Lüge hätte, wenn
Labude schon  einmal  tot  war, weitergelebt?  Gestern hatte ihn der Tod des
Freundes mit Traurigkeit  beseelt, heute  erfüllte er ihn mit Unfrieden. Die
Wahrheit  war an den  Tag  gekommen, wem  war damit gedient? Labudes  Eltern
etwa, die  nun  endlich wußten,  daß  ihr  Sohn das Opfer  einer
Infamie geworden war?  Bevor sie erfuhren, was die Wahrheit  war,  hatte  es
keine  Lügen  gegeben. Nun  hatte  die  Gerechtigkeit  gesiegt, und  aus dem
Selbstmord wurde nachträglich ein tragischer Witz.  Fabian dachte an Labudes
Begräbnis, und ihn schauderte:  Er sah sich schon im Trauergefolge, am  Sarg
erkannte  er Labudes Eltern, auch der Geheimrat war in der Nähe, und Labudes
Mutter schrie  laut auf. Sie riß sich  den schwarzen Kreppschleier vom
schwarzen Hut und sank jammernd vornüber.
     "Obacht!" sagte jemand ärgerlich. Fabian wurde gestoßen und stand
still.  Hätte  er  die  Sache mit Weckherlin  vertu­schen sollen,  statt sie
aufzuklären?  Hätte  er  die  Kenntnis  des  wahren  Sachverhalts  in   sich
einschließen sollen, um die Eltern davor zu bewahren? Warum war Labude
bis in seine letzten Briefe  so gründlich, warum war  er so ord­nungsliebend
gewesen? Warum hatte  er  sein Motiv beim Namen genannt? Fabian ging weiter.
Er bog in die Leipziger  Straße ein. Es war  Mittag.  Die Angestellten
der Büros und die  Verkäuferinnen umdrängten  die Haltestel­len und stürmten
die Autobusse, die Eßpause war kurz.
     Wenn  dieser Weckherlin  nicht  dazwischengekommen  wä­re, wenn  Labude
erfahren  hätte, wie seine Arbeit wirklich eingeschätzt wurde, wäre er jetzt
nicht gestorben, mehr noch,  der  Erfolg hätte ihn  befeuert, hätte ihm  die
Enttäu­schung  mit Leda  erleichtert und  seinem  politischen Ehr­geiz  Luft
gemacht. Warum hatte er denn  an der Arbeit fünf Jahre gesessen? Sich selbst
hatte er beweisen  wollen,  daß er  leistungsfähig  war.  Er hatte mit
diesem  Erfolg  gerechnet,  er  hatte ihn psychologisch  abwägend  in  seine
Entwicklung einkalkuliert, und  die Kalkulation war  rich­tig  gewesen.  Und
doch hatte er Weckherlins Lüge eher geglaubt als seiner eigenen Überzeugung.
     Nein, Fabian wollte nicht dabei sein, wenn  man den Freund ins Jenseits
beförderte. Er mußte fort aus dieser  Stadt. Er starrte  auf eines der
vorüberfahrenden Autos. War es nicht  Cornelia? Dort neben dem dicken  Mann?
Sein  Herz setzte aus. Sie war  es nicht.  Er  mußte fort,  keine zehn
Pferde hielten ihn länger.
     Er  ging  zum Bahnhof. Er fuhr nicht noch einmal zur Witwe Hohlfeld, er
ließ in deren Zimmer alles, wie es  stand und lag, stehen  und liegen.
Er besuchte Zacharias nicht mehr,  diesen  eitlen,  verlogenen Menschen.  Er
ging zum Bahnhof. Der D-Zug ging in einer Stunde. Fabian besorgte sich  eine
Fahrkarte,  kaufte   Tageszeitungen,  setz­te  sich  in  den  Wartesaal  und
durchflog die Blätter.
     Auf  einer Wirtschaftstagung waren internationale Abkommen großen
Stils gefordert worden. War dergleichen nur  Schönrederei? Oder begriff  man
allmählich, was alle wußten? Erkannte man, daß die  Vernunft das
vernünftig­ste war?  Vielleicht hatte Labude recht gehabt? Vielleicht war es
wirklich nicht  nötig, auf die sittliche Hebung der gefallenen Menschheit zu
warten? Vielleicht  war  das  Ziel  der Moralisten, wie  Fabian  einer  war,
tatsächlich  durch  wirtschaftliche   Maßnahmen  erreichbar?  War  die
morali­sche Forderung nur deswegen  uneinlösbar, weil  sie sinn­los war? War
die Frage der Weltordnung nichts weiter als eine Frage der Geschäftsordnung?
     Labude war tot. Ihn hätte so etwas begeistert. In  seine Pläne hätte es
sich  eingefügt. Fabian saß im Wartesaal, dachte des Freundes Gedanken
und blieb apathisch.  Woll­te er die Besserung der  Zustände? Er  wollte die
Besserung der Menschen. Was war ihm  jenes  Ziel ohne  diesen Weg dahin?  Er
wünschte jedem Menschen pro Tag zehn Hüh­ner in den Topf, er  wünschte jedem
sein  Wasserklosett  mit Lautsprecher, er wünschte  jedem sieben Automobile,
für jeden Tag der Woche eins. Aber was war damit erreicht, wenn damit nichts
anderes  erreicht  wurde? Wollte man ihm etwa  weismachen, der Mensch  würde
gut, wenn es ihm gutginge? Dann mußten ja die Beherrscher der Ölfelder
und der Kohlengruben wahre Engel sein!
     Hatte  er  nicht  zu Labude  gesagt:  "Noch  in  dem Paradies,  das  du
erträumst, werden sich die Menschen gegenseitig die Fresse vollhauen?"
     War  das  Elysium,  mit zwanzigtausend Mark Durch­schnittseinkommen pro
Barbaren, ein menschenwürdiger Abschluß?
     Während   er,   sitzenderweise,  seine  moralische  Haltung  gegen  die
Konjunkturforscher verteidigte, regten  sich  wieder jene Zweifel,  die seit
langem in seinem Gefühl wie Würmer wühlten.  Waren jene humanen, anständigen
Normalmenschen, die  er herbeiwünschte,  in  der  Tat  wünschenswert?  Wurde
dieser Himmel auf Erden, ob er nun erreichbar war oder nicht, nicht schon in
der  bloßen  Vorstellung  infernalisch?  War ein  derartig mit Edelmut
vergoldetes  Zeitalter überhaupt auszuhalten?  War  es nicht  viel eher  zum
Blödsinnigwerden?  War  vielleicht  jene  Planwirtschaft  des  reibungslosen
Eigennutzes nicht nur  der eher zu  verwirklichende, sondern auch  der  eher
erträgliche   Idealzustand?  Hatte  seine   Utopie   bloß  regula­tive
Bedeutung, und war sie als Realität ebensowenig zu wünschen wie zu schaffen?
War  es nicht, als spräche er zur Menschheit,  ganz wie zu  einer Geliebten:
"Ich möchte  dir  die  Sterne  vom  Himmel  holen!"  Dieses  Versprechen war
lobenswert, aber wehe, wenn  der  Liebhaber es  wahr­machte.  Was  finge die
bedauernswerte  Geliebte  mit  den Sternen  an,  wenn  er  sie  angeschleppt
brächte!  Labude   hatte  auf  dem  Boden  der  Tatsachen  gestanden,  hatte
marschieren wollen und war gestolpert. Er,  Fabian, schwebte, weil  er nicht
schwer  genug war, im Raum und  lebte weiter. Warum lebte er denn noch, wenn
er nicht wußte, wozu? Warum lebte der Freund nicht  mehr, der das Wozu
gekannt hatte?  Es starben und  es lebten die  Verkehrten. Im Feuilleton des
Boulevardblattes,  das  auf  seinen  Knien  lag,  sah  er  Cornelia  wieder.
"Juristin  wird  Filmstar", stand groß unter  dem  Foto. "Fräulein Dr.
jur. Cornelia Battenberg",  war weiterhin zu lesen, "wurde von Edwin Makart,
dem bekannten Filmindustriellen, entdeckt und beginnt schon in den  nächsten
Tagen mit den Aufnahmen zu dem Film "Die Masken der Frau Z"."
     "Alles Gute", flüsterte Fabian und nickte dem Bild  zu. In  der anderen
Zeitung sah er sie  noch  einmal. Sie  trug einen imposanten Sommerpelz  und
saß in dem Auto,  das er schon kannte, am Steuer. Neben ihr hockte ein
dicker,  großer Mensch,  anscheinend  der  Entdecker  persönlich.  Die
Unterschrift   bestätigte  die   Vermutung.  Der  Mann   wirkte  brutal  und
verschlagen, wie ein  Teufel ohne  Gymnasialbildung. Edwin Makart,  der Mann
mit  der  Wün­schelrute,  wurde  vom   Redakteur  behauptet;  seine  neueste
Entdeckung heiße Cornelia Battenberg. Sie repräsentiere als ehemaliger
Referendar einen neuen Modetyp, die intelligente deutsche Frau.
     "Alles  Gute", wiederholte Fabian und  starrte  auf das Foto. Wie lange
war das  her!  Er  blickte auf  das  Bild, als betrachte  er ein  Grab. Eine
unsichtbare  gespenstische Schere  hatte  sämtliche Bande, die  ihn an diese
Stadt fesselten,  zerschnitten.  Der  Beruf  war verloren, der  Freund  tot,
Cornelia in fremder Hand, was hatte er hier noch zu suchen?
     Er trennte die Fotografien sorgfältig aus den Zeitungen,  verwahrte die
Ausschnitte  im Notizbuch und  warf die Zeitungen  fort.  Nichts  hielt  ihn
zurück, er verlangte  dorthin, woher  er  gekommen war: nach Hause, in seine
Vaterstadt, zu seiner Mutter.  Er  war  schon lange  nicht  mehr in  Berlin,
obwohl  er  noch  immer  auf  dem   Anhalter  Bahnhof  saß.  Würde  er
wiederkommen? Als sich ein paar Leute an seinem Tisch breitmachten, stand er
auf, durch­schritt die Sperre und setzte sich in den Zug, der auf das Signal
zur Abfahrt wartete.
     Nur fort von hier! Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte weiter. Nur
fort!
     Fabian saß am Fenster und blickte hinaus. Die  Felder  und Wiesen
schwangen  wie  auf  einer  Drehscheibe.   Die  Tele­graphenstangen  machten
Kniebeugen. Manchmal standen kleine  barfüßige Bauernkinder mitten  in
der tanzenden Landschaft und winkten mechanisch. Auf einer  Weide graste ein
Pferd. Ein  Fohlen  hüpfte den  Zaun  entlang  und schwenkte den  Kopf. Dann
fuhren sie  durch einen düsteren  Fichtenwald. Die  Stämme  waren von grauen
Flechten bewachsen. Die Bäume  standen da, als  seien sie aussätzig und  als
habe man ihnen verboten,  den Wald zu verlassen. Ihm war,  als suche  jemand
seine Augen.  Er wandte sich um und blickte  ins  Abteil.  Die Mitreisenden,
gleichgülti­ge, gleichgültig dasitzende Leute, waren  mit sich beschäf­tigt.
Wer sah ihn an? Da entdeckte er, draußen im Gang, Frau Irene Moll. Sie
rauchte eine Zigarette und lächelte ihm zu. Als er sich nicht rührte, winkte
sie.
     Er trat hinaus.
     "Es ist skandalös, wie wir beiden  einander nachlaufen", sagte sie. "Wo
fährst du hin?"
     "Nach Hause."
     "Sei höflich", meinte sie. "Frage mich gefälligst, wo ich hin will."
     "Wo wollen Sie hin?"  Sie lehnte sich an ihn und flüsterte: "Ich türme.
Einer der  Schlafburschen hat mein Etablissement  verpfiffen. Ich  erfuhr es
heute  morgen von einem  Polizeibeamten, dessen Monatsgehalt  ich verdoppelt
habe. Kommst du mit nach Budapest?"
     "Nein", sagte er.
     "Ich habe hunderttausend Mark bei mir. Wir brauchen nicht nach Budapest
zu fahren. Wollen wir über Prag nach  Paris? Wir  werden im Claridge wohnen.
Oder wir gehen nach Fontainebleau und mieten eine kleine Villa."
     "Nein", sagte er. "Ich fahre nach Hause."
     "Komm mit", bat sie. "Ich habe  Schmuck bei mir. Wenn  wir  blank sind,
erpressen  wir   die  alten  Schachteln,  die  sich  bei   mir  beschlummern
ließen.  Ich  kenne  interessante  Einzelheiten,  Gucklöcher haben ihr
Gutes. Oder willst du lieber nach Italien? Was hältst du von Bellagio?"
     "Nein", sagte er, "ich fahre zu meiner Mutter."
     "Du verdammter  Esel",  flüsterte  sie  ärgerlich.  "Soll  ich vor  dir
niederknien und dir eine Liebeserklärung machen? Was hast du gegen mich? Bin
ich dir zu aufgeklärt?  Ist dir  eine dumme Gans lieber? Ich habe es endlich
satt, nach der ersten besten Hose zu greifen. Du gefällst mir. Wir  begegnen
einander immer wieder.  Das kann kein Zufall  sein."  Sie  faßte seine
Hand und streichelte seine Finger. "Ich bitte dich, komm mit."
     "Nein", sagte  er. "Ich komme  nicht mit. Reisen  Sie  gut." Er  wollte
wieder in sein Abteil.
     Sie hielt  ihn  zurück. "Schade,  jammerschade.  Vielleicht ein  andres
Mal."  Sie öffnete ihre Handtasche. "Brauchst  du Geld?" Sie  wollte ihm ein
paar  Banknoten  m die  Hand stecken.  Er  schloß die Hand zur  Faust,
schüttelte den Kopf und ging ins Kupee.
     Sie  blieb noch eine Weile vor der  Tür des Abteils und sah ihn an.  Er
blickte durchs Fenster. Man fuhr durch ein Dorf.

     Es  war gegen  sechs Uhr abends, als er ankam. Er  trat aus dem Bahnhof
und  sah  die  Dreikönigskirche.  Ihm  schien, sie  musterte  ihn  von  oben
herunter: Warum  holt dich heute niemand ab und warum kommst du ohne Koffer?
Er ging  den  Dammweg entlang und durchschritt den alten Viadukt. Ein endlos
langer Güterzug ratterte drüber hin,  die Steinwölbung dröhnte. Das Haus, in
dem früher der  Lehrer  Schanze  gewohnt hatte,  war  frisch gestrichen. Die
anderen  Häuser  standen  unverändert  in  ihrer grauen,  ihm seit  Kindheit
bekannten Front. In dem Eckhaus, das der Hebamme  Schröder gehörte,  war ein
neues  Geschäft  eröffnet  worden,  ein  Fleischer­laden,  noch standen  die
Blumenstöcke im Schaufen­ster.
     Langsam näherte er  sich dem Haus, in dem er  geboren war. Wie vertraut
ihm die Straße war. Er kannte die Fassade, er kannte die Höfe,  Keller
und Böden, überall war er  hier beheimatet. Aber die Menschen,  die  aus den
Häusern traten,  waren  ihm fremd. Er  blieb  stehen. "Seifengeschäft" stand
über dem Laden. Ein Zettel klebte am Fenster.  Er  las: "Nun auch Feinseifen
herab­gesetzt.  Hausmarke Lavendel  zwanzig statt  zweiundzwanzig  Pfennige.
Torpedoseife fünfundzwanzig  statt achtundzwanzig Pfennige." Er ging bis zur
Tür.
     Seine  Mutter  stand hinter dem Ladentisch, zwei Frauen standen  davor.
Die  Mutter  bückte sich gerade  und stellte  ein  Paket Waschpulver auf den
Tisch, dann  schnitt sie einen Riegel  Kernseife mittendurch.  Dann nahm sie
einen Bogen Packpapier und einen Holzlöffel, schaufelte Schmierseife aus dem
Faß, wog sie ab  und wickelte sie ein. Er spürte den Seifengeruch  bis
auf die Straße.
     Dann klinkte er  die  Ladentür auf. Die Glocke bimmelte. Die  alte Frau
sah auf und ließ erschrocken die Hän­de sinken.
     Er ging auf sie zu und sagte mit zitternder Stimme: "Mutter, Labude hat
sich  erschossen." Und  plötzlich liefen ihm die Tränen aus  den  Augen.  Er
öffnete die  Tür,  die  ins  Hinterzimmer  führte,  schloß sie wieder,
setzte sich in den Lehnstuhl vorm Fenster, blickte  in den Hof hinaus, legte
langsam den Kopf aufs Fensterbrett und weinte.


     ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

     Besuch in der Kinderkaserne
     Kegelschieben im Park
     Die Vergangenheit biegt um die Ecke

     "Was hat er denn?" fragte der Vater am nächsten Morgen.
     "Seine Stellung  hat er verloren", sagte die  Mutter. "Und  sein Freund
hat sich umgebracht, Labude, weißt du, den er seinerzeit in Heidelberg
kennenlernte."
     "Ich  wußte gar  nicht, daß er einen Freund  hatte", meinte
der Vater. "Man erfährt ja nichts."
     "Du hörst nur nicht zu", sagte die Mutter. Da läutete die  Ladenglocke.
Als Frau Fabian wieder ins Zimmer trat, las der Mann die Zeitung.
     "Außerdem hat er mit einem jungen Mädchen Pech gehabt",  fuhr sie
fort. "Aber darüber spricht er sich  nicht näher  aus.  Sie hat Rechtsanwalt
studiert und geht zum Film."
     "Schade um das Geld fürs Studium", erklärte der Mann.
     "Ein hübsches Mädchen",  sagte Fabians Mutter. "Aber sie lebt mit einem
dicken Kerl zusammen, einem Filmdi­rektor, das reinste Brechmittel."
     "Wird er lange hierbleiben?" fragte der Vater.
     Die Mutter zuckte  die Achseln und goß sich Kaffee ein.  "Tausend
Mark hat  er mir gegeben. Labude hat ihm das Geld hinterlassen. Ich werde es
aufheben. Der Junge hat einen Knacks wegbekommen, ich kann mir nicht helfen.
Und das hat nichts mit Labude zu tun, und nichts mit der Filmschauspielerin.
Er glaubt  nicht an Gott,  es muß  damit zusammenhängen. Ihm fehlt der
ruhende Punkt."
     "Als ich so alt war wie er, war ich schon fast zehn Jahre verheiratet",
sagte der Vater.

     Fabian  lief die  Heerstraße entlang, an der  Garnisonskirche und
den Kasernen vorüber. Der runde kiesbestreute Platz vor der Kirche war leer.
Wann war  das denn  gewesen,  daß er hier  gestanden hatte, ein Soldat
unter  Tausenden,  die  Hosen lang,  den Helm  auf  dem Kopf,  gerüstet  zur
feldgrauen Predigt,  siebzehnjährig, bereit zu hören, was  der deutsche Gott
seinen  Armeen  mitteilen  ließ?  Er   blieb  am  Tor  der  ehemaligen
Fußartilleriekaserne  stehen  und  lehnte  sich  an  die   Eisenstäbe.
Antreten zum Dienstverle­sen, Geschützexerzieren, Ausmarsch zum Nachtdienst,
Vortrag  über Kriegsanleihe, Löhnungfassen, was war alles auf  diesem blöden
Hof geschehen. Hatte er hier nicht  gehört, wie  die alten Soldaten, ehe sie
zum  dritten  und  vierten   Male  feldmarschmäßig  abgeführt  wurden,
mitein­ander  um  ein Kommißbrot wetteten, wer  am  schnellsten zurück
sein werde?  Und  waren sie nicht,  eine Woche später,  in  lumpiger Uniform
wieder aufgetaucht, einen Tripper echt Brüsseler Abstammung am Leibe? Fabian
ließ das Gitter los und ging weiter an  den alten protzigen Grenadier-
und Infanteriekasernen vorbei. Hier war der Park  und  die Schule, in der er
jahrelang gesessen und gelebt hatte,  ehe er mit Linksdrall, Scherenfernrohr
und  Lafettenschwanz bekanntgemacht wurde. Die Straße, die sich zu der
Stadt hinuntersenkte, abends war er sie heimlich entlanggerannt, nach Hause,
zur Mutter, auf  wenige Minuten. Ob Schule,  Kadettenanstalt,  Lazarett oder
Kirche,  an  der  Peripherie  dieser Stadt war  jedes  Gebäude eine  Kaserne
gewesen.
     Noch immer lag das große, graue Gebäude mit den schiefergedeckten
spitzen Ecktürmen da, als sei es bis unters Dach mit Kindersorgen angefüllt.
Die  Fenster   der  Direktionswohnung  waren  noch  immer  mit  weißen
Gar­dinen  geziert,  im  Gegensatz  zu  den  vielen  schwarzen  schmucklosen
Fenstern, hinter  denen  die Klassenzimmer, die  Wohnräume der Schüler,  die
Schrankzimmer und die Schlafsäle lagen. Früher hatte er immer  geglaubt, das
riesige Haus  müsse nach der Seite, auf der die Direktorwohnung lag, tief in
die Erde sinken, so schwerwiegend war ihm die Tatsache erschienen, daß
hier Gardinen an den  Fenstern hingen. Er  ging durch das Tor und  stieg die
Stufen hinauf. Aus den Klassenzimmern  drangen dunkle und helle Stimmen. Der
leere Korridor war erfüllt davon. Aus der ersten Etage wehten Chorgesang und
Klavier­spiel.  Fabian verschmähte  die breite Freitreppe, er kletter­te  im
Seitenflügel  die  schmalen  Stufen  hinan,  zwei kleine  Schüler  kamen ihm
entgegen.
     "Heinrich", rief der eine, "du sollst sofort zum  Storch kommen und die
Hefte holen."
     "Der wird's wohl erwarten können",  sagte  Heinrich und ging krampfhaft
langsam durch die schwankende Glastür.
     "Der Storch", dachte Fabian, "es hat  sich nichts geän­dert." Dieselben
Lehrer  waren  noch da, die  Spitznamen  waren  geblieben. Nur  die  Schüler
wechselten.  Ein Jahr­gang nach  dem ändern wurde erzogen und gebildet. Früh
läutete   der   Hausmeister.   Die   Jagd  begann:  Schlafsaal,   Waschsaal,
Schrankzimmer,  Speisesaal.  Die  Jüngsten  deckten  den  Tisch,  holten die
Butterdosen  aus  dem  Eis­schrank und die emaillierten Kaffeekannen aus dem
Auf­zug.  Die Jagd  ging weiter:  Wohnzimmer,  Staubwischen,  Klassenzimmer,
Unterricht, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch fürs Mittagessen. Die
Jagd  ging weiter: Freizeit,  Gartendienst,  Fußballspiel, Wohnzimmer,
Schularbeiten, Klassenzimmer, Speisesaal.  Die  Jüngsten  deckten den  Tisch
fürs Abendbrot.  Die Jagd ging weiter: Wohnzimmer, Schularbeiten, Waschsaal,
Schlafsaal. Die Primaner durften zwei Stunden länger aufbleiben und rauchten
im  Park Zigaretten.  Es  hatte  sich  nichts  geändert, nur  die  Jahrgänge
wechselten.
     Fabian  stand in  der  dritten Etage  und öffnete  die  Tür  zur  Aula.
Morgenandacht,  Abendandacht, Orgelspiel, Kai­sers  Geburtstag,  Sedanfeier,
Schlacht  bei Tannenberg, Fahnen  im  Turm,  Osterzensuren,  Entlassung  der
Einbe­rufenen, Eröffnung der Kriegsteilnehmerkurse, immer wieder  Orgelspiel
und Festreden voller Frömmigkeit und Würde. Einigkeit und Recht und Freiheit
hatte sich in der Atmosphäre  dieses Raumes festgebissen. Ob es noch  so wie
früher war, daß man, kam ein Lehrer vorüber, strammstehen mußte?
Mittwochs gab  es zwei und sonn­abends  drei  Stunden  Ausgang. Ob man immer
noch, wenn der Ausgang entzogen worden war, vom  Inspektor angehalten wurde,
Zeitungen mit Hilfe einer Schere in Abortpapiere zu verwandeln? War  es denn
nicht auch manchmal schön gewesen?  Hatte er immer nur die Lüge gespürt, die
hier   umging,   und   die   böse   heimliche   Gewalt,   die   aus   ganzen
Kindergenerationen gehorsame Staatsbe­amte und bornierte  Bürger  machte? Es
war manchmal schön gewesen, aber nur trotzdem. Er verließ die Aula und
stieg  die  düstere Wendeltreppe zu den Wasch-  und  Schlafsälen  hinauf. In
langer Front  standen die  eisernen  Bettstellen. An  den Wänden hingen  die
Nachthemden militärisch ausgerichtet. Ordnung mußte sein. Nachts waren
die Primaner  aus  dem  Park herausgekommen und hatten sich zu erschrockenen
Quintanern und Quartanern ins Bett gelegt. Die  Kleinen hatten ge­schwiegen.
Ordnung  mußte  sein.  Er  trat  ans Fenster.  Unten  im Flußtal
schimmerte die Stadt mit ihren alten Türmen und Terrassen.
     Wie oft war er, wenn die anderen  schliefen, hierher geschlichen, hatte
hinabgeblickt und  das Haus  gesucht, in  dem  die Mutter krank lag. Wie oft
hatte  er  den  Kopf  gegen  die   Scheiben  gepreßt  und  das  Weinen
unterdrückt.  Es  hatte  ihm nichts  geschadet, das Gefängnis nicht und  das
unterdrückte Heulen  nicht,  das  war  richtig. Damals  hatte man ihn  nicht
kleingekriegt.  Ein  paar  hatten sich  erschos­sen.  Es  waren  nicht viele
gewesen.  Im Krieg hatten schon mehr daran glauben müssen. Später waren noch
etliche gestorben. Heute war die Hälfte der Klasse tot. Er stieg die Treppen
hinunter, verließ das  Gebäude und ging in  den Park.  Mit Reisigbesen
und  Schaufeln  und  spitzen  Stöcken  waren   sie  hinter  einem  Handwagen
hergetrabt,  hatten  welkes Laub zusammengekehrt und Papier,  das  herumlag,
aufgespießt. Der Park war groß,  er senkte sich zu einem kleinen
Bach hinab.
     Fabian  lief auf  den alten, vertrauten Pfaden, setzte  sich  auf  eine
Bank,  blickte  in  die  Wipfel  der  Bäume,  ging  weiter  und wehrte  sich
vergeblich dagegen, daß ihn  das,  was er  sah, zurückverwandelte. Die
Säle  und  Zimmer  und  Bäu­me  und  Beete,  die  ihn umgaben,  waren  keine
Wirklichkeit,   sondern  Erinnerungen.  Hier   hatte   er   seine   Kindheit
zurückgelassen,  und nun fand er  sie wieder.  Sie sank von den Zweigen  und
Wänden und  Türmen auf ihn herab und  bemächtigte  sich  seiner. Er  schritt
immer tiefer hinein in den melancholischen Zauber. Er kam zur Kegelbahn, die
Kegel standen schußfertig.  Fabian sah sich um, er war allein, da nahm
er eine große Kugel aus dem Kasten, holte aus, lief vor und ließ
die Kugel über die Bahn rollen. Sie machte ein paar kleine Sprünge. Die Bahn
war immer noch uneben. Sechs Kegel fielen klappernd um.
     "Was soll denn das?" fragte jemand ärgerlich. "Fremde haben hier nichts
zu  suchen!"  Es  war  der  Direktor.  Er  hatte  sich kaum  verändert.  Sem
assyrischer Bart war nur noch grauer geworden.
     "Entschuldigen  Sie",  sagte  Fabian,  zog  den  Hut  und  wollte  sich
entfernen.
     "Einen Augenblick", rief der Direktor. Fabian drehte sich um. "Sind Sie
nicht ein ehemaliger Schüler von uns?" fragte der Mann. Dann streckte er die
Hand  aus. "Natür­lich,  Jakob  Fabian!  Herzlich willkommen!  Das ist nett.
Haben  Sie Sehnsucht  nach Ihrer  alten  Schule gehabt?" Sie begrüßten
sich.
     "Eine  böse  Zeit",  sagte  der  Direktor.  "Eine  gottlose  Zeit.  Die
Gerechten müssen viel leiden."
     "Wer sind die Gerechten?" fragte Fabian. "Geben Sie mir ihre Adresse."
     "Sie sind immer noch der alte",  meinte der Direktor. "Sie  waren immer
einer der besten  Schüler und einer der frechsten. Und wie weit haben Sie es
damit gebracht?"
     "Der Staat  ist im  Begriff,  mir  eine kleine Pension  zu bewilligen",
sagte Fabian.
     "Arbeitslos?" fragte der  Direktor  streng. "Ich hatte  mehr von  Ihnen
erwartet."
     Fabian lachte. "Die Gerechten müssen viel leiden", er­klärte er.
     "Hätten Sie nur damals  Ihr  Staatsexamen gemacht", sagte der Direktor.
"Dann stünden Sie jetzt nicht ohne Beruf da."
     "Ich  stünde in  jedem Fall ohne  Beruf  da", entgegnete Fabian erregt.
"Auch  wenn  ich  ihn  ausübte.  Ich  kann  Ihnen  verraten,  daß  die
Menschheit mit Ausnahme der Pastoren und Pädagogen nicht mehr weiß, wo
ihr der Kopf steht. Der Kompaß  ist kaputt, aber hier, in diesem Haus,
merkt das niemand. Ihr fahrt nach wie vor in eurem Lift rauf und runter, von
der Sexta bis zur Prima, wozu braucht ihr einen Kompaß?"
     Der Direktor  schob  die Hände unter  die  Flügel  seines  Gehrocks und
sagte: "Ich bin  entsetzt. Es gäbe keine Aufgabe für Sie.  Gehen Sie hin und
bilden  Sie  Ihren  Charakter,  junger  Mensch!  Wozu  haben  wir Geschichte
getrieben?  Wozu   haben  wir   die  Klassiker  gelesen?   Runden  Sie  Ihre
Persönlichkeit ab!"
     Fabian  betrachtete   den  wohlgenährten,  selbstgefälligen  Herrn  und
lächelte. Dann sagte er: "Sie  mit Ihrer abgerun­deten  Persönlichkeit!" und
ging.

     Auf der Straße  traf  er  Eva Kendler.  Sie kam mit zwei  Kindern
daher  und war ziemlich dick geworden.  Er wunderte  sich, daß er  sie
überhaupt erkannte. "Jakob!" rief sie und wurde rot. "Du hast dich gar nicht
verändert.  Sagt dem  Onkel  guten  Tag!"  Die Kinder gaben ihm die Hand und
machten Knickse. Es waren zwei Mädchen. Sie sahen ihrer Mutter ähnlicher als
sie sich selber.
     "Wir sind uns  mindestens  zehn Jahre nicht begegnet",  sagte er.  "Wie
geht's dir? Wann hast du geheiratet?"
     "Mein Mann ist Oberarzt im  Carolahaus",  erzählte sie.  "Da  kann  man
keine  großen Sprünge machen. Zu einer eigenen Praxis reicht es nicht.
Vielleicht  geht er mit  Professor Wandsbeck nach Japan. Wenn es sich lohnt,
fahre ich  mit  den Kindern nach." Er  nickte  und  betrachte­te die  beiden
kleinen Mädchen.
     "Damals  war es schöner", sagte  sie  leise. "Weißt  du noch, wie
meine  Eltern  verreist  waren?  Siebzehn  Jahre war  ich alt. Wie  die Zeit
vergeht." Sie seufzte  und  strich  den  kleinen Mädchen  die Matrosenkragen
glatt. "Ehe man recht  dazu kommt, sein eigenes  Leben  zu haben, trägt  man
schon wieder Verantwortung für sei­ne Kinder.  Dieses Jahr fahren wir  nicht
einmal an die See."
     "Das ist natürlich schrecklich", meinte er.
     "Ja", sagte sie, "da wollen wir mal gehen. Auf Wiederse­hen, Jakob."
     "Auf Wiedersehen."
     "Gebt dem Onkel die Hand!"
     Die kleinen  Mädchen machten  Knickse,  drängten sich an die Mutter und
zogen mit ihr davon. Fabian blieb noch  eine Weile stehen. Die Vergangenheit
bog  um  die  Ecke,  mit zwei Kindern an  der  Hand,  fremd  geworden,  kaum
wiederzuerkennen.   "Du   hast   dich  gar  nicht   verändert",  hatte   die
Vergangenheit zu ihm gesagt.

     "Wie war's?"  fragte die Mutter. Sie standen, nach dem  Mittagessen, im
Laden und packten eine Kiste mit Bleichpulver aus.
     "Ich war oben bei  den Kasernen. In der  Schule war  ich auch. Und dann
habe ich die Eva getroffen. Zwei kleine Kinder hat sie. Der Mann ist Arzt."
     Die Mutter  zählte die  Pakete, die sie ins Regal geräumt  hatte.  "Die
Eva?  Das war einmal ein hübsches Mädchen. Wie war das gleich? Du kamst doch
damals zwei Tage nicht nach Hause."
     "Ihre Eltern  waren  verreist,  und ich mußte einen  mehrtä­gigen
Aufklärungskursus abhalten. Es war ihr erster, und  ich löste meine  Aufgabe
sehr gewissenhaft und mit wahr­haft sittlichem Ernst."
     "Ich war damals in Sorge", sagte die  Mutter.  "Aber ich  schickte  dir
doch  eine Depesche!"  "Depeschen sind  etwas  Unheimliches", erklärte  sie.
"Über eine halbe Stunde saß  ich davor und  traute mich  nicht, sie zu
öffnen." Er reichte die Pakete,  die  Mutter schichtete auf. "Wäre  es nicht
besser, wenn du hier eine Stellung  suchtest?" fragte sie. "Gefällt  es  dir
gar nicht mehr bei uns? Du könntest in die Wohnstube ziehen. Hier  sind auch
die  Mädchen netter und nicht so verrückt.  Vielleicht  findest du doch eine
Frau."
     "Ich weiß noch nicht, was  ich mache", sagte  er. "Es kann  sein,
daß ich hierbleibe.  Ich will arbeiten.  Ich  will mich betätigen. Ich
will endlich ein Ziel vor Augen haben. Und wenn ich  keines  finde,  erfinde
ich eines. So geht es nicht weiter."
     "Zu   meiner  Zeit  gab  es  das  nicht",  behauptete   sie.  "Da   war
Geldverdienen ein Ziel und Heiraten und Kinder­kriegen."
     "Vielleicht gewöhne ich mich daran", meinte er. "Wie sagst du immer?"
     Sie hielt  im Packen inne und sagte mit Nachdruck: "Der Mensch  ist ein
Gewohnheitstier."


     DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

     Pilsner Bier und Patriotismus
     Türkisches Biedermeier
     Fabian wird gratis behandelt

     Gegen Abend ging Fabian in die Altstadt hinüber. Von der Brücke aus sah
er die weltberühmten Gebäude wieder, die er, seit er denken  konnte, kannte:
das  ehemalige  Schloß, die ehemalige  königliche Oper,  die ehemalige
Hofkirche, alles  war  hier wunderbar  und ehemalig.  Der  Mond  rollte ganz
langsam  von der  Spitze  des Schloß­turms,  als gleite  er auf  einem
Draht. Die  Terrasse, die sich  am Flußufer erstreckte, war  mit alten
Bäumen  und ehrwürdigen  Museen bewachsen. Diese Stadt,  ihr Leben  und ihre
Kultur   befanden  sich  im  Ruhestand.  Das  Panorama  glich  einem  teuren
Begräbnis.  Auf  dem  Altmarkt   traf  er  Wenzkat.  "Nächsten  Freitag  ist
Klassenzusammenkunft im Ratskeller", erzählte  Wenzkat.  "Bist du  dann noch
hier?"
     "Ich  hoffe",  sagte Fabian. "Wenn es irgend  geht, erscheine  ich." Er
wollte rasch weiter, aber  der  andere lud  ihn  ein.  Seine Frau  sei  seit
vierzehn Tagen im Bad. Sie gingen
     zu Gaßmeier und tranken Pilsner.
     Nach dem dritten  Glas wurde  Wenzkat politisch.  "So  geht  das  nicht
weiter", schimpfte er. "Ich bin im Stahlhelm. Das Abzeichen trage ich nicht.
Ich kann mich, bei meiner Zivilpraxis, öffentlich nicht  festlegen. Doch das
ändert nichts an der Sache. Es gilt einen Verzweiflungskampf."
     "Zum Kampf kommt es  gar nicht erst,  wenn ihr anfangt",  sagte Fabian.
"Es kommt gleich zur Verzweiflung."
     "Vielleicht  hast  du  recht",   rief   Wenzkat  und  schlug   auf  die
Tischplatte. "Dann gehen wir eben unter, kreuznochmal!"
     "Ich weiß nicht, ob das dem ganzen Volk recht ist", wandte Fabian
ein. "Wo  nehmt  ihr  die Dreistigkeit her,  sechzig  Millionen Menschen den
Untergang  zuzumuten,  bloß weil  ihr  das  Ehrgefühl  von  gekränkten
Truthähnen habt und euch gern herumhaut?"
     "So war es immer in der Weltgeschichte", sagte  Wenzkat entschieden und
trank sein Glas leer. "Und  so sieht sie auch aus von vorn  bis  hinten, die
Weltgeschichte!" rief Fabian. "Man  schämt sich,  derglei­chen zu lesen, und
man  sollte sich  schämen, den  Kindern  dergleichen  einzutrichtern.  Warum
muß es immer so gemacht werden, wie es früher gemacht wurde?  Wenn das
konsequent geschehen wäre, säßen wir heute noch auf den Bäumen."
     "Du   bist  kein  Patriot",  behauptete  Wenzkat.  "Und  du   bist  ein
Hornochse", rief Fabian. "Das ist noch viel bedauerlicher."
     Dann tranken sie  noch  ein Bier und  wechselten  vorsichts­halber  das
Thema.
     "Ich habe  einen glänzenden Einfall", meinte  Wenzkat. "Wir  gehen  ein
bißchen ins Bordell."
     "Gibt es denn so etwas noch? Ich denke, sie sind gesetz­lich verboten."
     "Freilich", sagte  Wenzkat.  "Verboten  sind  sie,  aber  es  gibt noch
welche. Das  eine  hat  mit  dem  anderen  nichts  zu  tun.  Du  wirst  dich
amüsieren."
     "Ich denke gar nicht daran", erklärte Fabian.
     "Wir  trinken  eine  Flasche  Sekt  mit den  Mädchen.  Das  übrige  ist
fakultativ. Sei nett. Komm mit. Gib gut auf mich acht, damit ich meiner Frau
keinen Kummer mache."
     Das  Haus lag  in  einer kleinen schmalen Gasse. Fabian erinnerte sich,
als sie davorstanden, daß  hier die Offiziere der Garnison ihre Orgien
gefeiert hatten. Das war zwan­zig Jahre  her. Das  Haus sah unverändert aus.
Wenn  alles gutging, wohnten noch dieselben Mädchen drin. Wenz­kat  läutete.
Im Haus näherten sich Schritte. Ein  Auge blickte starr durchs Guckloch. Die
Tür ging auf.  Wenz­kat sah sich besorgt um. Die Gasse war leer.  Sie traten
ein.
     Sie  gingen an einer alten Frau vorbei, die einen Gruß  murmelte,
und stiegen eine schmale hölzerne Treppe hinauf. Die  Haushälterin  erschien
und  sagte: "Guten Tag, Gustav,  läßt du dich auch  wieder mal bei uns
blicken?"
     "Flasche Sekt!" rief Wenzkat. "Ist die Lilly noch bei euch?"
     "Nein,  aber die  Lotte. Ihr  Hintern  ist  breit genug für dich. Nehmt
Platz!"
     Das Zimmer, in das sie geführt wurden, war sechseckig und in türkischem
Biedermeier  eingerichtet.  Die Lampe  gab  rotes  Licht.  Die  Wände  waren
getäfelt  und mit  ornamentalen Intarsien und nackten Frauen geschmückt, und
zu beiden Seiten zogen sich niedrige Polster hin. Die zwei setzten sich.
     "Anscheinend schlechter Geschäftsgang", sagte Fabian.
     "Kein  Mensch hat Geld", erklärte Wenzkat. "Außerdem hat sich die
Branche überlebt."
     Dann  traten  drei junge  Frauen ins  Zimmer  und  begrüßten  den
Stammgast.  Fabian saß in einer Ecke  und betrachtete die  Szene.  Die
Haushälterin brachte einen Kübel, goß Sekt ein, rief "Prost!", und man
trank.
     "Lotte", sagte Wenzkat, "zieht euch aus!"
     Lotte war eine dicke Person mit lustigen Augen. "Gut", erklärte sie und
ging mit den anderen  aus dem  Zimmer.  Eine  Minute später kamen  sie nackt
zurück und setzten sich zwischen die Gäste.
     Wenzkat  sprang  auf  und  schlug  mit  der  flachen  Hand  auf  Lottes
Hinterteil.  Sie kreischte,  küßte ihn und drängte ihn,  Beschwörungen
murmelnd, aus dem Zimmer. Sie verschwanden.
     Nun saß Fabian mit  der Haushälterin  und zwei nackten Frauen  am
Tisch, trank Sekt und unterhielt sich. "Ist hier immer so wenig los?" fragte
er.
     "Neulich,  zum Sängerfest, waren  wir gut besucht", sagte die  Blondine
und  spielte nachdenklich mit ihren Brust­warzen. "Da hatte ich an einem Tag
achtzehn  Männer.  Aber  sonst  ist  es  zum  Sterben langweilig."  "Wie  im
Kloster", meinte die kleine Dunkle verloren und schob sich näher.
     "Noch eine Flasche?" fragte die Haushälterin.
     "Ich glaube nicht", sagte er. "Ich habe nur ein paar Mark eingesteckt."
     "Ach   Quatsch!"   rief   die   Blondine.   "Gustav   hat  Geld  genug.
Außerdem hat er hier Kredit."  Die Haushälterin entfernte sich, um die
zweite Flasche zu holen.
     "Kommst du zu mir rauf?" fragte die Blondine.
     "Ich bemerkte schon  ganz richtig, daß ich kein Geld habe", sagte
er und war froh, daß er nicht zu lügen brauchte.
     "Es ist zum  Verzweifeln", rief die Blondine. "Bin ich dazu in den Puff
gegangen, daß  ich  wieder  zuwachse?  Komm,  bring  das  Geld  in den
nächsten Tagen vorbei!" Er lehnte ab.
     Wenig später kam Wenzkat wieder aus dem Zimmer und placierte sich neben
die Blondine.  "Jetzt brauchst du dich auch  nicht zu  mir zu setzen", sagte
sie  beleidigt. Nun erschien auch Lotte. Sie  hielt mit beiden  Händen  ihre
Sitzfläche.  "So ein  Schwein!"  jammerte  sie. "Immer diese Prügelei! Jetzt
kann ich wieder drei Tage nicht sitzen."
     "Da hast du noch zehn Mark", sagte Wenzkat. Sie steckte das Geld in den
Halbschuh, und er  schlug ihr, während sie sich bückte,  wieder hintendrauf.
Sie machte böse Augen und wollte auf ihn losgehen.
     "Setz  dich  hin!" befahl  er. Dann  legte er den Arm um  die Hüfte der
Blondine und fragte: "Na, wollen wir?"
     Sie betrachtete  ihn prüfend  und sagte: "Aber geprügelt  wird bei  mir
nicht. Ich bin für die richtige Machart."
     Er nickte. Sie erhob sich und ging, die Anatomie schwenkend, voran.
     "Ich sollte auf dich Obacht geben", meinte Fabian.
     "Ach, Mensch", sagte der andere, "wer Sorgen hat, hat auch Likör." Dann
folgte er der Frau.
     Die  Haushälterin brachte  die zweite  Flasche und  schenkte ein. Lotte
schimpfte auf Wenzkat  und  zeigte  die Striemen. Die  kleine  Dunkelhaarige
zupfte Fabian an der Jacke und  flüsterte: "Komm mal mit in mein Zimmer." Er
sah sie  an,  ihre Augen waren groß und ernst auf  ihn gerichtet. "Ich
will dir  was  zeigen",  erklärte sie  ruhig, und dann  gingen  sie zusammen
hinaus. Das  Zimmer  der kleinen  nackten Person  war genauso  türkisch  und
geschmacklos  eingerich­tet wie der Salon, aus dem sie kamen. Das  Bett  war
über  und über geblümt und mit Spitzen besät. Die  Bilder an der  Wand waren
sehr lächerlich. Ein elektrischer  Ofen er­wärmte die Luft.  Das Fenster war
offen. Drei blühende Blumenstöcke standen davor.
     Die Frau schloß das Fenster,  trat  zu  Fabian,  umarmte ihn  und
streichelte sein Gesicht.
     "Was wolltest  du  mir denn zeigen?"  fragte er. Sie zeigte nichts. Sie
sagte nichts. Sie sah ihn an. Er klopfte ihr freundlich auf den Rücken. "Ich
habe doch aber kein  Geld", sagte er. Sie schüttelte  den Kopf, knöpfte  ihm
die Weste auf, legte sich aufs Bett und betrachtete ihn abwartend, ohne sich
zu rühren.
     Er zuckte die  Achseln,  zog  den Anzug aus und  legte sich zu ihr. Sie
umfing ihn aufatmend. Sie  gab  sich ganz behutsam hin und ihre Augen hingen
ernst an seinem Gesicht.  Er wurde verlegen, als  habe er  eine Jungfer  zur
Leichtfertigkeit  überredet.  Sie blieb stumm. Nur etwas später öffnete sich
ihr Mund, und sie stöhnte, doch auch das tat sie voller Zurückhaltung.
     Hinterher brachte sie Wasser, träufelte  aus zwei Flaschen  Chemikalien
in die Schüssel und hielt dienstfertig ein Handtuch bereit.
     Wenzkat saß zwischen Lotte und der Blondine, nickte Fabian zu und
war müde.  Sie tranken  die Flasche  leer  und verabschiedeten  sich. Fabian
drückte  der kleinen Dunkel­haarigen  zwei Zweimarkstücke  in die Hand. "Ich
habe nicht mehr bei mir", sagte er leise. Sie sah ihn ernst  an. Dann gingen
alle  miteinander zur Treppe. Wenzkat wurde wieder laut,  er war beschwipst.
Plötzlich  spürte  Fabian  eine  Hand in  seiner  Tasche.  Als  er  auf  der
Straße   stand,  griff  er  in  die  Tasche   und  fand   seine   zwei
Zweimarkstücke wieder.
     "Hältst du das  für  möglich?" fragte  er  den  anderen.  "Ich habe der
Kleinen  ein  paar Mark  gegeben,  und  nun  hat  sie  mir  das  Geld wieder
zugesteckt."
     Wenzkat gähnte  laut  und  sagte: "Wo die Liebe  hinfällt. Sie  hat  es
wahrscheinlich    nötig    gehabt.   Übrigens,   Jakob,    wenn    du    zur
Klassenzusammenkunft kommen  solltest,  daß du  nichts  erzählst!  Und
vergiß nicht, Freitag abend im Ratskeller." Dann ging er.
     Fabian  machte noch einen  Spaziergang. Die  Straßen wa­ren  kaum
besucht.  Die Straßenbahnen  fuhren leer in die Depots. Auf der Brücke
blieb  er  stehen  und sah  in  den  Fluß  hinunter.  Die  Bogenlampen
spiegelten  sich  zitternd  und  waren  wie  eine  Serie  kleiner ms  Wasser
gefallener  Monde. Der  Fluß  war  breit.  Es  mußte im  Gebirge
gereg­net haben.  Auf den Hügeln, welche die  Stadt  umgaben, brannten viele
zwinkernde Lichter.
     Während er hier  stand, lag Labude  aufgebahrt in einer Grunewaldvilla,
und  Cornelia  lag  bei Herrn  Makart im Himmelbett. Sehr weit weg lagen sie
beide. Fabian stand unter einem  anderen Himmel. Hier hatte Deutschland kein
Fieber. Hier hatte es Untertemperatur.


     VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL

     Herr Knorr bat Hühneraugen
     Die "Tagespost" sucht tüchtige Leute
     Lernt schwimmen!

     Tags  darauf  war er  beim  Bäcker und rief von dort  aus  im  Büro von
Wenzkat  an.  Der  hatte  wenig  Zeit.  Er mußte  aufs Gericht. Fabian
fragte,  ob er  keinen wüßte,  der einen Direktionsposten zu  vergeben
hätte.
     "Geh  doch  mal  zu  Holzapfel",  meinte  Wenzkat.  "Der  ist  in   der
"Tagespost"."
     "Was treibt er denn dort?"
     "Erstens ist er  Sportredakteur,  zweitens schreibt er  Mu­sikkritiken.
Vielleicht  weiß er  etwas.  Und  erinnere ihn an  Freitag  abend. Auf
Wiedersehen."
     Fabian ging nach Hause und erzählte, er  wolle  mal in  die Altstadt zu
Holzapfel, der sei bei der "Tagespost" Redakteur. Vielleicht  könne ihm  der
behilflich sein. Die Mutter stand im Laden und wartete auf Kunden. "Das wäre
sehr schön, mein Junge", sagte sie. "Geh mit Gott!"
     Auf  der Straßenbahn karambolierte er,  infolge  einer Kurve, mit
einem baumlangen Herrn. Sie sahen einan­der mißgelaunt an. "Wir kennen
uns doch", meinte der Herr und streckte die  Hand hin.  Es war ein  gewisser
Knorr, ehemaliger Oberleutnant der Reserve. Ihm  hatte  die Ausbildung jener
Einjährigen-Kompanie  obgelegen, der  Fabian  angehört  hatte.  Er hatte die
Siebzehnjährigen geschunden und  schinden lassen,  als bezöge er von Tod und
Teufel Tantiemen.
     "Stecken Sie rasch Ihre Hand wieder weg", sagte Fabian, "oder ich spuck
Ihnen drauf."
     Herr  Knorr, Spediteur von Beruf, befolgte den ernstge­meinten Rat  und
lachte betreten. Denn sie waren nicht allein auf der Plattform. "Was hab ich
Ihnen denn getan?" fragte er, obwohl er das wußte.
     "Wenn Sie  nicht  so groß  wären,  würde  ich  Ihnen  jetzt  eine
herunterhauen", sagte Fabian. "Da ich aber  nicht bis  zu Ihrer  geschätzten
Wange hinaufreiche, muß  ich mich anders  behelfen." Und damit trat er
Herrn  Knorr  derartig  auf  die  Hühneraugen,  daß   der  die  Lippen
zusammenpreß­te und ganz  blaß  wurde.  Die Umstehenden lachten,
Fabian stieg ab und lief den Rest des Wegs.

     Holzapfel,  der Klassenkamerad von einst,  wirkte außerordentlich
erwachsen,   trank  Flaschenbier  und  versah  ein  paar  Bürstenabzüge  mit
Hieroglyphen. "Setz dich,  Ja­kob", sagte  er.  "Ich muß die  Vorschau
fürs Rennen korrigieren und einen Sammelbericht über Klavierkon­zerte. Lange
nicht gesehen. Wo hast du gesteckt?  Berlin, wie? Ich führe gern  mal wieder
hinüber.  Man  kommt  nicht dazu.  Dauernd  viel  zu tun und  dauernd  Bier.
Schwielen  im Gehirn,  Schwielen  am  Gesäß, die Kinder  werden  immer
älter,   die  Freundinnen   werden   immer   jünger,  wenn  das  mal   keine
Lungenentzündung  gibt."  Während er so vor sich hinfaselte, korrigierte und
trank  er ruhig weiter. "Koppel hat sich scheiden lassen,  er  kam dahinter,
daß ihn seine Frau  mit zwei anderen betrog. Er war ja immer schon ein
guter Mechaniker. Bretschneider  hat  die  Apotheke  verkauft und sich  eine
Klitsche ange­schafft. Er züchtet rote Grütze und  Salzkartoffeln. Jedem für
sein Geld, was  ihm  schmeckt.  So, die  Klavierkonzerte können  warten." Er
klingelte nach dem Boten und schick­te die Fahne mit der Rennvorschau in die
Setzerei.  Dann  erzählte Fabian, daß er eine  Stellung suche, zuletzt
habe er  Propaganda gemacht. Aber ihm sei schon alles gleich, Hauptsache, er
finde hier in der  Stadt  Arbeit. "Von Musik  verstehst du nichts. Vom Boxen
auch nicht", stellte Holzapfel fest. "Vielleicht kann man dich im Feuilleton
brauchen, für die zweite Theaterkritik oder etwas Ähnliches." Er hängte sich
ans Telefon und sprach mit dem Direktor. "Geh mal hin zu  dem  Kerl", schlug
er vor. "Erzähl ihm was Hübsches. Er ist eingebildet, aber gelehrig."
     Fabian    bedankte    sich,    erinnerte    den    anderen    an    die
Klas­senzusammenkunft und ließ sich bei Direktor Hanke melden. "Doktor
Holzapfel ist ein Klassenkamerad von Ihnen?" fragte der Direktor. "Sie haben
Literaturge­schichte studiert? Augenblicklich  ist keine Stellung frei. Doch
das besagt nichts. Sollten  Sie tüchtig sein, tüchtige Leute kann ich  immer
brauchen.  Arbeiten Sie vierzehn Tage auf eigenes Risiko.  Ich mache Sie mit
dem Feuille­tonchef  bekannt. Wenn er Ihre Beiträge  ablehnt, haben Sie Pech
gehabt. Sonst sind Sie mir als externer Mitarbeiter  willkommen."  Er wollte
auf die Klingel drücken.
     "Einen  Moment, Herr Direktor",  sagte Fabian. "Ich danke Ihnen für die
Chance.  Noch  lieber  würde  ich  als  Propagandist  arbeiten.  Man  könnte
beispielsweise  eine   Beratungsstelle   für  Inserenten   einrichten,   der
Kundschaft zugkräftige Texte vorschlagen  und eventuell ganze  Werbefeldzüge
organisieren. Man könnte die Auflageziffer des Blattes  durch geschickte und
systematische Reklame  vorteilhaft beeinflussen. Man könnte, in Kompanie mit
Großinserenten,  lohnende  Preisausschreiben durchfüh­ren.  Man könnte
für die Abonnenten Boxabende und ähnliche Volksfeste veranstalten."
     Der   Direktor   hörte  aufmerksam   zu.   Dann  sagte   er:   "Unse­re
Großaktionäre sind nicht für die Berliner Methoden."
     "Aber die Herren sind dafür, daß die Auflageziffer wächst!"
     "Nicht mit Hilfe von  Fisimatenten", erklärte der Direk­tor. "Immerhin,
ich werde mit  unserem  Insertionschef sprechen. In  bescheidener  Dosierung
sollte man  vielleicht doch Maßnahmen ergreifen, denen wir uns auf die
Dauer  nicht  völlig  werden  entziehen  können. Kommen  Sie mor­gen um  elf
wieder. Ich will sehen, was ich tun kann. Bringen Sie ein paar Arbeiten mit.
Und Zeugnisse, falls Sie solches Gemüse auf Lager haben."
     Fabian stand auf und bedankte sich für das erwiesene Interesse.
     "Wenn  wir  Sie engagieren", sagte  der Direktor, "erwarten  Sie  keine
phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heute sehr viel Geld."
     "Für die Angestellten?" fragte Fabian neugierig.
     "Nein", sagte der Direktor, "für die Aktionäre."

     Fabian  saß im Café Limberg, trank einen  Kognak und machte  sich
Gedanken. Es war  hirnverbrannt,  was  er plante.  Er  wollte, falls man die
Gnade hatte, ihn  zu  nehmen, einer rechtsstehenden Zeitung behilflich sein,
sich auszubreiten.  Wollte er sich etwa einreden,  ihn reize die  Propaganda
schlechthin, ganz gleich,  welchen  Zwecken  sie diente? Wollte  er sich  so
betrügen? Wollte er sein Gewissen, wegen zweier Hundertmarkscheine im Monat,
Tag für Tag chloroformieren? Gehörte er zu Münzer und Konsorten?
     Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein nützliches
Glied  der  Gesellschaft würde. Ein  nützliches  Glied  dieser Gesellschaft,
dieser G.m.b.H.! Es ging  nicht. So  marode war er noch nicht. Geldverdienen
war für ihn noch immer nicht die Hauptsache.
     Er beschloß,  den Eltern zu  verschweigen,  daß er bei  der
"Tagespost"  unterkriechen  konnte.  Er  wollte  nicht  unter­kriechen.  Zum
Donnerwetter,  er kroch  nicht  zu Kreuze!  Er  beschloß, dem Direktor
abzusagen,  und kaum hatte er sich dazu  entschieden, wurde  ihm wohler.  Er
konnte  die  restlichen  tausend  Mark  von  Labude nehmen, ins  Erzge­birge
hinauffahren und in irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein
halbes Jahr oder länger.  Er konnte wandern, soweit sein krankes Herz nichts
dagegen hatte. Er kannte den Gebirgskamm, die Gipfel und die Spielzeugstädte
von Schülerfahrten her. Er kannte die  Wälder, die Bergwiesen, die  Seen und
die  armen  geduck­ten  Dörfer.  Andere  Leute  fuhren in  die  Südsee,  das
Erzgebirge war billiger. Vielleicht  kam  er dort  oben zu sich.  Vielleicht
wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein  Mann. Vielleicht fand er  auf
den  einsamen  Waldpfaden  ein  Ziel,  das den  Einsatz  lohnte.  Vielleicht
reichten sogar  fünfhundert Mark. Die  andere  Hälfte  konnte er  der Mutter
lassen.

     Also  los,   an   den  Busen  der  Natur,   marschmarsch!   Bis  Fabian
wiederkehrte, war die Welt einen Schritt vorange­kommen, oder  zwei Schritte
zurück. Wohin sie sich auch drehte, jede  andere Lage war richtiger als  die
gegenwärti­ge. Jede  andere Stiuation  war für  ihn aussichtsreicher, ob  es
Kampf  galt  oder Arbeit. Er konnte  nicht mehr daneben­stehen wie das  Kind
beim  Dreck.  Er konnte  noch  nicht helfen und zupacken, denn wo  sollte er
zupacken,  und mit wem sollte er sich verbünden? Er wollte in die  Stille zu
Besuch und der  Zeit vom Gebirge  her zuhören,  bis er den  Startschuß
vernahm, der ihm galt und denen, die ihm glichen.
     Er trat aus dem Café. Aber war das nicht Flucht, was er vorhatte?  Fand
sich für  den, der  handeln wollte, nicht jederzeit und  überall ein Tatort?
Worauf wartete er seit Jahren? Vielleicht auf  die  Erkenntnis, daß er
zum  Zu­schauer bestimmt und geboren war, nicht, wie er heute noch  glaubte,
zum Akteur im Welttheater?
     Er  blieb an Geschäften stehen, er sah Kleider, Hüte und Ringe, und  er
sah doch nichts. An  einem Korsettgeschäft kam er wieder zu sich. Das  Leben
war  eine  der   interessan­testen  Beschäftigungen,   trotz   alledem.  Die
Barockgebäu­de  der Schloßstraße standen noch immer. Die Erbauer
und die  ersten  Mieter  waren  lange tot.  Ein  Glück,  daß  er nicht
umgekehrt war.
     Fabian ging über die Brücke.
     Plötzlich sah  er, daß  ein  kleiner  Junge  auf  dem  steinernen
Brückengeländer balancierte. Fabian beschleunigte seine Schritte. Er rannte.
Da schwankte der Junge, stieß einen gellenden Schrei aus,  sank in die
Knie, warf die Arme in die Luft und stürzte vom Geländer in den Fluß.
     Ein paar Passanten,  die  den Schrei  gehört  hatten, drehten sich  um.
Fabian beugte sich über das breite  Geländer. Er sah den Kopf des Kindes und
die Hände, die  das Wasser schlugen. Da zog er die Jacke aus und sprang, das
Kind  zu  retten,  hinterher.  Zwei  Straßenbahnen blieben stehen. Die
Fahrgäste  kletterten aus  dem Wagen und beobachte­ten, was geschah. Am Ufer
rannten aufgeregte Leute hin und wider.
     Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer.
     Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen.



     1931





Last-modified: Sat, 08 Feb 2003 06:56:11 GMT
Ocenite etot tekst: