Оцените этот текст:



     OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://franklang.ru (мультиязыковой проект. Ильи Франка)


     Erich Maria Remarque
     Im Westen nichts Neues

     Dieses Buch soll weder eine Anklage
     noch ein Bekenntnis sein.
     Es soll nur den Versuch machen,
     uber eine Generation zu berichten,
     die vom Kriege zersturt wurde -
     auch wenn sie seinen Granaten entkam.





     Wir  liegen  neun  Kilometer  hinter  der  Front.  Gestern  wurden  wir
abgelust; jetzt haben wir den Magen voll weißer Bohnen mit Rindfleisch
und  sind  satt  und  zufrieden.  Sogar  fur  abends  hat   jeder  noch  ein
Kochgeschirr voll fassen kunnen; dazu gibt es außerdem doppelte Wurst-
und Brotportionen  - das  schafft.  So ein  Fall ist schon  lange nicht mehr
dagewesen:  der  Kuchenbulle  mit seinem roten Tomatenkopf bietet  das Essen
direkt  an; jedem, der  vorbeikommt, winkt er mit seinem Luffel zu und fullt
ihm  einen kruftigen Schlag ein.  Er ist  ganz verzweifelt,  weil  er  nicht
weiß, wie er seine Gulaschkanone leer  kriegen soll. Tjaden und Muller
haben  ein paar Waschschusseln  aufgetrieben  und  sie  sich  bis  zum  Rand
gestrichen  voll   geben  lassen,   als   Reserve.  Tjaden  macht  das   aus
Freßsucht, Muller aus Vorsicht. Wo Tjaden es lußt, ist allen ein
Rutsel. Er ist und bleibt ein magerer Hering.
     Das Wichtigste  aber  ist, daß  es auch  doppelte  Rauchportionen
gegeben hat. Fur  jeden zehn  Zigarren,  zwanzig  Zigaretten und  zwei Stuck
Kautabak, das ist sehr  anstundig. Ich habe  meinen Kautabak  mit Katczinsky
gegen seine  Zigaretten getauscht,  das macht  fur mich vierzig  Zigaretten.
Damit langt man schon einen Tag.
     Dabei steht uns diese ganze Bescherung eigentlich nicht zu. So splendid
sind die Preußen nicht. Wir haben sie nur einem Irrtum zu verdanken.
     Vor  vierzehn Tagen mußten  wir  nach vorn, um  abzulusen. Es war
ziemlich ruhig in unserm Abschnitt, und der Furier hatte deshalb fur den Tag
unserer  Ruckkehr  das  normale Quantum  Lebensmittel erhalten und  fur  die
hundertfunfzig Mann starke Kompanie vorgesorgt.  Nun  aber  gab es gerade am
letzten Tage bei uns uberraschend viel Langrohr und dicke Brocken, englische
Artillerie,  die  stundig  auf  unsere Stellung trommelte, so daß  wir
starke Verluste hatten und nur mit achtzig Mann zuruckkamen.
     Wir waren nachts eingeruckt und hatten uns gleich hingehauen,  um  erst
einmal anstundig zu schlafen; denn Katczinsky hat recht: es wure alles nicht
so schlimm mit dem Krieg, wenn man nur mehr Schlaf haben wurde. Vorne ist es
doch nie etwas damit, und vierzehn Tage jedes mal sind eine lange Zeit.
     Es war schon  Mittag, als die ersten von uns aus den  Baracken krochen.
Eine halbe Stunde  sputer  hatte jeder  sein Kochgeschirr gegriffen, und wir
versammelten uns  vor der Gulaschmarie, die fettig und nahrhaft roch. An der
Spitze naturlich die  Hungrigsten: der kleine  Albert Kropp,  der von uns am
klarsten denkt und  deshalb  erst  Gefreiter  ist;  -  Muller  V,  der  noch
Schulbucher mit sich herumschleppt und vom Notexamen truumt; im Trommelfeuer
buffelt er  physikalische  Lehrsutze; - Leer, der einen Vollbart  trugt  und
große Vorliebe  fur Mudchen  aus den Offizierspuffs  hat;  er  schwurt
darauf, daß sie  durch Armeebefehl verpflichtet wuren, seidene  Hemden
zu tragen  und bei Gusten vom Hauptmann aufwurts vorher zu baden; - und  als
vierter  ich,  Paul Buumer. Alle  vier neunzehn Jahre  alt,  alle  vier  aus
derselben Klasse in den Krieg gegangen.
     Dicht hinter uns unsere  Freunde. Tjaden, ein magerer Schlosser, so alt
wie wir, der grußte Fresser der  Kompanie. Er  setzt  sich schlank zum
Essen  hin  und  steht dick  wie eine  schwangere Wanze wieder auf;  -  Haie
Westhus,  gleich alt, Torfstecher,  der bequem ein  Kommißbrot in eine
Hand  nehmen  und  fragen kann:  Ratet mal, was ich  in der  Faust  habe;  -
Detering, ein Bauer, der nur an seinen  Hof  und an  seine Frau denkt; - und
endlich  Stanislaus  Katczinsky,  das  Haupt  unserer  Gruppe, zuh,  schlau,
gerissen, vierzig Jahre alt, mit einem Gesicht  aus  Erde, mit blauen Augen,
hungenden  Schultern und einer wunderbaren  Witterung fur dicke Luft,  gutes
Essen und schune Druckposten. Unsere Gruppe bildete die  Spitze der Schlange
vor   der  Gulaschkanone.  Wir  wurden  ungeduldig,   denn  der  ahnungslose
Kuchenkarl stand noch immer  und wartete.  Endlich  rief Katczinsky  ihm zu:
"Nun  mach  deinen  Bouillonkeller  schon  auf, Heinrich!  Man  sieht  doch,
daß die Bohnen gar sind."
     Der schuttelte schlufrig den Kopf: "Erst mußt ihr alle da sein."
     Tjaden grinste: "Wir sind alle da."
     Der Unteroffizier merkte  noch nichts.  "Das kunnte euch so  passen! Wo
sind denn die andern?"
     "Die   werden  heute   nicht   von  dir   verpflegt!  Feldlazarett  und
Massengrab."
     Der Kuchenbulle war erschlagen, als er die Tatsachen erfuhr. Er wankte.
     "Und ich habe fur hundertfunfzig Mann gekocht."
     Kropp stieß ihm in die Rippen. "Dann werden wir endlich mal satt.
Los, fang an!"
     Plutzlich  aber  durchfuhr   Tjaden  eine   Erleuchtung.  Sein  spitzes
Mausegesicht  fing ordentlich an  zu  schimmern, die Augen wurden klein  vor
Schlauheit, die Backen  zuckten, und er trat dichter  heran: "Menschenskind,
dann hast  du ja auch  fur  hundertfunfzig  Mann  Brot  empfangen, was?" Der
Unteroffizier  nickte verdattert und  geistesabwesend.  Tjaden packte ihn am
Rock. "Und Wurst auch?"
     Der Tomatenkopf nickte wieder.
     Tjadens Kiefer bebten. "Tabak auch?"
     "Ja, alles."
     Tjaden  sah  sich strahlend  um.  "Donnerwetter, das nennt  man Schwein
haben! Das  ist dann  ja  alles fur  uns! Da kriegt  jeder ja - wartet mal -
tatsuchlich, genau doppelte Portionen!"
     Jetzt aber erwachte die Tomate wieder zum Leben und erklurte: "Das geht
nicht."
     Doch nun wurden auch wir munter und schoben uns heran.
     "Warum geht das denn nicht, du Mohrrube?" fragte Katczinsky.
     "Was fur hundertfunfzig Mann ist, kann doch nicht fur achtzig sein."
     "Das werden wir dir schon zeigen", knurrte Muller.
     "Das  Essen meinetwegen, aber  Portionen kann ich  nur fur achtzig Mann
ausgeben", beharrte die Tomate.
     Katczinsky wurde  urgerlich. "Du mußt  wohl mal  abgelust werden,
was? Du  hast  nicht  fur achtzig Mann, sondern fur die  2. Kompanie  Furage
empfangen, fertig. Die gibst du aus! Die 2. Kompanie sind wir."
     Wir ruckten dem Kerl auf den Leib. Keiner konnte ihn gut leiden, er war
schon ein paarmal schuld daran  gewesen, daß  wir im Graben das  Essen
viel  zu  sput und kalt bekommen hatten, weil er sich  bei etwas Granatfeuer
mit  seinem  Kessel  nicht  nahe  genug  herantraute,  so  daß  unsere
Essenholer einen viel  weiteren Weg machen mußten als  die  der andern
Kompanien.  Da war  Bulcke von  der ersten ein besserer Bursche. Er war zwar
fett wie  ein Winterhamster, aber er  schleppte, wenn es  darauf ankam,  die
Tupfe selbst bis zur vordersten Linie.
     Wir  waren  gerade  in  der  richtigen Stimmung,  und es hutte bestimmt
Kleinholz gegeben,  wenn  nicht unser  Kompaniefuhrer aufgetaucht  wure.  Er
erkundigte  sich nach dem Streitfall und sagte vorluufig nur: "Ja, wir haben
gestern starke Verluste gehabt -"
     Dann guckte er in den Kessel. "Die Bohnen scheinen gut zu sein."
     Die Tomate nickte. "Mit Fett und Fleisch gekocht."
     Der Leutnant sah uns an.  Er  wußte, was wir dachten.  Auch sonst
wußte er noch manches, denn  er war zwischen uns  groß  geworden
und  als Unteroffizier zur Kompanie gekommen. Er hob den  Deckel noch einmal
vom Kessel  und schnupperte. Im  Weggehen sagte er: "Bringt  mir auch  einen
Teller  voll.  Und  die  Portionen  werden  alle  verteilt.  Wir  kunnen sie
brauchen."
     Die Tomate machte ein dummes Gesicht. Tjaden tanzte um sie herum.
     "Das schadet dir gar nichts! Als ob ihm das  Proviantamt gehurt, so tut
er. Und nun fang an, du alter Speckjuger, und verzuhle dich nicht -"
     "Hung  dich auf!"  fauchte die  Tomate. Sie war geplatzt, so etwas ging
ihr gegen den Verstand. Sie begriff die Welt nicht mehr. Und als  wollte sie
zeigen,  daß  nun  schon  alles  egal  sei,  verteilte  sie  pro  Kopf
freiwillig noch ein halbes Pfund Kunsthonig.

     Der Tag  ist wirklich  gut heute. Sogar Post ist da, fast jeder hat ein
paar  Briefe  und  Zeitungen.  Nun schlendern  wir zu der Wiese  hinter  den
Baracken  hinuber. Kropp hat den runden Deckel eines  Margarinefasses unterm
Arm.
     Am rechten  Rande der Wiese ist  eine große Massenlatrine erbaut,
ein uberdachtes,  stabiles Gebuude. Doch das ist was fur Rekruten, die  noch
nicht  gelernt haben, aus  jeder Sache  Vorteil zu ziehen.  Wir suchen etwas
Besseres.  uberall  verstreut stehen  numlich noch  kleine Einzelkusten  fur
denselben  Zweck.  Sie sind viereckig,  sauber,  ganz aus  Holz getischlert,
rundum  geschlossen,   mit   einem   tadellosen,  bequemen  Sitz.   An   den
Seitenfluchen befinden sich Handgriffe, so daß  man sie transportieren
kann.
     Wir rucken drei im Kreise zusammen und nehmen gemutlich Platz. Vor zwei
Stunden werden wir hier nicht wieder aufstehen.
     Ich weiß  noch, wie wir uns anfangs genierten als Rekruten in der
Kaserne, wenn wir die Gemeinschaftslatrine benutzen mußten. Turen gibt
es da nicht, es sitzen zwanzig Mann nebeneinander  wie in der Eisenbahn. Sie
sind mit einem Blick zu  ubersehen; -  der  Soldat soll  eben  stundig unter
Aufsicht sein.
     Wir  haben  inzwischen  mehr  gelernt, als  das bißchen Scham  zu
uberwinden. Mit der Zeit wurde uns noch ganz anderes geluufig.
     Hier  draußen ist die Sache  aber geradezu ein  Genuß.  Ich
weiß nicht  mehr,  weshalb wir fruher  an  diesen  Dingen immer  scheu
vorbeigehen  mußten, sie  sind  ja  ebenso  naturlich  wie  Essen  und
Trinken.  Und man brauchte  sich vielleicht auch nicht besonders  daruber zu
uußern, wenn sie nicht so eine wesentliche  Rolle bei uns spielten und
gerade   uns   neu   gewesen  wuren  -  den   ubrigen   waren   sie   lungst
selbstverstundlich.
     Dem Soldaten ist sein Magen und seine Verdauung ein vertrauteres Gebiet
als jedem anderen  Menschen.  Drei  Viertel  seines  Wortschatzes  sind  ihm
entnommen, und sowohl der  Ausdruck huchster Freude als  auch  der  tiefster
Entrustung findet hier seine kernige Untermalung. Es ist unmuglich, sich auf
eine andere  Art so  knapp  und  klar  zu  uußern. Unsere Familien und
unsere Lehrer werden sich schun wundern, wenn wir nach Hause kommen, aber es
ist hier nun einmal die Universalsprache.
     Fur  uns  haben  diese  ganzen  Vorgunge  den  Charakter  der  Unschuld
wiedererhalten durch ihre zwangsmußige  uffentlichkeit. Mehr noch: sie
sind uns so selbstverstundlich, daß ihre gemutliche
     Erledigung   ebenso   gewertet   wird   wie   meinetwegen   ein   schun
durchgefuhrter,  bombensicherer  Grand  ohne  viere. Nicht umsonst  ist  fur
Geschwutz aller Art  das  Wort  "Latrinenparole" entstanden; diese Orte sind
die Klatschecken und der Stammtischersatz beim Kommiß.
     Wir  fuhlen  uns  augenblicklich  wohler  als  im  noch  so  weiß
gekachelten Luxuslokus. Dort kann es  nur hygienisch sein;  hier aber ist es
schun.
     Es  sind  wunderbar  gedankenlose Stunden.  uber uns  steht  der  blaue
Himmel.  Am  Horizont hungen  hellbestrahlte  gelbe  Fesselballons  und  die
weißen Wulkchen  der  Flakgeschosse. Manchmal schnellen sie  wie  eine
Garbe hoch, wenn sie einen Flieger verfolgen.
     Nur wie  ein  sehr fernes Gewitter  huren wir das gedumpfte Brummen der
Front. Hummeln, die vorubersummen, ubertunen es schon.
     Und rund um  uns liegt die bluhende Wiese. Die zarten Rispen der Gruser
wiegen sich, Kohlweißlinge  taumeln heran,  sie schweben  im  weichen,
warmen Wind des Sputsommers, wir lesen Briefe und Zeitungen und rauchen, wir
setzen  die Mutzen ab und  legen  sie neben uns, der Wind spielt mit unseren
Haaren, er spielt mit unseren Worten und Gedanken.
     Die drei Kusten stehen mitten im leuchtenden, roten Klatschmohn. -
     Wir legen den Deckel des Margarinefasses auf unsere Knie.  So haben wir
eine  gute  Unterlage zum Skatspielen. Kropp hat die Karten  bei sich.  Nach
jedem Nullouvert  wird eine Partie Schieberamsch eingelegt. Man kunnte  ewig
so sitzen.
     Die Tune  einer Ziehharmonika klingen von  den Baracken  her.  Manchmal
legen wir die  Karten hin und sehen uns an. Einer sagt dann: "Kinder, Kinder
-",  oder:  "Das  hutte  schiefgehen kunnen  -",  und  wir  versinken  einen
Augenblick in  Schweigen. In uns  ist ein starkes, verhaltenes Gefuhl, jeder
spurt  es,  das  braucht  nicht  viele Worte.  Leicht hutte es  sein kunnen,
daß  wir heute  nicht auf unsern Kusten  sußen, es war  verdammt
nahe daran. Und darum ist alles neu  und stark -  der rote Mohn und das gute
Essen, die Zigaretten und der Sommerwind.
     Kropp fragt: "Hat einer von euch Kemmerich noch mal gesehen?"
     "Er liegt in St. Joseph", sage ich.
     Muller meint, er habe einen  Oberschenkeldurchschuß,  einen guten
Heimatpaß.
     Wir beschließen, ihn nachmittags zu besuchen.
     Kropp  holt  einen  Brief  hervor.  "Ich  soll  euch  grußen  von
Kantorek."
     Wir lachen. Muller wirft seine Zigarette weg und sagt: "Ich wollte, der
wure hier."

     Kantorek  war unser Klassenlehrer, ein strenger, kleiner Mann in grauem
Schoßrock,  mit  einem  Spitzmausgesicht. Er  hatte ungefuhr  dieselbe
Statur   wie   der  Unteroffizier  Himmelstoß,   der  "Schrecken   des
Klosterberges".  Es ist ubrigens komisch,  daß das Ungluck der Welt so
oft   von   kleinen  Leuten   herruhrt,  sie  sind  viel   energischer   und
unvertruglicher  als  großgewachsene.  Ich habe mich stets gehutet, in
Abteilungen  mit  kleinen  Kompaniefuhrern  zu  geraten;  es  sind  meistens
verfluchte Schinder.
     Kantorek hielt uns in den  Turnstunden  so  lange  Vortruge, bis unsere
Klasse unter seiner Fuhrung  geschlossen  zum Bezirkskommando  zog und  sich
meldete. Ich  sehe ihn noch  vor  mir, wie er uns durch seine  Brillengluser
anfunkelte  und  mit  ergriffener  Stimme  fragte:   "Ihr   geht  doch  mit,
Kameraden?"
     Diese Erzieher haben ihr Gefuhl  so oft in der Westentasche parat;  sie
geben es ja  auch stundenweise aus. Doch daruber machten wir uns damals noch
keine Gedanken.
     Einer  von uns allerdings  zugerte und wollte nicht recht mit.  Das war
Josef Behm, ein dicker, gemutlicher  Bursche. Er  ließ  sich dann aber
uberreden, er hutte sich  auch  sonst unmuglich gemacht. Vielleicht  dachten
noch mehrere so wie er; aber es konnte  sich niemand gut ausschließen,
denn mit dem Wort "feige"  waren  um  diese Zeit sogar Eltern rasch bei  der
Hand.  Die  Menschen  hatten  eben alle keine  Ahnung von  dem, was kam.  Am
vernunftigsten waren eigentlich die armen  und  einfachen Leute; sie hielten
den Krieg  gleich fur ein Ungluck,  wuhrend die bessergestellten  vor Freude
nicht aus  noch ein  wußten, obschon gerade sie sich  uber die  Folgen
viel eher hutten klarwerden kunnen.
     Katczinsky behauptet, das kume von der Bildung, sie mache dumlich.  Und
was Kat sagt, das hat er sich uberlegt.
     Sonderbarerweise war Behm einer der ersten,  die fielen. Er erhielt bei
einem Sturm einen Schuß in die Augen, und wir ließen ihn fur tot
liegen.  Mitnehmen  konnten  wir  ihn  nicht,  weil  wir  ubersturzt  zuruck
mußten. Nachmittags  hurten wir  ihn  plutzlich rufen  und  sahen  ihn
draußen  herumkriechen.  Er war  nur bewußtlos gewesen.  Weil er
nichts  sah  und  wild vor  Schmerzen war, nutzte  er keine Deckung  aus, so
daß er von druben abgeschossen wurde,  ehe jemand herankam, um ihn  zu
holen.
     Man  kann Kantorek naturlich nicht damit in  Zusammenhang bringen; - wo
bliebe  die Welt sonst, wenn man das  schon Schuld nennen wollte. Es  gab ja
Tausende  von Kantoreks, die alle uberzeugt waren, auf eine fur sie  bequeme
Weise das Beste zu tun.
     Darin liegt aber gerade fur uns ihr Bankerott.
     Sie  sollten uns Achtzehnjuhrigen  Vermittler und  Fuhrer zur  Welt des
Erwachsenseins werden, zur Welt der Arbeit, der Pflicht, der  Kultur und des
Fortschritts, zur Zukunft. Wir verspotteten sie  manchmal und spielten ihnen
Meine  Streiche, aber im Grunde  glaubten  wir  ihnen.  Mit  dem Begriff der
Autoritut,  dessen  Truger  sie  waren,  verband  sich  m  unseren  Gedanken
grußere Einsicht und  menschlicheres Wissen.  Doch der erste Tote, den
wir  sahen,  zertrummerte  diese  uberzeugung.  Wir  mußten  erkennen,
daß unser Alter ehrlicher war als das ihre; sie hatten vor uns nur die
Phrase  und die Geschicklichkeit voraus. Das  erste Trommelfeuer  zeigte uns
unseren Irrtum, und unter  ihm sturzte  die Weltanschauung zusammen, die sie
uns gelehrt hatten.
     Wuhrend  sie  noch  schrieben  und  redeten,  sahen  wir  Lazarette und
Sterbende;  -  wuhrend  sie  den  Dienst  am  Staate  als  das  Grußte
bezeichneten,  wußten  wir  bereits,  daß die Todesangst sturker
ist.  Wir wurden darum keine Meuterer,  keine Deserteure, keine  Feiglinge -
alle diese Ausdrucke waren ihnen ja so leicht zur Hand -, wir liebten unsere
Heimat genauso wie sie, und wir  gingen bei  jedem Angriff mutig vor; - aber
wir unterschieden jetzt, wir hatten mit einem Male sehen  gelernt.  Und  wir
sahen, daß nichts von ihrer Welt ubrig blieb. Wir waren plutzlich  auf
furchtbare Weise allein; - und wir mußten allein damit fertig werden.

     Bevor wir zu Kemmerich aufbrechen, packen wir seine Sachen ein; er wird
sie unterwegs gut brauchen kunnen.
     Im Feldlazarett  ist  großer  Betrieb; es riecht wie  immer  nach
Karbol, Eiter und Schweiß. Man ist  aus  den Baracken manches gewohnt,
aber hier kann einem doch flau  werden. Wir fragen uns nach Kemmerich durch;
er liegt in  einem Saal und empfungt uns  mit einem  schwachen Ausdruck  von
Freude und hilfloser Aufregung.  Wuhrend er bewußtlos war, hat man ihm
seine Uhr gestohlen.
     Muller schuttelt den Kopf: "Ich habe dir ja immer gesagt, daß man
eine so gute Uhr nicht mitnimmt."
     Muller ist  etwas  tapsig und  rechthaberisch. Sonst  wurde er den Mund
halten, denn jeder  sieht, daß  Kemmerich nicht mehr  aus diesem  Saal
herauskommt.  Ob  er  seine  Uhr  wiederfindet, ist  ganz  egal,  huchstens,
daß man sie nach Hause schicken kunnte.
     "Wie geht's denn, Franz?" fragt Kropp.
     Kemmerich lußt den Kopf sinken. "Es geht ja - ich habe bloß
so verfluchte Schmerzen im Fuß."
     Wir sehen auf seine Decke. Sein Bein  liegt  unter einem Drahtkorb, das
Deckbett  wulbt  sich dick daruber.  Ich trete Muller gegen  das Schienbein,
denn  er  bruchte  es  fertig, Kemmerich  zu  sagen,  was  uns die Sanituter
draußen schon erzuhlt haben: daß Kemmerich keinen Fuß mehr
hat. Das Bein ist amputiert.
     Er sieht schrecklich  aus,  gelb und fahl,  im Gesicht sind  schon  die
fremden  Linien,  die wir so  genau  kennen,  weil wir sie schon  hundertmal
gesehen haben. Es sind eigentlich keine  Linien, es sind mehr Zeichen. Unter
der Haut pulsiert kein Leben mehr; es ist bereits herausgedrungt  bis an den
Rand  des  Kurpers,  von  innen  arbeitet  sich  der  Tod durch,  die  Augen
beherrscht er schon.  Dort liegt unser  Kamerad Kemmerich,  der mit uns  vor
kurzem noch Pferdefleisch gebraten und im Trichter gehockt hat; - er  ist es
noch,  und er ist  es doch nicht mehr, verwaschen, unbestimmt ist sein  Bild
geworden,  wie  eine fotografische  Platte, auf der  zwei Aufnahmen  gemacht
worden sind. Selbst seine Stimme klingt wie Asche.
     Ich  denke daran,  wie wir damals abfuhren.  Seine  Mutter, eine  gute,
dicke Frau, brachte ihn zum Bahnhof. Sie weinte  ununterbrochen, ihr Gesicht
war davon  gedunsen und geschwollen. Kemmerich genierte sich  deswegen, denn
sie war am  wenigsten gefaßt von allen, sie  zerfloß furmlich in
Fett und Wasser. Dabei hatte sie es auf mich abgesehen, immer wieder ergriff
sie meinen Arm  und  flehte mich an, auf Franz draußen achtzugeben. Er
hatte allerdings  auch  ein  Gesicht wie  ein Kind  und so  weiche  Knochen,
daß er nach vier  Wochen Tornistertragen  schon Plattfuße bekam.
Aber wie kann man im Felde auf jemand achtgeben!
     "Du wirst ja nun nach Hause kommen", sagt Kropp, "auf Urlaub huttest du
mindestens noch drei, vier Monate warten mussen."
     Kemmerich nickt. Ich  kann seine Hunde nicht gut ansehen, sie sind  wie
Wachs. Unter den  Nugeln sitzt der Schmutz des Grabens, er sieht blauschwarz
aus  wie Gift.  Mir fullt ein,  daß  diese Nugel weiterwachsen werden,
lange  noch,  gespenstische Kellergewuchse, wenn Kemmerich lungst nicht mehr
atmet. Ich sehe das  Bild vor  mir: sie krummen  sich  zu  Korkenziehern und
wachsen und wachsen,  und mit  ihnen die Haare auf dem zerfallenden Schudel,
wie Gras auf gutem Boden, genau wie Gras, wie ist das nur muglich -?
     Muller buckt sich. "Wir haben deine Sachen mitgebracht, Franz."
     Kemmerich zeigt mit der Hand. "Legt sie unters Bett."
     Muller tut es. Kemmerich fungt wieder von der  Uhr an. Wie soll man ihn
nur beruhigen, ohne ihn mißtrauisch zu machen!
     Muller  taucht  mit einem  Paar  Fliegerstiefel  wieder  auf.  Es  sind
herrliche  englische Schuhe  aus weichem,  gelbem Leder, die  bis  zum  Knie
reichen  und ganz hinauf geschnurt  werden, eine begehrte Sache. Muller  ist
von ihrem  Anblick  begeistert,  er hult  ihre Sohlen  gegen  seine  eigenen
klobigen Schuhe und fragt: "Willst du denn die Stiefel mitnehmen, Franz?"
     Wir denken alle  drei das  gleiche: selbst wenn er gesund wurde, kunnte
er nur  einen gebrauchen, sie wuren fur ihn also wertlos. Aber wie  es jetzt
steht,  ist es ein Jammer, daß sie  hierbleiben;  - denn die Sanituter
werden sie naturlich sofort wegschnappen, wenn er tot ist.
     Muller wiederholt: "Willst du sie nicht hier lassen?"
     Kemmerich will nicht. Es sind seine besten Stucke.
     "Wir  kunnen sie  ja  umtauschen",  schlugt Muller  wieder  vor,  "hier
draußen kann man so was brauchen."
     Doch Kemmerich ist nicht zu bewegen.
     Ich trete Muller auf den Fuß; er legt die schunen Stiefel zugernd
wieder unter das Bett.
     Wir reden noch einiges und verabschieden uns dann. "Mach's gut, Franz."
     Ich  verspreche  ihm,  morgen wiederzukommen.  Muller  redet  ebenfalls
davon; er denkt an die Schnurschuhe und will deshalb auf dem Posten sein.
     Kemmerich  stuhnt.  Er  hat  Fieber.  Wir  halten  draußen  einen
Sanituter an und reden ihm zu, Kemmerich eine Spritze zu geben.
     Er lehnt ab. "Wenn wir jedem Morphium geben  wollten,  mußten wir
Fusser voll haben -"
     "Du bedienst wohl nur Offiziere", sagt Kropp gehussig.
     Rasch lege ich mich ins Mittel und gebe dem Sanituter zunuchst mal eine
Zigarette. Er  nimmt sie.  Dann  frage ich:  "Darfst du denn  uberhaupt eine
machen?"
     Er ist beleidigt. "Wenn ihr's nicht glaubt, was fragt ihr mich -"
     Ich  drucke  ihm  noch  ein  paar Zigaretten  in die Hand.  "Tu uns den
Gefallen -"
     "Na, schun",  sagt er. Kropp geht mit  hinein, er  traut ihm  nicht und
will zusehen. Wir warten draußen.
     Muller fungt  wieder  von  den Stiefeln an." Sie  wurden  mir  tadellos
passen. In  diesen Kuhnen  laufe ich  mir Blasen  uber Blasen.  Glaubst  du,
daß  er durchhult  bis morgen nach dem Dienst?  Wenn er nachts abgeht,
haben wir die Stiefel gesehen -"
     Albert kommt zuruck. "Meint ihr -?" fragt er.
     "Erledigt", sagt Muller abschließend.
     Wir  gehen zu unsern Baracken zuruck. Ich denke  an den  Brief, den ich
morgen  schreiben  muß  an Kemmerichs Mutter. Mich friert.  Ich muchte
einen Schnaps trinken. Muller rupft  Gruser aus  und kaut  daran.  Plutzlich
wirft  der  kleine Kropp seine  Zigarette weg, trampelt  wild  darauf herum,
sieht sich um, mit  einem aufgelusten und versturten Gesicht, und  stammelt:
"Verfluchte Scheiße, diese verfluchte Scheiße."
     Wir gehen  weiter, eine lange Zeit. Kropp hat sich beruhigt, wir kennen
das, es ist der  Frontkoller, jeder hat  ihn mal. Muller fragt ihn: "Was hat
dir der Kantorek eigentlich geschrieben?"
     Er lacht: "Wir wuren die eiserne Jugend."
     Wir lachen  alle drei urgerlich. Kropp schimpft; er ist froh, daß
er reden kann. -
     Ja, so denken sie, so denken sie, die hunderttausend Kantoreks! Eiserne
Jugend.  Jugend! Wir sind alle  nicht  mehr  als zwanzig  Jahre. Aber  jung?
Jugend? Das ist lange her. Wir sind alte Leute.



     Es ist fur mich sonderbar,  daran  zu  denken,  daß zu  Hause, in
einer Schreibtischlade,  ein  angefangenes Drama "Saul"  und ein  Stoß
Gedichte liegen. Manchen Abend habe ich daruber verbracht, wir haben ja fast
alle  so etwas  uhnliches gemacht;  aber  es ist mir so unwirklich geworden,
daß ich es mir nicht mehr richtig vorstellen kann.
     Seit  wir  hier  sind, ist  unser  fruheres  Leben abgeschnitten,  ohne
daß  wir  etwas  dazu  getan  haben.  Wir  versuchen  manchmal,  einen
uberblick und  eine Erklurung  dafur zu gewinnen, doch  es gelingt uns nicht
recht. Gerade fur uns  Zwanzigjuhrige ist alles besonders unklar, fur Kropp,
Muller, Leer, mich, fur uns, die Kantorek als eiserne Jugend bezeichnet. Die
ulteren Leute sind alle  fest mit  dem Fruheren verbunden, sie  haben Grund,
sie  haben  Frauen, Kinder,  Berufe und Interessen, die schon so stark sind,
daß der Krieg sie nicht zerreißen kann. Wir Zwanzigjuhrigen aber
haben nur unsere Eltern und manche ein Mudchen. Das ist nicht viel - denn in
unserm  Alter ist die Kraft der Eltern am  schwuchsten, und die Mudchen sind
noch nicht beherrschend. Außer diesem  gab es ja  bei uns  nicht  viel
anderes  mehr;  etwas  Schwurmertum,  einige Liebhabereien  und die  Schule;
weiter reichte unser Leben noch nicht. Und davon ist nichts geblieben.
     Kantorek  wurde sagen,  wir  hutten gerade an  der Schwelle des Daseins
gestanden. So uhnlich ist es  auch. Wir  waren noch nicht eingewurzelt.  Der
Krieg hat  uns  weggeschwemmt.  Fur  die andern,  die ulteren,  ist  er eine
Unterbrechung, sie  kunnen  uber ihn  hinausdenken.  Wir aber  sind  von ihm
ergriffen worden und wissen  nicht,  wie das enden soll. Was wir wissen, ist
vorluufig  nur,  daß wir  auf eine sonderbare und  schwermutige  Weise
verroht sind, obschon wir nicht einmal oft mehr traurig werden.
     Wenn Muller gern Kemmerichs Stiefel haben will, so ist er deshalb nicht
weniger teilnahmsvoll als  jemand,  der vor  Schmerz nicht  daran  zu denken
wagte. Er  weiß  nur  zu unterscheiden. Wurden  die  Stiefel Kemmerich
etwas nutzen, dann  liefe Muller lieber barfuß  uber Stacheldraht, als
groß zu uberlegen, wie er sie bekommt. So aber sind die Stiefel etwas,
das gar  nichts mit Kemmerichs Zustand zu  tun  hat, wuhrend Muller sie  gut
verwenden kann. Kemmerich wird sterben, einerlei, wer sie erhult. Warum soll
deshalb Muller nicht dahinter her sein, er hat doch mehr Anrecht  darauf als
ein  Sanituter!  Wenn Kemmerich  erst tot  ist,  ist  es  zu  sput.  Deshalb
paßt Muller eben jetzt schon auf.
     Wir  haben  den  Sinn  fur  andere  Zusammenhunge  verloren,  weil  sie
kunstlich sind. Nur die Tatsachen sind richtig und wichtig fur uns. Und gute
Stiefel sind selten.

     Fruher  war auch  das anders. Als wir zum Bezirkskommando gingen, waren
wir  noch  eine  Klasse von zwanzig jungen Menschen,  die  sich,  manche zum
ersten  Male,  ubermutig  gemeinsam  rasieren  ließ,  bevor  sie   den
Kasernenhof betrat.  Wir hatten keine festen Plune fur die Zukunft, Gedanken
an Karriere und Beruf waren bei den wenigsten praktisch bereits so bestimmt,
daß sie eine Daseinsform bedeuten konnten; - dafur jedoch steckten wir
voll Ungewisser Ideen, die dem  Leben und  auch dem Kriege in  unseren Augen
einen idealisierten und fast romantischen Charakter verliehen.
     Wir wurden  zehn  Wochen  militurisch ausgebildet  und  in  dieser Zeit
entscheidender  umgestaltet als  in  zehn  Jahren  Schulzeit.  Wir  lernten,
daß ein  geputzter Knopf  wichtiger ist  als vier Bunde  Schopenhauer.
Zuerst erstaunt, dann erbittert und schließlich gleichgultig erkannten
wir, daß nicht  der Geist ausschlaggebend zu sein  schien, sondern die
Wichsburste,  nicht  der Gedanke,  sondern das  System, nicht die  Freiheit,
sondern  der Drill.  Mit Begeisterung  und gutem Willen  waren wir  Soldaten
geworden; aber man tat alles, um uns das auszutreiben. Nach drei Wochen  war
es uns nicht mehr unfaßlich, daß ein betreßter Brieftruger
mehr Macht uber uns besaß als fruher unsere Eltern, unsere Erzieherund
sumtliche  Kulturkreise  von Plato bis Goethe zusammen. Mit  unseren jungen,
wachen  Augen  sahen wir, daß der klassische Vaterlandsbegriff unserer
Lehrer sich hier vorluufig realisierte zu einem Aufgeben der Persunlichkeit,
wie  man  es   dem  geringsten   Dienstboten  nie  zugemutet   haben  wurde.
Grußen,  Strammstehen,  Parademarsch,  Gewehrprusentieren,   Rechtsum,
Linksum,  Hackenzusammenschlagen,  Schimpfereien und  tausend Schikanen: wir
hatten  uns unsere Aufgabe anders gedacht  und fanden, daß wir auf das
Heldentum wie Zirkuspferde vorbereitet wurden.  Aber wir  gewuhnten uns bald
daran. Wir begriffen sogar, daß  ein Teil dieser Dinge  notwendig, ein
anderer aber ebenso uberflussig war. Der Soldat hat dafur eine feine Nase.

     Zu  dreien und  vieren  wurde unsere  Klasse  uber die Korporalschaften
verstreut,   zusammen  mit   friesischen  Fischern,  Bauern,  Arbeitern  und
Handwerkern,  mit   denen  wir  uns  schnell  anfreundeten.  Kropp,  Muller,
Kemmerich und  ich  kamen zur  neunten Korporalschaft, die der Unteroffizier
Himmelstoß fuhrte.
     Er galt als  der schurfste Schinder des Kasernenhofes, und das war sein
Stolz. Ein kleiner,  untersetzter  Kerl,  der zwulf Jahre gedient hatte, mit
fuchsigem, aufgewirbeltem Schnurrbart, im Zivilberuf Brieftruger. Auf Kropp,
Tjaden,  Westhus  und mich hatte er es  besonders abgesehen,  weil er unsern
stillen Trotz spurte.
     Ich  habe an  einem Morgen vierzehnmal sein  Bett gebaut. Immer  wieder
fand  er etwas  daran  auszusetzen und  riß es herunter.  Ich habe  in
zwanzigstundiger Arbeit - mit Pausen naturlich - ein Paar uralte, steinharte
Stiefel so  butterweich geschmiert, daß selbst Himmelstoß nichts
mehr  daran  auszusetzen  fand;  -  ich  habe  auf  seinen  Befehl mit einer
Zahnburste die Korporalschaftsstube sauber geschrubbt; - Kropp und ich haben
uns  mit einer Handburste  und  einem  Fegeblech an den Auftrag gemacht, den
Kasernenhof  vom Schnee reinzufegen,  und  wir hutten  durchgehalten bis zum
Erfrieren,  wenn  nicht  zufullig  ein  Leutnant aufgetaucht  wure, der  uns
fortschickte und Himmelstoß  muchtig anschnauzte. Die Folge war leider
nur, daß Himmelstoß um so wutender auf uns wurde. Ich habe  vier
Wochen  hintereinander  jeden  Sonntag  Wache   geschoben  und   ebensolange
Stubendienst gemacht;  -  ich habe  in vollem  Gepuck mit  Gewehrauf  losem,
nassem Sturzacker "Sprung auf, marsch, marsch" und "Hinlegen" geubt, bis ich
ein  Dreckklumpen  war und  zusammenbrach;  -  ich  habe vier Stunden sputer
Himmelstoß mein tadellos gereinigtes Zeug vorgezeigt,  allerdings  mit
blutig geriebenen  Hunden; - ich  habe mit  Kropp,  Westhus und Tjaden  ohne
Handschuhe bei scharfem Frost eine Viertelstunde "Stillgestanden" geubt, die
bloßen   Finger  am   eisigen  Gewehrlauf,  lauernd   umschlichen  von
Himmelstoß, der auf  die geringste  Bewegung wartete, um  ein Vergehen
festzustellen; - ich bin nachts um zwei Uhr achtmal  im Hemd  vom  ob ersten
Stock der Kaserne  heruntergerannt  bis auf  den  Hof,  weil meine Unterhose
einige Zentimeter uber  den  Rand  des Schemels  hinausragte,  auf dem jeder
seine Sachen aufschichten mußte.  Neben mir lief der Unteroffizier vom
Dienst,  Himmelstoß, und  trat  mir auf  die  Zehen;  -  ich habe beim
Bajonettieren  stundig mit  Himmelstoß fechten  mussen,  wobei ich ein
schweres Eisengestell und er ein handliches Holzgewehr hatte,  so  daß
er mir bequem die Arme braun und blau schlagen konnte; allerdings geriet ich
dabei einmal so in Wut,  daß  ich  ihn  blindlings uberrannte und  ihm
einen derartigen Stoß vor  den Magen gab, daß er umfiel. Als  er
sich beschweren wollte, lachte  ihn der  Kompaniefuhrer  aus  und  sagte, er
solle doch  aufpassen; erkannte  seinen Himmelstoß und schien  ihm den
Reinfall  zu  gunnen.  - Ich  habe mich zu einem perfekten Kletterer auf die
Spinde  entwickelt;  -  ich  suchte  allmuhlich  auch  im Kniebeugen  meinen
Meister; -  wir  haben gezittert,  wenn  wir nur seine  Stimme hurten,  aber
kleingekriegt hat uns dieses wildgewordene Postpferd nicht.
     Als Kropp  und ich  im  Barackenlager  sonntags  an  einer  Stange  die
Latrineneimer  uber  den Hof  schleppten  und  Himmelstoß,  blitzblank
geschniegelt, zum Ausgehen bereit, gerade vorbeikam, sich vor uns hinstellte
und  fragte,  wie  uns  die Arbeit  gefiele, markierten  wir trotz allem ein
Stolpern und  gussen ihm  den  Eimer  uber die  Beine.  Er  tobte,  aber das
Maß war voll.
     "Das setzt Festung", schrie er.
     Kropp  hatte genug. "Vorher  aber eine Untersuchung, und  da werden wir
auspacken", sagte er.
     "Wie reden  Sie  mit einem  Unteroffizier!"  brullte  Himmelstoß,
"sind Sie verruckt geworden? Warten Sie,  bis Sie gefragt werden! Was wollen
Sie tun?"
     "uber Herrn Unteroffizier auspacken!"  sagte Kropp und nahm die  Finger
an die Hosennaht.
     Himmelstoß merkte nun doch, was los war, und  schob ohne ein Wort
ab.  Bevor  er  verschwand,  krakehlte er  zwar noch:  "Das  werde  ich euch
eintrunken",  - aber  es war vorbei mit  seiner Macht. Er versuchte  es noch
einmal  in den Sturzuckern mit "Hinlegen" und "Sprung auf,  marsch, marsch".
Wir befolgten  zwar  jeden Befehl;  denn  Befehl ist  Befehl,  er  muß
ausgefuhrt  werden.  Aber  wir  fuhrten  ihn   so  langsam   aus,  daß
Himmelstoß in Verzweiflung geriet.
     Gemutlich gingen wir  auf die Knie,  dann auf  die  Arme  und so  fort;
inzwischen hatte  er  schon wutend ein anderes  Kommando gegeben. Bevor  wir
schwitzten, war er heiser. Er ließ uns dann in Ruhe. Zwar  bezeichnete
er uns immer noch als Schweinehunde. Aber es lag Achtung darin.
     Es gab auch  viele  anstundige Korporale, die vernunftiger  waren;  die
anstundigen  waren sogar in der uberzahl. Aber vor allem wollte jeder seinen
guten  Posten hier in der Heimat  so lange  behalten  wie  muglich, und  das
konnte er nur, wenn er stramm mit den Rekruten war.
     Uns  ist  dabei wohl  jeder  Kasernenhofschliff  zuteil  geworden,  der
muglich war, und  oft haben wir vor Wut geheult. Manche  von  uns  sind auch
krank dadurch geworden. Wolf  ist sogar an  Lungenentzundung gestorben. Aber
wir wuren  uns lucherlich vorgekommen, wenn wir klein beigegeben hutten. Wir
wurden hart, mißtrauisch, mitleidlos, rachsuchtig,  roh  - und das war
gut; denn diese  Eigenschaften fehlten uns gerade. Hutte man  uns ohne diese
Ausbildungszeit in den Schutzengraben geschickt, dann wuren wohl die meisten
von uns  verruckt geworden. So aber  waren wir vorbereitet fur das, was  uns
erwartete.
     Wir  zerbrachen nicht, wir  paßten uns  an; unsere zwanzig Jahre,
die uns manches andere  so schwer machten, halfen uns dabei.  Das Wichtigste
aber war, daß in uns ein festes, praktisches Zusammen
     gehurigkeitsgefuhl  erwachte,  das  sich  im  Felde   dann  zum  Besten
steigerte, was der Krieg hervorbrachte: zur Kameradschaft!

     Ich sitze  am Bette Kemmerichs. Er verfullt mehr  und mehr. Um  uns ist
viel  Radau.  Ein  Lazarettzug  ist  angekommen,  und  die  transportfuhigen
Verwundeten werden ausgesucht.  An Kemmerichs Bett geht der Arzt  vorbei, er
sieht ihn nicht einmal an.
     "Das nuchstemal, Franz", sage ich.
     Er  hebt  sich  in  den  Kissen  auf  die  Ellbogen.  "Sie  haben  mich
amputiert."
     Das weiß er also doch jetzt. Ich nicke und antworte:
     "Sei froh, daß du so weggekommen bist."
     Er schweigt.
     Ich rede weiter: "Es konnten auch beide Beine sein, Franz.  Wegeler hat
den rechten  Arm  verloren. Das ist viel  schlimmer.  Du kommst ja auch nach
Hause."
     Er sieht mich an. "Meinst du?"
     "Naturlich."
     Er wiederholt: "Meinst du?"
     "  Sicher,  Franz.  Du  mußt  dich nur  erst  von  der  Operation
erholen."
     Er winkt mir, heranzurucken. Ich beuge mich uber  ihn, und er flustert:
"Ich glaube es nicht."
     "Rede keinen  Quatsch,  Franz,  in ein paar Tagen wirst  du  es  selbst
einsehen.  Was ist das schon  groß: ein amputiertes  Bein; hier werden
ganz andere Sachen wieder zurechtgepflastert."
     Er hebt eine Hand hoch. "Sieh dir das mal an, diese Finger."
     "Das  kommt  von der Operation. Futtere nur ordentlich, dann  wirst  du
schon aufholen. Habt ihr anstundige Verpflegung?"
     Er  zeigt auf eine  Schussel,  die noch  halb  voll ist. Ich  gerate in
Erregung. "Franz,  du mußt essen. Essen ist die  Hauptsache.  Das  ist
doch ganz gut hier."
     Er  wehrt ab.  Nach  einer  Pause  sagt  er  langsam:  "Ich  wollte mal
Oberfurster werden."
     "Das kannst du noch immer", truste ich. "Es gibt jetzt großartige
Prothesen, du merkst  damit gar nicht, daß dir etwas fehlt. Sie werden
an die Muskeln angeschlossen.  Bei Handprothesen kann man die Finger bewegen
und  arbeiten,  sogar schreiben. Und außerdem wird  da immer noch mehr
erfunden werden."
     Er liegt  eine  Zeitlang  still.  Dann  sagt  er:  "  Du  kannst  meine
Schnurschuhe fur Muller mitnehmen.
     Ich nicke und denke nach, was ich ihm  Aufmunterndes sagen  kann. Seine
Lippen  sind weggewischt,  sein Mund  ist  grußer geworden,  die Zuhne
stechen hervor, als wuren sie aus Kreide. Das Fleisch zerschmilzt, die Stirn
wulbt sich sturker,  die Backenknochen stehen vor. Das Skelett arbeitet sich
durch. Die Augen versinken schon. In ein paar Stunden wird es vorbei sein.
     Er ist  nicht  der  erste, den  ich  so sehe;  aber wir  sind  zusammen
aufgewachsen, da ist es doch immer  etwas anders. Ich habe  die Aufsutze von
ihm  abgeschrieben. Er trug in  der Schule meistens einen braunen Anzug  mit
Gurtel, der an den urmeln blankgewetzt war. Auch war er der einzige von uns,
der die große Riesenwelle am Reck konnte. Das Haar  flog ihm wie Seide
ms Gesicht, wenn er sie  machte. Kantorek war  deshalb  stolz auf ihn.  Aber
Zigaretten  konnte  er nicht vertragen.  Seine Haut war sehr  weiß, er
hatte etwas von einem Mudchen.
     Ich blicke auf meine Stiefel. Sie sind groß  und klobig, die Hose
ist hineingeschoben; wenn man aufsteht, sieht man dick und kruftig in diesen
breiten Ruhren  aus. Aber wenn wir  baden gehen und uns ausziehen, haben wir
plutzlich  wieder schmale Beine und  schmale Schultern. Wir sind dann  keine
Soldaten  mehr,  sondern  beinahe Knaben,  man  wurde  auch  nicht  glauben,
daß wir Tornister schleppen kunnen. Es ist ein sonderbarer Augenblick,
wenn wir  nackt sind; dann  sind wir Zivilisten und fuhlen  uns auch beinahe
so.
     Franz Kemmerich sah beim Baden klein  und schmal aus wie  ein  Kind. Da
liegt  er  nun,  weshalb nur?  Man sollte  die  ganze  Welt an  diesem Bette
vorbeifuhren und sagen:  Das ist Franz Kemmerich, neunzehneinhalb Jahre alt,
er will nicht sterben. Laßt ihn nicht sterben!
     Meine Gedanken  gehen durcheinander.  Diese  Luft von Karbol  und Brand
verschleimt die Lungen, sie ist ein truger Brei, der erstickt.
     Es  wird dunkel.  Kemmerichs Gesicht  verbleicht, es  hebt sich von den
Kissen  und ist so blaß, daß es schimmert.  Der Mund bewegt sich
leise. Ich nuhere mich ihm. Er flustert: "Wenn ihr meine Uhr findet, schickt
sie nach Hause."
     Ich  widerspreche  nicht. Es hat keinen Zweck mehr. Man  kann ihn nicht
uberzeugen.  Mir  ist  elend   vor  Hilflosigkeit.  Diese  Stirn   mit   den
eingesunkenen Schlufen, dieser  Mund,  der nur  noch Gebiß ist,  diese
spitze Nase!  Und die  dicke weinende Frau  zu Hause,  an die ich  schreiben
muß. Wenn ich nur den Brief schon weg hutte.
     Lazarettgehilfen  gehen  herum  mit  Flaschen  und Eimern. Einer  kommt
heran, wirft Kemmerich einen forschenden Blick zu  und entfernt sich wieder.
Man sieht, daß er wartet, wahrscheinlich braucht er das Bett.
     Ich  rucke nahe an Franz heran und spreche,  als kunnte ihn das retten:
"Vielleicht kommst  du in das Erholungsheim am  Klosterberg, Franz, zwischen
den Villen. Du kannst dann vom Fenster aus uber die Felder sehen bis zu  den
beiden  Buumen am  Horizont. Es ist jetzt die  schunste Zeit, wenn  das Korn
reift, abends in der Sonne sehen die Felder dann aus wie Perlmutter. Und die
Pappelauee am Klosterbach, in  dem  wir Stichlinge gefangen haben! Du kannst
dir dann wieder ein Aquarium anlegen und Fische zuchten,  du kannst ausgehen
und  brauchst niemand  zu fragen, und Klavierspielen kannst  du  sogar auch,
wenn du willst."
     Ich beuge mich uber sein Gesicht, das im Schatten liegt. Er atmet noch,
leise. Sein Gesicht ist naß,  er weint. Da habe ich ja  schunen Unsinn
angerichtet mit meinem dummen Gerede!
     "Aber  Franz"  - ich  umfasse seine Schulter und  lege mein  Gesicht an
seins. "Willst du jetzt schlafen?"
     Er antwortet nicht. Die  Trunen  laufen ihm  die  Backen  herunter. Ich
muchte sie abwischen, aber mein Taschentuch ist zu schmutzig.
     Eine  Stunde vergeht.  Ich  sitze gespannt  und  beobachte jede  seiner
Mienen,  ob er vielleicht  noch etwas  sagen muchte. Wenn  er  doch den Mund
auftun und schreien wollte! Aber  er weint nur, den Kopf zur  Seite gewandt.
Er spricht nicht von seiner Mutter und seinen  Geschwistern, er sagt nichts,
es liegt wohl schon hinter ihm; - er ist
     jetzt allein  mit seinem kleinen neunzehnjuhrigen Leben und weint, weil
es ihn verlußt.
     Dies ist der fassungsloseste und schwerste Abschied, den ich je gesehen
habe, obwohl es beiTiedjen auch schlimm war, der nach seiner Mutter brullte,
ein  burenstarker Kerl, und  der den Arzt mit aufgerissenen Augen  angstvoll
mit einem Seitengewehr von seinem Bett fernhielt, bis er zusammenklappte.
     Plutzlich stuhnt Kemmerich und fungt an zu rucheln.
     Ich  springe auf, stolpere  hinaus und frage: "Wo ist der  Arzt? Wo ist
der Arzt?"
     Als  ich den weißen Kittel sehe, halte ich ihn  fest. "Kommen Sie
rasch, Franz Kemmerich stirbt sonst."
     Er macht sich los und fragt einen dabeistehenden Lazarettgehilfen: "Was
soll das heißen?"
     Der sagt: "Bett 26, Oberschenkel amputiert."
     Er  schnauzt: "Wie soll ich davon  etwas wissen, ich  habe  heute  funf
Beine amputiert",  schiebt mich weg, sagt dem Lazarettgehilfen:  "Sehen  Sie
nach", und rennt zum Operationssaal.
     Ich bebe vor Wut, als ich mit  dem  Sanituter gehe. Der Mann sieht mich
an und sagt: "Eine Operation nach der andern, seit morgens  funf Uhr - doll,
sage  ich  dir,  heute allein  wieder sechzehn  Abgunge  -  deiner  ist  der
siebzehnte. Zwanzig werden sicher noch voll -"
     Mir  wird schwach,  ich kann plutzlich nicht mehr. Ich will  nicht mehr
schimpfen, es  ist sinnlos,  ich muchte  mich fallen lassen und  nie  wieder
aufstehen.
     Wir  sind am  Bette  Kemmerichs.  Er  ist  tot.  Das Gesicht  ist  noch
naß  von den  Trunen. Die Augen stehen halb  offen, sie sind  gelb wie
alte Hornknupfe. -
     Der Sanituter stußt mich in die Rippen.
     "Nimmst du seine Sachen mit?"
     Ich nicke.
     Er  fuhrt  fort: "Wir mussen  ihn gleich wegbringen,  wir brauchen  das
Bett. Draußen liegen sie schon auf dem Flur."
     Ich nehme die Sachen  und knupfe Kemmerich die Erkennungsmarke ab.  Der
Sanituter fragt nach dem Soldbuch. Es ist nicht da.
     Ich sage, daß es wohl auf der Schreibstube sein musse,  und gehe.
Hinter mir zerren sie Franz schon auf eine Zeltbahn.
     Vor der Tur  fuhle ich  wie eine Erlusung das  Dunkel und den Wind. Ich
atme, so sehr  ich  es  vermag, und spure die Luft warm und weich wie nie in
meinem  Gesicht. Gedanken  an  Mudchen, an  bluhende  Wiesen, an weiße
Wolken  fliegen mir plutzlich durch den Kopf.  Meine Fuße bewegen sich
in den Stiefeln vorwurts, ich gehe schneller, ich  laufe. Soldaten kommen an
mir voruber,  ihre Gespruche erregen mich, ohne daß ich  sie verstehe.
Die Erde  ist von Kruften durchflossen, die  durch meine Fußsohlen  in
mich uberstrumen. Die Nacht  knistert elektrisch, die Front gewittert  dumpf
wie  ein  Trommelkonzert. Meine  Glieder bewegen sich geschmeidig, ich fuhle
meine Gelenke  stark, ich schnaufe und schnaube. Die Nacht lebt,  ich  lebe.
Ich spure Hunger, einen grußeren als nur vom Magen. -
     Muller  steht  vor  der Baracke  und  erwartet mich.  Ich gebe  ihm die
Schuhe. Wir gehen hinein, und er probiert sie an. Sie passen genau. -
     Er  kramt  in   seinen  Vorruten  und  bietet  mir  ein  schunes  Stuck
Zervelatwurst an. Dazu gibt es heißen Tee mit Rum.



     Wir  bekommen Ersatz. Die Lucken werden  ausgefullt, und die Strohsucke
in den Baracken sind  bald belegt.  Zum Teil sind es  alte Leute, aber  auch
funfundzwanzig  Mann  junger  Ersatz aus  den  Feldrekrutendepots werden uns
uberwiesen. Sie sind fast  ein Jahr  junger  als wir. Kropp stußt mich
an: "Hast du die Kinder gesehen?"
     Ich nicke.  Wir  werfen  uns  in  die  Brust, lassen  uns  auf dem  Hof
rasieren, stecken die Hunde  in die Hosentaschen, sehen uns  die Rekruten an
und fuhlen uns als steinaltes Militur.
     Katczinsky  schließt   sich  uns   an.  Wir   wandern  durch  die
Pferdestulle und kommen zu den Ersatzleuten, die gerade Gasmasken und Kaffee
empfangen.  Kat   fragt   einen  der   jungsten:  "Habt  wohl  lange  nichts
Vernunftiges zu futtern gekriegt, was?"
     Der   verzieht  das   Gesicht.   "Morgens   Steckrubenbrot   -  mittags
Steckrubengemuse, abends Steckrubenkoteletts und Steckrubensalat."
     Katczinsky pfeift fachmunnisch. "Brot aus Steckruben? Da habt ihr Gluck
gehabt, sie machen  es  auch  schon aus  Sugespunen.  Aber  was meinst du zu
weißen Bohnen, willst du einen Schlag haben?"
     Der Junge wird rot. "Verkohlen brauchst du mich nicht."
     Katczinsky antwortet nichts als: "Nimm dein Kochgeschirr."
     Wir  folgen neugierig.  Er  fuhrt  uns  zu  einer  Tonne  neben  seinem
Strohsack.  Sie  ist   tatsuchlich   halb   voll  weißer  Bohnen   mit
Rindfleisch. Katczinsky steht vor  ihr wie  ein General und sagt: "Auge auf,
Finger lang! Das ist die Parole bei den Preußen."
     Wir sind uberrascht. Ich frage: "Meine Fresse,  Kat, wie kommst du denn
dazu?"
     "Die  Tomate war  froh,  als  ich  ihr's abnahm.  Ich  habe  drei Stuck
Fallschirmseide  dafur gegeben. Na, weiße  Bohnen schmecken kalt  doch
tadellos."
     Er gibt gunnerhaft dem  Jungen eine Portion auf und sagt: "Wenn du  das
nuchstemal  hier  antrittst mit  deinem Kochgeschirr, hast du  in der linken
Hand eine Zigarre oder einen Priem. Verstanden?"
     Dann wendet er sich zu uns. "Ihr kriegt naturlich so."

     Katczinsky ist nicht zu entbehren, weil er einen sechsten Sinn hat.  Es
gibt uberall  solche  Leute,  aber niemand sieht  ihnen  von  vornherein an,
daß es so ist. Jede Kompanie hat einen oder zwei davon. Katczinsky ist
der gerissenste, den ich kenne. Von Beruf ist er, glaube ich, Schuster, aber
das tut  nichts zur Sache, er versteht jedes Handwerk. Es ist  gut, mit  ihm
befreundet  zu sein.  Wir sind  es, Kropp und  ich, auch Haie Westhus gehurt
halb und halb dazu. Er ist allerdings schon mehr ausfuhrendes Organ, denn er
arbeitet  unter dem Kommando  Kats, wenn eine Sache geschmissen wird, zu der
man Fuuste braucht. Dafur hat er dann seine Vorteile.
     Wir kommen  zum Beispiel nachts  in  einen vullig  unbekannten Ort, ein
trubseliges Nest,  dem  man gleich ansieht, daß es ausgepowert ist bis
auf die  Mauern.  Quartier  ist  eine kleine, dunkle Fabrik,  die erst  dazu
eingerichtet worden ist. Es  stehen Betten darin, vielmehr  nur Bettstellen,
ein paar Holzlatten, die mit Drahtgeflecht bespannt sind.
     Drahtgeflecht ist hart. Eine Decke zum Unterlegen haben wir  nicht, wir
brauchen unsere zum Zudecken. Die Zeltbahn ist zu dunn.
     Kat sieht sich  die Sache an und sagt  zu Haie Westhus: "Komm mal mit."
Sie gehen  los,  in den vullig  unbekannten Ort hinein.  Eine  halbe  Stunde
sputer  sind sie  wieder  da,  die  Arme  hoch  voll  Stroh. Kat  hat  einen
Pferdestall  gefunden  und damit das Stroh. Wir kunnten jetzt warm schlafen,
wenn wir nicht noch einen so entsetzlichen Kohldampf hutten.
     Kropp  fragt einen Artilleristen, der  schon lunger in der  Gegend ist:
"Gibt es hier irgendwo eine Kantine?"
     Der lacht: "Hat  sich was! Hier ist  nichts zu holen.  Keine  Brotrinde
holst du hier."
     "Sind denn keine Einwohner mehr da?"
     Er spuckt  aus.  "Doch,  ein  paar. Aber  die  lungern selbst  um jeden
Kuchenkessel herum und betteln."
     Das ist eine buse Sache. Dann mussen  wir eben den Schmachtriemen enger
schnallen und bis morgen warten, wenn die Furage kommt.
     Ich sehe jedoch, wie Kat seine Mutze aufsetzt, und frage: "Wo willst du
hin, Kat?"
     "Mal etwas die Lage spannen." Er schlendert hinaus.
     Der Artillerist grinst huhnisch. "Spann man! Verheb dich nicht dabei."
     Enttuuscht  legen  wir  uns  hin  und  uberlegen,  ob  wir die eisernen
Portionen anknabbern sollen. Aber es  ist  uns zu  riskant. So versuchen wir
ein Auge voll Schlaf zu nehmen.
     Kropp  bricht eine  Zigarette  durch und  gibt mir  die Hulfte.  Tjaden
erzuhlt  von  seinem  Nationalgericht,  großen  Bohnen  mit  Speck. Er
verdammt  die  Zubereitung  ohne Bohnenkraut.  Vor allem aber soll man alles
durcheinander  kochen, um Gottes willen nicht die Kartoffeln, die Bohnen und
den  Speck  getrennt.  Jemand  knurrte, daß er Tjaden  zu  Bohnenkraut
verarbeiten wurde, wenn er nicht sofort still wure.  Darauf wird es ruhig in
dem großen  Raum. Nur ein paar Kerzen flackern in  den Flaschenhulsen,
und ab und zu spuckt der Artillerist aus.
     Wir duseln ein bißchen,  als die Tur aufgeht und  Kat  erscheint.
Ich glaube zu truumen: er hat zwei Brote unter dem Arm und in der Hand einen
blutigen Sandsack mit Pferdefleisch.
     Dem Artilleristen fullt die Pfeife aus dem Munde. Er betastet das Brot.
"Tatsuchlich, richtiges Brot, und noch warm."
     Kat redet  nicht weiter daruber. Er hat eben Brot, das andere ist egal.
Ich bin uberzeugt,  wenn man ihn  in der Wuste aussetzte, wurde  er in einer
Stunde ein Abendessen aus Datteln, Braten und Wein zusammenfinden.
     Er sagt kurz zu Haie: "Hack Holz."
     Dann holt er eine Bratpfanne unter  seinem Rock hervor  und  zieht eine
Handvoll Salz  und sogar eine Scheibe Fett aus der Tasche; - er hat an alles
gedacht. Haie macht auf dem Fußboden ein Feuer.  Es prasselt durch die
kahle Fabrikhalle. Wir klettern aus den Betten.
     Der  Artillerist  schwankt.  Er  uberlegt,  ob  er  loben  soll,  damit
vielleicht auch etwas fur ihn abfullt. Aber Katczinsky  sieht ihn gar nicht,
so sehr ist er Luft fur ihn. Da zieht er fluchend ab.
     Kat kennt die Art, Pferdefleisch weichzubraten. Es darf nicht gleich in
die  Pfanne,  dann  wird  es  hart.  Vorher  muß  es in  wenig  Wasser
vorgekocht werden. Wir  hocken uns mit  unsern Messern im Kreis und schlagen
uns den Magen voll.
     Das ist Kat. Wenn in  einem Jahr in  einer  Gegend nur eine Stunde lang
etwas  Eßbares aufzutreiben  wure, so wurde er genau in dieser Stunde,
wie von einer Erleuchtung  getrieben, seine  Mutze  aufsetzen,  hinausgehen,
geradewegs wie nach einem Kompaß darauf zu, und es finden.
     Er  findet  alles; - wenn es kalt  ist, kleine  Ofen und Holz, Heu  und
Stroh, Tische, Stuhle  - vor  allem  aber  Fressen.  Es ist  rutselhaft, man
sollte glauben, er zaubere es aus der Luft. Seine  Glanzleistung  waren vier
Dosen Hummer. Allerdings hutten wir lieber Schmalz dafur gehabt.

     Wir  haben uns auf der  Sonnenseite der  Baracken hingehauen. Es riecht
nach Teer, Sommer und Schweißfußen.
     Kat  sitzt  neben  mir,  denn er unterhult sich  gern.  Wir haben heute
mittag   eine  Stunde  Ehrenbezeigungen  geubt,  weil   Tjaden  einen  Major
nachlussig  gegrußt  hat.  Das  will  Kat   nicht  aus  dem  Kopf.  Er
uußert:  "Paß  auf,  wir  verlieren den Krieg,  weil  wir zu gut
grußen kunnen."
     Kropp  storcht nuher,  barfuß, die Hosen aufgekrempelt.  Er  legt
seine gewaschenen Socken zum  Trocknen aufs Gras. Kat sieht  in den  Himmel,
lußt  einen  kruftigen  Laut huren und  sagt  versonnen  dazu:  "Jedes
Buhnchen gibt ein Tunchen."
     Die beiden  fangen an zu  disputieren. Gleichzeitig wetten sie um  eine
Flasche Bier auf einen Fliegerkampf, der sich uber uns abspielt.
     Kat lußt  sich  nicht von  seiner Meinung abbringen, die  er  als
altes  Frontschwein  wieder  in  Reimen  von sich  gibt:  "Gleiche  Luhnung,
gleiches Essen, war'der Krieg schon lungst vergessen." -
     Kropp  dagegen ist  ein Denker. Er  schlugt  vor,  eine Kriegserklurung
solle  eine  Art Volksfest  werden mit  Eintrittskarten  und Musik  wie  bei
Stiergefechten. Dann mußten in der Arena die Minister und Generule der
beiden  Lunder in  Badehosen, mit Knuppeln bewaffnet,  aufeinander losgehen.
Wer ubrigbliebe, dessen  Land  hutte gesiegt. Das  wure einfacher und besser
als hier, wo die falschen Leute sich bekumpfen.
     Der Vorschlag gefullt.  Dann gleitet das Gespruch auf den Kasernendrill
uber.
     Mir fullt dabei ein Bild ein. Gluhender Mittag auf dem Kasernenhof. Die
Hitze  steht  uber dem  Platz. Die Kasernen  wirken  wie ausgestorben. Alles
schluft. Man hurt nur Trommler uben, irgendwo haben sie sich aufgestellt und
uben,   ungeschickt,   eintunig,   stumpfsinnig.   Welch    ein   Dreiklang:
Mittagshitze, Kasernenhof und Trommeluben!
     Die  Fenster  der  Kaserne  sind  leer und  dunkel. Aus  einigen hungen
trocknende Drillichhosen.  Man sieht  sehnsuchtig  hinuber. Die Stuben  sind
kuhl. -
     Oh,  ihr  dunklen,  muffigen  Korporalschaftsstuben  mit  den  eisernen
Bettgestellen, den  gewurfelten Betten, den Spindschrunken und den  Schemeln
davor! Selbst ihr  kunnt das  Ziel von Wunschen  werden; hier  draußen
seid ihr sogar ein  sagenhafter Abglanz  von  Heimat, ihr Gelasse voll Dunst
von abgestandenen Speisen, Schlaf, Rauch und Kleidern!
     Katczinsky beschreibt sie mit Farbenpracht  und  großer Bewegung.
Was wurden wir geben, wenn wir  zu  ihnen zuruck kunnten! Denn  weiter wagen
sich unsre Gedanken schon gar nicht -
     Ihr Instruktionsstunden in der Morgenfruhe - "Worin zerfullt das Gewehr
98?" - ihr  Turnstunden  am Nachmittag -  "Klavierspieler vortreten.  Rechts
heraus. Meldet euch in der Kuche zum Kartoffelschulen" -
     Wir  schwelgen in Erinnerungen.  Kropp lacht  plutzlich  und sagt:  "In
Luhne umsteigen."
     Das  war   das   liebste   Spiel   unseres  Korporals.  Luhne  ist  ein
Umsteigebahnhof. Damit  unsre Urlauber sich  dort  nicht  verlaufen sollten,
ubte  Himmelstoß  das  Umsteigen  mit  uns in  der Kasernenstube.  Wir
sollten  lernen,  daß  man  in   Luhne  durch  eine  Unterfuhrung  zum
Anschlußzug  gelangte. Die  Betten stellten die Unterfuhrung  dar, und
jeder  baute  sich  links davon  auf.  Dann  kam  das  Kommando:  "In  Luhne
umsteigen!", und wie der Blitz kroch alles unter den Betten hindurch auf die
andere Seite. Das haben wir stundenlang geubt. -
     Inzwischen ist das deutsche Flugzeug abgeschossen worden. Wie ein Komet
sturzt es in einer Rauchfahne abwurts.  Kropp hat  dadurch eine Flasche Bier
verloren und zuhlt mißmutig sein Geld.
     "Der  Himmelstoß  ist als  Brieftruger  sicher  ein  bescheidener
Mann", sagte ich, nachdem sich Alberts Enttuuschung gelegt  hat, "wie mag es
nur kommen, daß er als Unteroffizier ein solcher Schinder ist?"
     Die Frage macht Kropp wieder mobil. "Das ist nicht nur Himmelstoß
allein,  das  sind sehr viele. Sowie  sie  Tressen  oder einen Subel  haben,
werden sie andere Menschen, als ob sie Beton gefressen hutten."
     "Das macht die Uniform", vermute ich.
     "So  ungefuhr", sagt  Kat  und  setzt sich zu einer  großen  Rede
zurecht, "aber der Grund liegt anderswo. Sieh  mal, wenn du einen  Hund  zum
Kartoffelfressen  abrichtest und du legst ihm dann nachher ein Stuck Fleisch
hin,  so wird er trotzdem  danach schnappen, weil das in seiner Natur liegt.
Und  wenn du einem Menschen ein  Stuckchen  Macht  gibst, dann  geht  es ihm
ebenso; er  schnappt danach.  Das kommt ganz von selber, denn der Mensch ist
an und  fur sich  zunuchst einmal ein  Biest, und dann  erst ist  vielleicht
noch, wie bei einer Schmalzstulle, etwas Anstundigkeit draufgeschmiert.  Der
Kommiß besteht nun  darin, daß immer einer uber den andern Macht
hat. Das  Schlimme  ist  nur,  daß jeder viel  zuviel  Macht hat;  ein
Unteroffizier  kann  einen  Gemeinen, ein Leutnant einen  Unteroffizier, ein
Hauptmann  einen Leutnant derartig zwiebeln, daß er verruckt wird. Und
weil er das  weiß, deshalb gewuhnt er  es sich gleich schon etwas  an.
Nimm  nur  die  einfachste  Sache:  wir kommen  vom Exerzierplatz  und  sind
hundemude. Da  wird befohlen: Singen! Na, es wird ein schlapper Gesang, denn
jeder ist  froh,  daß  er sein  Gewehr noch schleppen  kann. Und schon
macht  die Kompanie  kehrt  und muß eine  Stunde strafexerzieren. Beim
Ruckmarsch heißt  es  wieder:  ┌Singen!', und jetzt wird gesungen. Was
hat   das  Ganze  fur  einen  Zweck?  Der  Kompaniefuhrer  hat  seinen  Kopf
durchgesetzt,  weil er die Macht  dazu  hat.  Niemand  wird  ihn tadeln,  im
Gegenteil, er gilt als stramm. Dabei ist  so  etwas nur eine Kleinigkeit, es
gibt  doch noch ganz andere Sachen, womit sie einen schinden. Nun  frage ich
euch: Mag der Mann in Zivil sein, was er will, in welchem Beruf kann er sich
so etwas leisten, ohne  daß ihm die Schnauze eingeschlagen  wird ? Das
kann er nur  beim Kommiß! Seht ihr, und das steigt  jedem zu Kopf! Und
es steigt ihm um  so  mehr  zu Kopf, je  weniger er als  Zivilist  zu  sagen
hatte."
     "Es  heißt  eben,  Disziplin  muß  sein   -",  meint  Kropp
nachlussig.
     " Grunde", knurrt Kat, "haben sie immer. Mag ja auch sein. Aber es darf
keine Schikane werden. Und mach du das mal  einem Schlosser oder Knecht oder
Arbeiter klar, erklure das mal einem Muskoten, und das sind doch die meisten
hier; der sieht nur, daß er geschunden wird und ins Feld kommt, und er
weiß  ganz  genau,  was  notwendig  ist und was nicht. Ich  sage euch,
daß  der einfache Soldat  hier  vorn so aushult,  das  ist  allerhand!
Allerhand ist das!"
     Jeder   gibt  es   zu,   denn   jeder   weiß,  daß  nur  im
Schutzengraben der Drill aufhurt,  daß er aber wenige Kilometer hinter
der Front schon wieder beginnt, und sei es mit dem grußten Unsinn, mit
Grußen  und Parademarsch.  Denn  es  ist  eisernes Gesetz: Der  Soldat
muß auf jeden Fall beschuftigt werden.
     Doch nun  erscheint Tjaden, mit roten  Flecken  im Gesicht.  Er  ist so
aufgeregt,    daß    er   stottert.    Strahlend    buchstabiert   er:
"Himmelstoß ist unterwegs nach hier. Er kommt an die Front."

     Tjaden  hat  eine  Hauptwut  auf  Himmelstoß,  weil  der  ihn  im
Barackenlager auf seine  Weise  erzogen hat. Tjaden  ist  Bettnusser, nachts
beim Schlafen  passiert  es ihm eben.  Himmelstoß  behauptet steif und
fest, es sei nur Faulheit, und er fand ein seiner wurdiges Mittel, um Tjaden
zu  heilen. Er  trieb  in der benachbarten Baracke  einen zweiten Bettnusser
auf, der Kindervater hieß. Den quartierte er mit  Tjaden zusammen.  In
den Baracken  standen die  typischen Bettgestelle, zwei Betten ubereinander,
die Bettbuden  aus  Draht.  Himmelstoß  legte  beide nun  so zusammen,
daß der  eine  das  obere,  der  andere das  darunter befindliche Bett
bekam. Der untere war dadurch naturlich scheußlich  daran. Dafur wurde
am nuchsten Abend gewechselt, der untere kam nach oben, damit er  Vergeltung
hatte. Das war Himmelstoß' Selbsterziehung.
     Der Einfall war gemein, aber in der Idee  gut. Leider nutzte er nichts,
weil die Voraussetzung nicht stimmte: es war keine Faulheit bei  den beiden.
Das konnte  jeder merken, der ihre fahle Haut ansah. Die Sache endete damit,
daß immer einer  von  beiden auf  dem Fußboden schlief. Er hutte
sich leicht dabei erkulten kunnen. -
     Haie hat sich inzwischen auch neben uns niedergelassen. Er blinzelt mir
zu und reibt anduchtig  seine Tatze. Wir haben  zusammen den  schunsten  Tag
unseres  Kommißlebens erlebt. Das  war der  Abend, bevor wir  ins Feld
fuhren. Wir waren einem  der Regimenter mit  der hohen Hausnummer zugeteilt,
vorher  aber  zur  Einkleidung   in  die  Garnison  zuruckbefurdert  worden,
allerdings  nicht  zum  Rekrutendepot,  sondern in  eine andere  Kaserne. Am
nuchsten Morgen  fruh  sollten wir  abfahren. Abends machten wir uns auf, um
mit Himmelstoß abzurechnen. Das hatten wir uns seit Wochen geschworen.
Kropp war  sogar so weit gegangen, daß er  sich vorgenommen  hatte, im
Frieden das Postfach einzuschlagen, um sputer, wenn Himmelstoß  wieder
Brieftruger  war, sein  Vorgesetzter zu werden. Er schwelgte in Bildern, wie
er  ihn schleifen  wurde. Denn  das  war  es  gerade,  weshalb  er uns nicht
kleinkriegen  konnte; wir  rechneten  stets damit,  daß wir ihn  schon
einmal schnappen wurden, sputestens am Kriegsende.
     Einstweilen wollten wir ihn grundlich  verhauen.  Was konnte  uns schon
passieren, wenn er uns nicht erkannte und wir ohnehin morgen fruh abfuhren.
     Wir wußten, in  welcher Kneipe er jeden Abend saß.  Wenn er
von  dort  zur  Kaserne ging, mußte  er  durch eine  dunkle, unbebaute
Straße. Dort lauerten wir ihm hinter einem Steinhaufen  auf. Ich hatte
einen Bettuberzug bei mir. Wir zitterten  vor Erwartung, ob  er auch  allein
sein  wurde. Endlich hurten  wir  seinen Schritt, den kannten wir genau, wir
hatten ihn oft  genug morgens gehurt, wenn die Tur aufflog  und "Aufstehen!"
gebrullt wurde.
     "Allein?" flusterte Kropp.
     "Allein!" - Ich schlich mit Tjaden um den Steinhaufen herum.
     Da blitzte schon sein Koppelschloß. Himmelstoß schien etwas
angeheitert zu sein; er sang. Ahnungslos ging er voruber.
     Wir faßten das Bettuch, machten  einen leisen Satz,  stulpten  es
ihm von hinten  uber den Kopf, rissen es  nach unten, so daß er wie in
einem weißen Sack dastand und die Arme nicht heben  konnte. Das Singen
erstarb.
     Im nuchsten Moment  war  Haie Westhus heran. Mit  ausgebreiteten  Armen
warf  er  uns  zuruck,  um  nur  ja der  erste  zu  sein.  Er  stellte  sich
genußreich in Positur,  hob den Arm wie einen Signalmast, die Hand wie
eine Kohlenschaufel und knallte einen Schlag auf  den weißen Sack, der
einen Ochsen hutte tuten kunnen.
     Himmelstoß uberschlug sich, landete funf Meter weiter und fing an
zu brullen. Auch dafur hatten  wir  gesorgt, denn wir hatten  ein Kissen bei
uns.  Haie  hockte  sich  hin,  legte  das  Kissen  auf  die   Knie,  packte
Himmelstoß da, wo der Kopf war, und druckte ihn auf das Kissen. Sofort
wurde er  im  Ton  gedumpfter. Haie  ließ  ihn  ab  und  zu  mal  Luft
schnappen,  dann kam aus dem Gurgeln  ein prachtvoller  heller  Schrei,  der
gleich wieder zart wurde.
     Tjaden knupfte jetzt Himmelstoß  die Hosentruger ab und  zog  ihm
die  Hose  herunter. Die  Klopfpeitsche  hielt er dabei mit den Zuhnen fest.
Dann erhob er sich und begann sich zu bewegen.
     Es war ein wunderbares Bild: Himmelstoß  auf der  Erde, uber  ihn
gebeugt, seinen Kopf auf  den  Knien,  Haie mit teuflisch grinsendem Gesicht
und vor Lust offenem Maul, dann  die zuckende, gestreifte Unterhose mit  den
X-Beinen,  die   in  der  heruntergeschobenen  Hose  bei  jedem  Schlag  die
originellsten  Bewegungen  machten,  und  daruber  wie  ein  Holzhacker  der
unermudliche  Tjaden.  Wir   mußten   ihn  schließlich  geradezu
wegreißen, um auch noch an die Reihe zu kommen.
     Endlich stellte Haie Himmelstoß wieder auf die Beine und  gab als
Schluß eine Privatvorstellung. Er schien Sterne pflucken zu wollen, so
holte seine Rechte aus zu einer Backpfeife. Himmelstoß kippte um. Haie
hob ihn wieder  auf, stellte  ihn  sich parat  und langte  ihm ein  zweites,
erstklassig gezieltes Ding  mit der linken Hand. Himmelstoß heulte und
fluchtete auf allen vieren. Sein gestreifter Brieftrugerhintern leuchtete im
Mond.
     Wir verschwanden im Galopp.
     Haie  sah sich noch einmal um und sagte ingrimmig,  gesuttigt und etwas
rutselhaft: "Rache ist Blutwurst." -
     Eigentlich konnte Himmelstoß froh sein; denn sein Wort, daß
immer einer den andern erziehen musse, hatte an ihm selbst Fruchte getragen.
Wir waren gelehrige Schuler seiner Methoden geworden.
     Er hat nie heraus gekriegt, wem er die Sache verdankte. Immerhin gewann
er  dabei ein  Bettuch;  denn  als  wir einige  Stunden  sputer  noch einmal
nachsahen, war es nicht mehr zu finden.
     Dieser  Abend   war  der   Grund,  daß  wir  am  nuchsten  Morgen
einigermaßen  gefaßt abfuhren. Ein wehender Vollbart bezeichnete
uns deshalb ganz geruhrt als Heldenjugend.



     Wir  mussen  nach vorn  zum  Schanzen.  Beim  Dunkelwerden  rollen  die
Lastwagen  an. Wir  klettern  hinauf.  Es ist  ein  warmer  Abend,  und  die
Dummerung  erscheint uns  wie ein  Tuch,  unter dessen Schutz  wir uns  wohl
fuhlen.  Sie  verbindet  uns;  sogar der  geizige Tjaden  schenkt  mir  eine
Zigarette und gibt mir Feuer.
     Wir stehen nebeneinander, dicht an dicht, sitzen kann niemand. Das sind
wir auch nicht gewuhnt.  Muller ist endlich mal guter  Laune; er trugt seine
neuen Stiefel.
     Die  Motoren  brummen   an,  die   Wagen  klappern  und   rasseln.  Die
Straßen sind ausgefahren und voller Lucher. Es darf kein Licht gemacht
werden,  deshalb  rumpeln wir  hinein,  daß  wir  fast aus  dem  Wagen
purzeln.  Das beunruhigt uns  nicht weiter.  Was  kann  schon passieren; ein
gebrochener  Arm ist besser als ein Loch im Bauch,  und mancher wunscht sich
geradezu eine solch gute Gelegenheit, nach Hause zu kommen.
     Neben  uns  fahren in langer Reihe die Munitionskolonnen. Sie  haben es
eilig,  uberholen  uns  fortwuhrend.  Wir  rufen ihnen  Witze  zu,  und  sie
antworten.
     Eine Mauer wird sichtbar, sie gehurt  zu  einem Hause,  das abseits der
Straße liegt. Ich spitze plutzlich die Ohren. Tuusche ich mich? Wieder
hure ich deutlich  Gunsegeschnatter. Ein Blick zu Katczinsky - ein Blick von
ihm zuruck; wir verstehen uns.
     "Kat, ich hure da einen Kochgeschirraspiranten -"
     Er nickt.  "Wird gemacht, wenn wir zuruck  sind.  Ich  weiß  hier
Bescheid."
     Naturlich weiß Kat Bescheid. Er kennt bestimmt jedes Gunsebein in
zwanzig Kilometer Umkreis.
     Die Wagen erreichen  das Gebiet der Artillerie. Die Geschutzstunde sind
gegen Fliegersicht mit  Buschen  verkleidet, wie  zu einer Art militurischem
Laubhuttenfest.  Diese  Lauben  suhen lustig  und  friedlich aus, wenn  ihre
Insassen keine Kanonen wuren.
     Die Luft wird  diesig  von  Geschutzrauch und Nebel. Man  schmeckt  den
Pulverqualm bitter auf  der  Zunge. Die Abschusse  krachen, daß  unser
Wagen  bebt,  das  Echo  rollt  tosend  hinterher,  alles  schwankt.  Unsere
Gesichter verundern sich unmerklich. Wir  brauchen zwar nicht in die Gruben,
sondern nur zum Schanzen, aber in - jedem Gesicht steht jetzt: hier ist  die
Front,  wir sind in ihrem Bereich. Es ist  das noch keine  Angst. Wer so oft
nach vorn gefahren ist wie wir, der wird dickfellig. Nur die jungen Rekruten
sind  aufgeregt.  Kat belehrt  sie:  "Das  war  ein  30,5.  Ihr hurt  es  am
Abschuß; - gleich kommt der Einschlag."
     Aber der dumpfe Hall  der Einschluge  dringt nicht heruber. Er ertrinkt
im Gemurmel der Front. Kat horcht hinaus: "Die Nacht gibt es Kattun."
     Wir horchen alle. Die Front ist unruhig. Kropp sagt:
     "Die Tommys schießen schon."
     Die Abschusse sind deutlich zu huren. Es sind die englischen Batterien,
rechts von  unserm Abschnitt. Sie beginnen  eine  Stunde zu  fruh.  Bei  uns
fingen sie immer erst Punkt zehn Uhr an.
     "Was fullt denn denen ein", ruft Muller, "ihre Uhren gehen wohl vor."
     "Es gibt Kattun, sag ich euch, ich  spure es in den Knochen." Kat zieht
die Schultern hoch.
     Neben  uns druhnen drei Abschusse. Der Feuerstrahl schießt schrug
in den Nebel, die Geschutze brummen und rumoren. Wir frusteln und sind froh,
daß wir morgen fruh wieder in den Baracken sein werden.
     Unsere Gesichter sind nicht blasser und nicht ruter als sonst; sie sind
auch nicht gespannter  oder schlaffer, und doch sind sie anders. Wir fuhlen,
daß in  unserm  Blut  ein  Kontakt  angeknipst  ist.  Das  sind  keine
Redensarten;  es  ist Tatsache. Die Front ist  es,  das Bewußtsein der
Front,  das diesen Kontakt  auslust. Im Augenblick, wo die  ersten  Granaten
pfeifen,  wo die Luft unter den Abschussen zerreißt,  ist plutzlich in
unsern Adern, unsern  Hunden, unsern Augen ein geducktes Warten, ein Lauern,
ein  sturkeres  Wachsein,  eine  sonderbare Geschmeidigkeit  der  Sinne. Der
Kurper ist mit einem Schlage in voller Bereitschaft.
     Oft ist es mir, als wure es die erschutterte, vibrierende Luft, die mit
lautlosem Schwingen auf uns uberspringt; oder als wure  es die Front selbst,
von  der  eine   Elektrizitut  ausstrahlt,  die   unbekannte   Nervenspitzen
mobilisiert.
     Jedesmal  ist  es  dasselbe: wir  fahren  ab  und sind  murrische  oder
gutgelaunte Soldaten; -  dann  kommen die  ersten Geschutzstunde, und  jedes
Wort unserer Gespruche hat einen verunderten Klang. -
     Wenn Kat vor den  Baracken steht und  sagt: "Es gibt Kattun  -", so ist
das eben seine Meinung, fertig; - wenn er es aber hier sagt, so hat der Satz
eine Schurfe wie ein Bajonett nachts im Mond,  er schneidet  glatt durch die
Gedanken,  er ist nuher und spricht zu diesem  Unbewußten, das  in uns
aufgewacht ist, mit einer  dunklen Bedeutung, "es gibt Kattun" -. Vielleicht
ist  es unser  innerstes  und geheimstes Leben,  das erzittert und sich  zur
Abwehr erhebt.

     Fur  mich  ist  die Front ein unheimlicher Strudel.  Wenn man noch weit
entfernt von  seinem  Zentrum  im  ruhigen Wasser  ist,  fuhlt man schon die
Saugkraft,  die  einen  an  sich  zieht,  langsam,  unentrinnbar,  ohne viel
Widerstand. Aus der Erde, aus  der Luft aber  strumen uns Abwehrkrufte zu, -
am meisten  von  der  Erde.  Fur niemand ist die Erde so  viel  wie fur  den
Soldaten. Wenn er sich an sie preßt, lange, heftig, wenn er  sich tief
mit dem  Gesicht und den  Gliedern in sie hineinwuhlt in  der Todesangst des
Feuers,  dann ist sie  sein  einziger Freund, sein Bruder, seine Mutter,  er
stuhnt   seine  Furcht  und   seine   Schreie  in  ihr  Schweigen  und  ihre
Geborgenheit,  sie nimmt sie auf und  entlußt ihn wieder zu neuen zehn
Sekunden Lauf und Leben, faßt ihn wieder, und manchmal fur immer.
     Erde - Erde - Erde -!
     Erde, mit deinen  Bodenfalten und Luchern und Vertiefungen, in die  man
sich hineinwerfen,  hineinkauern  kann!  Erde,  du gabst uns  im Krampf  des
Grauens, im Aufspritzen der Vernichtung, im Todesbrullen der Explosionen die
ungeheure  Widerwelle  gewonnenen  Lebens!  Der  irre Sturm fast  zerfetzten
Daseins floß im Ruckstrom von dir durch unsre Hunde, so  daß wir
die geretteten in dich  gruben und  im stummen  Angstgluck der uberstandenen
Minute mit unseren Lippen in dich hineinbissen! -
     Wir  schnellen mit einem  Ruck in  einem Teil unseres Seins beim ersten
Druhnen der Granaten um Tausende  von Jahren zuruck. Es ist der Instinkt des
Tieres, der  in  uns erwacht,  der  uns leitet und beschutzt.  Er  ist nicht
bewußt, er ist viel schneller, viel sicherer, viel unfehlbarer als das
Bewußtsein. Man kann es nicht erkluren. Man geht und denkt an nichts -
plutzlich  liegt  man  in einer  Bodenmulde,  und uber  einen  spritzen  die
Splitter  hinweg; - aber  man kann sich  nicht entsinnen, die Granate kommen
gehurt oder den Gedanken  gehabt zu haben, sich  hinzulegen. Hutte man  sich
darauf verlassen sollen, man wure bereits ein Haufen verstreutes Fleisch. Es
ist  das  andere  gewesen, diese  hellsichtige  Witterung  in  uns, die  uns
niedergerissen und gerettet  hat,  ohne daß man weiß,  wie. Wenn
sie nicht wure, gube  es von  Flandern bis zu den Vogesen schon lungst keine
Menschen mehr.
     Wir fahren ab als murrische  oder gutgelaunte Soldaten, - wir kommen in
die Zone, wo die Front beginnt, und sind Menschentiere geworden.

     Ein durftiger  Wald nimmt uns auf. Wir  passieren  die  Gulaschkanonen.
Hinter  dem Walde steigen wir  ab. Die Wagen fahren  zuruck. Sie  sollen uns
morgens vor dem Hellwerden wieder abholen.
     Nebel und  Geschutzrauch stehen in Brusthuhe uber den Wiesen.  Der Mond
scheint  darauf.  Auf  der  Straße  ziehen  Truppen.   Die  Stahlhelme
schimmern mit  matten Reflexen im Mondlicht. Die Kupfe und die Gewehre ragen
aus dem weißen Nebel, nickende Kupfe, schwankende Gewehrluufe.
     Weiter vorn hurt der Nebel  auf. Die Kupfe  werden hier zu Gestalten; -
Rucke, Hosen und Stiefel kommen aus dem Nebel  wie aus einem Milchteich. Sie
formieren sich zur Kolonne. Die Kolonne marschiert, geradeaus, die Gestalten
schließen  sich zu einem Keil, man erkennt  die einzelnen  nicht mehr,
nur ein dunkler Keil schiebt  sich nach vorn, sonderbar  ergunzt  aus den im
Nebelteich  heranschwimmenden Kupfen  und  Gewehren.  Eine Kolonne  -  keine
Menschen.
     Auf einer Querstraße fahren  leichte Geschutze und Munitionswagen
heran. Die Pferde haben glunzende Rucken im Mondschein, ihre Bewegungen sind
schun, sie werfen die  Kupfe, man sieht die Augen blitzen. Die Geschutze und
Wagen  gleiten  vor  dem   verschwimmenden  Hintergrund  der  Mondlandschaft
voruber,  die  Reiter  mit  ihren Stahlhelmen  sehen aus  wie  Ritter  einer
vergangenen Zeit, es ist irgendwie schun und ergreifend.
     Wir streben dem Pionierpark zu. Ein Teil  von uns ladet  sich gebogene,
spitze Eisenstube  auf die  Schultern, der  andere steckt glatte Eisenstucke
durch Drahtrollen und zieht damit ab. Die Lasten sind unbequem und schwer.
     Das  Terrain  wird  zerrissener.   Von  vorn  kommen  Meldungen  durch:
"Achtung, links tiefer Granattrichter" - "Vorsicht, Graben" -
     Unsere Augen sind angespannt, unsere Fuße  und Stucke fuhlen vor,
ehe  sie die Last  des  Kurpers  empfangen. Mit einmal  hult der Zug; -  man
prallt mit dem Gesicht gegen die Drahtrolle des Vordermannes und schimpft.
     Einige zerschossene Wagen  sind im Wege.  Ein neuer Befehl. "Zigaretten
und Pfeifen aus." -Wir sind dicht an den Gruben.
     Es ist inzwischen ganz dunkel  geworden. Wir  umgehen ein Wuldchen  und
haben dann den Frontabschnitt vor uns.
     Eine  Ungewisse, rutliche  Helle steht am Horizont  von einem  Ende zum
andern.  Sie  ist in stundiger  Bewegung,  durchzuckt  vom Mundungsfeuer der
Batterien. Leuchtkugeln steigen daruber  hoch, silberne  und rote Bulle, die
zerplatzen  und in  weißen,  grunen  und  roten Sternen  niederregnen.
Franzusische Raketen schießen auf, die in der Luft einen  Seidenschirm
entfalten und ganz langsam niederschweben. Sie erleuchten alles taghell, bis
zu  uns  dringt ihr Schein, wir  sehen  unsere  Schatten  scharf  am  Boden.
Minutenlang  schweben  sie, ehe  sie ausgebrannt sind.  Sofort  steigen neue
hoch, uberall, und dazwischen wieder die grunen, roten und blauen.
     "Schlamassel", sagt Kat.
     Das  Gewitter der Geschutze  versturkt  sich  zu einem einzigen dumpfen
Druhnen und zerfullt dann wieder in  Gruppeneinschluge. Die trockenen Salven
der Maschinengewehre knarren. uber uns ist die Luft erfullt von unsichtbarem
Jagen, Heulen, Pfeifen und Zischen. Es sind kleinere Geschosse; - dazwischen
orgeln aber  auch die  großen Kohlenkusten,  die ganz schweren Brocken
durch die  Nacht und  landen  weit  hinteruns.  Sie  haben  einen ruhrenden,
heiseren, entfernten  Ruf, wie Hirsche in  der  Brunft, und ziehen hoch uber
dem Geheul und Gepfeife der kleineren Geschosse ihre Bahn.
     Die Scheinwerfer beginnen den schwarzen Himmel abzusuchen. Sie rutschen
daruber hin wie riesige, am Ende  dunner werdende Lineale. Einer steht still
und zittert nur wenig. Sofort ist ein zweiter bei ihm, sie kreuzen sich, ein
schwarzes  Insekt ist zwischen ihnen und versucht zu entkommen: der Flieger.
Er wird unsicher, geblendet und taumelt.

     Wir rammen die Eisenpfuhle in  regelmußigen Abstunden fest. Immer
zwei Mann halten eine Rolle,  die andern spulen den Stacheldraht ab.  Es ist
der ekelhafte  Draht mit  den  dichtstehenden, langen Stacheln.  Ich bin das
Abrollen nicht mehr gewuhnt und reiße mir die Hand auf.
     Nach einigen Stunden sind wir fertig Aber  wir haben noch Zeit, bis die
Lastwagen  kommen.  Die meisten  von uns legen  sich hin  und  schlafen. Ich
versuche es auch.  Doch es  wird zu kuhl.  Man merkt, daß wir nahe  am
Meere sind, man wacht vor Kulte immer wieder auf.
     Einmal  schlafe ich fest. Als  ich plutzlich mit einem Ruck hochfliege,
weiß ich nicht, wo ich bin. Ich sehe die  Sterne, ich sehe die Raketen
und  habe  einen   Augenblick  den  Eindruck,  auf   einem  Fest  im  Garten
eingeschlafen zu sein. Ich  weiß nicht, ob es  Morgen oder Abend  ist,
ich  liege in der bleichen Wiege  der Dummerung und warte  auf weiche Worte,
die kommen  mussen,  weich und geborgen - weine ich? Ich  fasse nach  meinen
Augen, es ist  so wunderlich,  bin ich ein  Kind? Sanfte  Haut;  -  nur eine
Sekunde  wuhrt es,  dann erkenne  ich die Silhouette  Katczinskys. Er  sitzt
ruhig, der alte Soldat, und raucht eine Pfeife, eine Deckelpfeife naturlich.
Als er  bemerkt,  daß  ich wach  bin,  sagt  er  nur: "Du  bist  schun
zusammengefahren. Es war nur ein Zunder, er ist da ins Gebusch gesaust."
     Ich setze mich hoch,  ich  fuhle  mich sonderbar  allein.  Es ist  gut,
daß  Kat  da  ist. Er sieht gedankenvoll  zur Front  und  sagt:  "Ganz
schunes Feuerwerk, wenn's nicht so gefuhrlich wure."
     Hinter uns  schlugt es ein.  Ein paar  Rekruten fahren  erschreckt auf.
Nach ein paar Minuten funkt es wieder heruber,  nuher als vorher. Kat klopft
seine Pfeife aus. "Es gibt Zunder."
     Schon geht es  los. Wir kriechen weg,  so gut es in  der Eile geht. Der
nuchste Schuß sitzt bereits zwischen  uns. Ein paar Leute schreien. Am
Horizont steigen grune Raketen auf. Der  Dreck fliegt hoch, Splitter surren.
Man hurt sie  noch  aufklatschen, wenn der Lurm der Einschluge lungst wieder
verstummt ist.
     Neben uns liegt ein verungstigter  Rekrut,  ein  Flachskopf. Er hat das
Gesicht  in die Hunde gepreßt. Sein Helm ist weggepurzelt.  Ich fische
ihn heran und will ihn auf seinen Schudel stulpen. Er sieht auf, stußt
den Helm fort und kriecht wie ein Kind mit dem Kopf unter  meinen Arm, dicht
an  meine Brust. Die schmalen Schultern zucken. Schultern, wie Kemmerich sie
hatte.
     Ich lasse ihn  gewuhren. Damit  der Helm aber wenigstens zu etwas nutze
ist,  packe  ich ihn auf  seinen Hintern, nicht aus  Bludsinn,  sondern  aus
uberlegung, denn das ist der huchste Fleck. Wenn da zwar auch dickes Fleisch
sitzt,  Schusse  hinein  sind  doch  verflucht  schmerzhaft,  außerdem
muß  man monatelang  im  Lazarett  auf  dem Bauch  liegen und  nachher
ziemlich sicher hinken.
     Irgendwo  hat  es  muchtig eingehauen. Man  hurt Schreien  zwischen den
Einschlugen.
     Endlich wird  es ruhig. Das Feuer ist  uber  uns hinweggefegt und liegt
nun auf den letzten Reservegruben. Wir riskieren einen  Blick.  Rote Raketen
flattern am Himmel. Wahrscheinlich kommt ein Angriff.
     Bei uns bleibt es ruhig. Ich setze mich auf und ruttele den Rekruten an
der Schulter. "Vorbei, Kleiner! Ist noch mal gutgegangen."
     Er sieht  sich  versturt  um.  Ich  rede  ihm  zu:  "Wirst  dich  schon
gewuhnen."
     Er bemerkt  seinen Helm und  setzt  ihn auf. Langsam kommt er zu  sich.
Plutzlich wird er feuerrot und hat ein verlegenes Aussehen. Vorsichtig langt
er  mit der Hand nach hinten und sieht mich gequult an. Ich verstehe sofort:
Kanonenfieber.  Dazu  hatte   ich  ihm  eigentlich  den  Helm  nicht  gerade
dorthingepackt - aber ich truste ihn doch:  "Das ist keine Schande, es haben
schon  ganz  andere Leute als  du nach ihrem  ersten Feueruberfall die Hosen
voll gehabt. Geh hinter den Busch da und schmeiß  deine Unterhose weg.
Erledigt -"

     Er trollt sich. Es wird stiller, doch das Schreien hurt nicht auf. "Was
ist los, Albert?" frage ich.
     "Druben haben ein paar Kolonnen Volltreffer gekriegt."
     Das  Schreien  dauert an. Es sind keine  Menschen, sie  kunnen nicht so
furchtbar schreien.
     Kat sagt: "Verwundete Pferde."
     Ich  habe noch nie Pferde schreien gehurt  und kann es kaum glauben. Es
ist  der  Jammer  der  Welt,  es  ist  die gemarterte  Kreatur, ein  wilder,
grauenvoller Schmerz,  der da stuhnt. Wir sind bleich. Detering richtet sich
auf. "Schinder, Schinder! Schießt sie doch ab!"
     Er ist Landwirt  und mit Pferden vertraut. Es geht  ihm  nahe. Und  als
wure es Absicht, schweigt das Feuer jetzt beinahe. Um so deutlicher wird das
Schreien der  Tiere.  Man  weiß nicht mehr, woher  es  kommt in dieser
jetzt  so stillen,  silbernen  Landschaft,  es ist  unsichtbar, geisterhaft,
uberall,  zwischen  Himmel und  Erde,  es  schwillt  unermeßlich  an -
Detering wird wutend  und brullt: "Erschießt  sie, erschießt sie
doch, verflucht noch mal!"
     "Sie mussen doch erst die Leute holen", sagt Kat.
     Wir  stehen auf  und  suchen, wo die Stelle  ist.  Wenn  man die  Tiere
erblickt, wird es besser auszuhalten sein. Meyer  hat ein Glas bei sich. Wir
sehen  eine  dunkle   Gruppe   Sanituter   mit  Tragbahren   und   schwarze,
grußere  Klumpen, die sich  bewegen. Das  sind die verwundeten Pferde.
Aber  nicht alle.  Einige galoppieren  weiter  entfernt, brechen nieder  und
rennen  weiter. Einem ist  der Bauch aufgerissen,  die  Gedurme  hungen lang
heraus. Es verwickelt sich darin und sturzt, doch es steht wieder auf.
     Detering reißt das Gewehr hoch und zielt.  Kat schlugt es  in die
Luft. "Bist du verruckt -?"
     Detering zittert und wirft sein Gewehr auf die Erde.
     Wir  setzen  uns  hin  und   halten  uns  die  Ohren  zu.  Aber  dieses
entsetzliche  Klagen und  Stuhnen  und  Jammern schlugt  durch,  es  schlugt
uberall durch.
     Wir kunnen alle etwas vertragen. Hier aber bricht uns der Schweiß
aus.  Man  muchte  aufstehen und  fortlaufen,  ganz gleich wohin, nur um das
Schreien nicht mehr zu huren. Dabei sind es doch keine Menschen, sondern nur
Pferde.
     Von  dem  dunklen  Knuuel  lusen sich wieder Tragbahren.  Dann  knallen
einzelne  Schusse.  Die  Klumpen zucken und werden flacher. Endlich! Aber es
ist  noch  nicht zu Ende. Die  Leute kommen  nicht  an die verwundeten Tiere
heran, die in ihrer Angst fluchten,  allen Schmerz in den weit aufgerissenen
Muulern. Eine  der Gestalten  geht  aufs Knie,  ein Schuß -  ein Pferd
bricht nieder, - noch eins.  Das letzte stemmt sich  auf die Vorderbeine und
dreht  sich im  Kreise wie  ein  Karussell,  sitzend dreht es sich  auf  den
hochgestemmten   Vorderbeinen  im  Kreise,  wahrscheinlich  ist  der  Rucken
zerschmettert.  Der Soldat rennt hin und schießt es  nieder.  Langsam,
demutig rutscht es zu Boden.
     Wir nehmen die Hunde von den Ohren. Das Schreien ist verstummt. Nur ein
langgezogener, ersterbender Seufzer hungt noch in der Luft. Dann sind wieder
nur die  Raketen, das Granatensingen und  die Sterne da - und das  ist  fast
sonderbar.
     Detering geht und flucht: "Muchte wissen, was die fur Schuld haben." Er
kommt nachher noch einmal heran. Seine Stimme ist erregt, sie klingt beinahe
feierlich, als er sagt: "Das  sage ich  euch, es  ist die  allergrußte
Gemeinheit, daß Tiere im Krieg sind."

     Wir gehen zuruck. Es ist Zeit, zu unseren Wagen zu gelangen. Der Himmel
ist eine Spur heller geworden. Drei Uhr morgens. Der
     Wind ist frisch und kuhl, die fahle Stunde macht unsere Gesichter
     Wir tappen  uns  vorwurts im Gunsemarsch durch die  Gruben und Trichter
und gelangen wieder in die  Nebelzone. Katczinsky ist unruhig,  das ist  ein
schlechtes Zeichen.
     "Was hast du, Kat?" fragt Kropp.
     "Ich  wollte,  wir  wuren  erst zu Hause."  -  Zu  Hause," er meint die
Baracken.
     "Dauert nicht mehr lange, Kat."
     Er ist nervus.
     "Ich weiß nicht, ich weiß nicht -"
     Wir  kommen in  die Laufgruben und  dann  in  die Wiesen.  Das Wuldchen
taucht auf; wir kennen hier  jeden  Schritt  Boden. Da ist der Jugerfriedhof
schon mit den Hugeln und den schwarzen Kreuzen.
     In diesem Augenblick pfeift  es hinter uns, schwillt, kracht,  donnert.
Wir haben uns gebuckt  - hundert Meter vor uns schießt eine Feuerwolke
empor.
     In der  nuchsten  Minute hebt sich ein Stuck  Wald unter einem  zweiten
Einschlag  langsam uber die  Gipfel, drei, vier Buume segeln mit und brechen
dabei in  Stucke.  Schon zischen  wie  Kesselventile die  folgenden Granaten
heran - scharfes Feuer -
     "Deckung!" brullt jemand - "Deckung!" -
     Die Wiesen sind flach, der Wald ist zu weit und  gefuhrlich; -  es gibt
keine andere  Deckung als den Friedhof und die  Gruberhugel. Wir stolpern im
Dunkel hinein, wie hingespuckt klebt jeder gleich hinter einem Hugel.
     Keinen Moment zu fruh. Das Dunkel wird wahnsinnig.  Es wogt  und  tobt.
Schwurzere  Dunkelheiten als die Nacht rasen mit Riesenbuckeln auf uns  los,
uber  uns  hinweg.  Das Feuer  der  Explosionen  uberflackert  den Friedhof.
Nirgendwo  ist  ein  Ausweg. Ich wage im Aufblitzen der Granaten einen Blick
auf  die  Wiesen.  Sie  sind  ein  aufgewuhltes  Meer, die Stichflammen  der
Geschosse springen  wie Fontunen heraus.  Es  ist ausgeschlossen,  daß
jemand daruber hinwegkommt.
     Der Wald verschwindet,  er  wird  zerstampft, zerfetzt,  zerrissen. Wir
mussen hier auf dem Friedhof bleiben.
     Vor uns birst die Erde. Es regnet  Schollen. Ich spure einen Ruck. Mein
urmel  ist  aufgerissen  durch  einen Splitter. Ich balle  die Faust.  Keine
Schmerzen. Doch das beruhigt mich nicht, Verletzungen schmerzen  stets  erst
sputer.  Ich fahre uber  den Arm. Er ist angekratzt, aber heil. Da knallt es
gegen meinen  Schudel, daß mir das Bewußtsein  verschwimmt.  Ich
habe  den  blitzartigen  Gedanken:  Nicht  ohnmuchtig  werden!, versinke  in
schwarzem Brei und komme sofort wieder  hoch.  Ein Splitter ist gegen meinen
Helm gehauen, er kam so weit her, daß er nicht durchschlug. Ich wische
mir den  Dreck aus den Augen.  Vor mir ist ein Loch aufgerissen, ich erkenne
es undeutlich. Granaten treffen nicht leicht  in denselben Trichter, deshalb
will ich hinein.  Mit einem Satze schnelle ich mich  lang vor, flach wie ein
Fisch  uber den  Boden,  da pfeift es wieder,  rasch  krieche  ich zusammen,
greife  nach  der Deckung,  fuhle links etwas, presse mich daneben,  es gibt
nach, ich stuhne, die Erde  zerreißt, der Luftdruck donnert in  meinen
Ohren, ich krieche unter das Nachgebende, decke es uber mich, es  ist  Holz,
Tuch, Deckung, Deckung, armselige Deckung vor herabschlagenden Splittern.
     Ich uffne die Augen, meine Finger halten einen urmel umklammert,  einen
Arm. Ein Verwundeter? Ich schreie ihm zu, keine  Antwort - ein  Toter. Meine
Hand faßt weiter, in Holzsplitter, da weiß ich wieder, daß
wir auf dem Friedhof liegen.
     Aber  das  Feuer  ist  sturker  als alles  andere.  Es  vernichtet  die
Besinnung, ich  krieche  nur  noch  tiefer  unter  den  Sarg,  er soll  mich
schutzen, und wenn der Tod selber in ihm liegt.
     Vor  mir klafft der Trichter. Ich  fasse  ihn  mit den  Augen  wie  mit
Fuusten, ich muß mit einem  Satz hinein. Da  erhalte ich einen  Schlag
ins Gesicht, eine Hand klammert sich um meine Schulter - ist der Tote wieder
erwacht?  - Die Hand schuttelt mich, ich wende  den  Kopf, in sekundenkurzem
Licht starre ich in das Gesicht Katczinskys,  er hat den Mund weit offen und
brullt, ich hure nichts, er ruttelt mich, nuhert sich; in  einem Moment  des
Abschwellens  erreicht  mich   seine   Stimme:   "Gas  -  Gaaas   -   Gaaas!
-Weitersagen!"
     Ich  reiße  die  Gaskapsel  heran. Etwas entfernt  von mir  liegt
jemand. Ich denke an nichts mehr  als an dies: Der dort muß es wissen:
"Gaaas - Gaaas -!"
     Ich rufe, schiebe mich heran, schlage mit der Kapsel nach ihm, er merkt
nichts  - noch einmal, noch einmal - er duckt sich nur - es ist ein Rekrut -
ich sehe verzweifelt nach Kat, er hat die  Maske vor - ich reiße meine
auch heraus,  der Helm fliegt beiseite,  sie streift sich uber mein Gesicht,
ich erreiche den  Mann, am  nuchsten liegt mir  seine  Kapsel, ich fasse die
Maske, schiebe sie  uber seinen Kopf, er  greift  zu - ich  lasse los -  und
liege plutzlich mit einem Ruck im Trichter.
     Der  dumpfe  Knall  der  Gasgranaten  mischt  sich  in das  Krachen der
Explosivgeschosse.  Eine  Glocke  druhnt  zwischen die  Explosionen,  Gongs,
Metallklappern kunden uberallhin - Gas - Gas - Gaas -
     Hinter mir plumpst  es, einmal, zweimal.  Ich wische  die Augenscheiben
meiner Maske vom Atemdunst sauber. Es  sind Kat, Kropp und noch  jemand. Wir
liegen zu viert in schwerer,  lauernder Anspannung und atmen so schwach  wie
muglich.
     Die ersten  Minuten mit der Maske entscheiden uber  Leben und  Tod: ist
sie dicht? Ich kenne die furchtbaren Bilder aus dem Lazarett: Gaskranke, die
m tagelangem Wurgen die verbrannten Lungen stuckweise auskotzen.
     Vorsichtig,  den  Mund  auf  die  Patrone  gedruckt,  atme  ich.  Jetzt
schleicht der Schwaden  uber  den Boden und sinkt  in alle Vertiefungen. Wie
ein weiches, breites Quallentier legt er  sich  in unseren  Trichter, rukelt
sich hinein. Ich stoße Kat an: es ist besser herauszukriechen und oben
zu liegen,  als hier, wo das  Gas sich  am  meisten sammelt. Doch wir kommen
nicht dazu, ein zweiter Feuerhagel beginnt. Es ist, als  ob nicht  mehr  die
Geschosse brullen; es ist, als ob die Erde selbst tobt.
     Mit  einem Krach  saust etwas  Schwarzes  zu uns  herab. Hart neben uns
schlugt es ein, ein hochgeschleuderter Sarg.
     Ich sehe Kat sich bewegen und krieche hinuber. Der Sarg ist dem vierten
in  unserem Loch auf den ausgestreckten  Arm geschlagen. Der Mann  versucht,
mit der andern Hand  die Gasmaske abzureißen. Kropp greift rechtzeitig
zu, biegt ihm die Hand hart auf den Rucken und hult sie fest.
     Kat  und  ich gehen  daran,  den verwundeten  Arm  frei  zu machen. Der
Sargdeckel ist lose und geborsten, wir kunnen ihn leicht abreißen, den
Toten  werfen  wir  hinaus,  er sackt nach  unten,  dann versuchen  wir, den
unteren Teil zu lockern.
     Zum Gluck wird der  Mann bewußtlos,  und Albert kann  uns helfen.
Wir  brauchen nun  nicht  mehr  so  behutsam zu sein und arbeiten,  was  wir
kunnen, bis der Sarg mit einem Seufzer nachgibt unter dem daruntergesteckten
Spaten.
     Es ist heller geworden. Kat nimmt ein  Stuck des Deckels, legt es unter
den zerschmetterten  Arm, und wir binden alle unsere Verbandspuckchen darum.
Mehr kunnen wir im Moment nicht tun.
     Mein Kopf brummt  und druhnt in der Gasmaske, er  ist nahe am  Platzen.
Die  Lungen  sind  angestrengt,   sie  haben  nur   immer  wieder  denselben
heißen, verbrauchten Atem,  die Schlufenadern schwellen, man glaubt zu
ersticken -
     Graues  Licht sickert zu uns herein. Wind fegt  uber den  Friedhof. Ich
schiebe mich uber den Rand des Trichters. In der schmutzigen Dummerung liegt
vor mir ein ausgerissenes Bein, der  Stiefel ist vollkommen  heil, ich  sehe
das alles  ganz deutlich  im Augenblick. Aber jetzt erhebt sich wenige Meter
weiter  jemand,  ich  putze  die  Fenster, sie beschlagen mir vor  Aufregung
sofort wieder, ich starre hinuber - der Mann dort trugt keine Gasmaske mehr.
     Noch Sekunden warte ich  - er  bricht nicht zusammen, er blickt suchend
umher und macht einige Schritte - der Wind  hat das Gas zerstreut,  die Luft
ist frei - da zerre ich ruchelnd ebenfalls die Maske weg und  falle hin, wie
kaltes Wasser strumt die Luft  in mich hinein, die Augen wollen brechen, die
Welle uberschwemmt mich und luscht mich dunkel aus.

     Die  Einschluge haben aufgehurt. Ich  drehe mich zum Trichter und winke
den  andern. Sie klettern  herauf und reißen sich die Masken herunter.
Wir umfassen  den  Verwundeten,  einer  nimmt  seinen  geschienten  Arm.  So
stolpern wir hastig davon.
     Der Friedhof  ist ein  Trummerfeld. Surge und Leichen liegen verstreut.
Sie  sind noch  einmal  getutet  worden; aber jeder von ihnen,  der zerfetzt
wurde, hat einen von uns gerettet.
     Der   Zaun  ist  verwustet,  die  Schienen  der  Feldbahn  druben  sind
aufgerissen, sie starren hochgebogen in die Luft. Vor uns liegt jemand.  Wir
halten an, nur Kropp geht mit dem Verwundeten weiter.
     Der am Boden ist ein Rekrut. Seine Hufte ist blutverschmiert; er ist so
erschupft, daß ich nach meiner  Feldflasche greife, in der ich Rum mit
Tee habe. Kat hult meine Hand zuruck und beugt sich uber ihn: "Wo hat's dich
erwischt, Kamerad?"
     Er bewegt die Augen; er ist zu schwach zum Antworten.
     Wir  schneiden vorsichtig  die Hose auf.  Er stuhnt.  "Ruhig, ruhig, es
wird ja besser -"
     Wenn er einen  Bauchschuß  hat, darf  er nichts trinken.  Er  hat
nichts erbrochen, das  ist gunstig. Wir legen die Hufte bloß. Sie  ist
ein  einziger  Fleischbrei mit Knochensplittern. Das  Gelenk  ist getroffen.
Dieser Junge wird nie mehr gehen kunnen.
     Ich wische ihm  mit dem  befeuchteten Finger  uber die Schlufe und gebe
ihm einen  Schluck. In  seine Augen  kommt Bewegung.  Jetzt erst sehen  wir,
daß auch der rechte Arm blutet.
     Kat zerfasert zwei Verbandspuckchen so breit wie muglich, damit sie die
Wunde decken. Ich suche nach Stoff,  um ihn lose daruberzuwickeln. Wir haben
nichts mehr,  deshalb schlitze ich dem Verwundeten das Hosenbein weiter auf,
um ein Stuck seiner Unterhose als Binde zu verwenden.  Aber  er trugt keine.
Ich sehe ihn genauer an: es ist der Flachskopf von vorhin.
     Kat hat  inzwischen  aus den Taschen eines Toten  noch Puckchen geholt,
die wir vorsichtig  an die Wunde  schieben.  Ich  sage  dem  Jungen, der uns
unverwandt ansieht: "Wir holen jetzt eine Bahre."
     Da uffnet er den Mund und flustert: "Hierbleiben -"
     Kat sagt: "Wir kommen ja gleich wieder. Wir holen fur dich eine Bahre."
     Man kann  nicht erkennen, ob er verstanden hat; er wimmert wie ein Kind
hinter uns her: "Nicht weggehen -"
     Kat  sieht sich  um und flustert:  "Sollte  man da nicht einfach  einen
Revolver nehmen, damit es aufhurt?"
     Der Junge  wird den  Transport  kaum uberstehen, und huchstens  kann es
noch einige Tage  mit ihm dauern. Alles  bisher  aber wird nichts sein gegen
diese Zeit, bis er stirbt. Jetzt ist  er noch  betuubt  und fuhlt nichts. In
einer  Stunde  wird er  ein  kreischendes  Bundel  unertruglicher  Schmerzen
werden.  Die Tage, die er noch  leben kann, bedeuten  fur  ihn  eine einzige
rasende Qual. Und wem nutzt es, ob er sie noch hat oder nicht -
     Ich nicke. "Ja, Kat, man sollte einen Revolver nehmen."
     " Gib her", sagt er  und  bleibt stehen.  Er ist entschlossen, ich sehe
es. Wir  blicken  uns um, aber wir  sind  nicht mehr allein. Vor uns sammelt
sich  ein Huuflein,  aus den Trichtern und Grubern kommen  Kupfe.  Wir holen
eine Bahre.
     Kat schuttelt  den Kopf. "  So junge  Kerle" -  Er  wiederholt  es: "So
junge, unschuldige Kerle -"

     Unsere Verluste sind  geringer, als anzunehmen war: funf Tote und  acht
Verwundete.  Es war nur  ein  kurzer  Feueruberfall. Zwei von  unseren Toten
liegen  in  einem der  aufgerissenen  Gruber; wir  brauchen  sie  bloß
zuzubuddeln.
     Wir gehen zuruck. Schweigend trotten wir im  Gunsemarsch hintereinander
her.  Die  Verwundeten  werden zur Sanitutsstation gebracht. Der Morgen  ist
trube,  die  Krankenwurter laufen mit Nummern und  Zetteln,  die  Verletzten
wimmern. Es beginnt zu regnen.
     Nach einer Stunde haben wir unsere Wagen  erreicht und klettern hinauf.
Jetzt ist mehr Platz als vorher da.
     Der  Regen wird sturker.  Wir breiten Zeltbahnen aus und legen sie  auf
unsere Kupfe. Das Wasser trommelt darauf nieder. An den Seiten fließen
die Regenstruhnen  ab. Die Wagen platschen durch die  Lucher, und wir wiegen
uns im Halbschlaf hin und her.
     Zwei Mann vorn im  Wagen  haben  lange gegabelte  Stucke bei sich.  Sie
achten  auf  die Telefondruhte,  die quer uber die Straße  hungen,  so
tief, daß  sie  unsere Kupfe wegreißen kunnen. Die beiden  Leute
fangen sie mit  ihren  gegabelten Stucken auf und heben sie uber uns hinweg.
Wir huren ihren Ruf: "Achtung - Draht", und  im Halbschlaf gehen  wir in die
Kniebeuge und richten uns wieder auf.
     Monoton  pendeln die Wagen,  monoton sind  die Rufe, monoton rinnt  der
Regen. Er rinnt auf unsere Kupfe  und auf die  Kupfe der Toten vorn, auf den
Kurper des kleinen Rekruten mit der Wunde, die viel zu groß fur  seine
Hufte ist, er rinnt auf das Grab Kemmerichs, er rinnt auf unsere Herzen.
     Ein Einschlag hallt irgendwo. Wir zucken  auf, die Augen sind gespannt,
die  Hunde wieder  bereit,  um die Kurper uber die  Wunde  des Wagens in den
Straßengraben zu werfen.
     Es kommt nichts weiter. - Monoton nur die Rufe: "Achtung - Draht" - wir
gehen in die Knie, wir sind wieder im Halbschlaf.



     Es ist beschwerlich, die einzelne Laus zu tuten, wenn man Hunderte hat.
Die Tiere sind etwas hart,  und das ewige Knipsen mit den Fingernugeln  wird
langweilig. Tjaden hat deshalb den Deckel einer Schuhputzschachtel mit Draht
uber einem brennenden Kerzenstumpf  befestigt. In diese kleine Pfanne werden
die Luuse einfach hineingeworfen - es knackt, und sie sind erledigt.
     Wir sitzen rundherum, die Hemden auf den Knien, den Oberkurper nackt in
der warmen Luft, die Hunde bei der Arbeit. Haie hat eine besonders feine Art
von  Luusen:  sie haben ein rotes Kreuz auf dem  Kopf. Deshalb behauptet er,
sie  aus dem Lazarett inThourhout mitgebracht zu  haben, sie seien von einem
Oberstabsarzt persunlich.  Er will auch das sich langsam in  dem Blechdeckel
ansammelnde Fett zum Stiefelschmieren benutzen und brullte eine halbe Stunde
lang vor Lachen uber seinen Witz.
     Doch heute hat er wenig Erfolg; etwas anderes beschuftigt uns zu sehr.
     Das Gerucht ist Wahrheit geworden. Himmelstoß ist da. Gestern ist
er erschienen, wir haben seine wohlbekannte Stimme schon gehurt. Er soll  zu
Hause ein paar junge  Rekruten zu  kruftig im  Sturzacker gehabt haben. Ohne
daß er es wußte,  war der Sohn des Regierungsprusidenten  dabei.
Das brach ihm das Genick.
     Hier   wird  er  sich  wundern.  Tjaden  erurtert  seit   Stunden  alle
Muglichkeiten,  wie  er  ihm  antworten will. Haie  sieht nachdenklich seine
große  Flosse  an  und  kneift mir  ein  Auge.  Die  Prugelei  war der
Huhepunkt  seines Daseins;  er  hat mir erzuhlt,  daß er noch manchmal
davon truumt.

     Kropp  und  Muller  unterhalten  sich.  Kropp   hat  als  einziger  ein
Kochgeschirr  voll  Linsen erbeutet, wahrscheinlich  bei  der  Pionierkuche.
Muller schielt gierig hin, beherrscht sich aber und fragt: ,.....
     "Albert, was wurdest du tun, wenn jetzt mit einemmal Frieden wure?"
     "Frieden gibt's nicht!" uußert Albert kurz.
     "Na, aber wenn -", beharrt Muller, "was wurdest du machen?"
     "Abhauen!" knurrt Kropp.
     "Das ist klar. Und dann?"
     "Mich besaufen", sagt Albert.
     "Rede keinen Quatsch, ich meine es ernst -"
     "Ich auch", sagt Albert, "was soll man denn anders machen."
     Kat interessiert sich fur die Frage. Er fordert von Kropp seinen Tribut
an den Linsen, erhult ihn, uberlegt dann lange  und meint: "Besaufen  kunnte
man  sich  ja, sonst aber auf  die nuchste Eisenbahn  - und ab nach Muttern.
Mensch, Frieden, Albert -"
     Er kramt in seiner Wachstuchbrieftasche nach einer Fotografie und zeigt
sie stolz herum. "Meine Alte!" Dann packt er sie weg und flucht: "Verdammter
Lausekrieg -"
     "Du  kannst  gut reden",  sage ich. "Du hast  deinen  Jungen und  deine
Frau."
     "Stimmt", nickt er, "ich muß  dafur  sorgen, daß sie was zu
essen haben."
     Wir  lachen.  "Daran wird's  nicht fehlen,  Kat, sonst  requierierst du
eben."
     Muller ist hungrig und gibt sich noch nicht zufrieden. Er schreckt Haie
Westhus aus seinen Verprugeltruumen. "Haie, was wurdest du denn machen, wenn
jetzt Frieden wure?"
     "Er mußte dir den  Arsch vollhauen,  weil du hier  von  so  etwas
uberhaupt anfungst", sage ich, "wie kommt das eigentlich?"
     "Wie kommt Kuhscheiße aufs  Dach?" antwortet Muller lakonisch und
wendet sich wieder an Haie Westhus. Es ist zu schwer auf einmal fur Haie. Er
wiegt seinen sommersprossigen  Schudel:  "Du  meinst,  wenn kein Krieg  mehr
ist?"
     "Richtig. Du merkst auch alles."
     "Dann kumen doch wieder Weiber, nicht?" - Haie leckt sich das Maul.
     "Das auch."
     "Meine Fresse noch mal", sagt Haie, und  sein Gesicht  taut auf, " dann
wurde  ich  mir  so  einen  strammen  Feger  schnappen, so  einen  richtigen
Kuchendragoner, weißt du, mit ordentlich was dran zum Festhalten,  und
sofort  nichts  wie  'rin  in  die  Betten!  Stell  dir  mal  vor,  richtige
Federbetten  mit Sprungmatratzen, Kinners, acht Tage lang  wurde  ich  keine
Hose wieder anziehen."
     Alles schweigt. Das Bild ist  zu wunderbar. Schauer laufen uns uber die
Haut. Endlich ermannt sich Muller und fragt: "Und danach?"
     Pause. Dann erklurt Haie etwas verzwickt: "Wenn ich Unteroffizier wure,
wurde ich erst noch bei den Preußen bleiben und kapitulieren."
     "Haie, du hast glatt einen Vogel", sage ich.
     Er fragt gemutlich zuruck: "Hast du schon mal Torf gestochen? Probier's
mal."
     Damit zieht er  seinen Luffel aus dem Stiefelschaft  und langt damit in
Alberts Eßnapf.
     "Schlimmer als  Schanzen  in der  Champagne  kann's  auch nicht  sein",
erwiderte ich.
     Haie kaut und grinst: "Dauert  aber  lunger.  Kannst  dich  auch  nicht
drucken."
     "Aber, Mensch, zu Hause ist es doch besser, Haie."
     "Teils, teils", sagt er und versinkt mit offenem Munde in Grubelei.
     Man kann auf  seinen  Zugen  lesen,  was  er denkt.  Da  ist  eine arme
Moorkate, da ist schwere Arbeit in der Hitze der Heide vom fruhen Morgen bis
zum Abend, da ist spurlicher Lohn, da ist ein schmutziger Knechtsanzug --
     "Hast beim Kommiß in Frieden keine Sorgen", teilt er  mit, "jeden
Tag  ist  dein Futter da, sonst machst  du Krach,  hast dein Bett, alle acht
Tage reine Wusche wie ein Kavalier, machst deinen Unteroffiziersdienst, hast
dein schunes  Zeug; -  abends  bist  du  ein freier  Mann und gehst  in  die
Kneipe."
     Haie ist außerordentlich stolz  auf seine Idee. Er  verliebt sich
darin.  "Und  wenn  du  deine  zwulf  Jahre  um  hast,  kriegst  du   deinen
Versorgungsschein   und  wirst  Landjuger.  Den   ganzen   Tag   kannst   du
Spazierengehen."
     Er schwitzt jetzt vor Zukunft.  "  Stell dir vor, wie du dann traktiert
wirst. Hier einen Kognak, da  einen  halben Liter.  Mit einem Landjuger will
doch jeder gutstehen."
     "Du  wirst ja nie Unteroffizier, Haie", wirft Kat ein. Haie  blickt ihn
betroffen an und schweigt.  In  seinen  Gedanken sind jetzt wohl die  klaren
Abende  im  Herbst,  die  Sonntage   in  der  Heide,  die  Dorfglocken,  die
Nachmittage  und Nuchte  mit den  Mugden, die Buchweizenpfannkuchen mit  den
großen Speckaugen, die sorglos verschwatzten Stunden im Krug -
     Mit soviel Phantasie  kann er  so  rasch  nicht  fertig werden; deshalb
knurrt er nur erbost: "Was ihr immer fur Bludsinn zusammenfragt."
     Er streift sein Hemd uber den Kopf und knupft den Waffenrock zu.
     "Was wurdest du machen, Tjaden?" ruft Kropp.
     Tjaden kennt nur eins. "Aufpassen, daß mir Himmelstoß nicht
durchgeht."
     Er muchte  ihn wahrscheinlich  am liebsten in einen Kufig  sperren  und
jeden Morgen mit einem Knuppel uber ihn herfallen. Zu Kropp schwurmt er:
     "An deiner Stelle wurde ich sehen, daß ich  Leutnant wurde.  Dann
kannst du ihn schleifen, daß ihm das Wasser im Hintern kocht."
     "Und  du,  Detering?"  forscht  Muller  weiter.  Er  ist  der  geborene
Schulmeister mit seiner Fragerei.
     Detering ist wortkarg. Aber auf dieses Thema gibt  er Antwort. Er sieht
in  die  Luft und sagt nur  einen Satz: "Ich  wurde  gerade  noch  zur Ernte
zurechtkommen." Damit steht er auf und geht weg.
     Er  macht  sich Sorgen.  Seine  Frau muß  den Hof bewirtschaften.
Dabei  haben sie  ihm  noch  zwei  Pferde weggeholt.  Jeden Tag liest er die
Zeitungen, die kommen,  ob  es  in  seiner oldenburgischen  Ecke auch  nicht
regnet. Sie bringen das Heu sonst nicht fort.
     In  diesem Augenblick erscheint  Himmelstoß. Er kommt direkt  auf
unsere  Gruppe zu. Tjadens  Gesicht wird fleckig.  Er legt sich lungelang ms
Gras und schließt die Augen vor Aufregung.
     Himmelstoß  ist etwas unschlussig, sein Gang wird langsamer. Dann
marschiert  er  dennoch  zu uns heran. Niemand macht Miene, sich zu erheben.
Kropp sieht ihm interessiert entgegen.
     Er steht jetzt vor uns und wartet.  Da keiner etwas sagt, lußt er
ein "Na?" vom Stapel.
     Ein  paar Sekunden verstreichen;  Himmelstoß weiß sichtlich
nicht, wie er  sich benehmen soll. Am liebsten muchte er uns jetzt im Galopp
schleifen. Immerhin  scheint er schon gelernt zu haben, daß  die Front
kein Kasernenhof ist. Er versucht es abermals  und wendet sich nicht mehr an
alle, sondern an einen, er hofft, so leichter Antwort zu erhalten. Kropp ist
ihm am nuchsten. Ihn beehrt er deshalb. "Na, auch hier?"
     Aber Albert ist sein  Freund nicht.  Er antwortet knapp: "Bißchen
lunger als Sie, denke ich."
     Der  rutliche  Schnurrbart zittert. "Ihr  kennt  mich wohl  nicht mehr,
was?"
     Tjaden schlugt jetzt die Augen auf. "Doch."
     Himmelstoß wendet sich ihm zu: "Das ist doch Tjaden, nicht?"
     Tjaden hebt den Kopf.
     "Und weißt du, was du bist?"
     Himmelstoß  ist verblufft.  "Seit wann duzen  wir uns  denn?  Wir
haben doch nicht zusammen im Chausseegraben gelegen."
     Er weiß absolut nichts aus der Situation zu machen. Diese  offene
Feindseligkeit  hat er nicht erwartet. Aber er hutet  sich vorluufig; sicher
hat ihm jemand den Unsinn von Schussen in den Rucken vorgeschwatzt.
     Tjaden wird auf die Frage nach dem Chausseegraben vor Wut sogar witzig.
     "Nee, das warst du alleme."
     Jetzt kocht Himmelstoß auch. Tjaden kommt ihm jedoch eilig zuvor.
Er muß  seinen Spruch loswerden. "Was  du  bist, willst du wissen?  Du
bist ein Sauhund, das bist du! Das  wollt' ich dir schon  lange  mal sagen."
Die Genugtuung vieler Monate leuchtet ihm aus den blanken Schweinsaugen, als
er den Sauhund hinausschmettert.
     Auch Himmelstoß ist nun entfesselt: "Was willst du  Mistkuter, du
dreckiger  Torfdeubel?   Stehen   Sie   auf,  Knochen  zusammen,   wenn  ein
Vorgesetzter mit Ihnen spricht!"
     Tjaden winkt  großartig.  "Sie  kunnen ruhren,  Himmelstoß.
Wegtreten."
     Himmelstoß ist ein tobendes Exerzierreglement. Der  Kaiser kunnte
nicht beleidigter sein.  Er heult: "Tjaden,  ich  befehle  Ihnen dienstlich:
Stehen Sie auf!"
     "Sonst noch was?" fragt Tjaden.
     "Wollen Sie meinem Befehl Folge leisten oder nicht?"
     Tjaden erwidert gelassen und abschließend, ohne es zu wissen, mit
dem bekanntesten Klassikerzitat. Gleichzeitig luftet er seine Kehrseite.
     Himmelstoß sturmt davon: " Sie kommen vors Kriegsgericht!"
     Wir sehen ihn in der Richtung zur Schreibstube verschwinden.
     Haie und Tjaden sind ein gewaltiges  Torfstechergebrull. Haie lacht so,
daß  er  sich  die  Kinnlade ausrenkt  und mit  offenem Maul plutzlich
hilflos dasteht. Albert muß sie ihm mit einem Faustschlag erst  wieder
einsetzen.
     Kat ist besorgt. "Wenn er dich meldet, wird's buse."
     "Meinst du, daß er es tut?" fragt Tjaden.
     "Bestimmt", sage ich.
     "Das mindeste, was du kriegst, sind funf Tage Dicken", erklurt Kat.
     Das erschuttert Tjaden nicht. "Funf Tage Kahn sind funf Tage Ruhe."
     "Und wenn du auf Festung kommst?" forscht der grundlichere Muller.
     "Dann ist der Krieg fur mich so lange aus."
     Tjaden ist ein Sonntagskind. Fur ihn gibt es keine Sorgen. Mit Haie und
Leer zieht er ab, damit man ihn nicht in der ersten Aufregung findet.

     Muller ist noch  immer nicht zu  Ende. Er nimmt sich  wieder Kropp vor.
"Albert, wenn du nun tatsuchlich nach Hause kumst, was wurdest du machen?"
     Kropp ist jetzt satt und  deshalb nachgiebiger. "Wieviel Mann wuren wir
dann eigentlich in der Klasse?"
     Wir rechnen:  von zwanzig sind sieben tot, vier verwundet, einer in der
Irrenanstalt. Es kumen huchstens also zwulf Mann zusammen.
     "Drei  sind davon Leutnants", sagt  Muller. "Glaubst  du, daß sie
sich von Kantorek anschnauzen ließen?"
     "Wir glauben es nicht;  wir  wurden  uns  auch nicht  mehr  anschnauzen
lassen."
     "Was hultst du eigentlich von der dreifachen Handlung im Wilhelm Teil?"
erinnert sich Kropp mit einem Male und brullt vor Lachen.
     "Was waren  die Ziele  des  Guttinger Hainbundes?" forscht auch  Muller
plutzlich sehr streng.
     "Wieviel Kinder hatte Karl der Kuhne?" erwidere ich ruhig.
     "Aus Ihnen wird im Leben nichts, Buumer", quukt Muller.
     "Wann war die Schlacht bei Zama?" will Kropp wissen.
     "Ihnen fehlt  der sittliche Ernst, Kropp,  setzen  Sie sich, drei minus
-", winke ich ab.
     "Welche Aufgaben hielt Lykurgus fur die wichtigsten im Staate?" wispert
Muller und scheint an einem Kneifer zu rucken.
     "Heißt es: Wir Deutsche furchten Gott, sonst niemand in der Welt,
oder wir Deutschen ...?" gebe ich zu bedenken.
     "Wieviel Einwohner hat Melbourne ?" zwitschert Muller zuruck.
     "Wie wollen  Sie  bloß im  Leben bestehen,  wenn  Sie  das  nicht
wissen?" frage ich Albert empurt.
     "Was versteht man unter Kohusion?" trumpft der nun auf.
     Von  dem  ganzen Kram wissen wir nicht mehr allzuviel. Er hat  uns auch
nichts genutzt. Aber niemand hat uns in der Schule beigebracht,  wie man bei
Regen und Sturm eine Zigarette anzundet, wie man ein Feuer  aus  nassem Holz
machen  kann  -  oder  daß  man ein Bajonett  am besten  in  den Bauch
stußt, weil es da nicht festklemmt wie bei den Rippen.
     Muller sagt nachdenklich: "Was nutzt es. Wir werden doch wieder auf die
Schulbank mussen."
     Ich halte es fur ausgeschlossen. "Vielleicht machen wir ein Notexamen."
     "Dazu  brauchst du  Vorbereitung.  Und wenn  du  es schon bestehst, was
dann? Student sein ist nicht viel besser. Wenn du kein Geld hast, mußt
du auch buffeln."
     "Etwas besser ist es. Aber Quatsch bleibt es  trotzdem,  was sie dir da
eintrichtern."
     Kropp trifft unsere Stimmung:
     "Wie kann  man das ernst nehmen,  wenn man  hier  draußen gewesen
ist."
     "Aber du mußt doch  einen  Beruf  haben", wendet Muller  ein, als
wure er Kantorek in Person.
     Albert reinigt sich  die Nugel  mit dem Messer. Wir sind  erstaunt uber
dieses Stutzertum. Aber es  ist nur Nachdenklichkeit. Er schiebt das  Messer
weg und erklurt: "Das ist es ja.  Kat und Detering und Haie werden wieder in
ihren  Beruf gehen, weil sie ihn schon vorher gehabt haben. Himmelstoß
auch. Wir haben keinen gehabt. Wie sollen wir uns da  nach diesem hier" - er
macht eine Bewegung zur Front - "an einen gewuhnen."
     "Man  mußte Rentier  sein und  dann  ganz allein  in  einem Walde
wohnen  kunnen  -",   sage  ich,  schume   mich  aber   sofort  uber  diesen
Grußenwahn.
     "Was soll das bloß werden, wenn wir  zuruckkommen?" meint Muller,
und selbst er ist betroffen.
     Kropp zuckt die Achseln. "Ich weiß nicht. Erst mal da sein,  dann
wird sich's ja zeigen."
     Wir  sind eigentlich  alle ratlos. "Was kunnte man  denn machen?" frage
ich.
     "Ich  habe zu nichts Lust", antwortet  Kropp mude. "Eines Tages bist du
doch tot, was hast du  da schon?  Ich glaube nicht, daß wir  uberhaupt
zuruckkommen."
     "Wenn  ich daruber nachdenke, Albert", sage ich  nach  einer Weile  und
wulze  mich auf den  Rucken, "so muchte ich, wenn ich  das Wort Friede hure,
und es wure wirklich so, irgend etwas Unausdenkbares tun,  so steigt  es mir
zu  Kopf.  Etwas,  weißt  du,  was  wert  ist, daß  man  hier im
Schlamassel gelegen hat. Ich  kann mir bloß nichts vorstellen. Was ich
an  Muglichem sehe, diesen ganzen Betrieb mit Beruf  und Studium und  Gehalt
und so weiter -  das kotzt mich an, denn das  war ja  immer schon da und ist
widerlich. Ich finde nichts - ich finde nichts, Albert."
     Mit einemmal scheint mir alles aussichtslos und verzweifelt.
     Kropp denkt ebenfalls daruber nach. Es wird uberhaupt schwer werden mit
uns allen. Ob die sich in der Heimat eigentlich nicht manchmal Sorgen machen
deswegen? Zwei  Jahre Schießen  und  Handgranaten - das  kann man doch
nicht ausziehen wie einen Strumpf nachher -"
     Wir stimmen darin  uberein, daß es jedem uhnlich geht; nicht  nur
uns hier; uberall, jedem, der in  der gleichen Lage ist, dem einen mehr, dem
andern weniger. Es ist das gemeinsame Schicksal unserer Generation.
     Albert spricht es aus. "Der Krieg hat uns fur alles verdorben."
     Er hat recht.  Wir sind keine  Jugend  mehr. Wir  wollen die Welt nicht
mehr sturmen.  Wir sind Fluchtende. Wir fluchten vor uns. Vor unserem Leben.
Wir waren achtzehn Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir
mußten darauf schießen. Die erste Granate,  die  einschlug, traf
in  unser  Herz.  Wir  sind  abgeschlossen vom  Tutigen,  vom  Streben,  vom
Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg.

     Die Schreibstube wird  lebendig. Himmelstoß scheint sie alarmiert
zu  haben.  An der Spitze der  Kolonne trabt  der  dicke Feldwebel. Komisch,
daß fast alle etatsmußigen Feldwebel dick sind.
     Ihm folgt der rachedurstende Himmelstoß. Seine Stiefel glunzen in
der Sonne.
     Wir erheben uns. Der Spieß schnauft:
     "Wo ist Tjaden?"
     Naturlich weiß es keiner. Himmelstoß glitzert uns buse an.
     "Bestimmt wißt ihr es. Wollt es bloß nicht  sagen. Raus mit
der Sprache."
     Der  Spieß  sieht  sich  suchend  um;  Tjaden  ist  nirgendwo  zu
erblicken. Er versucht es andersherum. "In zehn Minuten soll Tjaden sich
     auf der Schreibstube melden." Damit zieht er davon, Himmelstoß in
seinem Kielwasser.
     "Ich  habe  das  Gefuhl, daß  mir  beim  nuchsten  Schanzen  eine
Drahtrolle auf die Beine von Himmelstoß fallen wird", vermutet Kropp.
     "Wir werden an ihm  noch viel Spaß  haben", lacht Muller. Das ist
nun unser Ehrgeiz: einem Brieftruger die Meinung stoßen. -
     Ich  gehe  in  die  Baracke   und   sage  Tjaden  Bescheid,  damit   er
verschwindet.  Dann wechseln  wir  unsern Platz und  lagern uns  wieder,  um
Karten  zu spielen. Denn das  kunnen wir: Kartenspielen,  fluchen und  Krieg
fuhren. Nicht viel fur zwanzig Jahre - zuviel fur zwanzig Jahre.
     Nach einer  halben Stunde ist Himmelstoß erneut bei  uns. Niemand
beachtet ihn. Er fragt nach Tjaden. Wir zucken die Achseln.
     "Ihr solltet ihn doch suchen", beharrt er.
     "Wieso ihr?" erkundigt sich Kropp.
     "Na, ihr hier -"
     "Ich muchte Sie bitten, uns nicht zu duzen", sagt Kropp wie ein Oberst.
     Himmelstoß fullt aus den Wolken. "Wer duzt euch denn?"
     "Sie!"
     "Ich?"
     "Ja."
     Es arbeitet  in ihm.  Er  schielt Kropp mißtrauisch an,  weil  er
keine Ahnung hat, was der meint.  Immerhin traut er  sich in  diesem  Punkte
nicht ganz und kommt uns entgegen. "Habt ihr ihn nicht gefunden?"
     Kropp  legt  sich  ins  Gras  und  sagt:  "Waren  Sie  schon  mal  hier
draußen?"
     "Das geht Sie gar nichts an",  bestimmt Himmelstoß. "Ich verlange
Antwort."
     "Gemacht", erwidert Kropp und erhebt  sich. "Sehen Sie mal dorthin,  wo
die kleinen Wulkchen stehen. Das sind die Geschosse der Flaks. Da waren  wir
gestern. Funf Tote, acht Verwundete .Dabei war es eigentlich ein Spaß.
Wenn  Sie  nuchstens  mit 'rausgehen, werden  die  Mannschaften,  bevor  sie
sterben, erst vor Sie hintreten, die Knochen zusammenreißen und zackig
fragen: Bitte wegtreten zu durfen! Bitte abkratzen zu durfen! Auf  Leute wie
Sie haben wir hier gerade gewartet."
     Er setzt sich wieder, und Himmelstoß verschwindet wie ein Komet.
     "Drei Tage Arrest", vermutet Kat.
     "Das nuchstemal lege ich los", sage ich zu Albert.
     Aber  es  ist  Schluß.  Dafur  findet  abends  beim  Appell  eine
Vernehmung statt. In  der  Schreibstube  sitzt  unser Leutnant Bertinck  und
lußt einen nach dem andern rufen.
     Ich  muß ebenfalls als Zeuge erscheinen  und  klure  auf, weshalb
Tjaden   rebelliert   hat.   Die   Bettnussergeschichte    macht   Eindruck.
Himmelstoß wird herangeholt und ich wiederhole meine Aussagen.
     "Stimmt das?" fragt Bertinck Himmelstoß.
     Der windet  sich und muß es  schließlich zugeben, als Kropp
die gleichen Angaben macht.
     "Weshalb hat denn niemand das damals gemeldet?" fragt Bertinck.
     Wir schweigen;  er  muß  doch selbst wissen, was  eine Beschwerde
uber  solche Kleinigkeiten  beim Kommiß  fur Zweck  hat. Gibt es  beim
Kommiß  uberhaupt  Beschwerden ? Er  sieht  es wohl  ein  und  kanzelt
Himmelstoß zunuchst ab, indem  er ihm noch einmal energisch klarmacht,
daß  die  Front  kein  Kasernenhof  sei.  Dann  kommt  in  versturktem
Maße Tjaden an die Reihe, der eine ausgewachsene Predigt und drei Tage
Mittelarrest erhult. Kropp  diktiert  er  mit  einem Augenzwinkern einen Tag
Arrest.
     "Geht nicht anders",  sagt erbedauernd zu ihm. Er ist ein  vernunftiger
Kerl.
     Mittelarrest   ist  angenehm.  Das   Arrestlokal   ist   ein   fruherer
Huhnerstall; da  kunnen  beide  Besuch  empfangen, wir  verstehen uns  schon
darauf,  hinzukommen. Dicker Arrest wure  Keller gewesen.  Fruher wurden wir
auch an einen Baum gebunden,  doch  das ist jetzt verboten. Manchmal  werden
wir schon wie Menschen behandelt.
     Eine Stunde nachdem Tjaden und Kropp hinter  ihren Drahtgittern sitzen,
brechen wir zu ihnen auf. Tjaden begrußt uns kruhend.
     Dann spielen  wir  bis in die Nacht Skat. Tjaden gewinnt naturlich, das
dumme Luder.

     Beim Aufbrechen fragt Kat mich: "Was meinst du zu Gunsebraten?"
     "Nicht schlecht", finde ich.
     Wir  klettern  auf   eine  Munitionskolonne.   Die  Fahrt  kostet  zwei
Zigaretten.  Kat hat  sich den  Ort genau gemerkt. Der  Stall  gehurt  einem
Regimentsstab.  Ich  beschließe,  die  Gans zu  holen, und  lasse  mir
Instruktionen geben. Der Stall ist  hinter der Mauer, nur  mit  einem Pflock
verschlossen.
     Kat  hult  mir  die  Hunde hin,  ich stemme den  Fuß  hinein  und
klettere uber die Mauer. Kat steht unterdessen Schmiere.
     Einige Minuten  bleibe  ich  stehen, um  die Augen an die Dunkelheit zu
gewuhnen. Dann erkenne ich den  Stall. Leise schleiche ich mich heran, taste
den Pflock ab, ziehe ihn weg und uffne die Tur.
     Ich  unterscheide zwei  weiße Flecke. Zwei  Gunse, das  ist faul:
faßt  man die  eine, so  schreit  die andere. Also beide  -  wenn  ich
schnell bin, klappt es.
     Mit  einem Satz springe ich zu. Eine erwische ich sofort, einen  Moment
sputer die zweite. Wie verruckt haue ich die Kupfe gegen die Wand, um sie zu
betuuben.  Aber ich muß wohl  nicht genugend  Wucht haben. Die Biester
ruuspern sich und schlagen mit Fußen  und  Flugeln um sich. Ich kumpfe
erbittert, aber, Donnerwetter,  was  hat so eine Gans fur Kraft! Sie zerren,
daß ich hin und her  taumele. Im Dunkel sind diese weißen Lappen
scheußlich, meine Arme haben Flugel  gekriegt, beinahe habe ich Angst,
daß  ich mich zum  Himmel erhebe, als hutte ich ein paar Fesselballons
in den Pfoten.
     Da  geht auch schon  der Lurm  los; einer der Hulse hat Luft geschnappt
und schnarrt wie eine  Weckuhr. Ehe ich mich versehe, tappt es draußen
heran,  ich  bekomme einen Stoß, liege  am  Boden  und  hure  wutendes
Knurren. Ein Hund.
     Ich blicke zur  Seite; da schnappt er schon  nach meinem  Halse. Sofort
liege ich still und ziehe vor allem das Kinn an den Kragen.
     Es ist eine Dogge.  Nach einer  Ewigkeit nimmt sie den Kopf zuruck  und
setzt sich neben  mich. Doch wenn ich versuche, mich zu bewegen, knurrt sie.
Ich  uberlege. Das  einzige, was  ich  tun  kann, ist, daß ich  meinen
kleinen Revolver zu fassen kriege. Fort  muß ich  hier auf jeden Fall,
ehe Leute kommen. Zentimeterweise schiebe ich die Hand heran.
     Ich  habe das  Gefuhl, daß es  Stunden  dauert.  Immer eine leise
Bewegung  und ein gefuhrliches Knurren; Stilliegen und erneuter Versuch. Als
ich den Revolver in  der Hand habe, fungt sie  an zu zittern. Ich drucke sie
auf den Boden und mache mir klar: Revolver hochreißen, schießen,
ehe er zufassen kann, und turmen.
     Langsam hole  ich Atem und  werde ruhiger. Dann halte ich die Luft  an,
zucke den Revolver hoch, es knallt, die Dogge spritzt jaulend zur Seite, ich
gewinne die Tur des Stalles und purzele uber eine der gefluchteten Gunse.
     Im Galopp greife  ich  schnell noch zu,  schmeiße  sie mit  einem
Schwung uber die Mauer und klettere selbst hoch. Ich bin noch nicht hinuber,
da ist die Dogge auch  schon wieder munter und springt nach mir. Rasch lasse
ich mich fallen. Zehn Schritt  vor mir steht Kat, die Gans im Arm.  Sowie er
mich sieht, laufen wir.
     Endlich kunnen wir verschnaufen. Die Gans ist tot, Kat hat das in einem
Moment erledigt. Wir wollen sie gleich braten, damit keiner etwas merkt. Ich
hole Tupfe und Holz aus  der  Baracke,  und  wir  kriechen  in einen kleinen
verlassenen  Schuppen,  den  wir  fur  solche  Zwecke  kennen.  Die  einzige
Fensterluke  wird  dicht   verhungt.  Eine   Art  Herd  ist  vorhanden,  auf
Backsteinen liegt eine eiserne Platte. Wir zunden ein Feuer an.
     Kat rupft die Gans und bereitet sie zu. Die Federn legen wir sorgfultig
beiseite.  Wir  wollen  uns  zwei  kleine  Kissen  daraus  machen  mit   der
Aufschrift: "Ruhe sanft im Trommelfeuer!"
     Das  Artilleriefeuer der Front umsummt unsern Zufluchtsort. Lichtschein
flackert uber unsere Gesichter, Schatten tanzen auf  der Wand.  Manchmal ein
dumpfer Krach, dann  zittert der Schuppen. Fliegerbomben. Einmal  huren  wir
gedumpfte Schreie. Eine Baracke muß getroffen sein.
     Flugzeuge  surren; das  Tacktack von MaschirMßgewehren wird laut.
Aber von uns dringt kein Licht hinaus, dasrzu sehen wure.
     So sitzen wir uns gegenuber, Kat und ich, zwei Soldaten in abgeschabten
Rucken, die  eine Gans  braten, mitten in  der Nacht.  Wir reden nicht viel,
aber  wir sind  voll zarterer Rucksicht  miteinander,  als  ich  mir  denke,
daß Liebende  es  sein kunnen. Wir  sind zwei Menschen,  zwei  winzige
Funken Leben, draußen  ist die  Nacht  und  der  Kreis des  Todes. Wir
sitzen an  ihrem  Rande, gefuhrdet und geborgen,  uber  unsere Hunde  trieft
Fett, wir sind uns nahe mit unseren Herzen, und die Stunde ist wie der Raum:
uberflackert  von einem sanften  Feuer,  gehen die Lichter und Schatten  der
Empfindungen hin und her. Was weiß er von mir - was weiß ich von
ihm, fruher wure keiner unserer Gedanken uhnlich gewesen -  jetzt sitzen wir
vor einer Gans und fuhlen  unser Dasein und  sind uns so nahe, daß wir
nicht daruber sprechen mugen.
     Es dauert lange, eine Gans zu braten,  auch wenn sie jung und fett ist.
Wir wechseln uns deshalb  ab.  Einer begießt sie,  wuhrend  der andere
unterdessen schluft. Ein herrlicher Duft verbreitet sich allmuhlich.
     Die Geruusche  von  draußen werden zu einem Band, zu einem Traum,
der aber die Erinnerung nicht ganz verliert. Ich sehe im Halbschlaf  Kat den
Luffel  heben und  senken, ich  liebe ihn, seine  Schultern,  seine  eckige,
gebeugte  Gestalt  -  und zu  gleicher  Zeit sehe ich  hinter ihm Wulder und
Sterne, und  eine  gute Stimme  sagt  Worte, die mir  Ruhe geben, mir, einem
Soldaten, der  mit seinen großen Stiefeln und seinem Koppel und seinem
Brotbeutel klein unter dem hohen Himmel den Weg geht, der vor ihm liegt, der
rasch vergißt  und nur selten noch traurig  ist, der  immer weitergeht
unter dem großen Nachthimmel.
     Ein kleiner  Soldat und eine gute  Stimme, und wenn man ihn  streicheln
wurde,  kunnte  er es vielleicht  nicht  mehr verstehen, der Soldat  mit den
großen Stiefeln und dem zugeschutteten Herzen, der marschiert, weil er
Stiefel trugt, und alles vergessen  hat außer dem Marschieren. Sind am
Horizont  nicht Blumen  und eine Landschaft, die so still  ist, daß er
weinen muchte, der Soldat?  Stehen dort nicht Bilder, die  er nicht verloren
hat, weil er sie nie besessen hat, verwirrend, aber dennoch fur ihn voruber?
Stehen dort nicht seine zwanzig Jahre?
     Ist mein  Gesicht naß, und wo bin ich?  Kat steht  vor  mir, sein
riesiger  gebuckter  Schatten fullt uber mich  wie  eine  Heimat. Er spricht
leise, er luchelt und geht zum Feuer zuruck.
     Dann sagt er: "Es ist fertig."
     "Ja, Kat."
     Ich schuttele mich. In der Mitte des Raumes leuchtet der braune Braten.
Wir holen unsere  zusammenklappbaren  Gabeln und unsere Taschenmesser heraus
und schneiden uns jeder eine Keule  ab. Dazu essen wir Kommißbrot, das
wir in die Soße tunken. Wir essen langsam, mit vollem Genuß.
     "Schmeckt es, Kat?"
     "Gut! Dir auch?"
     "Gut, Kat."
     Wir  sind  Bruder und schieben  uns gegenseitig  die besten Stucke  zu.
Hinterher rauche ich  eine  Zigarette, Kat eine  Zigarre. Es  ist  noch viel
ubriggeblieben.
     "Wie wure es, Kat, wenn wir Kropp und Tjaden ein Stuck bruchten?"
     "Gemacht",  sagt er.  Wir schneiden  eine Portion  ab  und wickeln  sie
sorgfultig in  Zeitungspapier.  Den  Rest  wollen wir eigentlich  in  unsere
Baracke tragen, aber Kat lacht und sagt nur: "Tjaden."
     Ich sehe  es ein, wir mussen alles mitnehmen. So machen wir uns auf den
Weg zum Huhnerstall,  um die beiden  zu wecken. Vorher packen wir  noch  die
Federn weg.
     Kropp und Tjaden  halten uns fur eine Fata Morgana. Dann knirschen ihre
Gebisse. Tjaden hat einen Flugel mit beiden Hunden wie eine Mundharmonika im
Munde und kaut.  Er suuft das Fett aus  dem Topf und schmatzt: "Das vergesse
ich euch nie!"
     Wir gehen zu unserer  Baracke. Da ist  der  hohe Himmel  wieder mit den
Sternen und der beginnenden Dummerung, und ich gehe darunter hin, ein Soldat
mit großen Stiefeln und  vollem Magen, ein kleiner Soldat in der Fruhe
- aber neben mir, gebeugt und eckig, geht Kat, mein Kamerad.
     Die  Umrisse  der Baracke kommen in  der  Dummerung  auf uns zu wie ein
schwarzer, guter Schlaf.



     Es wird von einer Offensive gemunkelt.  Wir gehen zwei Tage  fruher als
sonst an die Front. Auf dem Wege  passieren wir eine zerschossene Schule. An
ihrer  Lungsseite  aufgestapelt  steht eine  doppelte, hohe  Mauer  von ganz
neuen, hellen, unpolierten Surgen. Sie riechen  noch nach  Harz  und Kiefern
und Wald. Es sind mindestens hundert.
     "Da ist ja gut vorgesorgt zur Offensive", sagt Muller erstaunt.
     "Die sind fur uns", knurrt Detering.
     "Quatsch nicht!" fuhrt Kat ihn an.
     "Sei froh,  wenn  du  noch  einen  Sarg  kriegst",  grinst Tjaden, "dir
verpassen sie  doch  nur  eine Zeltbahn  fur  deine  Schießbudenfigur,
paß auf!"
     Auch  die andern machen Witze, unbehagliche Witze, was sollen wir sonst
tun. - Die Surge sind ja tatsuchlich fur uns.  In  solchen Dingen klappt die
Organisation.
     uberall  vorn  brodelt  es.  In der ersten  Nacht versuchen  wir uns zu
orientieren. Da es ziemlich still ist, kunnen  wir huren, wie die Transporte
hinter der gegnerischen  Front rollen,  unausgesetzt, bis  in  die Dummerung
hinein. Kat  sagt, daß sie  nicht abrollen,  sondern Truppen  bringen,
Truppen, Munition, Geschutze.
     Die englische Artillerie ist versturkt, das huren wir sofort. Es stehen
rechts  von der Ferme mindestens  vier  Batterien  20,5 mehr, und hinter dem
Pappelstumpf  sind Minenwerfer  eingebaut. Außerdem  ist  eine  Anzahl
dieser kleinen franzusischen Biester mit Aufschlagzundern hinzugekommen.
     Wir  sind  in gedruckter Stimmung. Zwei  Stunden  nachdem  wir  in  den
Unterstunden stecken, schießt uns die eigene Artillerie in den Graben.
Es  ist  das drittemal in vier  Wochen. Wenn es noch Zielfehler wuren, wurde
keiner was sagen, aber es liegt daran,  daß die  Rohre zu  ausgeleiert
sind; sie streuen bis in unsern Abschnitt, so
     unsicher werden die Schusse oft. In dieser Nacht haben wir dadurch zwei
Verwundete.

     Die  Front ist  ein Kufig, in dem man nervus  warten muß auf das,
was geschehen wird.  Wir liegen unter dem Gitter der Granatenbogen und leben
in  der  Spannung  des Ungewissen.  uber  uns schwebt  der Zufall. Wenn  ein
Geschoß kommt, kann ich mich ducken, das ist alles; wohin  es schlugt,
kann ich weder genau wissen noch beeinflussen.
     Dieser Zufall ist es, der uns gleichgultig  macht.  Ich  saß  vor
einigen Monaten in einem Unterstand und spielte Skat; nach einer Weile stand
ich auf und ging,  Bekannte in einem andern Unterstand zu besuchen. Als  ich
zuruckkam, war  von  dem  ersten nichts mehr  zu sehen,  er  war  von  einem
schweren  Treffer zerstampft. Ich  ging zum  zweiten  zuruck und kam  gerade
rechtzeitig, um zu  helfen, ihn aufzugraben.  Er  war inzwischen verschuttet
worden.
     Ebenso  zufullig, wie  ich  getroffen  werde,  bleibe ich am Leben.  Im
bombensicheren Unterstand  kann ich zerquetscht werden, und auf freiem Felde
zehn  Stunden  Trommelfeuer  unverletzt uberstehen. Jeder Soldat  bleibt nur
durch tausend  Zufulle am Leben. Und  jeder  Soldat glaubt und vertraut  dem
Zufall.

     Wir  mussen  auf  unser  Brot achtgeben.  Die Ratten  haben  sich  sehr
vermehrt in der  letzten Zeit, seit  die  Gruben nicht mehr recht in Ordnung
sind. Detering behauptet, es wure das sicherste Vorzeichen fur dicke Luft.
     Die Ratten  hier  sind  besonders widerwurtig, weil  sie so  groß
sind.   Es  ist  die   Art,  die   man  Leichenratten   nennt.   Sie   haben
scheußliche,  busartige, nackte  Gesichter,  und  es  kann einem  ubel
werden, wenn man ihre langen, kahlen Schwunze sieht.
     Sie scheinen recht  hungrig zu sein.  Bei fast allen haben sie das Brot
angefressen. Kropp  hat es unter seinem Kopf fest in die Zeltbahn gewickelt,
doch  er kann  nicht schlafen,  weil  sie ihm uber das  Gesicht  laufen,  um
heranzugelangen.  Detering wollte schlau sein; er  hatte an der  Decke einen
dunnen  Draht  befestigt  und  sein  Brot  darangehungt. Als er nachts seine
Taschenlampe  anknipst, sieht  er den Draht hin und her  schwanken. Auf  dem
Brot reitet eine fette Ratte.
     Schließlich machen  wir  ein Ende. Die Stucke Brot,  die  von den
Tieren benagt sind, schneiden  wir sorgfultig aus; wegwerfen kunnen wir  das
Brot ja auf keinen Fall, weil wir morgen sonst nichts zu essen haben.
     Die abgeschnittenen  Scheiben  legen wir  in der Mitte  auf  dem  Boden
zusammen. Jeder nimmt seinen Spaten heraus und legt  sich  schlagbereit hin.
Detering, Kropp und Kat halten ihre Taschenlampen bereit.
     Nach wenigen Minuten  huren wir  das  erste  Schlurfen und  Zerren.  Es
versturkt  sich,  nun  sind  es  viele  kleine Fuße.  Da  blitzen  die
Taschenlampen auf, und  alles schlugt  auf  den  schwarzen  Haufen ein,  der
auseinanderzischt.  Der  Erfolg ist gut. Wir  schaufeln die Rattenteile uber
den Grabenrand und legen uns wieder auf die Lauer.
     Noch einige  Male gelingt uns der Schlag.  Dann haben die  Tiere  etwas
gemerkt  oder das Blut  gerochen.  Sie kommen  nicht mehr. Trotzdem ist  der
Brotrest auf dem Boden am nuchsten Tage von ihnen weggeholt.
     Im benachbarten Abschnitt haben  sie zwei große Katzen und  einen
Hund uberfallen, totgebissen und angefressen.

     Am  nuchsten  Tage  gibt  es  Edamer  Kuse.  Jeder  erhult  fast  einen
Viertelkuse. Das  ist  teilweise gut,  denn  Edamer schmeckt  -  und  es ist
teilweise faul, denn fur uns waren die dicken  roten Bulle bislang immer ein
Anzeichen fur schweren Schlamassel.  Unsere  Ahnung steigert sich,  als noch
Schnaps ausgeteilt wird. Vorluufig trinken wir ihn; aber uns ist  nicht wohl
zumute dabei.
     Tagsuber  machen wir  Wettschießen auf Ratten und lungern  umher.
Die  Patronen  und  Handgranatenvorrute  werden reichlicher.  Die  Bajonette
revidieren  wir  selbst.  Es gibt numlich  welche, die gleichzeitig auf  der
stumpfen  Seite  als  Suge eingerichtet  sind.  Wenn die druben jemand damit
erwischen, wird er rettungslos  abgemurkst.  Im Nachbarabschnitt sind  Leute
von uns wiedergefunden worden, denen mit diesen Sugeseitengewehren die Nasen
abgeschnitten  und die  Augen ausgestochen waren. Dann hatte  man  ihnen den
Mund und Nase mit Sugespunen gefullt und sie so erstickt.
     Einige  Rekruten haben  noch Seitengewehre uhnlicher Art;  wir schaffen
sie weg und besorgen ihnen andere.
     Das Seitengewehr  hat allerdings an Bedeutung verloren. Zum Sturmen ist
es  jetzt  manchmal Mode, nur mit Handgranaten  und  Spaten  vorzugehen. Der
geschurfte  Spaten ist  eine leichtere und vielseitigere Waffe, man kann ihn
nicht nur unter das Kinn stoßen, sondern vor allem damit schlagen, das
hat grußere  Wucht;  besonders wenn man schrug zwischen  Schulter  und
Hals trifft, spaltet man leicht bis zur Brust durch. Das Seitengewehr bleibt
beim Stich oft stecken, man muß dann erst dem andern kruftig gegen den
Bauch  treten, um es loszukriegen, und  in  der Zwischenzeit hat man  selbst
leicht eins weg. Dabei bricht es noch außerdem manchmal ab.
     Nachts wird Gas abgeblasen. Wir erwarten den Angriff und liegen mit den
Masken  fertig,  bereit,  sie  abzureißen,  sowie  der erste  Schatten
auftaucht.
     Der  Morgen  graut,  ohne  daß etwas  erfolgt. Nur  immer  dieses
nervenzerreibende  Rollen druben,  Zuge,  Zuge,  Lastwagen,  Lastwagen,  was
konzentriert sich  da  nur? Unsere Artillerie funkt stundig hinuber, aber es
hurt nicht auf, es hurt nicht auf. -
     Wir haben  mude Gesichter und sehen  aneinander vorbei. "Es wird wie an
der Somme, da hatten wir nachher sieben Tage  und Nuchte Trommelfeuer", sagt
Kat  duster. Er hat gar keinen Witz mehr, seit  wir  hier  sind, und das ist
schlimm, denn Kat ist  ein  altes Frontschwein, das  Witterung besitzt.  Nur
Tjaden freut sich der  guten Portionen und  des  Rums;  er meint sogar,  wir
wurden genauso in Ruhe zuruckkehren, es wurde gar nichts passieren.
     Fast  scheint es  so. Ein Tag nach dem  andern geht voruber.  Ich sitze
nachts   im  Loch  auf  Horchposten.   uber  mir  steigen  die  Raketen  und
Leuchtschirme  auf  und nieder. Ich bin  vorsichtig und  gespannt, mein Herz
klopft. Immer wieder liegt  mein Auge auf der Uhr mit dem Leuchtzifferblatt;
der Zeiger will nicht weiter.  Der Schlaf  hungt in meinen Augenlidern,  ich
bewege die  Zehen in den Stiefeln, um  wachzubleiben.  Nichts geschieht, bis
ich  abgelust  werde;  - nur immer  das Rollen druben. Wir werden allmuhlich
ruhig und spielen stundig Skat und Mauscheln. Vielleicht haben wir Gluck.
     Der Himmel hungt tagsuber voll Fesselballons. Es heißt, daß
von   druben   jetzt  auch  hier   Tanks   eingesetzt   werden   sollen  und
Infanterieflieger  beim Angriff. Das interessiert uns aber weniger als  das,
was von den neuen Flammenwerfern erzuhlt wird.

     Mitten in der Nacht erwachen wir. Die Erde druhnt. Schweres Feuer liegt
uber  uns. Wir drucken uns in die Ecken. Geschosse aller Kaliber  kunnen wir
unterscheiden.
     Jeder greift nach seinen Sachen  und vergewissert sich alle Augenblicke
von neuem,  daß sie  da sind. Der Unterstand  bebt, die Nacht ist  ein
Brullen und Blitzen.  Wir sehen  uns bei  dem sekundenlangen  Licht  an  und
schutteln mit bleichen Gesichtern und gepreßten Lippen die Kupfe.
     Jeder  fuhlt  es mit,  wie die  schweren  Geschosse  die Grabenbrustung
wegreißen,  wie  sie   die  Buschung  durchwuhlen   und  die  obersten
Betonklutze  zerfetzen. Wir merken den dumpferen, rasenderen Schlag, der dem
Prankenhieb eines  fauchenden  Raubtiers  gleicht, wenn  der  Schuß im
Graben sitzt. Morgens sind einige Rekruten bereits grun und kotzen. Sie sind
noch zu unerfahren.
     Langsam rieselt  widerlich graues  Licht in den Stollen  und  macht das
Blitzen der Einschluge  fahler.  Der  Morgen  ist  da.  Jetzt  mischen  sich
explodierende  Minen  in  das Artilleriefeuer. Es  ist das Wahnsinnigste  an
Erschutterung, was es gibt. Wo sie niederfegen, ist ein Massengrab.
     Die Ablusungen gehen hinaus, die Beobachter taumeln herein, mit Schmutz
beworfen, zitternd. Einer legt  sich schweigend  in die  Ecke und ißt,
der  andere,  ein  Ersatzreservist,  schluchzt;  er  ist  zweimal  uber  die
Brustwehr  geflogen  durch  den  Luftdruck  der  Explosion, ohne  sich etwas
anderes zu holen als einen Nervenschock.
     Die  Rekruten sehen zu  ihm hin. So etwas steckt rasch  an, wir  mussen
aufpassen,  schon  fangen verschiedene  Lippen  an  zu  flattern.  Gut  ist,
daß es Tag wird; vielleicht erfolgt der Angriff vormittags.
     Das  Feuer schwucht  nicht ab. Es liegt auch  hinter uns.  So  weit man
sehen kann, spritzen Dreck- und Eisenfontunen. Ein  sehr breiter Gurtel wird
bestrichen.
     Der Angriff erfolgt nicht, aber die  Einschluge dauern  an. Wir  werden
langsam  taub.  Es  spricht  kaum noch  jemand.  Man  kann sich  auch  nicht
verstehen.
     Unser Graben ist fast fort. An  vielen Stellen reicht er nur noch einen
halben Meter hoch, er ist durchbrochen von Luchern, Trichtern und Erdbergen.
Direkt  vor unserm Stollen platzt  eine  Granate. Sofort ist es  dunkel. Wir
sind  zugeschuttet  und mussen uns  ausgraben.  Nach einer  Stunde  ist  der
Eingang  wieder  frei,  und wir sind etwas  gefaßter, weil  wir Arbeit
hatten.
     Unser  Kompaniefuhrer klettert herein  und  berichtet,  daß  zwei
Unterstunde  weg sind. Die Rekruten beruhigen  sich, als sie  ihn sehen.  Er
sagt, daß heute abend versucht werden soll, Essen heranzubringen.
     Das klingt trustlich. Keiner hat daran gedacht, außer Tjaden. Nun
ruckt etwas wieder von draußen nuher; - wenn Essen geholt werden soll,
kann es ja nicht so schlimm sein, denken die Rekruten. Wir sturen sie nicht,
wir wissen, daß Essen  ebenso wichtig wie Munition ist und nur deshalb
herangeschafft werden muß.
     Aber es  mißlingt. Eine  zweite Staffel geht los. Auch  sie kehrt
um.   Schließlich   ist   Kat   dabei,   und   selbst   er   erscheint
unverrichtetersache  wieder.  Niemand  kommt durch,  kein  Hundeschwanz  ist
schmal genug fur dieses Feuer.
     Wir ziehen unsere Schmachtriemen  enger und kauen jeden  Happen dreimal
so  lange.  Doch  es  reicht  trotzdem  nicht  aus;  wir  haben  verfluchten
Kohldampf. Ich bewahre mir eine Kante  auf; das  Weiche esse ich heraus, die
Kante bleibt im Brotbeutel; ab und zu knabbere ich mal daran.
     Die Nacht ist unertruglich. Wir kunnen nicht schlafen, wir stieren  vor
uns  hin  und duseln. Tjaden bedauert,  daß  wir unsere  angefressenen
Brotstucke fur die  Ratten vergeudet haben.  Wir  hutten sie ruhig  aufheben
sollen. Jeder wurde sie jetzt essen. Wasser fehlt uns  auch, aber noch nicht
so sehr.
     Gegen  Morgen,  als  es noch dunkel ist, entsteht Aufregung.  Durch den
Eingang sturzt ein Schwurm fluchtender Ratten und jagt die Wunde hinauf. Die
Taschenlampen  beleuchten  die  Verwirrung.  Alle  schreien  und fluchen und
schlagen  zu.  Es ist  der Ausbruch  der  Wut  und  der Verzweiflung  vieler
Stunden, der sich entludt. Die Gesichter sind  verzerrt, die Arme  schlagen,
die Tiere quietschen, es fullt schwer,  daß wir aufhuren,  fast  hutte
einer den anderen angefallen.
     Der  Ausbruch hat uns  erschupft. Wir  liegen und warten wieder. Es ist
ein Wunder, daß unser Unterstand noch keine Verluste hat. Er ist einer
der wenigen tiefen Stollen, die es jetzt noch gibt.
     Ein Unteroffizier  kriecht  herein;  der hat ein  Brot  bei  sich. Drei
Leuten ist  es doch gegluckt,  nachts durchzukommen  und  etwas  Proviant zu
holen. Sie haben erzuhlt, daß das Feuer in  unverminderter Sturke  bis
zu  den Artilleriestunden luge. Es sei ein Rutsel,  wo  die druben  so viele
Geschutze hernuhmen.
     Wir mussen  warten,  warten.  Mittags passiert  das,  womit  ich  schon
rechnete. Einer der  Rekruten hat einen Anfall.  Ich  habe ihn  schon  lange
beobachtet, wie  er  ruhelos  die  Zuhne  bewegte und die  Fuuste ballte und
schloß. Diese gehetzten, herausspnngenden Augen kennen wir zur Genuge.
In den letzten Stunden ist er nur scheinbar stiller geworden. Er ist in sich
zusammengesunken wie ein morscher Baum.
     Jetzt  steht  er auf, unauffullig kriecht er durch den  Raum,  verweilt
einen Augenblick und rutscht dann  dem  Ausgang zu. Ich lege  mich herum und
frage: "Wo willst du hin?"
     "Ich bin gleich wieder da", sagt er und will an mir vorbei. "Warte doch
noch, das Feuer lußt schon nach."
     Er horcht auf, und das Auge wird einen Moment klar.  Dann hat es wieder
den truben Glanz wie bei einem tollwutigen Hund, er schweigt und drungt mich
fort. "Eine Minute, Kamerad!" rufe ich.
     Kat wird aufmerksam. Gerade als der  Rekrut mich fortstußt, packt
er zu, und wir halten ihn fest.
     Sofort  beginnt  er zu toben:  "Laßt  mich los,  laßt  mich
'raus, ich will hier'raus!"
     Er hurt  auf nichts  und schlugt  um sich,  der  Mund ist naß und
spruht  Worte,  halbverschluckte, sinnlose Worte.  Es  ist  ein  Anfall  von
Unterstandsangst, er hat das  Gefuhl, hier zu ersticken,  und kennt nur  den
einen Trieb: hinauszugelangen.  Wenn  man ihn  laufen ließe,  wurde er
ohne Deckung irgendwohin rennen. Er ist nicht der erste.
     Da er  sehr  wild ist und  die Augen sich schon verdrehen, so  hilft es
nichts, wir  mussen ihn  verprugeln,  damit er vernunftig wird. Wir  tun  es
schnell und erbarmungslos und erreichen, daß er vorluufig wieder ruhig
sitzt.  Die  andern  sind bleich bei  der  Geschichte geworden;  hoffentlich
schreckt es sie ab. Dieses Trommelfeuer ist  zuviel fur die armen Kerle; sie
sind  vom Feldrekrutendepot gleich in  einen Schlamassel geraten, der selbst
einem alten Mann graue Haare machen kunnte.
     Die  stickige  Luft  fullt uns nach  diesem Vorgang noch mehr  auf  die
Nerven. Wir sitzen  wie in unserm Grabe und warten nur darauf, daß wir
zugeschuttet werden. Plutzlich heult und blitzt es ungeheuer, der Unterstand
kracht  in allen Fugen unter einem Treffer, glucklicherweise einem leichten,
dem  die   Betonklutze  standgehalten   haben.  Es  klirrt   metallisch  und
furchterlich,  die Wunde wackeln,  Gewehre,  Helme,  Erde,  Dreck und  Staub
fliegen.  Schwefeliger  Qualm dringt  ein. Wenn  wir  statt  in  dem  festen
Unterstand  in  einem  der leichten Dinger sußen,  wie sie  neuerdings
gebaut werden, lebte jetzt keiner mehr.
     Die Wirkung ist aber auch so schlimm  genug. Der Rekrut von vorhin tobt
schon wieder, und zwei andere schließen sich an. Einer reißt aus
und  luuft weg. Wir haben Muhe mit den beiden andern. Ich sturze hinter  dem
Fluchtenden her und uberlege, ob ich ihm in die Beine schießen soll; -
da  pfeift es heran, ich werfe  mich hin,  und als  ich  aufstehe,  ist  die
Grabenwand  mit  heißen  Splittern,  Fleischfetzen  und  Uniformlappen
bepflastert. Ich klettere zuruck.
     Der erste scheint wirklich verruckt geworden zu sein. Er  rennt mit dem
Kopf wie ein  Bock  gegen die Wand, wenn man  ihn  loslußt. Wir werden
nachts  versuchen mussen, ihn nach  hinten zu bringen.  Vorluufig binden wir
ihn so fest, daß man ihn beim Angriff sofort wieder losmachen kann.
     Kat schlugt vor, Skat zu spielen; - was soll man tun, vielleicht ist es
leichter dann. Aber es wird nichts daraus, wir lauschen auf jeden Einschlag,
der  nuher ist, und  verzuhlen uns  bei den Stichen  oder bedienen nicht die
Farbe. Wir mussen es lassen. Wie in einem gewaltig  druhnenden Kessel sitzen
wir, auf den von allen Seiten losgeschlagen wird.
     Noch  eine  Nacht. Wir sind  jetzt  stumpf vor  Spannung. Es  ist  eine
tudliche  Spannung,  die wie ein schartiges  Messer unser Ruckenmark entlang
kratzt. Die Beine wollen nicht mehr, die Hunde zittern, der  Kurper ist eine
dunne Haut uber muhsam unterdrucktem Wahnsinn, uber einem gleich hemmungslos
ausbrechenden Gebrull  ohne Ende. Wir haben kein Fleisch  und keine  Muskeln
mehr,   wir   kunnen  uns   nicht  mehr   ansehen,   aus  Furcht  vor  etwas
Unberechenbarem.   So  pressen  wir  die  Lippen  aufeinander   -  es   wird
vorubergehen - es wird vorubergehen - vielleicht kommen wir durch.

     Mit  einem Male huren  die nahen Einschluge auf. Das  Feuer dauert  an,
aber  es  ist zuruckverlegt, unser  Graben ist  frei.  Wir  greifen nach den
Handgranaten,  werfen  sie  vor  den  Unterstand  und springen  hinaus.  Das
Trommelfeuer hat aufgehurt, dafur liegt hinter uns ein  schweres Sperrfeuer.
Der Angriff ist da.
     Niemand  wurde  glauben,  daß in  dieser  zerwuhlten  Wuste  noch
Menschen  sein  kunnten;  aber  jetzt  tauchen uberall  aus  dem  Graben die
Stahlhelme  auf,  und   funfzig  Meter  von   uns  entfernt  ist  schon  ein
Maschinengewehr in Stellung gebracht, das gleich losbellt.
     Die Drahtverhaue sind zerfetzt. Immerhin halten sie noch etwas auf. Wir
sehen die  Sturmenden  kommen.  Unsere  Artillerie  funkt.  Maschinengewehre
knarren,  Gewehre knattern.  Von druben  arbeiten sie sich  heran. Haie  und
Kropp beginnen mit  den Handgranaten. Sie werfen,  so  rasch sie kunnen, die
Stiele werden ihnen  abgezogen zugereicht. Haie  wirft sechzig  Meter  weit,
Kropp funfzig,  das  ist ausprobiert und wichtig. Die  von  druben kunnen im
Laufen nicht viel eher etwas machen,  als  bis sie  auf dreißig  Meter
heran sind.
     Wir erkennen  die verzerrten  Gesichter,  die  flachen  Helme,  es sind
Franzosen.  Sie  erreichen  die  Reste  des  Drahtverhaus  und  haben  schon
sichtbare Verluste. Eine ganze Reihe wird von dem Maschinengewehr neben  uns
umgelegt; dann haben wir viele Ladehemmungen, und sie kommen nuher.
     Ich  sehe  einen  von ihnen in einen  spanischen  Reiter  sturzen,  das
Gesicht hoch erhoben. Der  Kurper sackt zusammen, die Hunde  bleiben hungen,
als  wollte er beten.  Dann fullt der  Kurper ganz  weg,  und  nur noch  die
abgeschossenen Hunde mit den Armstumpfen hungen im Draht.
     Im Augenblick, als wir  zuruckgehen, heben sich vorn drei Gesichter vom
Boden. Unter einem der Helme  ein dunkler Spitzbart und zwei Augen, die fest
auf  mich  gerichtet  sind. Ich hebe die Hand, aber ich kann nicht werfen in
diese  sonderbaren  Augen,  einen  verruckten  Moment lang  rast  die  ganze
Schlacht  wie  ein  Zirkus  um  mich  und  diese  beiden  Augen,  die allein
bewegungslos sind, dann reckt  sich druben der  Kopf  auf, eine  Hand,  eine
Bewegung, und meine Handgranate fliegt hinuber, hinein.
     Wir  laufen zuruck,  reißen  spanische Reiter in  den Graben  und
lassen  abgezogene Handgranaten  hinter uns fallen,  die uns  einen feurigen
Ruckzug sichern. Von der nuchsten Stellung aus feuern die Maschinengewehre.
     Aus  uns  sind gefuhrliche  Tiere  geworden.  Wir  kumpfen  nicht,  wir
verteidigen uns vor der Vernichtung. Wir schleudern die Granaten nicht gegen
Menschen, was  wissen  wir  im Augenblick  davon, dort  hetzt mit Hunden und
Helmen  der Tod hinter uns her, wir kunnen ihm seit  drei Tagen  zum  ersten
Male ins Gesicht  sehen,  wir kunnen uns  seit  drei  Tagen zum  ersten Male
wehren  gegen ihn,  wir  haben eine  wahnsinnige Wut,  wir liegen nicht mehr
ohnmuchtig wartend auf dem Schafott, wir kunnen  zersturen und tuten, um uns
zu retten und zu ruchen.
     Wir  hocken  hinter  jeder Ecke,  hinter jedem Stacheldrahtgestell  und
werfen den Kommenden  Bundel  von Explosionen  vor  die Fuße, ehe  wir
forthuschen. Das Krachen der Handgranaten schießt kraftvoll in  unsere
Arme,  in  unsere  Beine, geduckt  wie Katzen  laufen wir,  uberschwemmt von
dieser  Welle, die uns  trugt,  die  uns grausam macht, zu  Wegelagerern, zu
Murdern,   zu   Teufeln   meinetwegen,   dieser  Welle,   die  unsere  Kraft
vervielfultigt in Angst und Wut und  Lebensgier, die  uns Rettung  sucht und
erkumpft. Kume dein Vater  mit  denen  druben, du wurdest nicht zaudern, ihm
die Granate gegen die Brust zu werfen!
     Die  vorderen Gruben werden aufgegeben. Sind es noch  Gruben? Sie  sind
zerschossen,  vernichtet  -  es  sind  nur  einzelne  Grabenstucke,  Lucher,
verbunden durch Laufgunge, Trichternester,  nicht mehr.  Aber  die  Verluste
derer  von  druben huufen  sich.  Sie  haben  nicht  mit so  viel Widerstand
gerechnet.

     Es  wird  Mittag. Die  Sonne  brennt heiß,  uns  beißt  der
Schweiß in die Augen, wir wischen ihn mit dem urmel  weg, manchmal ist
Blut dabei.  Der erste  etwas  besser erhaltene Graben taucht  auf.  Er  ist
besetzt und  vorbereitet  zum  Gegenstoß,  er  nimmt uns  auf.  Unsere
Artillerie setzt muchtig ein und riegelt den Vorstoß ab.
     Die Linien hinter uns  stocken. Sie  kunnen nicht vorwurts. Der Angriff
wird zerfetzt durch unsere Artillerie. Wir lauern. Das Feuer springt hundert
Meter weiter, und wir brechen wieder vor. Neben mir wird einem Gefreiten der
Kopf abgerissen. Er luuft noch einige Schritte, wuhrend das Blut ihm wie ein
Springbrunnen aus dem Halse schießt.
     Es kommt  nicht  ganz  zum Handgemenge, die andern mussen  zuruck.  Wir
erreichen unsere Grabenstucke wieder und gehen daruber hinaus vor.
     Oh,   dieses  Umwenden!   Man  hat  die  schutzenden  Reservestellungen
erreicht,  man muchte hindurchkriechen, verschwinden;  -  und muß sich
umdrehen und wieder  in  das  Grauen hinein. Wuren  wir  keine Automaten  in
diesem Augenblick, wir blieben liegen, erschupft, willenlos. Aber wir werden
wieder mit vorwurts gezogen, willenlos und  doch wahnsinnig wild und wutend,
wir  wollen tuten,  denn das dort  sind unsere Todfeinde jetzt, ihre Gewehre
und Granaten  sind  gegen  uns  gerichtet,  vernichten  wir  sie nicht, dann
vernichten sie uns!
     Die braune  Erde, die zerrissene, zerborstene braune Erde, fettig unter
den   Sonnenstrahlen   schimmernd,  ist  der   Hintergrund  rastlos  dumpfen
Automatentunis, unser Keuchen ist das Abschnarren der Feder, die Lippen sind
trocken, der Kopf ist wuster als nach einer durchsoffenen Nacht - so taumeln
wir  vorwurts, und in unsere durchsiebten, durchlucherten  Seelen bohrt sich
quulend  eindringlich das Bild der braunen Erde mit der  fettigen  Sonne und
den zuckenden und toten Soldaten, die da liegen, als mußte es so sein,
die  nach  unsern  Beinen  greifen  und  schreien,  wuhrend  wir  uber   sie
hinwegspringen.
     Wir haben alles Gefuhl fureinander  verloren, wir kennen uns kaum noch,
wenn  das  Bild  des  andern  in  unseren  gejagten  Blick  fullt.  Wir sind
gefuhllose  Tote,  die  durch einen Trick,  einen gefuhrlichen  Zauber  noch
laufen und tuten kunnen.
     Ein junger Franzose bleibt zuruck, er wird erreicht, hebt die Hunde, in
einer  hat   er   noch  den   Revolver  -  man  weiß  nicht,  will  er
schießen  oder  sich  ergeben  -,  ein  Spatenschlag spaltet  ihm  das
Gesicht. Ein zweiter sieht es und  versucht, weiterzufluchten,  ein Bajonett
zischt ihm in den Rucken. Er springt  hoch, und die Arme  ausgebreitet,  den
Mund schreiend  weit offen, taumelt  er davon, in seinem Rucken schwankt das
Bajonett. Ein  dritter wirft  das Gewehr weg, kauert sich nieder,  die Hunde
vor den Augen. Er bleibt zuruck mit einigen andern Gefangenen, um Verwundete
fortzutragen.
     Plutzlich geraten wir in der Verfolgung an die feindlichen Stellungen.
     Wir  sind  so dicht  hinter den  weichenden Gegnern,  daß es  uns
gelingt,  fast gleichzeitig mit  ihnen  anzulangen. Dadurch  haben wir wenig
Verluste.  Ein  Maschinengewehr  klufft,  wird aber  durch  eine Handgranate
erledigt.  Immerhin haben die  paar  Sekunden  fur funf Bauchschusse bei uns
ausgereicht.    Kat    schlugt    einem    der    unverwundet    gebliebenen
Maschinengewehrschutzen  mit dem Kolben  das  Gesicht  zu  Brei.  Die andern
erstechen wir, ehe  sie  ihre  Handgranaten  heraus  haben. Dann  saufen wir
durstig das Kuhlwasser aus.
     uberall knacken Drahtzangen, poltern Bretter uber die Verhaue, springen
wir  durch  die schmalen  Zugunge  in  die Gruben.  Haie  stußt  einem
riesigen  Franzosen  seinen  Spaten  in  den   Hals  und   wirft  die  erste
Handgranate; wir ducken uns einige Sekunden hinter einer Brustwehr, dann ist
das gerade Stuck des Grabens vor  uns leer. Schrug uber  die Ecke zischt der
nuchste  Wurf und  schafft freie  Bahn,  im  Vorbeilaufen  fliegen  geballte
Ladungen in die Unterstunde, die Erde ruckt, es kracht,  dampft und  stuhnt,
wir stolpern uber glitschige Fleischfetzen, uber weiche Kurper, ich falle in
einen zerrissenen Bauch, auf dem ein neues, sauberes Offizierskuppi liegt.
     Das Gefecht  stockt. Die  Verbindung mit dem Feinde  reißt ab. Da
wir uns hier nicht lange halten kunnen, werden wir unter dem Schutze unserer
Artillerie zuruckgenommen auf  unsere Stellung. Kaum wissen wir  es, als wir
in  grußter Eile  noch  in  die  nuchsten Unterstunde  sturzen, um von
Konserven  an uns zu reißen,  was  wir  gerade  sehen,  vor  allem die
Buchsen mit Corned beef und Butter, ehe wir turmen.
     Wir kommen gut zuruck. Es erfolgt  vorluufig kein weiterer  Angriff von
druben. uber eine Stunde liegen  wir, keuchen und ruhen uns aus,  ehe jemand
spricht.  Wir sind so vullig ausgepumpt, daß wir trotz unseres starken
Hungers nicht an die  Konserven denken. Erst allmuhlich werden wir wieder so
etwas wie Menschen.
     Das Corned beef  von  druben ist  an  der ganzen Front  beruhmt. Es ist
mitunter sogar  der  Hauptgrund zu  einem  uberraschenden Vorstoß  von
unserer Seite, denn unsere Ernuhrung ist im allgemeinen schlecht; wir  haben
stundig Hunger.
     Insgesamt haben wir funf Buchsen geschnappt. Die Leute druben werden ja
verpflegt,  das  ist  eine  Pracht  gegen  uns   Hungerleider  mit   unserer
Rubenmarmelade,  das Fleisch  steht  da nur so herum, man braucht bloß
danach   zu  greifen.  Haie  hat  außerdem  ein  dunnes  franzusisches
Weißbrot erwischt und  hinter sein  Koppel geschoben wie einen Spaten.
An einer  Ecke  ist  es ein bißchen  blutig,  doch das lußt sich
abschneiden.
     Es ist ein  Gluck, daß  wir  jetzt gut zu essen haben; wir werden
unsere Krufte  noch  brauchen. Sattessen ist  ebenso  wertvoll wie ein guter
Unterstand; deshalb sind wir  so gierig danach, denn  es kann uns das  Leben
retten.
     Tjaden  hat  noch zwei  Feldflaschen  Kognak  erbeutet. Wir lassen  sie
reihum gehen.

     Der Abendsegen  beginnt.  Die  Nacht  kommt, aus  den Trichtern steigen
Nebel. Es sieht  aus, als  wuren  die  Lucher von  gespenstigen Geheimnissen
erfullt. Der  weiße Dunst kriecht  angstvoll  umher, ehe er wagt, uber
den  Rand  hinwegzugleiten.  Dann ziehen  lange  Streifen  von  Trichter  zu
Trichter.
     Es ist  kuhl. Ich bin auf Posten  und starre in die Dunkelheit. Mir ist
schwach zumute,  wie  immer nach  einem  Angriff,  und deshalb  wird es  mir
schwer,  mit  meinen Gedanken  allein zu sein.  Es sind  keine  eigentlichen
Gedanken; es sind Erinnerungen, die mich in meiner Schwuche jetzt heimsuchen
und mich sonderbar stimmen.
     Die  Leuchtschirme  gehen   hoch  -   und  ich  sehe  ein  Bild,  einen
Sommerabend, wo  ich  im Kreuzgang  des Domes  bin und  auf hohe Rosenbusche
schaue,  die  in der  Mitte  des  kleinen  Kreuzgartens  bluhen, in  dem die
Domherren begraben werden. Rundum  stehen die  Steinbilder der Stationen des
Rosenkranzes. Niemand ist da; - eine große Stille hult dieses bluhende
Viereck  umfangen, die Sonne  liegt warm auf den dicken  grauen Steinen, ich
lege  meine  Hand darauf  und fuhle  die Wurme. uber der  rechten  Ecke  des
Schieferdaches  strebt  der  grune Domturm  in das matte,  weiche  Blau  des
Abends. Zwischen den beglunzten kleinen  Suulen der  umlaufenden  Kreuzgunge
ist das kuhle  Dunkel,  das nur Kirchen haben, und ich stehe  dort und denke
daran, daß ich mit zwanzig Jahren die verwirrenden Dinge kennen werde,
die von den Frauen kommen.
     Das  Bild  ist  besturzend  nahe,  es  ruhrt mich an, ehe  es unter dem
Aufflammen der nuchsten Leuchtkugel zergeht.
     Ich  fasse mein Gewehr  und rucke es  zurecht. Der Lauf ist feucht, ich
lege meine Hand fest darum und zerreibe die Feuchtigkeit mit den Fingern.
     Zwischen  den Wiesen hinter unserer Stadt erhob sich an einem Bach eine
Reihe von alten Pappeln. Sie waren weithin sichtbar, und obschon sie nur auf
einer Seite standen,  hießen sie die  Pappelallee.  Schon  als  Kinder
hatten wir eine Vorliebe fur sie, unerklurlich zogen sie uns an,  ganze Tage
verbrachten   wir  bei  ihnen  und  honen  ihrem  leisen  Rauschen  zu.  Wir
saßen  unter ihnen am Ufer des Baches und ließen  die Fuße
in die hellen,  eiligen Wellen  hungen. Der reine Duft des  Wassers  und die
Melodie des Windes in den Pappeln beherrschten unsere Phantasie. Wir liebten
sie  sehr, und das  Bild  dieser  Tage  lußt  mir jetzt noch  das Herz
klopfen, ehe es wieder geht.
     Es  ist  seltsam,  daß   alle   Erinnerungen,  die  kommen,  zwei
Eigenschaften haben.  Sie sind immer voll  Stille, das  ist  das Sturkste an
ihnen, und selbst  dann,  wenn  sie es  nicht in  dem Maße in Wahrheit
waren, wirken  sie so. Sie sind lautlose Erscheinungen, die zu mir  sprechen
mit Blicken und Geburden,  wortlos  und  schweigend, - und ihr Schweigen ist
das Erschutternde, das mich zwingt, meinen urmel anzufassen und mein Gewehr,
um  mich  nicht  vergehen zu lassen in dieser Auflusung und  Lockung, in der
mein Kurper sich ausbreiten und sanft zerfließen muchte zu den stillen
Muchten hinter den Dingen.
     Sie sind so still, weil das fur uns so unbegreiflich ist. An  der Front
gibt es keine Stille, und der Bann  der Front reicht so weit, daß  wir
nie außerhalb von ihr  sind. Auch  in den  zuruckgelegenen  Depots und
Ruhequartieren bleibt das Summen und das gedumpfte Poltern des  Feuers stets
in  unseren Ohren.  Wir sind  nie so weit fort, daß wir es  nicht mehr
huren. In diesen Tagen aber war es unertruglich.
     Die Stille ist die Ursache dafur, daß die Bilder des Fruher nicht
so  sehr  Wunsche  erwecken  als   Trauer  -  eine  ungeheure,  fassungslose
Schwermut.  Sie waren - aber sie  kehren  nicht wieder. Sie sind vorbei, sie
sind eine andere Welt, die fur uns voruber ist. Auf den Kasernenhufen riefen
sie  ein  rebellisches,  wildes Begehren  hervor, da waren sie noch  mit uns
verbunden,  wir gehurten  zu ihnen und  sie zu  uns, wenn wir  auch getrennt
waren. Sie stiegen  auf bei den Soldatenliedern,  die wir sangen,  wenn  wir
zwischen  Morgenrot  und  schwarzen Waldsilhouetten  zum Exerzieren nach der
Heide  marschierten, sie waren eine heftige  Erinnerung, die in uns war  und
aus uns kam.
     Hier in den Gruben aber ist sie  uns verlorengegangen. Sie steigt nicht
mehr  aus uns auf; - wir sind tot, und  sie steht fern am  Horizont, sie ist
eine Erscheinung, ein rutselhafter Widerschein,  der uns  heimsucht, den wir
furchten und ohne Hoffnung  lieben.  Sie  ist  stark, und unser Begehren ist
stark -  aber sie  ist  unerreichbar,  und  wir wissen  es. Sie  ist  ebenso
vergeblich wie die Erwartung, General zu werden.
     Und selbst  wenn  man  sie  uns  wiedergube,  diese Landschaft  unserer
Jugend, wir  wurden wenig  mehr mit ihr  anzufangen wissen. Die  zarten  und
geheimen Krufte, die von ihr zu uns gingen, kunnen nicht wiedererstehen. Wir
wurden  in ihr  sein  und in ihr  umgehen; wir  wurden uns erinnern  und sie
lieben und bewegt sein von ihrem Anblick. Aber es wure das gleiche, wie wenn
wir  nachdenklich werden vor  der Fotografie eines  toten Kameraden; es sind
seine  Zuge,  es ist sein Gesicht, und  die Tage, die  wir mit  ihm zusammen
waren, gewinnen ein trugerisches Leben in unserer Erinnerung; aber er ist es
nicht selbst.
     Wir wurden  nicht mehr verbunden sein mit ihr,  wie wir es waren. Nicht
die Erkenntnis  ihrer Schunheit und ihrer  Stimmung  hat  uns  ja angezogen,
sondern  das  Gemeinsame,  dieses  Gleichfuhlen  einer Bruderschaft  mit den
Dingen  und  Vorfullen unseres Seins, die  uns  abgrenzte  und  uns die Welt
unserer Eltern immer etwas unverstundlich machte; - denn wir waren irgendwie
immer zurtlich an sie verloren und hingegeben,  und das Kleinste mundete uns
einmal  immer  in  den Weg  der  Unendlichkeit.  Vielleicht  war es  nur das
Vorrecht unserer Jugend - wir sahen noch keine Bezirke,  und nirgendwo gaben
wir  ein Ende  zu; wir  hatten die Erwartung des Blutes, die uns eins machte
mit dem Verlauf unserer Tage.
     Heute  wurden wir  in  der  Landschaft  unserer Jugend  umhergehen  wie
Reisende.  Wir  sind  verbrannt von Tatsachen, wir  kennen  Unterschiede wie
Hundler und Notwendigkeiten wie Schluchter. Wir sind  nicht mehr unbekummert
-  wir sind furchterlich gleichgultig.  Wir wurden da sein; aber  wurden wir
leben?
     Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh
und traurig und oberfluchlich - ich glaube, wir sind verloren.

     Meine Hunde  werden kalt,  und  meine Haut schauert; dabei ist  es eine
warme Nacht. Nur der Nebel ist kuhl, dieser unheimliche Nebel, der die Toten
vor uns beschleicht und ihnen das letzte, verkrochene Leben aussaugt. Morgen
werden sie bleich und grun sein und ihr Blut gestockt und schwarz.
     Immer   noch   steigen   die  Leuchtschirme  empor   und   werfen   ihr
erbarmungsloses Licht uber  die versteinerte Landschaft, die voll Krater und
Lichtkulte  ist wie ein  Mond. Das Blut unter meiner Haut bringt  Furcht und
Unruhe herauf in meine Gedanken. Sie werden schwach  und zittern, sie wollen
Wurme und Leben. Sie kunnen es nicht  aushaken ohne Trost und Tuuschung, sie
verwirren sich vor dem nackten Bilde der Verzweiflung.
     Ich  hure  das Klappern von Kochgeschirren und habe sofort  das heftige
Verlangen  nach warmem  Essen, es wird mir gut tun  und  mich beruhigen. Mit
Muhe zwinge ich mich, zu warten, bis ich abgelust werde.
     Dann gehe ich in den Unterstand und finde einen Becher mit Graupen vor.
Sie sind  fett gekocht  und schmecken gut, ich  esse  sie  langsam. Aber ich
bleibe  still, obschon  die andern  besser  gelaunt  sind,  weil  das  Feuer
eingeschlafen ist.

     Die  Tage  gehen   hin,   und   jede  Stunde   ist  unbegreiflich   und
selbstverstundlich. Die Angriffe wechseln  mit  Gegenangriffen,  und langsam
huufen  sich auf  dem Trichterfeld  zwischen  den  Grubern  die  Toten.  Die
Verwundeten,  die  nicht sehr  weit  weg liegen,  kunnen wir meistens holen.
Manche aber mussen lange liegen, und wir huren sie sterben.
     Einen suchen wir  vergeblich  zwei Tage hindurch. Er  muß auf dem
Bauche liegen  und sich nicht mehr umdrehen kunnen. Anders ist  es  nicht zu
erkluren,  daß wir ihn  nicht finden; denn nur wenn  man mit dem Munde
dicht auf dem Boden schreit, ist die Richtung so schwer festzustellen.
     Er  wird  einen  busen   Schuß  haben,   eine   dieser  schlimmen
Verletzungen, die nicht so stark sind, daß sie den Kurper rasch derart
schwuchen, daß man halb betuubt verdummert, und auch nicht  so leicht,
daß man die Schmerzen mit der Aussicht  ertragen kann,  wieder heil zu
werden.  Kat meint,  er hutte entweder eine Beckenzertrummerung  oder  einen
Wirbelsuulenschuß. Die Brust sei nicht verletzt, sonst besuße er
nicht so viel  Kraft  zum Schreien. Man mußte  ihn  bei einer  anderen
Verletzung sich auch bewegen sehen.
     Er wird  allmuhlich  heiser.  Die Stimme ist  so unglucklich  im Klang,
daß  sie  uberall  herkommen kunnte. In der ersten Nacht  sind dreimal
Leute von uns draußen. Aber wenn  sie glauben, die Richtung  zu haben,
und  schon hinkriechen, ist  die  Stimme beim nuchstenmal, wenn sie horchen,
wieder ganz anderswo.
     Bis in  die Dummerung  hinein suchen wir vergeblich. Tagsuber wird  das
Gelunde mit Glusern durchforscht;  nichts ist zu entdecken. Am  zweiten  Tag
wird  der  Mann  leiser; man  merkt,  daß  die  Lippen  und  der  Mund
vertrocknet sind.
     Unser Kompaniefuhrer hat  dem, der  ihn findet, Vorzugsurlaub und  drei
Tage Zusatz versprochen. Das ist ein muchtiger Anreiz, aber  wir wurden auch
ohne das  tun, was muglich ist;  denn das Rufen ist furchtbar. Kat und Kropp
gehen sogar nachmittags noch  einmal vor. Albert wird  das Ohrluppchen dabei
abgeschossen. Es ist umsonst, sie haben ihn nicht bei sich.
     Dabei ist  deutlich zu verstehen, was er ruft.  Zuerst hat er immer nur
um Hilfe geschrien - in der zweiten Nacht muß er etwas  Fieber  haben,
er  spricht mit  seiner  Frau und  seinen  Kindern, wir kunnen oft den Namen
Elise heraushuren.  Heute weint er nur noch. Abends  erlischt  die Stimme zu
einem Kruchzen. Aber er  stuhnt noch  die ganze Nacht leise. Wir huren es so
genau, weil  der Wind auf  unsern  Graben  zusteht.  Morgens,  als wir schon
glauben, er habe lungst  Ruhe, dringt  noch  einmal  ein gurgelndes  Rucheln
heruber -.
     Die Tage sind  heiß, und die Toten  liegen unbeerdigt. Wir kunnen
sie  nicht alle  holen,  wir  wissen nicht, wohin wir mit  ihnen sollen. Sie
werden von den  Granaten  beerdigt.  Manchen  treiben  die  Buuche  auf  wie
Ballons. Sie zischen, rulpsen und bewegen sich. Das Gas rumort in ihnen.
     Der Himmel ist blau und ohne Wolken.  Abends wird es  schwul, j und die
Hitze steigt aus  der Erde. Wenn der  Wind zu uns heruberweht, bringt er den
Blutdunst  mit,  der   schwer  und  widerwurtig  sußlich  ist,  diesen
Totenbrodem der Trichter, der aus Chloroform und Verwesung gemischt  scheint
und uns ubelkeiten und Erbrechen verursacht.

     Die Nuchte  werden  ruhig, und die Jagd auf die kupfernen Fuhrungsringe
der  Granaten und die Seidenschirme der franzusischen Leuchtkugeln geht los.
Weshalb  die  Fuhrungsringe  so  begehrt sind, weiß  eigentlich keiner
recht. Die Sammler behaupten einfach, sie seien wertvoll. Es gibt Leute, die
so viel davon mitschleppen, daß sie  krumm und schief  darunter gehen,
wenn wir abrucken.
     Haie gibt  wenigstens einen  Grund an;  er will  sie  seiner  Braut als
Strumpfbunderersatz  schicken.  Daruber  bricht  bei den  Friesen  naturlich
unbundige Heiterkeit aus; sie schlagen sich auf die Knie, das ist ein  Witz,
Donnerwetter, der Haie, der hat es hinter den  Ohren. Besonders Tjaden  kann
sich gar  nicht fassen;  er  hat den grußten der Ringe in der Hand und
steckt alle Augenblicke sein  Bein hindurch, um zu zeigen,  wieviel  da noch
frei  ist.  "Haie,  Mensch, die  muß  ja Beine haben,  Beine"  - seine
Gedanken klettern  etwas  huher  -, "und einen Hintern muß die dann ja
haben, wie - wie ein Elefant."
     Er kann sich  nicht genug tun.  "Mit der muchte ich mal Schinkenkloppen
spielen, meine Fresse..."
     Haie  strahlt,   weil  seine  Braut   soviel  Anerkennung  findet,  und
uußert selbstzufrieden und knapp: "Stramm isse!"
     Die Seidenschirme sind praktischer zu verwerten. Drei oder vier ergeben
eine  Bluse,  je  nach  der  Brustweite.  Kropp  und ich  brauchen  sie  als
Taschentucher. Die andern  schicken  sie nach Hause.  Wenn  die Frauen sehen
kunnten,  mit wieviel  Gefahr diese dunnen Lappen oft geholt  werden, wurden
sie einen schunen Schreck kriegen.
     Kat uberrascht Tjaden, wie er von einem Blindgunger in aller Seelenruhe
die Ringe abzuklopfen  versucht. Bei jedem andern wure  das Ding explodiert,
Tjaden hat wie stets Gluck.
     Einen  ganzen Vormittag spielen zwei Schmetterlinge  vor unserm Graben.
Es sind Zitronenfalter, ihre gelben  Flugel haben rote Punkte. Was  mag  sie
nur hierher verschlagen  haben; weit und breit  ist keine  Pflanze und keine
Blume. Sie ruhen sich auf den Zuhnen eines  Schudels aus. Ebenso sorglos wie
sie sind die Vugel, die sich lungst an den Krieg gewuhnt haben. Jeden Morgen
steigen  Lerchen zwischen  der Front auf. Vor einem Jahr  konnten  wir sogar
brutende beobachten, die ihre Jungen auch hochbekamen.
     Vor den  Ratten haben wir Ruhe im Graben. Sie sind  vorn  - wir wissen,
wozu. Sie werden fett; wo wir  eine sehen, knallen wir sie weg. Nachts huren
wir  wieder das Rollen von druben. Tagsuber haben wir nur das normale Feuer,
so daß  wir die  Gruben ausbessern kunnen.  Unterhaltung ist ebenfalls
da, die Flieger sorgen dafur. Tuglich finden zahlreiche Kumpfe ihr Publikum.
     Die    Kampfflieger    lassen    wir    uns    gefallen,    aber    die
Beobachtungsflugzeuge  hassen  wir  wie die Pest;  denn  sie  holen  uns das
Artilleriefeuer heruber. Ein paar Minuten  nachdem sie erscheinen, funkt  es
von Schrapnells und Granaten. Dadurch verlieren wir elf Leute an  einem Tag,
darunter  funf  Sanituter. Zwei  werden  so zerschmettert,  daß Tjaden
meint,  man kunne  sie mit  dem Luffel von  der Grabenwand abkratzen  und im
Kochgeschirr beerdigen.  Einem  andern  wird  der Unterleib  mit  den Beinen
abgerissen.  Er  lehnt  tot  auf  der  Brust im  Graben,  sein  Gesicht  ist
zitronengelb, zwischen dem Vollbart  glimmt  noch die Zigarette. Sie glimmt,
bis sie auf den Lippen verzischt.
     Wir legen  die Toten vorluufig in einen großen Trichter.  Es sind
bis jetzt drei Lagen ubereinander.

     Plutzlich  beginnt  das Feuer  nochmals zu trommeln.  Bald  sitzen  wir
wieder in der gespannten Starre des untutigen Wartens.
     Angriff,  Gegenangriff,  Stoß, Gegenstoß  - das sind Worte,
aber  was  umschließen sie!  Wir verlieren  viele  Leute,  am  meisten
Rekruten.  Auf  unserem  Abschnitt  wird wieder Ersatz eingeschoben. Es  ist
eines der neuen Regimenter, fast lauter junge Leute der letzten ausgehobenen
Jahrgunge. Sie haben kaum  eine Ausbildung, nur theoretisch haben  sie etwas
uben kunnen, ehe sie ins Feld ruckten. Was eine Handgranate ist,  wissen sie
zwar, aber von  Deckung haben sie  wenig Ahnung, vor allen  Dingen haben sie
keinen Blick dafur. Eine Bodenwelle muß schon einen halben Meter  hoch
sein, ehe sie von ihnen gesehen wird.
     Obschon wir notwendig Versturkung brauchen, haben  wir fast mehr Arbeit
mit den  Rekruten, als daß  sie uns nutzen. Sie sind hilflos in diesem
schweren Angriff s gebiet und fallen wie die Fliegen. Der Stellungskampf von
heute erfordert Kenntnisse  und Erfahrungen,  man  muß Verstundnis fur
das Gelunde haben, man muß die Geschosse, ihre Geruusche und Wirkungen
im Ohr haben, man muß vorausbestimmen kunnen, wo sie einbauen, wie sie
streuen und wie man sich schutzt.
     Dieser junge Ersatz weiß  naturlich  von  alledem noch  fast  gar
nichts. Er wird aufgerieben, weil er kaum ein Schrapnell von  einer  Granate
unterscheiden kann,  die Leute  werden weggemuht, weil sie angstvoll auf das
Heulen der ungefuhrlichen großen, weit hinten einbauenden Kohlenkusten
lauschen  und  das pfeifende, leise Surren  der flach zerspritzenden kleinen
Biester  uberhuren.  Wie  die  Schafe drungen  sie  sich  zusammen,  anstatt
auseinanderzulaufen, und selbst  die Verwundeten werden  noch wie  Hasen von
den Fliegern abgeknallt.
     Die blassen  Steckrubengesichter,  die  armselig gekrallten Hunde,  die
jammervolle  Tapferkeit  dieser  armen  Hunde,  die  trotzdem  vorgehen  und
angreifen, dieser braven, armen Hunde,  die so verschuchtert sind, daß
sie nicht laut zu schreien wagen und mit zerrissenen Brusten und Buuchen und
Armen und Beinen leise nach ihrer  Mutter wimmern und gleich  aufhuren, wenn
man sie ansieht!
     Ihre  toten,  flaumigen,  spitzen  Gesichter  haben  die   entsetzliche
Ausdruckslosigkeit gestorbener Kinder.
     Es sitzt einem in der Kehle, wenn man sie ansieht,  wie sie aufspringen
und laufen und fallen. Man muchte sie verprugeln, weil sie so
     dumm sind, und sie auf die Arme nehmen und  wegbringen von hier, wo sie
nichts zu  suchen haben. Sie tragen ihre grauen Rucke und Hosen und Stiefel,
aber den meisten ist die Uniform zu weit, sie schlottert um die Glieder, die
Schultern sind zu schmal, die Kurper sind zu gering, es gab keine Uniformen,
die fur dieses Kindermaß eingerichtet waren.
     Auf einen alten Mann fallen  funf bis zehn Rekruten. Ein uberraschender
Gasangriff rafft viele weg. Sie sind nicht dazu gelangt, zu ahnen, was ihrer
wartete. Einen  Unterstand  voll finden wir mit blauen Kupfen  und schwarzen
Lippen.  In  einem Trichter haben  sie die  Masken  zu fruh losgemacht;  sie
wußten nicht, daß sich das Gas auf  dem Grunde am lungsten hult;
als sie andere ohne Maske  oben sahen, rissen sie sie auch ab und schluckten
noch genug,  um sich die Lungen zu verbrennen. Ihr Zustand ist hoffnungslos,
sie wurgen sich mit Blutsturzen und Erstickungsanfullen zu Tode.

     In  einem  Grabenstuck   sehe   ich  mich   plutzlich  Himmelstoß
gegenuber. Wir  ducken  uns in demselben  Unterstand.  Atemlos  liegt  alles
beieinander und wartet ab, bis der Vorstoß einsetzt.
     Obschon ich sehr erregt bin, schießt  mir beim  Hinauslaufen doch
noch der Gedanke durch den Kopf: Ich sehe Himmelstoß nicht mehr. Rasch
springe ich in den Unterstand zuruck und finde ihn, wie er in der Ecke liegt
mit  einem  kleinen Streifschuß  und den  Verwundeten  simuliert. Sein
Gesicht ist  wie verprugelt. Er hat  einen  Angstkoller, er ist ja auch noch
neu  hier.   Aber   es   macht  mich  rasend,  daß  der  junge  Ersatz
draußen ist und er hier.
     "Raus!" fauche ich.
     Er ruhrt sich nicht, die Lippen zittern, der Schnurrbart bebt.
     "Raus!" wiederhole ich.
     Er zieht die Beine an, druckt sich an die Wand und bleckt die Zuhne wie
ein Kuter.
     Ich fasse ihn am Arm  und will  ihn hochreißen. Er quukt auf.  Da
gehen  meine  Nerven durch. Ich habe ihn am  Hals,  schuttele ihn wie  einen
Sack, daß der Kopf hin  und her fliegt, und  schreie  ihm ins Gesicht:
"Du Lump, willst du 'raus - du Hund, du  Schinder, du willst  dich drucken?"
Er verglast, ich  schleudere seinen Kopf gegen die Wand  - "Du  Vieh" -  ich
trete ihm  in  die Rippen -  "Du Schwein" - ich stoße ihn vorwurts mit
dem Kopf voran hinaus.
     Eine neue Welle von uns kommt gerade vorbei. Ein Leutnant ist dabei. Er
sieht    uns    und    ruft:    "Vorwurts,   vorwurts,    anschließen,
anschließen  -!" Und was meine Prugel nicht vermocht haben, das wirkte
dieses Wort. Himmelstoß hurt den Vorgesetzten, sieht sich erwachend um
und schließt sich an.
     Ich  folge  und  sehe  ihn  springen.  Er  ist  wieder  der  schneidige
Himmelstoß des Kasernenhofes, er hat sogar den  Leutnant eingeholt und
ist weit voraus. -

     Trommelfeuer,   Sperrfeuer,   Gardinenfeuer,    Minen,    Gas,   Tanks,
Maschinengewehre, Handgranaten - Worte, Worte,  aber sie umfassen das Grauen
der Welt.
     Unsere Gesichter sind verkrustet, unser Denken ist verwustet,  wir sind
todmude; - wenn der Angriff kommt,  mussen manche mit den Fuusten geschlagen
werden, damit sie erwachen  und mitgehen; -  die Augen  sind  entzundet, die
Hunde zerrissen, die Knie bluten, die Ellbogen sind zerschlagen.
     Vergehen Wochen - Monate -Jahre? Es sind nur Tage. - Wir sehen die Zeit
neben uns  schwinden in den farblosen Gesichtern der Sterbenden, wir luffeln
Nahrung  in uns hinein,  wir  laufen,  wir werfen, wir  schießen,  wir
tuten, wir liegen herum, wir sind schwach und stumpf, und nur das  hult uns,
daß noch Schwuchere, noch Stumpfere, noch Hilflosere  da sind, die mit
aufgerissenen Augen uns ansehen als  Gutter, die manchmal dem Tode entrinnen
kunnen.
     In den wenigen Stunden der Ruhe unterweisen wir sie. "Da, siehst du den
Wackeltopp? Das ist eine Mine, die kommt! Bleib liegen, sie geht druben hin.
Wenn sie aber so geht, dann reiß aus! Man kann vor ihr weglaufen."
     Wir machen ihre  Ohren scharf auf  das heimtuckische Surren der kleinen
Dinger, die man kaum vernimmt, sie sollen sie aus dem Krach herauskennen wie
Muckensummen; - wir  bringen ihnen bei, daß  sie gefuhrlicher sind als
die großen, die man lange vorher hurt.
     Wir zeigen ihnen, wie man sich vor Fliegern verbirgt, wie man den toten
Mann  macht,  wenn  man  vom Angriff  uberrannt  wird, wie  man Handgranaten
abziehen  muß,  damit  sie  eine  halbe  Sekunde   vor  dem  Aufschlag
explodieren;  -  wir  lehren   sie,  vor   Granaten   mit   Aufschlagzundern
blitzschnell in Trichter zu fallen, wir machen vor, wie man mit einem Bundel
Handgranaten  einen Graben  aufrollt,  wir  erMuren den  Unterschied  in der
Zundungsdauer zwischen den gegnerischen Handgranaten und unseren, wir machen
sie auf  den Ton der Gasgranaten aufmerksam und zeigen ihnen die Kniffe, die
sie vor dem Tode retten kunnen. Sie huren zu, sie sind folgsam -  aber  wenn
es  wieder  losgeht, machen sie  es in  der  Aufregung meistens  doch wieder
falsch.
     Haie Westhus wird mit  abgerissenem Rucken  fortgeschleppt;  bei  jedem
Atemzug pulst die Lunge durch die Wunde. Ich kann ihm noch die Hand drucken;
- "is alle, Paul", stuhnt er und beißt sich vor Schmerz in die Arme.
     Wir sehen Menschen leben, denen  der Schudel fehlt; wir  sehen Soldaten
laufen,  denen  beide  Fuße  weggefetzt  sind;  sie  stolpern  auf den
splitternden  Stumpfen  bis zum  nuchsten  Loch; ein  Gefreiter kriecht zwei
Kilometer  weit auf den Hunden und  schleppt die zerschmetterten Knie hinter
sich her;  ein anderer geht zur Verbandsstelle, und uber seine festhaltenden
Hunde quellen  die Durme;  wir sehen Leute ohne Mund, ohne Unterkiefer, ohne
Gesicht; wir finden jemand, der mit den Zuhnen  zwei  Stunden die Schlagader
seines  Armes  klemmt, um nicht zu  verbluten, die Sonne geht auf, die Nacht
kommt, die Granaten pfeifen, das Leben ist zu Ende.
     Doch das Stuckchen zerwuhlter Erde,  in dem  wir  liegen,  ist gehalten
gegen die ubermacht, nur wenige hundert Meter sind preisgegeben worden. Aber
auf jeden Meter kommt ein Toter.

     Wir werden  abgelust. Die Ruder rollen unter uns weg, wir stehen dumpf,
und wenn der Ruf: "Achtung  - Draht!" kommt, gehen wir  in die Kniebeuge. Es
war Sommer, als wir hier  voruberfuhren,  die Buume waren noch  grun,  jetzt
sehen sie schon herbstlich aus, und die Nacht ist grau und feucht. Die Wagen
halten, wir klettern
     97
     hinunter,  ein  durcheinandergewurfelter  Haufen, ein Rest  von  vielen
Namen.  An  den  Seiten,  dunkel,  stehen  Leute und rufen  die  Nummern von
Regimentern, von Kompanien aus. Und bei jedem Ruf sondert sich ein  Huuflein
ab,  ein  karges,  geringes  Huuflein  schmutziger,  fahler   Soldaten,  ein
furchtbar kleines Huuflein und ein furchtbar kleiner Rest.
     Nun ruft jemand die Nummer unserer Kompanie, es ist, man  hurt  es, der
Kompaniefuhrer, er ist also davongekommen, sein Arm  liegt in der Binde. Wir
treten zu ihm hin, und ich erkenne Kat und Albert, wir stellen uns zusammen,
lehnen uns aneinander und sehen uns an.
     Und noch einmal und noch einmal huren wir unsere Nummer rufen.  Er kann
lange rufen, man hurt ihn nicht in den Lazaretten und den Trichtern.
     Noch einmal: "Zweite Kompanie hierher!"
     Und dann  leiser: "Niemand mehr  zweite Kompanie?"  Er schweigt und ist
etwas heiser, als er fragt: "Das sind alle?" und befiehlt: "Abzuhlen!"
     Der  Morgen ist grau, es war noch Sommer, als wir hinausgingen, und wir
waren  hundertfunfzig Mann.  Jetzt  friert  uns, es ist Herbst, die  Blutter
rascheln, die Stimmen flattern  mude auf: "Eins -  zwei -drei - vier -", und
bei zweiunddreißig  schweigen  sie.  Und es schweigt  lange,  ehe  die
Stimme fragt: "Noch  jemand?" - und wartet und  dann leise sagt: "In Gruppen
-", und doch abbricht und nur vollenden kann: "Zweite Kompanie -", muhselig:
"Zweite Kompanie - ohne Tritt marsch!"
     Eine   Reihe,   eine   kurze   Reihe  tappt  in  den   Morgen   hinaus,
Zweiunddreißig Mann.



     Man nimmt uns weiter als sonst zuruck, in ein Feld-Rekrutendepot, damit
wir dort  neu zusammengestellt werden kunnen. Unsere Kompanie  braucht  uber
hundert Mann Ersatz.
     Einstweilen bummeln wir umher, wenn wir keinen Dienst machen. Nach zwei
Tagen  kommt  Himmelstoß zu  uns.  Seine  große  Schnauze hat er
verloren, seit er im Graben war. Er schlugt vor, daß wir uns vertragen
wollen.  Ich bin bereit, denn ich habe  gesehen, daß er Haie  Westhus,
dem der Rucken weggerissen wurde, mit fortgebracht hat. Da er außerdem
wirklich vernunftig redet, haben wir nichts dabei, daß er  uns  in die
Kantine einludt. NurTjaden ist mißtrauisch und reserviert.
     Doch auch er wird gewonnen, denn Himmelstoß erzuhlt, daß er
den in Urlaub  fahrenden Kuchenbullen vertreten soll. Als Beweis dafur ruckt
er sofort zwei Pfund Zucker fur uns und ein  halbes  Pfund Butter fur Tjaden
besonders heraus. Er sorgt sogar dafur, daß  wir fur die nuchsten drei
Tage  in die Kuche  zum Kartoffel- und Steckrubenschulen kommandiert werden.
Das Essen, das er uns dort vorsetzt, ist tadellose Offizierskost.
     So haben wir im Augenblick wieder die beiden  Dinge, die der Soldat zum
Gluck braucht: gutes Essen und Ruhe. Das ist wenig, wenn man es bedenkt. Vor
ein paar Jahren noch hutten wir uns furchtbar verachtet. Jetzt sind wir fast
zufrieden. Alles ist Gewohnheit, auch der Schutzengraben.
     Diese Gewohnheit ist der Grund  dafur, daß wir scheinbar so rasch
vergessen. Vorgestern waren wir noch im Feuer, heute machen wir Albernheiten
und fechten uns  durch die Gegend, morgen gehen wir wieder in den Graben. In
Wirklichkeit vergessen wir nichts.  Solange wir  hier im  Felde sein mussen,
sinken die Fronttage, wenn sie vorbei sind, wie Steine in uns hinunter, weil
sie  zu schwer sind,  um sofort daruber  nachdenken zu kunnen. Tuten wir es,
sie wurden uns hinterher erschlagen; denn soviel habe ich schon gemerkt: Das
Grauen  lußt sich ertragen, solange  man sich  einfach duckt; aber  es
tutet, wenn man daruber nachdenkt.
     Genau wie wir  zu Tieren werden, wenn wir  nach vorn gehen, weil es das
einzige  ist,  was  uns  durchbringt,  so   werden  wir  zu  oberfluchlichen
Witzbolden und Schlafmutzen,  wenn wir  in Ruhe sind.  Wir kunnen  gar nicht
anders, es  ist furmlich  ein  Zwang. Wir  wollen leben um jeden  Preis;  da
kunnen wir uns nicht  mit Gefuhlen belasten, die fur  den Frieden  dekorativ
sein  mugen, hier aber falsch sind. Kemmerich ist tot, Haie  Westhus stirbt,
mit dem Kurper Hans  Kramers werden sie am Jungsten Tage Last haben, ihn aus
einem Volltreffer zusammenzuklauben, Martens hat keine Beine mehr, Meyer ist
tot,  Marx  ist tot, Beyer  ist tot, Hummerling ist tot, hundertzwanzig Mann
liegen  irgendwo mit Schussen, es ist eine verdammte Sache, aber was geht es
uns noch an, wir leben.  Kunnten  wir  sie retten, ja  dann  sollte man  mal
sehen, es wure egal, ob wir selbst draufgingen, so wurden wir loslegen; denn
wir haben einen verfluchten Muck, wenn wir wollen;  Furcht  kennen wir nicht
viel - Todesangst wohl, doch das ist etwas anderes, das ist kurperlich.
     Aber unsere  Kameraden sind tot,  wir  kunnen ihnen  nicht helfen,  sie
haben Ruhe -  wer weiß,  was  uns  noch  bevorsteht;  wir  wollen  uns
hinhauen und  schlafen oder  fressen, soviel wir  in den Magen kriegen,  und
saufen und rauchen, damit die Stunden nicht ude sind. Das Leben ist kurz.

     Das Grauen der  Front versinkt,  wenn wir ihm  den  Rucken kehren,  wir
gehen ihm mit  gemeinen und grimmigen Witzen  zuleibe; wenn  jemand  stirbt,
dann heißt  es, daß er den  Arsch zugekniffen  hat, und so reden
wir  uber alles, das rettet  uns  vor dem Verrucktwerden, solange wir es  so
nehmen, leisten wir Widerstand.
     Aber wir  vergessen  nicht!  Was in den  Kriegszeitungen steht uber den
goldenen Humor der Truppen, die bereits Tunzchen  arrangieren, wenn sie kaum
aus  dem Trommelfeuer zuruck  sind, ist großer Quatsch.  Wir  tun  das
nicht, weil wir Humor  haben, sondern wir haben Humor, weil wir sonst kaputt
gehen. Die Kiste wird ohnehin  nicht  mehr allzulange  halten, der Humor ist
jeden Monat bitterer.
     Und ich weiß: all  das, was  jetzt, solange  wir im  Kriege sind,
versackt in uns wie ein Stein, wird nach  dem  Kriege wieder  aufwachen, und
dann beginnt erst die Auseinandersetzung auf Leben und Tod.
     Die   Tage,  die  Wochen,  die  Jahre  hier  vorn  werden  noch  einmal
zuruckkommen, und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und  mit  uns
marschieren, unsere Kupfe  werden klar sein, wir werden ein Ziel haben,  und
so  werden wir marschieren, unsere toten Kameraden neben uns, die Jahre  der
Front hinter uns: - gegen wen, gegen wen?

     Hier  in der Gegend war  vor  einiger Zeit  ein Fronttheater. Auf einer
Bretterwand  kleben  noch  bunte  Plakate  von  den  Vorstellungen her.  Mit
großen Augen stehen Kropp  und ich  davor. Wir kunnen nicht begreifen,
daß  es  so etwas  noch  gibt.  Da  ist ein  Mudchen in  einem  hellen
Sommerkleid abgebildet, mit einem roten Lackgurtel um die Huften. Sie stutzt
sich mit der einen Hand  auf ein Gelunder, mit der  anderen hult  sie  einen
Strohhut. Sie trugt  weiße Strumpfe und weiße  Schuhe, zierliche
Spangenschuhe  mit hohen  Absutzen. Hinter ihr  leuchtet die  blaue  See mit
einigen Wogenkummen, eine Bucht greift seitlich hell hinein. Es ist ein ganz
herrliches Mudchen, mit  einer schmalen Nase, mit  roten  Lippen und  langen
Beinen, unvorstellbar sauber und gepflegt, es badet gewiß  zweimal  am
Tage  und  hat nie Dreck unter den  Nugeln.  Huchstens  vielleicht  mal  ein
bißchen Sand vom Strand.
     Neben ihm  steht ein Mann in weißer Hose, mit  blauem Jackett und
Seglermutze, aber der interessiert uns viel weniger.
     Das Mudchen  auf der Bretterwand ist fur uns ein Wunder. Wir haben ganz
vergessen,  daß es  so  etwas gibt,  und  auch jetzt  noch trauen  wir
unseren  Augen kaum.  Seit Jahren  jedenfalls  haben  wir nichts  Derartiges
gesehen, nichts nur entfernt Derartiges an Heiterkeit,  Schunheit und Gluck.
Das ist der Frieden, so muß er sein, spuren wir erregt.
     "Sieh  dir nur  diese  leichten  Schuhe  an, darin  kunnte  sie  keinen
Kilometer  marschieren", sage ich und komme mir gleich albern vor,  denn  es
ist bludsinnig, bei einem solchen Bild an Marschieren zu denken.
     "Wie alt mag sie sein?" fragt Kropp.
     Ich schutze: "AUerhuchstens zweiundzwanzig, Albert."
     "Dann wure sie ja  ulter als wir. Sie ist nicht mehr als siebzehn, sage
ich dir!"
     Eine Gunsehaut uberluuft uns. "Albert, das wure was, meinst du nicht?"
     Er nickt. "Zu Hause habe ich auch eine weiße Hose."
     "Weiße Hose", sage ich, "aber so ein Mudchen -"
     Wir  sehen an uns herunter, gegenseitig. Da ist  nicht  viel zu finden,
eine  ausgeblichene,  geflickte,  schmutzige   Uniform  bei  jedem.  Es  ist
hoffnungslos, sich zu vergleichen.
     Zunuchst  einmal   kratzen  wir   deshalb  den  jungen  Mann  mit   der
weißen Hose von der  Bretterwand ab, vorsichtig, damit wir das Mudchen
nicht beschudigen. Dadurch ist schon etwas erreicht. Dann schlugt Kropp vor:
"Wir kunnten uns mal entlausen lassen."
     Ich bin nicht ganz einverstanden, denn die Sachen leiden darunter, aber
die Luuse hat man nach zwei Stunden wieder. Doch  nachdem  wir uns wieder in
das Bild  vertieft haben,  erklure  ich  mich bereit. Ich  gehe  sogar  noch
weiter. "Kunnten auch mal sehen, ob  wir  nicht  ein  reines  Hemd zu fassen
kriegen -"
     Albert  meint  aus  irgendeinem  Grunde:  "Fußlappen  wuren  noch
besser."
     "Vielleicht auch  Fußlappen.  Wir  wollen  mal ein  bißchen
spekulieren gehen."
     Doch da schlendern Leer und Tjaden heran; sie sehen das Plakat, und  im
Handumdrehen wird die Unterhaltung ziemlich schweinisch. Leer war in unserer
Klasse der erste, der ein Verhultnis hatte und davon aufregende Einzelheiten
erzuhlte. Er begeistert sich in seiner Weise an dem Bilde, und Tjaden stimmt
muchtig ein.
     Es ekelt uns nicht  gerade an. Wer nicht schweinigelt, ist kein Soldat;
nur liegt es  uns im  Moment nicht ganz, deshalb  schlagen wir uns seitwurts
und marschieren der  Entlausungsanstalt zu mit einem Gefuhl, als sei sie ein
feines Herrenmodengeschuft.

     Die Huuser, in denen wir Quartier haben, liegen nahe am Kanal. Jenseits
des Kanals sind Teiche, die von Pappelwuldern umstanden sind; - jenseits des
Kanals sind auch Frauen.
     Die Huuser auf unserer Seite sind geruumt worden. Auf der andern jedoch
sieht man ab und zu noch Bewohner.
     Abends schwimmen wir. Da kommen drei Frauen am Ufer  entlang. Sie gehen
langsam und sehen nicht weg, obschon wir keine Badehosen tragen.
     Leer  ruft  zu  ihnen  hinuber. Sie lachen und bleiben  stehen,  um uns
zuzuschauen.  Wir  werfen ihnen in gebrochenem Franzusisch Sutze zu, die uns
gerade  einfallen, alles durcheinander, eilig, damit sie nicht fortgehen. Es
sind nicht gerade feine Sachen, aber wo sollen  wir die auch  herhaben. Eine
Schmale,  Dunkle ist dabei. Man sieht ihre Zuhne schimmern, wenn sie  lacht.
Sie hat rasche  Bewegungen, der Rock  schlugt  locker um ihre Beine. Obschon
das  Wasser  kalt  ist,  sind  wir muchtig aufgeruumt und  bestrebt, sie  zu
interessieren, damit sie bleiben. Wir  versuchen  Witze,  und sie antworten,
ohne  daß  wir  sie  verstehen; wir  lachen  und  winken.  Tjaden  ist
vernunftiger. Er luuft ins Haus, holt ein Kommißbrot und hult es hoch.
     Das erzielt großen  Erfolg. Sie  nicken und winken, daß wir
hinuberkommen sollen.  Aber  das  durfen  wir  nicht. Es  ist verboten,  das
jenseitige Ufer  zu betreten. uberall  stehen Posten  an  den Brucken.  Ohne
Ausweis  ist nichts zu machen. Wir dolmetschen  deshalb, sie muchten  zu uns
kommen;  aber  sie  schutteln  die  Kupfe und  zeigen  auf die  Brucken. Man
lußt auch sie nicht durch.
     Sie  kehren  um, langsam  gehen sie den Kanal aufwurts,  immer  am Ufer
entlang.  Wir begleiten  sie schwimmend. Nach  einigen hundert Metern biegen
sie  ab  und  zeigen  auf  ein  Haus,  das  abseits  aus  Buumen und Gebusch
herauslugt. Leer fragt, ob sie dort wohnen.
     Sie lachen - ja, dort sei ihr Haus.
     Wir rufen ihnen zu, daß wir kommen  wollen,  wenn uns die  Posten
nicht sehen kunnen. Nachts. Diese Nacht.
     Sie heben die Hunde, legen sie flach  zusammen,  die  Gesichter darauf,
und  schließen die Augen. Sie  haben verstanden. Die  Schmale,  Dunkle
macht Tanzschritte. Eine Blonde zwitschert: "Brot - gut -"
     Wir bestutigen eifrig,  daß wir es  mitbringen werden.  Auch noch
andere schune Sachen, wir  rollen  die Augen  und zeigen sie mit den Hunden.
Leer  ersuuft fast,  als  er  "ein Stuck  Wurst"  klarmachen  will.  Wenn es
notwendig  wure, wurden wir ihnen ein  ganzes Proviantdepot versprechen. Sie
gehen  und wenden sich noch oft um.  Wir  klettern  an  das Ufer auf unserer
Seite  und achten  darauf, ob  sie auch in  das Haus gehen, denn es  kann ja
sein, daß sie schwindeln. Dann schwimmen wir zuruck.
     Ohne Ausweis  darf  niemand uber die Brucke, deshalb werden wir einfach
nachts  hinuberschwimmen.  Die  Erregung packt uns und  lußt uns nicht
los. Wir kunnen es nicht an  einem  Fleck aushalten  und  gehen zur Kantine.
Dort gibt es gerade Bier und eine Art Punsch.
     Wir trinken Punsch und  lugen  uns phantastische Erlebnisse vor.  Jeder
glaubt dem  andern gern und wartet ungeduldig, um noch dicker aufzutrumpfen.
Unsere Hunde sind unruhig, wir paffen ungezuhlte Zigaretten, bis Kropp sagt:
"Eigentlich kunnten wir ihnen auch ein paar Zigaretten mitbringen." Da legen
wir sie in unsere Mutzen und bewahren sie auf.
     Der Himmel wird  grun wie ein unreifer  Apfel. Wir sind zu viert,  aber
drei kunnen nur  mit; deshalb mussen  wir Tjaden loswerden und geben Rum und
Punsch  fur ihn  aus, bis er torkelt.  Als es dunkel wird,  gehen  wirunsern
Huusern zu.  Tjaden  in  der  Mitte. Wir gluhen  und sind  von Abenteuerlust
erfullt. Fur  mich  ist  die Schmale, Dunkle,  das  haben  wir verteilt  und
ausgemacht.
     Tjaden fullt  auf seinen Strohsack und  schnarcht. Einmal wacht  er auf
und grinst uns so listig an, daß wir schon erschrecken und glauben, er
habe gemogelt, und der ausgegebene Punsch sei umsonst gewesen. Dann fullt er
zuruck und schluft weiter.
     Jeder  von  uns  dreien  legt ein ganzes  Kommißbrot  bereit  und
wickelt es in Zeitungspapier. Die Zigaretten packen wir dazu, außerdem
noch drei gute Portionen Leberwurst, die wir  heute  abend empfangen  haben.
Das ist ein anstundiges Geschenk.
     Vorluufig stecken wir die Sachen in unsere Stiefel; denn Stiefel mussen
wir  mitnehmen,  damit  wir  druben auf dem andern  Ufer  nicht in Draht und
Scherben  treten.  Da wir  vorher schwimmen mussen, kunnen wir weiter  keine
Kleider brauchen. Es ist ja auch dunkel und nicht weit.
     Wir  brechen auf,  die Stiefel  in  den Hunden.  Rasch gleiten wir  ins
Wasser,  legen uns  auf den Rucken, schwimmen und halten die Stiefel mit dem
Inhalt uber unsere Kupfe.
     Am andern Ufer klettern wir vorsichtig hinauf, nehmen die Pakete heraus
und ziehen die Stiefel  an. Die Sachen klemmen wir unter die Arme. So setzen
wir uns, naß, nackt, nur  mit Stiefeln  bekleidet, in Trab. Wir finden
das Haus sofort. Es liegt dunkel in den Buschen. Leer fullt uber eine Wurzel
und schrammt sich die Ellbogen. "Macht nichts", sagt er fruhlich.
     Vor den Fenstern sind Luden. Wir umschleichen das  Haus und  versuchen,
durch die  Ritzen  zu  spuhen.  Dann  werden  wir  ungeduldig. Kropp  zugert
plutzlich. "Wenn nun ein Major drinnen bei ihnen ist?"
     "Dann   kneifen   wir   eben  aus",   grinst  Leer,  "er  kann   unsere
Regimentsnummer ja hier lesen", und klatscht sich auf den Hintern.
     Die Haustur ist offen. Unsere Stiefel machen ziemlichen  Lurm. Eine Tur
uffnet  sich, Licht fullt hindurch, eine Frau  stußt  erschreckt einen
Schrei  aus.  Wir machen  "Pst, pst  -  camerade  -  bon  ami  -" und  heben
beschwurend unsere Pakete hoch.
     Die  andern beiden  sind jetzt auch sichtbar, die Tur uffnet sich ganz,
und  das  Licht bestrahlt  uns. Wir werden  erkannt, und  alle  drei  lachen
unbundig uber  unsern Aufzug. Sie  biegen und  beugen sich im  Turrahmen, so
mussen sie lachen. Wie geschmeidig sie sich bewegen!
     "Un moment  -." Sie verschwinden und werfen  uns Zeugstucke zu, die wir
uns notdurftig umwickeln.  Dann durfen  wir  eintreten.  Eine  kleine  Lampe
brennt  im Zimmer, es  ist  warm und riecht  etwas  nach  Parfum. Wir packen
unsere  Pakete aus und  ubergeben sie  ihnen. Ihre Augen glunzen, man sieht,
daß sie Hunger haben.
     Dann werden wir alle etwas verlegen. Leer macht die Geburde des Essens.
Da  kommt wieder Leben hinein,  sie holen Teller und Messer und fallen  uber
die Sachen her. Bei jedem Scheibchen Leberwurst heben sie, ehe sie es essen,
das Stuck zuerst bewundernd in die Huhe, und wir sitzen stolz dabei.
     Sie ubersprudeln uns mit ihrer Sprache - wir verstehen nicht viel, aber
wir  huren, daß es freundliche Worte  sind. Vielleicht sehen  wir auch
sehr jung aus. Die Schmale, Dunkle, streicht mir uber das Haar und sagt, was
alle franzusischen Frauen immer sagen:  "La guerre - grand malheur - pauvres
garuons -"
     Ich halte  ihren Arm  fest und lege meinen Mund in ihre Handfluche. Die
Finger  umschließen mein Gesicht. Dicht uber mir sind ihre  erregenden
Augen, das  sanfte  Braun der Haut  und die roten  Lippen.  Der Mund spricht
Worte,  die ich nicht verstehe. Ich verstehe auch  die Augen nicht ganz, sie
sagen mehr, als wir erwarteten, da wir hierher kamen.
     Es sind Zimmer nebenan. Im Gehen sehe ich Leer,  er ist mit der Blonden
handfest und  laut. Er kennt das ja auch. Aber ich - ich bin verloren an ein
Fernes, Leises  und Ungestumes und vertraue  mich ihm an. Meine Wunsche sind
sonderbar gemischt aus Verlangen und Versinken. Mir wird schwindelig, es ist
nichts hier, woran man sich noch halten kunnte. Unsere Stiefel haben wir vor
der Tur gelassen, man hat uns Pantoffeln dafur gegeben, und  nun  ist nichts
mehr da, was mir  die Sicherheit und Frechheit des Soldaten zuruckruft: kein
Gewehr, kein Koppel, kein Waffenrock, keine Mutze. Ich lasse mich fallen ins
Ungewisse, mag geschehen, was will - denn ich habe etwas Angst, trotz allem.
     Die Schmale,  Dunkle  bewegt die  Brauen, wenn  sie nachdenkt; aber sie
sind  still, wenn sie  spricht. Manchmal  auch wird der Laut  nicht ganz zum
Wort  und erstickt oder  schwingt  halbfertig uber mich weg; ein Bogen, eine
Bahn, ein Komet. Was habe  ich davon gewußt - was weiß ich davon
? -  Die Worte dieser  fremden Sprache, von der ich kaum etwas begreife, sie
schlufern  mich  ein  zu einer  Stille,  in  der das Zimmer  braun und  halb
beglunzt verschwimmt und nur das Antlitz uber mir lebt und klar ist.
     Wie vielfultig ist ein Gesicht, wenn es fremd war noch vor einer Stunde
und  jetzt  geneigt ist  zu  einer Zurtlichkeit,  die  nicht aus  ihm kommt,
sondern aus der Nacht, der Welt und dem Blut, die in ihm  zusammenzustrahlen
scheinen.  Die  Dinge des  Raumes werden davon angeruhrt und verwandelt, sie
werden besonders, und  vor meiner  hellen Haut  habe ich beinahe  Ehrfurcht,
wenn  der   Schein   der  Lampe  daraufliegt  und   die  kuhle  braune  Hand
daruberstreicht.
     Wie anders ist dies alles als die Dinge in den Mannschaftsbordells,  zu
denen  wir  Erlaubnis haben  und wo  in langer Reihe  angestanden  wird. Ich
muchte nicht an sie denken; aber sie gehen mir unwillkurlich durch den Sinn,
und ich erschrecke, denn vielleicht kann man so etwas nie mehr loswerden.
     Dann aber fuhle ich die  Lippen  der Schmalen, Dunklen, und drunge mich
ihnen  entgegen,  ich  schließe  die  Augen  und  muchte  alles  damit
ausluschen,  Krieg  und  Grauen und Gemeinheit, um  jung  und  glucklich  zu
erwachen; ich denke an das Bild des Mudchens auf dem Plakat und glaube einen
Augenblick, daß mein Leben davon  abhungt, es zu gewinnen. - Und um so
tiefer presse ich mich in die Arme, die mich  umfassen, vielleicht geschieht
ein Wunder.

     ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

     Irgendwie  finden wir uns alle nachher  wieder  zusammen. Leer ist sehr
forsch. Wir  verabschieden uns herzlich und schlupfen in unsere Stiefel. Die
Nachtluft kuhlt unsere heißen  Kurper. Groß ragen die Pappeln in
das Dunkel und  rauschen. Der Mond steht am Himmel und im Wasser des Kanals.
Wir laufen nicht, wir gehen nebeneinander mit langen Schritten.
     Leer sagt: "Das war ein Kommißbrot wert!"
     Ich  kann mich nicht entschließen zu sprechen, ich bin  gar nicht
einmal froh.
     Da huren wir Schritte und ducken uns hinter einen Busch.
     Die Schritte kommen nuher, dicht an uns vorbei. Wir sehen einen nackten
Soldaten,  in Stiefeln, genau  wie wir, er hat  ein Paket unter dem Arm  und
sprengt  im Galopp vorwurts. Es ist  Tjaden in großer Fahrt. Schon ist
er verschwunden.  Wir lachen.  Morgen wird er schimpfen. Unbemerkt  gelangen
wir zu unseren Strohsucken.

     Ich  werde  zur  Schreibstube  gerufen.  Der  Kompaniefuhrer  gibt  mir
Urlaubsschein  und  Fahrschein und wunscht mir gute  Reise.  Ich sehe  nach,
wieviel  Urlaub  ich  habe.  Siebzehn  Tage  -  vierzehn  sind  Urlaub, drei
Reisetage. Es ist zuwenig, und ich frage, ob ich nicht funf Reisetage  haben
kann. Bertinck  zeigt  auf  meinen Schein.  Da sehe ich erst,  daß ich
nicht sofort zur Front zuruckkomme. Ich habe mich  nach  Ablauf  des Urlaubs
noch zum Kursus im Heidelager zu melden.
     Die anderen  beneiden  mich.  Kat  gibt mir  gute Ratschluge,  wie  ich
versuchen soll, Druckpunkt zu nehmen. "Wenn  du gerissen bist, bleibst du da
hungen."
     Es wure  mir  eigentlich lieber gewesen,  wenn  ich erst in acht  Tagen
hutte fahren brauchen; denn so lange sind wir noch  hier, und hier ist es ja
gut. -
     Naturlich  muß ich in der Kantine einen ausgeben.  Wir  sind alle
ein bißchen angetrunken.  Ich  werde trubselig;  es sind sechs Wochen,
die ich fortbleiben werde, das  ist naturlich ein muchtiges  Gluck, aber wie
wird  es  sein,  wenn  ich  zuruckkomme?  Werde   ich  sie  hier  noch  alle
wiedertreffen? Haie und Kemmerich  sind  schon nicht mehr da -  wer wird der
nuchste sein ?
     Wir trinken, und ich sehe einen nach dem andern an. Albert  sitzt neben
mir und raucht, er ist  munter, wir sind immer zusammen gewesen; - gegenuber
hockt Kat mit den abfallenden Schultern,  dem breiten Daumen und der ruhigen
Stimme,  Muller mit den vorstehenden Zuhnen  und  dem  bellenden  Lachen;  -
Tjaden mit den Mauseaugen; - Leer, der sich einen Vollbart stehen lußt
und ausschaut wie vierzig.
     uber unsern Kupfen  schwebt dicker  Qualm. Was  wure  der  Soldat  ohne
Tabak! Die Kantine ist eine Zuflucht,  Bier ist mehr als ein Getrunk, es ist
ein Zeichen, daß man gefahrlos die Glieder dehnen und recken darf. Wir
tun es auch ordentlich, die Beine haben wir lang von uns gestreckt,  und wir
spucken gemutlich in die Gegend, daß es nur so eine Art hat. Wie einem
das alles vorkommt, wenn man morgen abreist!
     Nachts sind wir  noch  einmal  jenseits des  Kanals. Ich  habe  beinahe
Furcht,   der  Schmalen,  Dunklen  zu  sagen,  daß  ich  fortgehe  und
daß, wenn ich zuruckkehre,  wir sicher irgendwo weiter sind; daß
wir  uns also nicht wiedersehen werden.  Aber sie  nickt nur  und lußt
nicht allzuviel merken. Ich kann das  erst gar  nicht  recht verstehen, dann
aber begreife ich. Leer hat  schon  recht:  wure ich an die  Front gegangen,
dann hutte es wieder geheißen: "pauvre garc.on"; aber ein  Urlauber  -
davon  wollen sie nicht  viel wissen, das ist nicht  so interessant. Mag sie
zum Teufel  gehen mit  ihrem Gesumm und  Gerede. Man glaubt an  Wunder,  und
nachher sind es Kommißbrote.
     Am  nuchsten Morgen,  nachdem ich  entlaust  bin,  marschiere  ich  zur
Feldbahn.  Albert und  Kat  begleiten  mich.  Wir huren an  der Haltestelle,
daß  es  wohl  noch ein paar Stunden  dauern wird bis zur Abfahrt. Die
beiden mussen zum Dienst zuruck. Wir nehmen Abschied.
     "Mach's gut, Kat; mach's gut, Albert."
     Sie gehen  und  winken noch  ein paarmal. Ihre Gestalten werden Meiner.
Mir  ist jeder Schritt,  jede  Bewegung  an  ihnen vertraut,  ich  wurde sie
weithin schon daran erkennen. Dann sind sie verschwunden.
     Ich setze mich auf meinen Tornister und warte.
     Plutzlich bin ich von rasender Ungeduld erfullt, fortzukommen.

     Ich liege auf manchem Bahnhof;  ich stehe vor manchem Suppenkessel; ich
hocke  auf mancher Holzplanke; dann  aber wird  die Landschaft draußen
beklemmend, unheimlich und bekannt. An  den abendlichen Fenstern gleitet sie
voruber,  mit  Durfern, in denen Strohducher wie  Mutzen tief  uber gekalkte
Fachwerkhuuser gezogen sind, mit Kornfeldern, die wie Perlmutter im schrugen
Licht schimmern, mit Obstgurten und Scheunen und alten Linden.
     Die  Namen der  Stationen  werden  zu  Begriffen, bei  denen  mein Herz
zittert. Der Zug stampft und stampft, ich stehe am Fenster und halte mich an
den Rahmenhulzern fest. Diese Namen umgrenzen meine Jugend.
     Flache Wiesen, Felder, Hufe; ein  Gespann zieht einsam vor  dem  Himmel
uber den Weg, der parallel zum Horizont luuft. Eine Schranke, vor der Bauern
warten, Mudchen, die winken, Kinder,  die am Bahndamm spielen, Wege, die ins
Land fuhren, glatte Wege, ohne Artillerie.
     Es  ist Abend,  und  wenn  der  Zug  nicht  stampfte,  mußte  ich
schreien. Die Ebene entfaltet  sich groß, in schwachem Blau beginnt in
der  Ferne  die  Silhouette der  Bergrunder aufzusteigen.  Ich  erkenne  die
charakteristische Linie des  Dolbenberges, diesen  gezackten Kamm,  der  juh
abbricht, wo der Scheitel des Waldes aufhurt.  Dahinter  muß die Stadt
kommen.
     Aber nun fließt das goldrote Licht verschwimmend uber  die  Welt,
der Zug rattert  durch eine Kurve und noch eine -  und  unwirklich, verweht,
dunkel stehen die Pappeln darin, weit  weg, hintereinander  in langer Reihe,
gebildet aus Schatten, Licht und Sehnsucht.
     Das Feld dreht sich  mit ihnen langsam vorbei; der Zug  umgeht sie, die
Zwischenruume verringern  sich,  sie werden  ein Block, und einen Augenblick
sehe ich nur eine einzige; dann schieben  sich die anderen wieder hinter der
vordersten heraus, und sie sind noch lange allein am Himmel, bis sie von den
ersten Huusern verdeckt werden.
     Ein Bahnubergang. Ich stehe  am  Fenster, ich  kann mich nicht trennen.
Die andern bereiten ihre Sachen zum  Aussteigen vor. Ich  spreche  den Namen
der  Straße,  die wir uberqueren, vor mich hin,  Bremer Straße -
Bremer Straße -  Radfahrer, Wagen, Menschen sind da unten; es ist eine
graue Straße  und  eine graue Unterfuhrung; -  sie ergreift mich,  als
wure sie meine Mutter.
     Dann  hult  der  Zug, und  der  Bahnhof  ist  da  mit  Lurm,  Rufen und
Schildern. Ich  packe meinen  Tornister  auf und mache die  Haken  fest, ich
nehme mein Gewehr in die Hand und stolpere die Tritte hinunter.
     Auf dem Perron sehe ich mich um; ich kenne niemand von den  Leuten, die
da hasten. Eine Rote-Kreuz-Schwester  bietet mir  etwas zu  trinken  an. Ich
wende mich  ab,  sie luchelt  mich zu albern an, so  durchdrungen von  ihrer
Wichtigkeit: Seht nur,  ich  gebe einem Soldaten  Kaffee. - Sie sagt  zu mir
"Kamerad", das  hat mir gerade gefehlt. Draußen  vor dem Bahnhof  aber
rauscht  der Fluß neben der Straße, er zischt weiß aus den
Schleusen der Muhlenbrucke hervor. Der viereckige alte Wartturm steht daran,
und vor ihm die große bunte Linde, und dahinter der Abend.
     Hier haben  wir gesessen, oft  - wie lange ist das  her  -;  uber diese
Brucke sind wir gegangen und haben den kuhlen, fauligen Geruch des gestauten
Wassers  eingeatmet; wir haben  uns  uber  die  ruhige  Flut  diesseits  der
Schleuse  gebeugt,   in  der  grune  Schlinggewuchse  und   Algen   an   den
Bruckenpfeilern  hingen; - und  wir  haben  uns  jenseits  der  Schleuse  an
heißen  Tagen  uber  den spritzenden Schaum  gefreut  und  von unseren
Lehrern geschwutzt.
     Ich gehe uber die Brucke, ich schaue  rechts  und links; das Wasser ist
immer  noch voll  Algen,  und es schießt  immer noch in  hellem  Bogen
herab; - im Turmgebuude stehen die Plutterinnen wie damals  mit bloßen
Armen  vor der weißen Wusche, und die Hitze der Bugeleisen  strumt aus
den offenen Fenstern. Hunde trotten durch die schmale Straße, vor  den
Hausturen stehen Menschen und  sehen mir nach, wie ich schmutzig und bepackt
vorubergehe.
     In  dieser   Konditorei   haben   wir   Eis   gegessen   und   uns   im
Zigarettenrauchen geubt.  In dieser Straße, die an mir vorubergleitet,
kenne ich jedes Haus, das Kolonialwarengeschuft, die Drogerie, die Buckerei.
Und dann stehe ich vor der braunen Tur mit der abgegriffenen Klinke, und die
Hand wird mir schwer.
     Ich uffne sie; die Kuhle kommt mir wunderlich entgegen, sie macht meine
Augen unsicher.
     Unter meinen Stiefeln knarrt die Treppe.  Oben klappt eine  Tur, jemand
blickt uber  das Gelunder. Es  ist  die Kuchentur,  die  geuffnet wurde, sie
backen dort  gerade Kartoffelpuffer, das Haus  riecht danach,  heute  ist ja
auch  Sonnabend,  und es wird meine Schwester  sein, die sich herunterbeugt.
Ich schume mich einen Augenblick und senke den Kopf, dann nehme ich den Helm
ab und sehe hinauf. Ja, es ist meine ulteste Schwester.
     in
     "Paul!" ruft sie. "Paul -!"
     Ich nicke, mein Tornister  stußt gegen das  Gelunder, mein Gewehr
ist so schwer.
     Sie reißt eine Tur auf und ruft: "Mutter, Mutter, Paul ist da."
     Ich kann nicht mehr weitergehen. Mutter, Mutter, Paul ist da.
     Ich lehne mich an die Wand und umklammere meinen Helm und mein  Gewehr.
Ich umklammere  sie, so  fest es  geht,  aber  ich  kann keinen Schritt mehr
machen, die Treppe  verschwimmt  vor meinen Augen, ich stoße  mir  den
Kolben  auf  die Fuße und  presse zornig  die Zuhne zusammen, aber ich
kann  nicht  gegen dieses  eine Wort an,  das  meine Schwester gerufen  hat,
nichts kann dagegen an, ich quule mich gewaltsam, zu lachen und zu sprechen,
aber  ich  bringe  kein  Wort hervor,  und  so stehe  ich  auf  der  Treppe,
unglucklich, hilflos,  in einem furchtbaren Krampf,  und will nicht, und die
Trunen laufen mir immer nur so uber das Gesicht.
     Meine Schwester kommt zuruck und fragt: "Was hast du denn?"
     Da raffe  ich  mich zusammen und  stolpere  zum  Vorplatz  hinauf. Mein
Gewehr lehne ich in eine Ecke, den Tornister stelle  ich gegen die Wand, und
den Helm packe  ich darauf.  Auch das Koppel mit den Sachen daran  muß
fort. Dann sage ich wutend: "So gib doch endlich ein Taschentuch her!"
     Sie gibt mir  eins aus dem Schrank, und ich wische mir das Gesicht  ab.
uber mir  an der Wand hungt der Glaskasten mit  bunten  Schmetterlingen, die
ich fruher gesammelt habe.
     Nun hure ich die Stimme meiner Mutter. Sie kommt aus dem Schlafzimmer.
     "Ist sie nicht auf?" frage ich meine Schwester.
     "Sie ist krank -", antwortet sie.
     Ich gehe hinein zu ihr, gebe ihr die Hand  und sage, so ruhig ich kann:
"Da bin ich, Mutter."
     Sie  liegt im Halbdunkel. Dann fragt sie angstvoll, und  ich fuhle, wie
ihr Blick mich abtastet: "Bist du verwundet?"
     "Nein, ich habe Urlaub."
     Meine Mutter ist sehr blaß. Ich scheue mich, Licht zu machen. "Da
liege ich nun und weine", sagt sie, "anstatt mich zu freuen."
     "Bist du krank, Mutter?" frage ich.
     "Ich werde  heute etwas aufstehen", sagt sie und wendet sich  zu meiner
Schwester, die immer auf einen Sprung in die  Kuche muß, damit ihr das
Essen nicht anbrennt: "Mach auch das Glas mit den eingemachten Preiselbeeren
auf, - das ißt du doch gern?" fragt sie mich.
     "Ja, Mutter, das habe ich lange nicht gehabt."
     "Als  ob  wir  es geahnt hutten,  daß  du  kommst",  lacht  mtine
Schwester, "gerade dein Lieblingsessen, Kartoffelpuffer, und jetzt sogar mit
Preiselbeeren."
     "Es ist ja auch Sonnabend", antworte ich.
     "Setz dich zu mir", sagt meine Mutter.
     Sie sieht mich an. Ihre Hunde  sind weiß und krunklich und schmal
gegen meine. Wir sprechen  nur einige  Worte, und ich bin ihr dankbar dafur,
daß sie nichts fragt. Was soll ich auch sagen: Alles, was muglich war,
ist ja geschehen. Ich bin heil herausgelangt und sitze neben ihr. Und in der
Kuche steht meine Schwester und macht das Abendbrot und singt dazu.
     "Mein lieber Junge", sagt meine Mutter leise.
     Wir sind nie sehr zurtlich in der Familie gewesen, das ist nicht ublich
bei armen Leuten, die viel arbeiten  mussen und Sorgen haben. Sie kunnen das
auch  nicht  so  verstehen,  sie beteuern  nicht  gern etwas ufter,  was sie
ohnehin wissen. Wenn meine Mutter zu mir "lieber Junge" sagt, so ist  das so
viel,  als  wenn eine  andere wer  weiß  was  anstellt. Ich weiß
bestimmt, daß das Glas mit Preiselbeeren das einzige  ist seit Monaten
und daß sie es  aufbewahrt hat  fur  mich, ebenso  wie  die schon  alt
schmeckenden  Kekse,  die  sie  mir jetzt  gibt. Sie hat  sicher  bei  einer
gunstigen Gelegenheit einige erhalten und sie gleich zuruckgelegt fur mich.
     Ich sitze  an ihrem Bett,  und durch das Fenster  funkeln in  Braun und
Gold die Kastanien des gegenuberliegenden Wirtsgartens. Ich atme langsam ein
und aus  und sage  mir:  "Du bist  zu Hause, du bist  zu  Hause." Aber  eine
Befangenheit will nicht von mir weichen, ich kann  mich noch nicht in  alles
hineinfinden.  Da  ist  meine  Mutter,  da  ist  meine  Schwester,  da  mein
Schmetterlingskasten und da das
     Mahagoniklavier - aber ich bin noch nicht ganz da. Es sind ein Schleier
und ein Schritt dazwischen.
     Deshalb gehe ich jetzt,  hole  meinen Tornister ans Bett und packe aus,
was ich mitgebracht habe: einen ganzen Edamer Kuse, den Kat mir besorgt hat,
zwei  Kommißbrote, dreiviertel Pfund Butter,  zwei Buchsen Leberwurst,
ein Pfund Schmalz und ein Suckchen Reis.
     "Das kunnt ihr sicher gebrauchen -"
     Sie nicken. "Hierist es wohl schlecht damit?" erkundige ich mich.
     "Ja, es gibt nicht viel. Habt ihr denn draußen genug?"
     Ich luchele  und zeige auf  die mitgebrachten Sachen. "So  viel ja  nun
nicht immer, aber es geht doch einigermaßen."
     Erna bringt die Lebensmittel fort. Meine Mutter nimmt  plutzlich heftig
meine Hand und fragt stockend: "War es sehr schlimm draußen, Paul?"
     Mutter, was soll ich  dir darauf antworten! Du wirst es nicht verstehen
und nie begreifen. Du sollst es auch nie  begreifen. War es  schlimm, fragst
du. - Du, Mutter. - Ich schuttele den Kopf und sage: "Nein, Mutter, nicht so
sehr. Wir sind ja mit vielen zusammen, da ist es nicht so schlimm."
     "Ja, aber kurzlich war  Heinrich Bredemeyer hier, der erzuhlte, es wure
jetzt furchtbar draußen, mit dem Gas und all dem andern."
     Es ist meine Mutter, die das  sagt. Sie sagt: mit  dem  Gas und all dem
andern. Sie  weiß nicht, was sie spricht, sie hat  nur Angst um  mich.
Soll  ich ihr erzuhlen, daß wir einmal drei gegnerische Gruben fanden,
die  erstarrt  waren in  ihrer Haltung,  wie  vom Schlag getroffen?  Auf den
Brustwehren, in den Unterstunden, wo sie gerade waren, standen und lagen die
Leute mit blauen Gesichtern, tot.
     "Ach,  Mutter,  was  so geredet wird",  antworte ich,  "der  Bredemeyer
erzuhlt nur so etwas dahin. Du siehst ja, ich bin heil und dick -"
     An  der zitternden Sorge  meiner  Mutter finde  ich meine  Ruhe wieder.
Jetzt kann ich schon umhergehen und  sprechen und Rede  stehen, ohne Furcht,
mich plutzlich an die  Wand lehnen zu  mussen, weil die  Welt weich wird wie
Gummi und die Adern murbe wie Zunder.
     Meine Mutter  will aufstehen, ich gehe solange  in  die Kuche zu meiner
Schwester.  "Was  hat sie?"  frage ich. Sie zuckt die Achseln:  "  Sie liegt
schon  ein  paar Monate, wir sollten  es dir  aber nicht schreiben.  Es sind
mehrere urzte bei ihr gewesen. Einer sagte, es wure wohl wieder Krebs."

     Ich gehe zum Bezirkskommando, um mich anzumelden.  Langsam  wandere ich
durch die Straßen. Hier und da spricht mich jemand an.  Ich halte mich
nicht lange auf, denn ich will nicht so viel reden.
     Als ich aus der Kaserne  zuruckkomme, ruft mich eine  laute  Stimme an.
Ich  drehe mich um, ganz  in Gedanken, und  stehe einem Major  gegenuber. Er
fuhrt mich an: "Kunnen Sie nicht grußen?"
     "Entschuldigen  Herr  Major",  sage  ich verwirrt, "ich  habe Sie nicht
gesehen."
     Er  wird  noch   lauter:   "Kunnen  Sie   sich  auch  nicht  vernunftig
ausdrucken?"
     Ich muchte ihm ins Gesicht  schlagen, beherrsche  mich aber, denn sonst
ist mein  Urlaub  hin, nehme die Knochen zusammen und sage: "Ich  habe Herrn
Major nicht gesehen."
     "Dann passen Sie gefulligst auf!" schnauzt er. "Wie heißen Sie?"
     Ich rapportiere.
     Sein rotes, dickes Gesicht ist immernoch empurt. "Truppenteil?"
     Ich  melde vorschriftsmußig.  Er  hat immer noch nicht genug. "Wo
liegen Sie?"
     Aber   ich  habe  jetzt  genug   und  sage:  "Zwischen  Langemark   und
Bixschoote."
     "Wieso?" fragt er etwas verblufft.
     Ich erklure  ihm, daß ich  vor einer  Stunde auf  Urlaub gekommen
sei, und  denke, daß  er jetzt abtrudeln wird.  Aber ich irre mich. Er
wird sogar noch  wilder: "Das kunnte Ihnen wohl so  passen, hier Frontsitten
einzufuhren, was? Das gibt's nicht! Hier herrscht Gott sei Dank Ordnung!" Er
kommandiert: "Zwanzig Schritt zuruck, marsch, marsch!"
     In  mir sitzt die dumpfe Wut. Aber ich kann nichts gegen ihn machen, er
lußt mich sofort festnehmen, wenn er will. So spritze ich
     zuruck,  gehe  vor und zucke sechs  Meter vor  ihm  zu  einem  zackigen
Gruß zusammen, den ich  erst  wegnehme, als ich sechs Meter hinter ihm
bin.
     Er  ruft  mich wieder  heran  und gibt  mir  jetzt  leutselig  bekannt,
daß er noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen will. Ich zeige mich
stramm dankbar. "Wegtreten!"  kommandiert er.  Ich knalle  die  Wendung  und
ziehe ab.
     Der Abend  ist  mir dadurch  verleidet. Ich  mache,  daß ich nach
Hause komme,  und  werfe die Uniform in die Ecke, das hatte ich sowieso vor.
Dann hole ich meinen Zivilanzug aus dem Schrank und ziehe ihn an.
     Das  ist  mir ganz ungewohnt.  Der Anzug sitzt ziemlich kurz und knapp,
ich  bin  beim  Kommiß  gewachsen.  Kragen  und  Krawatte  machen  mir
Schwierigkeiten.  Schließlich  bindet mir  meine Schwester den Knoten.
Wie  leicht  so ein  Anzug ist,  man hat  das Gefuhl, als  wure  man  nur in
Unterhosen und Hemd.
     Ich betrachte mich im Spiegel.  Das  ist  ein sonderbarer Anblick.  Ein
sonnenverbrannter,  etwas ausgewachsener Konfirmand sieht mich da verwundert
an.
     Meine  Mutter  ist  froh,  daß ich Zivilzeug  trage;  ich bin ihr
dadurch vertrauter.  Doch  mein Vater  hutte lieber,  daß  ich Uniform
anzuge, er muchte so mit mir zu seinen Bekannten gehen.
     Aber ich weigere mich.

     Es ist schun, still irgendwo zu sitzen, zum Beispiel in dem Wirtsgarten
gegenuber den  Kastanien, nahe  der Kegelbahn.  Die  Blutter fallen  auf den
Tisch und auf die Erde, wenige nur,  die ersten. Ich habe ein  Glas Bier vor
mir  stehen, das  Trinken  hat man  beim  Militur gelernt. Das Glas ist halb
geleert,  ich  habe  also  noch einige  gute, kuhle  Schlucke  vor  mir, und
außerdem  kann  ich ein  zweites und ein drittes  bestellen,  wenn ich
will.  Es  gibt  keinen  Appell und kein Trommelfeuer, die Kinder  des Wirts
spielen auf der Kegelbahn, und der  Hund  legt mir seinen Kopf auf die Knie.
Der Himmel ist blau, zwischen dem Laub der Kastanien ragt der grune Turm der
Margaretenkirche auf.
     Das  ist gut, und ich  liebe es. Aber  mit den Leuten  kann  ich  nicht
fertig werden. Die  einzige, die nicht  fragt, ist  meine Mutter. Doch schon
mit  meinem Vater  ist es anders. Er muchte, daß ich etwas erzuhle von
draußen, er hat Wunsche, die ich ruhrend und dumm  finde, zu ihm schon
habe ich kein rechtes Verhultnis mehr. Am liebsten muchte er immerfort etwas
huren. Ich begreife, daß er nicht weiß, daß so etwas nicht
erzuhlt werden kann, und ich  muchte ihm auch gern den Gefallen tun; aber es
ist eine Gefahr fur mich,  wenn ich  diese Dinge  in Worte  bringe, ich habe
Scheu, daß sie dann riesenhaft werden und sich nicht  mehr  bewultigen
lassen. Wo blieben wir, wenn uns alles ganz klar wurde, was da draußen
vorgeht.
     So beschrunke ich mich  darauf,  ihm einige lustige Sachen zu erzuhlen.
Er  aber fragt mich,  ob ich auch einen Nahkampf mitgemacht  hutte. Ich sage
nein und stehe auf, um auszugehen.
     Doch das bessert  nichts.  Nachdem ich  mich auf der  Straße  ein
paarmal erschreckt  habe, weil  das Quietschen der  Straßenbahnen sich
wie heranheulende Granaten  anhurt, klopft  mir jemand auf die  Schulter. Es
ist mein Deutschlehrer, der mich mit den ublichen Fragen uberfullt. "Na, wie
steht  es  draußen.  Furchtbar,  furchtbar,  nicht  wahr?  Ja, es  ist
schrecklich,  aber  wir  mussen  eben  durchhalten.  Und  schließlich,
draußen habt  ihr  doch wenigstens gute  Verpflegung,  wie ich  gehurt
habe, Sie sehen gut aus, Paul,  kruftig. Hier ist das  naturlich schlechter,
ganz naturlich,  ist ja  auch selbstverstundlich, das Beste immer fur unsere
Soldaten!"
     Er  schleppt mich  zu einem Stammtisch  mit. Ich  werde großartig
empfangen, ein Direktor gibt mir die Hand und sagt: " So, Sie kommen von der
Front? Wie ist denn der Geist dort? Vorzuglich, vorzuglich, was?"
     Ich erklure, daß jeder gern nach Hause muchte.
     Er  lacht  druhnend:  "Das glaube  ich! Aber erst  mußt  ihr  den
Franzmann verkloppen! Rauchen Sie? Hier, stecken Sie sich mal eine an. Ober,
bringen Sie unserm jungen Krieger auch ein Bier."
     Leider habe  ich die  Zigarre genommen, deshalb muß ich  bleiben.
Alle triefen nur so von Wohlwollen, dagegen ist nichts einzuwenden. Trotzdem
bin ich urgerlich und qualme, so schnell ich kann.
     Um  wenigstens etwas zu tun,  sturze  ich das  Glas  Bier in einem  Zug
hinunter. Sofort wird mir ein zweites bestellt; die  Leute wissen,  was  sie
einem Soldaten schuldig sind.  Sie disputieren daruber, was  wir annektieren
sollen. Der  Direktor mit der  eisernen Uhrkette will am meisten haben: ganz
Belgien,  die   Kohlengebiete   Frankreichs  und   große  Stucke   von
Rußland.  Er gibt genaue Grunde an, weshalb wir das  haben mussen, und
ist unbeugsam, bis  die andern schließlich nachgeben. Dann beginnt  er
zu erluutern,  wo  in Frankreich  der Durchbruch einsetzen musse, und wendet
sich  zwischendurch zu  mir:  "Nun  macht mal ein bißchen vorwurts  da
draußen  mit eurem  ewigen  Stellungskrieg.  Schmeißt  die Kerle
'raus, dann gibt es auch Frieden." -
     Ich antworte, daß nach  unserer  Meinung ein Durchbruch unmuglich
sei. Die druben hutten zuviel Reserven. Außerdem wure  der  Krieg doch
anders, als man sich das so denke.
     Er  wehrt  uberlegen  ab  und  beweist  mir, daß ich davon nichts
verstehe. " Gewiß, der einzelne", sagt er, "aber es kommt doch auf das
Gesamte  an.  Und  das kunnen Sie nicht  so beurteilen.  Sie sehen nur Ihren
kleinen  Abschnitt und haben deshalb keine ubersicht.  Sie tun Ihre Pflicht,
Sie setzen Ihr Leben  ein,  das  ist huchster  Ehren  wert  - jeder von euch
mußte  das  Eiserne  Kreuz  haben  -,  aber  vor allem  muß  die
gegnerische  Front  in  Flandern  durchbrochen und dann  von oben aufgerollt
werden."
     Er  schnauft und wischt sich den Bart. "Vullig aufgerollt muß sie
werden, von oben herunter. Und dann auf Paris."
     Ich  muchte wissen,  wie  er sich  das vorstellt,  und gieße  das
dritte Bier in mich hinein. Sofort lußt er ein neues bringen.
     Aber ich breche auf. Er schiebt mir noch einige Zigarren in  die Tasche
und  entlußt  mich  mit  einem  freundschaftlichen Klaps. "Alles Gute!
Hoffentlich huren wir nun bald etwas Ordentliches von euch."

     Ich  habe mir den Urlaub anders vorgestellt. Vor einem Jahr war er auch
anders. Ich  bin es wohl,  der sich inzwischen geundert hat. Zwischen  heute
und  damals liegt  eine  Kluft. Damals kannte ich den Krieg noch nicht,  wir
hatten in ruhigeren  Abschnitten gelegen. Heute  merke ich,  daß  ich,
ohne es zu  wissen, zermurbter geworden bin. Ich  finde mich hier nicht mehr
zurecht, es ist eine fremde Welt. Die einen fragen, die andern fragen nicht,
und man sieht ihnen an, daß  sie  stolz  darauf sind; oft sagen sie es
sogar  noch mit dieser  Miene  des  Verstehens, daß  man daruber nicht
reden kunne. Sie bilden sich etwas darauf ein.
     Am liebsten bin ich  allein,  da  sturt  mich keiner.  Denn alle kommen
stets auf dasselbe  zuruck,  wie schlecht es geht  und wie gut  es geht, der
eine findet es so,  der  andere so,  - immer  sind  sie  auch  rasch bei den
Dingen,  die ihr Dasein darstellen.  Ich habe  fruher sicher genauso gelebt,
aber ich finde jetzt keinen Anschluß mehr daran.
     Sie reden  mir zuviel. Sie haben Sorgen, Ziele, Wunsche, die ich  nicht
so  auffassen kann wie  sie. Manchmal sitze  ich  mit einem von ihnen in dem
kleinen   Wirtsgarten  und  versuche,   ihm   klarzumachen,  daß  dies
eigentlich schon alles ist: so still zu sitzen. Sie verstehen das naturlich,
geben es zu, finden es auch, aber nur mit Worten, nur mit Worten, das ist es
ja  - sie  empfinden  es,  aber  stets nur  halb, ihr anderes Wesen ist  bei
anderen Dingen, sie  sind so verteilt, keiner empfindet es mit seinem ganzen
Leben; ich kann ja selbst auch nicht recht sagen, was ich meine.
     Wenn  ich sie  so  sehe,  in  ihren Zimmern,  in ihren  Buros, in ihren
Berufen, dann zieht das mich unwiderstehlich  an, ich muchte auch darin sein
und den Krieg vergessen; aber es stußt mich auch gleich wieder  ab, es
ist so eng, wie kann das ein Leben ausfullen, man sollte es zerschlagen, wie
kann  das alles  so sein,  wuhrend draußen jetzt die Splitter uber die
Trichter  sausen  und  die  Leuchtkugeln   hochgehen,  die  Verwundeten  auf
Zeltbahnen zuruckgeschleift  werden  und die Kameraden  sich  in  die Gruben
drucken! -Es  sind  andere Menschen hier,  Menschen, die ich  nicht  richtig
begreife,  die ich beneide und verachte. Ich muß an Kat und Albert und
Muller und Tjaden denken, was  mugen sie  tun? Sie sitzen vielleicht in  der
Kantine oder sie schwimmen - bald mussen sie wieder nach vorn.
     In meinem  Zimmer  steht hinter dem Tisch  ein  braunes Ledersofa.  Ich
setze mich hinein.
     An den  Wunden sind viele Bilder mit Reißzwecken festgemacht, die
ich fruher aus Zeitschriften  geschnitten  habe.  Postkarten und Zeichnungen
dazwischen, die mir gefallen  haben. In der Ecke steht  ein kleiner eiserner
Ofen. An der Wand gegenuber das Regal mit meinen Buchern.
     In diesem Zimmer habe ich gelebt, bevor  ich  Soldat wurde. Die  Bucher
habe ich  nach  und nach  gekauft  von  dem Geld, das  ich  mit Stundengeben
verdiente. Viele davon antiquarisch,  alle Klassiker  zum Beispiel, ein Band
kostete eine Mark und zwanzig Pfennig, in steifem,  blauem Leinen.  Ich habe
sie vollstundig gekauft,  denn  ich  war grundlich, bei ausgewuhlten  Werken
traute ich  den Herausgebern nicht, ob  sie auch  das Beste genommen hatten.
Deshalb  kaufte  ich  mir  "  Sumtliche  Werke".  Gelesen habe ich  sie  mit
ehrlichem Eifer,  aber die  meisten  sagten  mir  nicht recht zu. Um so mehr
hielt  ich von  den anderen Buchern, den moderneren, die naturlich auch viel
teurer waren. Einige  davon habe ich  nicht ganz ehrlich erworben, ich  habe
sie  ausgeliehen und  nicht  zuruckgegeben, weil  ich mich  von  ihnen nicht
trennen mochte.
     Ein  Fach  des  Regals ist mit  Schulbuchern  gefullt. Sie  sind  wenig
geschont und stark  zerlesen,  Seiten sind herausgerissen, man weiß ja
wofur. Und unten sind Hefte, Papier und Briefe  hingepackt,  Zeichnungen und
Versuche.
     Ich  will  mich hineindenken in  die Zeit  damals. Sie ist  ja noch  im
Zimmer, ich fuhle es sofort, die Wunde haben sie bewahrt. Meine Hunde liegen
auf  der Sofalehne; jetzt mache ich es  mir bequem und ziehe  auch die Beine
hoch, so sitze ich gemutlich in der Ecke, in den Armen des Sofas. Das kleine
Fenster ist geuffnet,  es zeigt das  vertraute Bild der Straße mit dem
ragenden  Kirchturm  am  Ende.  Ein  paar   Blumen  stehen  auf  dem  Tisch.
Federhalter,   Bleistifte,    eine   Muschel   als    Briefbeschwerer,   das
Tintenfaß - hier ist nichts verundert.
     So wird  es auch sein, wenn ich  Gluck habe, wenn der Krieg aus ist und
ich  wiederkomme fur  immer. Ich werde  ebenso hier sitzen und  mein  Zimmer
ansehen und warten.
     Ich bin aufgeregt; aber ich muchte es  nicht sein, denn  das  ist nicht
richtig.  Ich  will wieder  diese stille  Hingerissenheit, das Gefuhl dieses
heftigen,  unbenennbaren Dranges  verspuren, wie fruher,  wenn ich vor meine
Bucher trat. Der Wind der Wunsche, der aus den bunten Bucherrucken aufstieg,
soll mich wieder  erfassen,  er soll  den  schweren,  toten  Bleiblock,  der
irgendwo in mir liegt, schmelzen und  mir wieder die  Ungeduld der  Zukunft,
die beschwingte Freude an  der  Welt der  Gedanken wecken; - er soll mir das
verlorene Bereitsein meiner Jugend zuruckbringen.
     Ich sitze und warte.
     Mir  fullt ein, daß ich zu Kemmerichs  Mutter gehen  muß; -
Mittelstaedt kunnte ich auch besuchen, er muß in der Kaserne sein. Ich
sehe aus  dem  Fenster:  -  hinter  dem besonnten  Straßenbild  taucht
verwaschen und leicht ein Hugelzug auf, verwandelt  sich zu einem hellen Tag
im Herbst, wo ich am Feuer sitze und mit Kat und Albert gebratene Kartoffeln
aus der Schale esse.
     Doch daran will ich nicht denken,  ich wische es fort.  Das Zimmer soll
sprechen, es soll mich einfangen und tragen,  ich will fuhlen, daß ich
hierhergehure,  und  horchen, damit ich weiß,  wenn ich wieder  an die
Front  gehe: Der  Krieg  versinkt und  ertrinkt, wenn die Welle der Heimkehr
kommt,  er  ist  voruber, er zerfrißt uns  nicht,  er hat keine andere
Macht uber uns als nur die uußere!
     Die Bucherrucken  stehen nebeneinander. Ich kenne sie noch und erinnere
mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie  mit meinen Augen: Sprecht zu
mir, - nehmt mich auf - nimm mich auf, du Leben von  fruher, - du sorgloses,
schunes - nimm mich wieder auf -
     Ich warte, ich warte.
     Bilder  ziehen voruber, sie haken nicht fest, es sind  nur Schatten und
Erinnerungen.
     Nichts - nichts.
     Meine Unruhe wuchst.
     Ein furchterliches Gefuhl der Fremde steigt plutzlich in mir hoch.  Ich
kann nicht  zuruckfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und
mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und  traurig  sitze ich wie
ein Verurteilter da,  und  die Vergangenheit  wendet sich  ab.  Gleichzeitig
spure ich Furcht, sie zu sehr zu beschwuren, weil  ich nicht weiß, was
dann  alles geschehen kunnte. Ich  bin ein Soldat, daran  muß ich mich
halten.
     Mude stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der
Bucher und bluttere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein
anderes. Es sind Stellen  darin, die angestrichen sind. Ich suche, bluttere,
nehme  neue  Bucher. Schon  liegt ein  Pack neben  mir.  Andere kommen dazu,
hastiger - Blutter, Hefte, Briefe.
     Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht.
     Mutlos.
     Worte, Worte, Worte - sie erreichen mich nicht.
     Langsam stelle ich die Bucher wieder in die Lucken. Vorbei.
     Still gehe ich aus dem Zimmer.

     Noch gebe ich es nicht auf. Mein  Zimmer betrete  ich zwar  nicht mehr,
aber ich truste  mich damit, daß  einige Tage noch nicht ein  Ende  zu
sein brauchen. Ich habe nachher - sputer - Jahre dafur Zeit.  Vorluufig gehe
ich zu Mittelstaedt in  die Kaserne,  und wir sitzen in seiner Stube, da ist
eine Luft, die ich nicht liebe, an die ich aber gewuhnt bin.
     Mittelstaedt hat eine Neuigkeit parat, die mich sofort elektrisiert. Er
erzuhlt mir, daß Kantorek  eingezogen  worden  sei  als Landsturmmann.
"Stell dir vor", sagt er und holt ein paar gute  Zigarren heraus, "ich komme
aus dem  Lazarett hierher und falle  gleich uber ihn. Er  streckt mir  seine
Pfote entgegen und quakt:  ┌Sieh da, Mittelstaedt,  wie geht es denn?' - Ich
sehe  ihn groß an  und antworte: ┌Landsturmmann  Kantorek, Dienst  ist
Dienst und  Schnaps ist  Schnaps, das sollten  Sie  selbst am besten wissen.
Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden.' - Du  huttest
sein  Gesicht  sehen mussen!  Eine Kreuzung aus Essiggurke  und Blindgunger.
Zugernd versuchte er noch  einmal,  sich anzubiedern. Da schnauzte ich etwas
schurfer.  Nun fuhrte  er seine sturkste  Batterie  ins  Gefecht und  fragte
vertraulich: ┌Soll ich Ihnen vermitteln, daß Sie Notexamen machen?' Er
wollte  mich  erinnern,  verstehst  du.  Da  packte  mich die  Wut, und  ich
erinnerte ihn auch. ┌Landsturmmann Kantorek, vor zwei Jahren  haben Sie  uns
zum Bezirkskommando gepredigt, darunter auch den Joseph Behm, der eigentlich
nicht wollte. Er fiel drei  Monate bevor er eingezogen worden wure. Ohne Sie
hutte  er solange gewartet.  Und jetzt: Wegtreten. Wir sprechen uns noch.' -
Es war mir leicht, seiner Kompanie  zugeteilt zu werden. Als erstes nahm ich
ihn zur Kammer und sorgte  fur eine  hubsche Ausrustung. Du wirst ihn gleich
sehen."
     Wir gehen  auf  den  Hof. Die  Kompanie  ist  angetreten.  Mittelstaedt
lußt ruhren und besichtigt.
     Da erblicke ich Kantorek und muß  das  Lachen verbeißen. Er
trugt eine Art Schoßrock aus verblichenem Blau. Auf dem Rucken  und an
den urmeln sind große dunkle Flicken eingesetzt.  Der  Rock  muß
einem Riesen gehurt haben. Um so kurzer  ist  die  abgewetzte schwarze Hose;
sie reicht  bis zur halben Wade.  Dafur sind aber die  Schuhe sehr geruumig,
eisenharte, uralte Treter, mit hochgebogenen Spitzen, noch an den Seiten  zu
schnuren.  Als  Ausgleich  ist  die  Mutze  wieder zu  klein, ein  furchtbar
dreckiges, elendes Krutzchen. Der Gesamteindruck ist erbarmungswurdig.
     Mittelstaedt  bleibt stehen vor  ihm: "Landsturmmann Kantorek,  ist das
Knopfputz ?  Sie scheinen es nie zu lernen. Ungenugend, Kantorek, ungenugend
-"
     Ich brulle  innerlich vor Vergnugen. Genauso hat Kantorek in der Schule
Mittelstaedt getadelt,  mit  demselben  Tonfall  "Ungenugend,  Mittelstaedt,
ungenugend -"
     Mittelstaedt mißbilligt weiter: "Sehen Sie sich mal Boettcher an,
der ist vorbildlich, von dem kunnen Sie lernen."
     Ich  traue   meinen  Augen  kaum.  Boettcher  ist  ja  auch  da,  unser
Schulportier. Und  der  ist  vorbildlich!  Kantorek schießt mir  einen
Blick zu, als ob er mich fressen muchte. Ich aber  grinse ihm nur harmlos in
die Visage, so als ob ich ihn gar nicht weiter kenne.
     Wie bludsinnig er aussieht mit seinem Krutzchen und seiner Uniform! Und
vor so was hat  man fruher eine Heidenangst gehabt, wenn es auf dem Katheder
thronte   und   einen   mit   dem   Bleistift   aufspießte   bei   den
unregelmußigen   franzusischen   Verben,  mit  denen  man  nachher  in
Frankreich  doch  nichts anfangen konnte. Es ist noch kaum zwei Jahre her; -
und jetzt steht hier der Landsturmmann Kantorek, juh entzaubert, mit krummen
Knien  und Armen  wie Topfhenkel, mit schlechtem  Knopfputz und lucherlicher
Haltung, ein unmuglicher  Soldat. Ich kann ihn mir nicht mehr zusammenreimen
mit dem drohenden Bilde auf  dem Katheder, und  ich muchte wirklich gern mal
wissen, was  ich  machen werde, wenn dieser  Jammerpelz  mich alten Soldaten
jemals wieder fragen darf: "Buumer, nennen Sie das Imparfait von aller -"
     Vorluufig  lußt  Mittelstaedt etwas Schwurmen uben. Kantorek wird
dabei wohlwollend von ihm zum Gruppenfuhrer bestimmt.
     Damit hat es seine  besondere  Bewandtnis. Der Gruppenfuhrer  muß
beim Schwurmen  numlich stets zwanzig  Schritt  vor  seiner  Gruppe sein;  -
kommandiert  man nun: Kehrt  - marsch!, so  macht die  Schwarmlinie  nur die
Wendung,  der  Gruppenfuhrer jedoch,  der dadurch plutzlich  zwanzig Schritt
hinter  der Linie  ist,  muß  im  Galopp vorsturzen, um  wieder  seine
zwanzig Schritt vor die Gruppe zu kommen. Das sind zusammen vierzig Schritt:
Marsch, marsch. Kaum ist  er aber angelangt,  so wird einfach wieder Kehrt -
marsch! befohlen, und er muß eiligst  wieder vierzig  Schritt nach der
anderen  Seite rasen. Auf diese Weise  macht die Gruppe  nur gemutlich immer
eine Wendung und ein paar  Schritte, wuhrend  der Gruppenfuhrer  hin und her
saust wie  ein Furz auf der Gardinenstange. Das Ganze ist  eines der  vielen
probaten Rezepte von Himmelstoß.
     Kantorek  kann  von Mittelstaedt  nichts anderes verlangen, denn er hat
ihm  einmal  eine Versetzung  vermurkst,  und Mittelstaedt wure schun  dumm,
diese  gute Gelegenheit nicht auszunutzen, bevor er  wieder ins Feld  kommt.
Man  stirbt doch vielleicht etwas leichter, wenn der Kommiß einem auch
einmal solch eine Chance geboten hat.
     Einstweilen  spritzt  Kantorek  hin  und  her  wie ein  aufgescheuchtes
Wildschwein.  Nach einiger Zeit lußt  Mittelstaedt  aufhuren,  und nun
beginnt die so wichtige ubung des Kriechens. Auf  Knien und  Ellenbogen, die
Knarre   vorschriftsmußig   gefaßt,   schiebt   Kantorek   seine
Prachtfigur  durch den Sand, dicht an  uns vorbei.  Er schnauft kruftig, und
sein Schnaufen ist Musik.
     Mittelstaedt  ermuntert  ihn,  indem er den Landsturmmann Kantorek  mit
Zitaten des Oberlehrers Kantorek trustet. "Landsturmmann Kantorek, wir haben
das Gluck, in  einer großen  Zeit  zu leben, da  mussen  wir  alle uns
zusammenreißen  und  das  Bittere  uberwinden."  Kantorek  spuckt  ein
schmutziges Stuck  Holz  aus,  das ihm zwischen die Zuhne gekommen ist,  und
schwitzt.  Mittelstaedt beugt  sich  nieder, beschwurend eindringlich:  "Und
uber Kleinigkeiten niemals das große Erlebnis vergessen, Landsturmmann
Kantorek!"
     Mich  wundert,  daß Kantorek  nicht mit  einem  Knall  zerplatzt,
besonders,  da   jetzt  die  Turnstunde  folgt,  in  der  Mittelstaedt   ihn
großartig  kopiert,  indem er ihm  in  den  Hosenboden faßt beim
Klimmzug am Querbaum, damit er das Kinn stramm uber die Stange bringen kann,
und dazu von weisen Reden nur so trieft. Genauso hat Kantorek es  fruher mit
ihm gemacht.
     Danach  wird  der  weitere Dienst verteilt. "Kantorek und Boettcher zum
Kommißbrotholen! Nehmen Sie den Handwagen mit."
     Ein paar  Minuten sputer geht das Paar mit  dem Handwagen los. Kantorek
hult wutend den Kopf gesenkt. Der Portier ist stolz, weil er leichten Dienst
hat.
     Die Brotfabrik ist  am andern Ende der Stadt. Beide mussen also hin und
zuruck durch die ganze Stadt.
     "Das machen sie schon  ein paar  Tage", grinst  Mittelstaedt. "Es  gibt
bereits Leute, die darauf warten, sie zu sehen."
     "Großartig", sage ich, "aber hat er sich noch nicht beschwert?"
     "Versucht!   Unser  Kommandeur  hat  furchtbar  gelacht,  als  er   die
Geschichte gehurt  hat. Er kann  keine  Schulmeister  leiden. Außerdem
poussiere ich mit seiner Tochter."
     "Er wird dir das Examen versauen."
     "Darauf pfeife ich", meint Mittelstaedt gelassen. "Seine Beschwerde ist
außerdem  zwecklos gewesen, weil  ich  beweisen konnte,  daß  er
meistens leichten Dienst hat."
     "Kunntest du ihn nicht mal ganz groß schleifen?" frage ich.
     "Dazu  ist  er  mir zu dumlich",  antwortet  Mittelstaedt  erhaben  und
großzugig.
     Was  ist  Urlaub?  -   Ein  Schwanken,  das  alles  nachher  noch  viel
schwerermacht. Schon  jetzt  mischt sich der  Abschied hinein. Meine  Mutter
sieht mich schweigend  an; - sie zuhlt die Tage,  ich weiß es; - jeden
Morgen ist sie  traurig.  Es  ist  schon  wieder  ein  Tag  weniger.  Meinen
Tornister hat sie weggepackt, sie will durch ihn nicht erinnert werden.
     Die Stunden laufen schnell, wenn man  grubelt. Ich raffe mich  auf  und
begleite meine Schwester. Sie  geht zum Schlachthof, um einige Pfund Knochen
zu holen. Das  ist eine große Vergunstigung, und morgens schon stellen
sich die Leute hin, um darauf anzustehen. Manche werden ohnmuchtig.
     Wir  haben kein  Gluck. Nachdem  wir drei Stunden  abwechselnd gewartet
haben, lust sich die Reihe auf. Die Knochen sind zu Ende.
     Es ist gut, daß  ich meine Verpflegung erhalte.  Davon bringe ich
meiner Mutter mit, und wir haben so alle etwas kruftigeres Essen.
     Immer  schwerer  werden  die  Tage,  die  Augen   meiner  Mutter  immer
trauriger. Noch vier Tage. Ich muß zu Kemmerichs Mutter gehen.

     Man kann das nicht  niederschreiben. Diese bebende,  schluchzende Frau,
die  mich schuttelt und mich anschreit: "Weshalb lebst du denn,  wenn er tot
ist!", die mich mit Trunen uberstrumt und ruft: "Weshalb  seid ihr uberhaupt
da, Kinder, wie ihr -",  die in  einen Stuhl sinkt und weint:  "Hast  du ihn
gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er?"
     Ich sage ihr, daß er einen Schuß ins Herz erhalten hat  und
gleich tot war. Sie sieht mich  an, sie zweifelt: "Du lugst. Ich  weiß
es besser.  Ich habe gefuhlt, wie  schwer  er gestorben ist. Ich  habe seine
Stimme gehurt, seine  Angst habe ich nachts gespurt, - sag die Wahrheit, ich
will es wissen, ich muß es wissen."
     "Nein",  sage ich, "ich war neben ihm.  Er war sofort tot."  Sie bittet
mich leise:  "Sag es mir. Du mußt es.  Ich weiß,  du willst mich
damit trusten, aber siehst du nicht, daß du mich schlimmer quulst, als
wenn du  die  Wahrheit sagst? Ich kann die Ungewißheit nicht ertragen,
sag mir,  wie es  war, und wenn es noch so furchtbar ist. Es  ist immer noch
besser, als was ich sonst denken muß."
     Ich  werde es nie sagen,  eher kann sie aus mir Hackfleisch machen. Ich
bemitleide sie, aber  sie  kommt mir auch ein wenig dumm vor. Sie soll  sich
doch zufrieden geben, Kemmerich bleibt tot, ob sie es weiß oder nicht.
Wenn  man so viele  Tote gesehen  hat, kann  man  so  viel Schmerz  um einen
einzigen  nicht mehr recht begreifen. So sage ich etwas ungeduldig:  "Er war
sofort tot. Er hat es gar nicht gefuhlt. Sein Gesicht war ganz ruhig."
     Sie schweigt. Dann fragt sie langsam: "Kannst du das beschwuren?"
     "Ja."
     "Bei allem, was dir heilig ist?"
     Ach Gott, was ist mir schon heilig;  - so  was  wechselt ja schnell bei
uns.
     "Ja, er war sofort tot."
     "Willst du selbst nicht wiederkommen, wenn es nicht wahr ist?"
     "Ich will nicht wiederkommen, wenn er nicht sofort tot war."
     Ich wurde noch wer weiß was auf mich nehmen. Aber sie scheint mir
zu glauben.  Sie stuhnt und weint lange. Ich soll erzuhlen, wie es war,  und
erfinde eine Geschichte, an die ich jetzt beinahe selbst glaube.
     Als ich gehe, kußt sie mich und schenkt mir ein Bild von  ihm. Er
lehnt darauf  in seiner  Rekrutenuniform an einem runden Tisch, dessen Beine
aus ungeschulten  Birkenusten  bestehen. Dahinter  ist  ein  Wald gemalt als
Kulisse. Auf dem Tisch steht ein Bierseidel.

     Es  ist der letzte Abend zu Hause. Alle sind  schweigsam. Ich gehe fruh
zu Bett, ich fasse die  Kissen an, ich drucke  sie an mich und lege den Kopf
hinein. Wer weiß, ob ich je wieder so in einem Federbett liegen werde!
     Meine Mutter kommt sput noch in mein  Zimmer. Sie glaubt, daß ich
schlafe, und ich stelle mich auch so. Zu sprechen, wach miteinander zu sein,
ist zu schwer.
     Sie sitzt fast bis  zum  Morgen,  obschon sie Schmerzen  hat  und  sich
manchmal  krummt. Endlich  kann  ich  es  nicht mehr  aushaken, ich tue, als
erwachte ich.
     "Geh schlafen, Mutter, du erkultest dich hier."
     Sie sagt: "Schlafen kann ich noch genug sputer."
     Ich richte  mich auf. "Es geht ja nicht  sofort ins Feld,  Mutter.  Ich
muß doch  erst  vier Wochen ins  Barackenlager.  Von  dort  komme  ich
vielleicht einen Sonntag noch heruber."
     Sie schweigt. Dann fragt sie leise: "Furchtest du dich sehr?"
     "Nein, Mutter."
     "Ich wollte  dir  noch sagen:  Nimm dich vor  den  Frauen  in  acht  in
Frankreich. Sie sind schlecht dort."
     Ach Mutter,  Mutter! Fur dich bin ich  ein Kind, - warum kann ich nicht
den Kopf in deinen Schoß  legen  und weinen? Warum muß ich immer
der Sturkere und  der Gefaßtere  sein,  ich  muchte doch  auch  einmal
weinen und  getrustet werden, ich bin doch  wirklich nicht viel mehr als ein
Kind, im Schrank hungen noch meine kurzen Knabenhosen, - es ist doch erst so
wenig Zeit her, warum ist es denn vorbei?
     So ruhig  ich kann, sage  ich: "Wo wir liegen,  da sind  keine  Frauen,
Mutter."
     "Und sei recht vorsichtig dort im Felde, Paul."
     Ach Mutter, Mutter!  Warum nehme ich dich nicht in meine  Arme, und wir
sterben. Was sind wir doch fur arme Hunde!
     "Ja, Mutter, das will ich sein."
     "Ich werde jeden Tag fur dich beten, Paul."
     Ach Mutter, Mutter! Laß uns aufstehen und fortgehen, zuruck durch
die  Jahre, bis all dies  Elend nicht mehr auf uns liegt, zuruck  zu dir und
mir allein, Mutter!
     "Vielleicht kannst  du einen  Posten bekommen, der nicht so  gefuhrlich
ist."
     "Ja, Mutter, vielleicht komme ich in die Kuche, das kann wohl
     sein."
     "Nimm ihn ja an, wenn die andern auch reden -"
     "Darum kummere ich mich nicht, Mutter -"
     Sie seufzt. Ihr  Gesicht  ist ein weißer  Schein im  Dunkel. "Nun
mußt du schlafen gehen, Mutter."
     Sie  antwortet nicht. Ich stehe auf und  lege  ihr meine Decke uber die
Schultern. Sie stutzt sich auf meinen  Arm, sie hat Schmerzen. So bringe ich
sie hinuber. Eine Weile bleibe ich noch  bei  ihr. "Du  mußt  nun auch
gesund werden, Mutter, bis ich wiederkomme."
     "Jaja, mein Kind."
     "Ihr  durft  mir   nicht  eure  Sachen  schicken,  Mutter.   Wir  haben
draußen genug zu essen. Ihr kunnt es hier besser brauchen."
     Wie arm sie  in ihrem Bette liegt, sie, die mich liebt, mehr als alles.
Als  ich  schon  gehen  will,  sagt  sie  hastig: "Ich habe  dir  noch  zwei
Unterhosen besorgt. Es ist gute Wolle. Sie werden warm halten. Du mußt
nicht vergessen, sie dir einzupacken."
     Ach Mutter, ich  weiß, was dich diese beiden  Unterhosen gekostet
haben an Herumstehen und Laufen und Betteln! Ach  Mutter,  Mutter, wie  kann
man es  begreifen,  daß ich weg muß von dir, wer hat denn anders
ein Recht  auf  mich  als du. Noch sitze  ich hier, und du liegst  dort, wir
mussen uns so vieles sagen, aber wir werden es nie kunnen.
     "Gute Nacht, Mutter."
     "Gute Nacht, mein Kind."
     Das Zimmer ist dunkel. Der Atem  meiner Mutter geht darin hin  und her.
Dazwischen  tickt die  Uhr.  Draußen vor den  Fenstern  weht  es.  Die
Kastanien rauschen.
     Auf dem Vorplatz stolpere ich uber meinen Tornister, der fertig gepackt
daliegt, weil ich morgen sehr fruh fort muß.
     Ich  beiße  in  meine  Kissen,  ich  krampfe  die  Fuuste  um die
Eisenstube  mei'ies  Bettes.  Ich  hutte  nie hierherkommen  durfen. Ich war
gleichgultig  und oft hoffnungslos draußen; - ich werde es nie mehr so
sein kunnen.  Ich war ein Soldat, und nun bin ich nichts mehr als Schmerz um
mich, um  meine Mutter,  um alles, was  so  trostlos und ohne Ende  ist. Ich
hutte nie auf Urlaub fahren durfen.



     Die  Baracken  im Heidelager kenne ich noch.  Hier hat Himmelstoß
Tjaden erzogen. Sonst aber kenne ich kaum jemand hier; alles hat gewechselt,
wie immer. Nur einige der Leute habe ich fruher fluchtig gesehen.
     Den  Dienst  mache  ich  mechanisch.  Abends  bin  ich  fast  stets  im
Soldatenheim, da liegen Zeitschriften aus, die ich aber nicht lese; es steht
jedoch ein Klavier da,  auf dem ich gern spiele. Zwei Mudchen bedienen, eins
davon ist jung.
     Das  Lager ist  von  hohen Drahtzuunen umgeben.  Wenn wir sput  aus dem
Soldatenheim  kommen, mussen  wir  Passierscheine  haben. Wer  sich  mit dem
Posten versteht, kriecht naturlich auch so durch.
     Zwischen  Wacholderbuschen  und  Birkenwuldern   uben  wir  jeden   Tag
Kompanieexerzieren  in der  Heide. Es ist  zu  ertragen, wenn man nicht mehr
verlangt. Man rennt vorwurts, wirft sich hin, und der Atem biegt die Stengel
und Bluten der Heide  hin  und  her.  Der Ware Sand ist,  so  dicht am Boden
gesehen,  rein  wie  in  einem  Laboratorium,  aus  vielen kleinsten Kieseln
gebildet. Es ist seltsam verlockend, die Hand hineinzugraben.
     Aber das schunste sind die Wulder mit ihren Birkenrundern. Sie wechseln
jeden   Augenblick   die  Farbe.  Jetzt  leuchten  die  Stumme  im  hellsten
Weiß,  und seidig und luftig  schwebt  zwischen ihnen das pastellhafte
Grun des Laubes; - im nuchsten Moment wechselt alles zu einem opalenen Blau,
das silbrig vom Rande her streicht und das Grun forttupft; -  aber  sogleich
vertieft  es sich an einer Stelle fast  zu Schwarz, wenn eine Wolke uber die
Sonne  geht.  Und dieser  Schatten luuft wie ein  Gespenst zwischen den  nun
fahlen  Stummen entlang, weiter uber die  Heide zum Horizont,  -  inzwischen
stehen  die  Birken schon wie festliche Fahnen  mit weißen Stangen vor
dem rotgoldenen Geloder ihres sich furbenden Laubes.
     Ich   verliere  mich  oft   an  dieses  Spiel   zartester  Lichter  und
durchsichtiger Schatten, so sehr, daß ich fast die Kommandos uberhure;
-  wenn man allein ist,  beginnt man die Natur zu beobachten und zu  lieben.
Und ich habe hier nicht viel Anschluß, wunsche ihn auch nicht uber das
normale Maß hinaus. Man ist  zuwenig miteinander bekannt, um  mehr  zu
tun, als etwas zu quatschen und abends Siebzehn-und-vier  zu spielen oder zu
mauscheln.
     Neben unsern Baracken befindet sich das große Russenlager. Es ist
von uns zwar  durch Drahtwunde getrennt, trotzdem  gelingt es den Gefangenen
doch, zu uns heruberzukommen. Sie geben sich sehr scheu und ungstlich, dabei
haben  die  meisten  Barte  und  sind  groß; dadurch  wirken  sie  wie
verprugelte Bernhardiner.
     Sie schleichen um unsere Baracken und revidieren  die Abfalltonnen. Man
muß sich  vorstellen,  was sie da  finden. Die Kost ist bei  uns schon
knapp und vor allem schlecht, es gibt Steckruben, in sechs Teile geschnitten
und in Wasser gekocht, Mohrrubenstrunke, die  noch  schmutzig sind; fleckige
Kartoffeln  sind  große  Leckerbissen,  und   das  Huchste  ist  dunne
Reissuppe, in der kleingeschnittene Rindfleischsehnen schwimmen sollen. Aber
sie sind so klein geschnitten, daß sie nicht mehr zu finden sind.
     Trotzdem wird  naturlich  alles  gegessen.  Wenn wirklich einer  mal so
reich ist, nicht leerfuttern zu brauchen, stehen zehn andere da, die  es ihm
gern abnehmen. Nur die Reste, die der  Luffel  nicht mehr  erreicht,  werden
ausgespult  und  in  die Abfalltonnen geschuttet. Dazu kommen  dann manchmal
einige Steckrubenschalen, verschimmelte Brotrinden und allerlei Dreck.
     Dieses dunne, trube, schmutzige Wasser ist das Ziel der Gefangenen. Sie
schupfen es gierig  aus den  stinkenden  Tonnen  und tragen  es unter  ihren
Blusen fort.
     Es  ist sonderbar,  diese  unsere Feinde  so nahe zu sehen.  Sie  haben
Gesichter, die  nachdenklich machen, gute  Bauerngesichter, breite  Stirnen,
breite Nasen,  breite  Lippen, breite  Hunde, wolliges Haar. Man mußte
sie  zum  Pflugen  und  Muhen  und Apfelpflucken  verwenden. Sie  sehen noch
gutmutiger aus als unsere Bauern in Friesland.
     Es ist traurig, ihre Bewegungen, ihr  Betteln um etwas  Essen zu sehen.
Sie sind alle ziemlich schwach, denn sie erhalten gerade so  viel, daß
sie nicht verhungern. Wir selbst bekommen ja lungst nicht satt zu essen. Sie
haben  Ruhr,  mit  ungstlichen  Blicken  zeigen  manche  verstohlen  blutige
Hemdzipfel  heraus.  Ihre  Rucken,  ihre  Nacken  sind  gekrummt,  die  Knie
geknickt,  der  Kopf  blickt schief  von unten  herauf, wenn  sie  die  Hand
ausstrecken und  mit den  wenigen Worten, die sie kennen, betteln, - betteln
mit diesen weichen, leisen Bussen, die wie warme ufen und Heimatstuben sind.
     Es gibt  Leute, die ihnen  einen Tritt geben, daß sie umfallen; -
aber das sind nur  wenig. Die  meisten tun ihnen nichts, sie  gehen an ihnen
vorbei. Mitunter wenn  sie sehr elend sind allerdings,  gerut man daruber in
Wut und versetzt ihnen dann einen Tritt. Wenn sie einen nur nicht so ansehen
wollten, - was fur ein  Jammer in zwei so kleinen  Flecken sitzen  kann, die
man mit dem Daumen schon zuhalten kann: in den Augen.
     Abends kommen sie in die Baracken und handeln. Sie tauschen  alles, was
sie haben, gegen  Brot ein. Es  gelingt ihnen manchmal, denn  sie haben gute
Stiefel, unsere aber sind schlecht. Das Leder ihrer hohen  Schaftstiefel ist
wunderbar  weich, wie  Juchten.  Die Bauernsuhne bei uns, die  von zu  Hause
Fettigkeiten geschickt erhalten, kunnen sie sich  leisten. Der Preis fur ein
Paar  Stiefel  ist   ungefuhr  zwei  bis  drei  Kommißbrote  oder  ein
Kommißbrot und eine kleinere harte Mettwurst.
     Aber  fast alle  Russen haben  lungst  ihre  Sachen abgegeben, die  sie
hatten.  Sie  tragen   nur  noch  erburmliches  Zeug  und  versuchen  kleine
Schnitzereien und Gegenstunde, die sie aus Granatsplittern  und  Stucken von
kupfernen  Fuhrungsringen  gemacht haben,  zu tauschen. Diese Sachen bringen
naturlich nicht viel ein, wenn sie auch allerhand  Muhe gemacht haben -  sie
gehen fur ein paar Scheiben Brot  bereits  weg.  Unsere Bauern  sind zuh und
schlau, wenn sie handeln. Sie halten dem Russen das Stuck Brot oder Wurst so
lange dicht unter die  Nase, bis er  vor  Gier blaß wird und die Augen
verdreht, dann ist ihm alles egal. Sie aber verpacken ihre Beute mit all der
Umstundlichkeit,  deren  sie  fuhig  sind,  holen ihr  dickes  Taschenmesser
heraus, schneiden langsam  und beduchtig fur sich  selber einen  Ranken Brot
von ihrem Vorrat ab und dazu bei jedem Happen ein Stuck von der harten guten
Wurst und futtern, sich zur Belohnung. Es ist aufreizend, sie so vespern  zu
sehen, man  muchte ihnen auf die dicken  Schudel  trommeln. Sie geben selten
etwas ab. Man kennt sich ja auch zuwenig.

     Ich bin ufter auf Wache  bei  den  Russen. In  der Dunkelheit sieht man
ihre Gestalten sich bewegen, wie kranke  Sturche, wie große Vugel. Sie
kommen dicht  an das Gitter heran  und legen  ihre  Gesichter  dagegen,  die
Finger  sind  in  die Maschen  gekrallt. Oft stehen viele nebeneinander.  So
atmen sie den Wind, der von der Heide und den Wuldern herkommt.
     Selten sprechen  sie, und dann nur wenige Worte.  Sie sind menschlicher
und, ich muchte fast glauben, bruderlicher zueinander als wir hier. Aber das
ist  vielleicht  nur deshalb,  weil sie sich unglucklicher  fuhlen  als wir.
Dabei ist fur sie doch der  Krieg zu Ende. Doch auf die Ruhr zu  warten, ist
ja auch kein Leben.
     Die  Landsturmleute, die  sie bewachen, erzuhlen, daß sie anfangs
lebhafter waren. Sie  hatten, wie das immer ist, Verhultnisse untereinander,
und  es soll oft mit  Fuusten und Messern dabei zugegangen  sein. Jetzt sind
sie  schon ganz  stumpf und gleichgultig, die meisten onanieren nicht einmal
mehr, so schwach sind sie, obschon es doch damit sonst oft  so schlimm  ist,
daß sie es sogar barackenweise tun.
     Sie stehen am  Gitter; manchmal schwankt einer fort,  dann ist bald ein
anderer  an seiner Stelle in der Reihe. Die meisten sind still; nur einzelne
betteln um das Mundstuck einer ausgerauchten Zigarette.
     Ich  sehe  ihre dunklen  Gestalten.  Ihre  Barte  wehen  im Winde.  Ich
weiß  nichts von ihnen, als  daß sie Gefangene  sind, und gerade
das erschuttert mich. Ihr Leben ist namenlos und ohne  Schuld; - wußte
ich mehr von ihnen, wie sie  heißen, wie  sie leben, was sie erwarten,
was  sie  bedruckt,  so  hutte  meine Erschutterung ein  Ziel und kunnte  zu
Mitleid werden.  Jetzt aber empfinde ich hinter ihnen  nur  den  Schmerz der
Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der
Menschen.
     Ein Befehl hat diese  stillen Gestalten zu unsern Feinden  gemacht; ein
Befehl  kunnte sie  in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem  Tisch wird
ein Schriftstuck von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt,
und jahrelang ist unser huchstes Ziel  das,  worauf sonst die Verachtung der
Welt und  ihre huchste Strafe ruht. Wer kann da  noch unterscheiden, wenn er
diese stillen  Leute hier  sieht  mit  den  kindlichen  Gesichtern  und  den
Apostelburten! Jeder Unteroffizier  ist  dem Rekruten, jeder  Oberlehrer dem
Schuler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch wurden wir wieder auf
sie schießen und sie auf uns, wenn sie frei wuren.
     Ich erschrecke;  hier darf ich  nicht  weiterdenken. Dieser Weg geht in
den Abgrund.  Es  ist  noch nicht die Zeit dazu; aber ich  will den Gedanken
nicht verlieren,  ich will  ihn bewahren,  ihn  fortschließen, bis der
Krieg zu Ende ist. Mein Herz klopft: ist hier das Ziel, das Große, das
Einmalige,  an  das   ich  im  Graben  gedacht  habe,  das  ich  suchte  als
Daseinsmuglichkeit nach dieser Katastrophe aller Menschlichkeit, ist es eine
Aufgabe fur das Leben nachher, wurdig der Jahre des Grauens?
     Ich nehme meine Zigaretten heraus, breche  jede  in zwei Teile und gebe
sie den Russen. Sie verneigen sich und zunden sie an. Nun glimmen in einigen
Gesichtern rote Punkte. Sie trusten mich; es sieht aus,  als wuren es kleine
Fensterchen in dunklen Dorfhuusern, die verraten, daß  dahinter Zimmer
voll Zuflucht sind.

     Die  Tage gehen  hin. An einem nebeligen Morgen wird  wieder  ein Russe
begraben; es sterben ja jetzt fast tuglich welche. Ich  bin gerade aufWache,
als  er  beerdigt  wird.  Die Gefangenen  singen einen  Choral,  sie  singen
vielstimmig, und es klingt, als wuren es kaum noch Stimmen, als wure es eine
Orgel, die fern in der Heide steht.
     Die Beerdigung geht schnell.
     Abends  stehen  sie  wieder  am  Gitter,  und der  Wind kommt  von  den
Birkenwuldern zu ihnen.  Die  Sterne sind  kalt. Ich kenne  jetzt einige von
ihnen, die ziemlich gut Deutsch sprechen. Ein Musiker ist dabei, er erzuhlt,
daß er Geiger in Berlin gewesen sei. Als er hurt,  daß ich etwas
Klavier spielen kann, holt er seine Geige und spielt.
     Die  andern setzen sich  und lehnen die Rucken an  das Gitter. Er steht
und spielt, oft hat  er den verlorenen Ausdruck, den Geiger  haben, wenn sie
die Augen schließen, dann  wieder bewegt er das Instrument im Rhythmus
und luchelt mich an.
     Er spielt wohl Volkslieder; denn die anderen summen mit. Es sind dunkle
Hugel,  die  tief  unterirdisch  summen.  Die  Geigenstimme  steht  wie  ein
schlankes Mudchen daruber  und  ist  hell und allein. Die Stimmen huren auf,
und  die  Geige  bleibt -  sie ist dunn  in der Nacht, als  friere  sie; man
muß  dicht danebenstehen, es wure  in  einem Raum wohl  besser; - hier
draußen wird man traurig, wenn sie so allein umherirrt.

     Ich bekomme keinen Urlaub uber Sonntag, weil ich ja erst grußeren
Urlaub gehabt habe.  Am  letzten Sonntag vor  der  Abfahrt sind deshalb mein
Vater und meine ulteste Schwester zu Besuch bei  mir. Wir  sitzen den ganzen
Tag im Soldatenheim.  Wo sollen wir  anders hin,  in die  Baracke wollen wir
nicht gehen. Mittags machen wir einen Spaziergang in die Heide.
     Die Stunden quulen sich hm; wir wissen nicht, woruber wir reden sollen.
So sprechen wir uber die Krankheit meiner Mutter. Es ist nun bestimmt Krebs,
sie  liegt  schon  im  Krankenhaus  und wird demnuchst  operiert.  Die urzte
hoffen, daß sie gesund wird, aber wir haben noch nie gehurt, daß
Krebs geheilt worden ist.
     "Wo liegt sie denn?" frage ich.
     "Im Luisenhospital", sagt mein Vater.
     "In welcher Klasse?"
     "Dritter. Wir mussen  abwarten, was  die  Operation kostet.  Sie wollte
selbst  dritter liegen. Sie sagte, dann hutte sie etwas Unterhaltung. Es ist
auch billiger."
     "Dann  liegt  sie  doch mit  so  vielen  zusammen. Wenn sie  nur nachts
schlafen kann."
     Mein Vater nickt. Sein Gesicht ist abgespannt und  voll  Furchen. Meine
Mutter ist viel  krank gewesen;  sie ist zwar nur ins Krankenhaus  gegangen,
wenn  sie gezwungen wurde,  trotzdem  hat es viel Geld fur uns gekostet, und
das Leben meines Vaters ist eigentlich
     daruber  hingegangen.  "Wenn  man  bloß wußte, wieviel  die
Operation kostet", sagt er.
     "Habt ihr nicht gefragt?"
     "Nicht direkt;  das kann man  nicht - wenn der Arzt  dann  unfreundlich
wird, das geht doch nicht, weil er Mutter doch operieren soll."
     Ja, denke  ich bitter, so sind  wir, so sind sie,  die armen Leute. Sie
wagen  nicht  nach dem  Preise  zu fragen und  sorgen  sich  eher  furchtbar
daruber;  aber  die  andern,  die  es  nicht  nutig  haben,  die  finden  es
selbstverstundlich, vorher den  Preis  festzulegen. Bei ihnen wird der  Arzt
auch nicht unfreundlich sein.
     "Die Verbunde hinterher sind auch so teuer", sagt mein Vater.
     "Zahlt denn die Krankenkasse nichts dazu?" frage ich.
     "Mutter ist schon zu lange krank."
     "Habt ihr denn etwas Geld?"
     Er schuttelt den  Kopf.  "Nein. Aber ich kann jetzt wieder  uberstunden
machen."
     Ich weiß: er wird bis zwulf Uhr nachts an seinem Tisch stehen und
falzen und  kleben und schneiden. Um acht Uhr abends wird er etwas essen von
diesem kraftlosen  Zeug,  das sie auf Karte  beziehen. Hinterher wird er ein
Pulver gegen seine Kopfschmerzen einnehmen und weiterarbeiten.
     Um ihn etwas aufzuheitern, erzuhle ich ihm einige  Geschichten, die mir
gerade einfallen,  Soldatenwitze und so etwas, von Generalen und Feldwebeln,
die irgendwann mal 'reingelegt wurden.
     Nachher bringe  ich  beide zur  Bahnstation.  Sie  geben mir  ein  Glas
Marmelade  und ein Paket Kartoffelpuffer, die  meine  Mutter  noch  fur mich
gebacken hat.
     Dann fahren sie ab, und ich gehe zuruck.
     Abends streiche ich mir von der Marmelade auf die Pufferund esse davon.
Es will mir nicht schmecken. So gehe ich hinaus, um den Russen die Puffer zu
geben. Dann  fullt mir ein, daß meine Mutter sie  selbst  gebacken hat
und   daß  sie  vielleicht  Schmerzen  gehabt  hat,  wuhrend  sie   am
heißen  Herd stand. Ich lege  das Paket zuruck in meinen Tornister und
nehme nur zwei Stuck davon mit zu den Russen.



     Wir  fahren  einige Tage. Die ersten Flieger erscheinen am  Himmel. Wir
rollen  an  Transportzugen  voruber.  Geschutze,   Geschutze.  Die  Feldbahn
ubernimmt uns.  Ich  suche mein Regiment. Niemand  weiß,  wo es gerade
liegt.  Irgendwo ubernachte ich, irgendwo empfange ich morgens  Proviant und
einige vage Instruktionen. So mache ich mich mit meinem Tornister und meinem
Gewehr wieder auf den Weg. Als ich ankomme, ist keiner von  uns mehr in  dem
zerschossenen  Ort. Ich hure, daß  wir  zu einer  fliegenden  Division
geworden sind, die uberall eingesetzt wird, wo es brenzlig  ist. Das  stimmt
mich nicht  heiter.  Man erzuhlt mir  von großen  Verlusten,  die  wir
gehabt haben sollen. Ich forsche nach Kat und Albert. Es weiß  niemand
etwas von ihnen.
     Ich suche weiter und irre umher, das ist ein  wunderliches Gefuhl. Noch
eine Nacht und eine  zweite  kampiere  ich wie ein Indianer.  Dann  habe ich
bestimmte Nachricht und kann mich nachmittags auf der Schreibstube melden.
     Der Feldwebel  behult mich da. Die Kompanie kommt in zwei Tagen zuruck,
es  hat keinen  Zweck  mehr,  mich hinauszuschicken. "Wie war's  im Urlaub?"
fragt er. "Schun, was?"
     "Teils, teils", sage ich.
     "Jaja", seufzt er, "wenn  man nicht wieder weg  mußte. Die zweite
Hulfte wird dadurch immer schon verpfuscht."
     Ich lungere umher, bis die Kompanie morgens einruckt, grau,  schmutzig,
verdrossen und trube. Da springe ich auf und drunge mich zwischen sie, meine
Augen suchen, dort ist Tjaden, da schnaubt Muller, und da sind  auch Kat und
Kropp.  Wir  machen uns unsere  Strohsucke nebeneinander zurecht.  Ich fuhle
mich schuldbewußt, wenn ich  sie  ansehe, und habe  doch keinen  Grund
dazu.  Bevor wir schlafen, hole ich den  Rest  der  Kartoffelpuffer und  der
Marmelade heraus, damit sie auch etwas haben.
     Die beiden uußeren  Puffer sind  angeschimmelt, man kann sie aber
noch essen. Ich nehme sie fur mich und gebe die frischeren Kat und Kropp.
     Kat kaut und fragt: "Die sind wohl von Muttern?"
     Ich nicke.
     "Gut", sagt er, "das schmeckt man heraus."
     Fast kunnte ich weinen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Doch  es wird
schon wieder  besser werden, hier  mit Kat und Alben  und den  ubrigen. Hier
gehure ich hin.
     "Du  hast Gluck gehabt",  flustert Kropp  mir noch beim Einschlafen zu,
"es heißt, wir kommen nach  Rußland." Nach Rußland. Da ist
ja kein Krieg mehr.
     In der Ferne donnert die Front. Die Wunde der Baracken klirren.

     Es wird muchtig geputzt. Ein Appell  jagt den andern.  Von allen Seiten
werden wir revidiert. Was zerrissen ist, wird umgetauscht gegen gute Sachen.
Ich erwische dabei  einen tadellosen neuen Rock, Kat  naturlich  sogar  eine
volle Montur.  Das  Gerucht  taucht auf, es  gube  Frieden, doch die  andere
Ansicht  ist wahrscheinlicher:  daß  wir  nach Rußland  verladen
werden. Aber  wozu brauchen  wir in  Rußland  bessere  Sachen? Endlich
sickert  es  durch: der Kaiser kommt  zur  Besichtigung.  Deshalb die vielen
Musterungen.
     Acht Tage lang kunnte man glauben, in  einer Rekrutenkaserne zu sitzen,
so  wird  gearbeitet  und  exerziert. Alles ist verdrossen und nervus,  denn
ubermußiges Putzen ist nichts  fur uns und  Parademarsch noch weniger.
Gerade  solche  Sachen  verurgern den Soldaten mehr als  der Schutzengraben.
Endlich  ist der Augenblick da. Wir stehen stramm, und der Kaiser erscheint.
Wir sind neugierig, wie er aussehen mag. Er schreitet die Front entlang, und
ich  bin eigentlich  etwas enttuuscht: nach  den Bildern hatte ich  ihn  mir
grußer  und  muchtiger  vorgestellt,  vor   allen   Dingen  mit  einer
donnernderen Stimme.
     Er verteilt Eiserne Kreuze und spricht diesen und jenen an. Dann ziehen
wir ab.
     Nachher unterhalten  wir uns.  Tjaden sagt  staunend:  "Das ist nun der
Alleroberste,  den es gibt.  Davor  muß darin doch jeder strammstehen,
jeder  uberhaupt!"  Er  uberlegt:  "Davor  muß  doch  auch  Hindenburg
strammstehen, was?"
     "Jawoll", bestutigt Kat.
     Tjaden  ist  noch nicht fertig. Er denkt eine Zeitlang nach  und fragt:
"Muß ein Kunig vor einem Kaiser auch strammstehen?"
     Keiner weiß das genau, aber wir glauben es  nicht. Die sind beide
schon so hoch, daß es da sicher kein richtiges Strammstehen mehr gibt.
     "Was  du  dir fur einen Quatsch ausbrutest",  sagt Kat. "Die Hauptsache
ist, daß du selber strammstehst."
     Aber Tjaden ist  vullig fasziniert. Seine sonst sehr trockene Phantasie
arbeitet sich Blasen.
     "Sieh mal", verkundet  er, "ich kann einfach nicht begreifen, daß
ein Kaiser auch genauso zur Latrine muß wie ich."
     "Darauf kannst du Gift nehmen", lacht Kropp.
     "Verruckt und  drei  sind sieben",  ergunzt  Kat,  "du  hast  Luuse  im
Schudel,  Tjaden, geh du nur  selbst rasch los  zur  Latrine, damit du einen
klaren Kopp kriegst und nicht wie ein Wickelkind redest."
     Tjaden verschwindet.
     "Eins muchte ich  aber  doch  noch wissen", sagt Albert, "ob  es  Krieg
gegeben hutte, wenn der Kaiser nein gesagt hutte."
     "Das glaube ich sicher", werfe ich ein, - "er soll ja sowieso erst  gar
nicht gewollt haben."
     "Na,  wenn er  allein  nicht, dann vielleicht  doch,  wenn so  zwanzig,
dreißig Leute in der Welt nein gesagt hutten."
     "Das wohl", gebe ich zu, "aber die haben ja gerade gewollt."
     "Es ist komisch, wenn  man  sich das uberlegt", fuhrt Kropp fort,  "wir
sind doch hier, um unser Vaterland zu  verteidigen. Aber die Franzosen  sind
doch auch da, um ihr Vaterland zu verteidigen. Wer hat nun recht?"
     "Vielleicht beide", sage ich, ohne es zu glauben.
     "Ja, nun", meint Albert, und ich sehe ihm  an, daß er mich in die
Enge treiben will, "aber unsere Professoren und Pasture und Zeitungen sagen,
nur wir hutten  recht, und das wird ja hoffentlich  auch so sein; - aber die
franzusischen  Professoren  und  Pasture  und Zeitungen  behaupten, nur  sie
hutten recht, wie steht es denn damit?"
     "Das weiß ich nicht",  sage  ich,  "auf jeden Fall ist Krieg, und
jeden Monat kommen mehr Lunder dazu."
     Tjaden erscheint wieder. Er  ist noch immer angeregt und greift  sofort
wieder in das  Gespruch  ein, indem  er sich  erkundigt, wie eigentlich  ein
Krieg entstehe.
     "Meistens so, daß ein Land  ein anderes schwer  beleidigt",  gibt
Albert mit einer gewissen uberlegenheit zur Antwort.
     Doch Tjaden stellt sich dickfellig. "Ein Land?  Das verstehe ich nicht.
Ein Berg in Deutschland kann doch einen Berg in Frankreich nicht beleidigen.
Oder ein Fluß oder ein Wald oder ein Weizenfeld."
     "Bist du so dumlich oder tust du nur  so?" knurrt Kropp. "So  meine ich
das doch nicht. Ein Volk beleidigt das andere -"
     "Dann habe ich hier nichts zu suchen", erwidert Tjaden, "ich fuhle mich
nicht beleidigt."
     "Dir  soll man nun was  erkluren", sagt  Albert  urgerlich,  "auf  dich
Dorfdeubel kommt es doch dabei nicht an."
     "Dann  kann ich ja erst  recht nach Hause gehen",  beharrt  Tjaden, und
alles lacht.
     "Ach, Mensch, es ist doch  das Volk als Gesamtheit, also  der Staat -",
ruft Muller.
     "Staat, Staat" - Tjaden schnippt schlau mit den Fingern -,
     "Feldgendarmen,  Polizei, Steuer, das ist euer Staat. Wenn du damit  zu
tun hast, danke schun."
     "Das stimmt", sagt Kat, "da  hast du  zum  ersten  Male etwas Richtiges
gesagt, Tjaden, Staat und Heimat, da ist wahrhaftig ein Unterschied."
     "Aber  sie gehuren doch zusammen", uberlegt  Kropp, "eine  Heimat  ohne
Staat gibt es nicht."
     "Richtig, aber bedenk doch mal, daß wir fast alle  einfache Leute
sind.  Und  in  Frankreich sind die  meisten  Menschen  doch auch  Arbeiter,
Handwerker  oder kleine  Beamte.  Weshalb  soll nun  wohl ein  franzusischer
Schlosser oder  Schuhmacher uns  angreifen  wollen?  Nein, das sind  nur die
Regierungen. Ich habe nie einen Franzosen gesehen, bevor ich hierherkam, und
den meisten  Franzosen wird es uhnlich mit uns gehen.  Die  sind ebensowenig
gefragt wie
     wir."
     "Weshalb ist dann uberhaupt Krieg?" fragt Tjaden.
     Kat zuckt die  Achseln. "Es  muß Leute  geben,  denen  der  Krieg
nutzt."
     "Na, ich gehure nicht dazu", grinst Tjaden.
     "Du nicht, und keiner hier."
     "Wer  denn nur?" beharrte Tjaden. "Dem Kaiser nutzt er doch auch nicht.
Der hat doch alles, was er braucht."
     "Das  sag nicht", entgegnet  Kat,  "einen Krieg hat  er bis  jetzt noch
nicht gehabt. Und jeder grußere Kaiser braucht mindestens einen Krieg,
sonst wird er nicht beruhmt. Sieh mal in deinen Schulbuchern nach."
     "Generule werden auch beruhmt durch den Krieg", sagt Detering.
     "Noch beruhmter als Kaiser", bestutigt Kat.
     "Sicher stecken andere Leute, die am Krieg verdienen wollen, dahinter",
brummt Detering.
     "Ich glaube, es ist mehr eine Art Fieber", sagt Albert. "Keiner will es
eigentlich, und mit einem Male ist es da. Wir haben den Krieg nicht gewollt,
die andern  behaupten  dasselbe  -  und trotzdem  ist  die  halbe Welt feste
dabei."
     "Druben wird aber  mehr  gelogen als bei uns", erwidere ich, "denkt mal
an die  Flugblutter der Gefangenen, in denen  stand, daß wir belgische
Kinder frußen. Die Kerle, die so was schreiben, sollten sie aufhungen.
Das sind die wahren Schuldigen."
     Muller steht  auf.  "Besser auf jeden  Fall,  der Krieg ist hier als in
Deutschland. Seht euch mal die Trichterfelder an!"
     "Das stimmt", pflichtet selbst  Tjaden bei,  "abernoch  besser  ist gar
kein Krieg."
     Er geht stolz davon,  denn er  hat es uns  Einjuhrigen nun mal gegeben.
Und seine  Meinung  ist tatsuchlich typisch  hier,  man  begegnet  ihr immer
wieder  und  kann  auch  nichts  Rechtes  darauf  entgegnen,  weil  mit  ihr
gleichzeitig   das   Verstundnis  fur   andere  Zusammenhunge  aufhurt.  Das
Nationalgefuhl des Muskoten besteht darin, daß er hier ist. Aber damit
ist es auch  zu  Ende, alles  andere beurteilt  er praktisch und  aus seiner
Einstellung heraus.
     Albert legt sich urgerlich ins Gras. "Besser  ist, uber den ganzen Kram
nicht zu reden."
     "Wird ja auch nicht anders dadurch", bestutigt Kat.
     Zum uberfluß mussen  wir  die neu  empfangenen  Sachen  fast alle
wieder abgeben und erhalten unsere alten Brocken wieder. Die guten waren nur
zur Parade da.

     Statt  nach  Rußland  gehen wir wieder an  die  Front.  Unterwegs
kommen  wir  durch   einen  kluglichen  Wald  mit  zerrissenen  Stummen  und
zerpflugtem Boden. An einigen Stellen sind furchtbare Lucher. "Donnerwetter,
da hat es aber eingehauen", sage ich zu Kat.
     "Minenwerfer",  antwortet  er  und zeigt dann nach oben.  In  den usten
hungen Tote. Ein nackter Soldat hockt in einer Stammgabelung, er  hat seinen
Helm noch auf dem Kopf, sonst ist er unbekleidet. Nur eine Hulfte  sitzt von
ihm dort oben, ein Oberkurper, dem die Beine fehlen.
     "Was ist da los gewesen?" frage ich.
     "Den haben sie aus dem Anzug gestoßen", knurrt Tjaden.
     Kat sagt: "Es ist komisch, wir haben das nun schon ein paarmal gesehen.
Wenn so  eine Mine einwichst,  wird  man tatsuchlich richtig  aus  dem Anzug
gestoßen. Das macht der Luftdruck."
     Ich suche weiter. Es ist wirklich so. Dort hungen Uniformfetzen allein,
anderswo klebt blutiger Brei, der einmal menschliche Glieder war. Ein Kurper
liegt da, der nur an einem Bein noch ein Stuck Unterhose und um den Hals den
Kragen des  Waffenrockes hat.  Sonst ist er nackt, der  Anzug  hungt im Baum
herum. Beide Arme fehlen, als wuren sie herausgedreht. Einen davon  entdecke
ich zwanzig Schritt weiter im Gebusch.
     Der Tote liegt auf dem Gesicht. Da, wo die Armwunden sind, ist die Erde
schwarz von Blut. Unter  den Fußen ist das  Laub zerkratzt,  als hutte
der Mann noch gestrampelt.
     "Kein Spaß, Kat", sage ich.
     "Ein Granatsplitter im Bauch auch nicht", antwortet er achselzuckend.
     "Nur nicht weich werden", meint Tjaden.
     Das Ganze kann nicht lange her  sein, das Blut ist noch frisch. Da alle
Leute,  die wir sehen, tot sind,  lassen wir  uns  nicht  aufhalten, sondern
melden die Sache bei der nuchsten Sanitutsstation. Schließlich  ist es
ja auch nicht  unsere  Angelegenheit, diesen  Tragbahrenhengsten  die Arbeit
abzunehmen.

     Es soll eine Patrouille ausgeschickt werden, um festzustellen, wie weit
die  feindliche Stellung  noch besetzt  ist. Ich habe  wegen  meines Urlaubs
irgendein sonderbares  Gefuhl  den  andern  gegenuber und melde mich deshalb
mit.  Wir verabreden den Plan, schleichen  durch den  Draht und trennen  uns
dann, um einzeln  vorzukriechen. Nach einer  Weile  finde ich  einen flachen
Trichter, in den ich mich hineingleiten lasse. Von hier luge ich aus.
     Das  Gelunde  hat  mittleres Maschinengewehrfeuer.  Es  wird  von allen
Seiten  bestrichen, nicht sehr stark, aber immerhin genugend, um die Knochen
nicht allzu hoch zu nehmen.
     Ein Leuchtschirm entfaltet  sich. Das Terrain liegt  erstarrt im fahlen
Lichte da.  Um  so schwurzer schlugt hinterher die Dunkelheit wieder daruber
zusammen. Im Graben haben sie vorhin erzuhlt, es wuren Schwarze vor uns. Das
ist unangenehm, man  kann  sie schlecht sehen,  außerdem sind  sie als
Patrouillen   sehr   geschickt.  Sonderbarerweise   sind   sie   oft  ebenso
unvernunftig; -  sowohl Kat als auch Kropp haben einmal  auf Patrouille eine
schwarze  Gegenpatrouille  erschossen, weil die  Leute  in  ihrer Gier  nach
Zigaretten  unterwegs rauchten.  Kat und Albert brauchten nur die glimmenden
Zigarettenkupfe als Ziel zu visieren.
     Neben  mir zischt eine  kleine Granate  ein. Ich  habe sie nicht kommen
gehurt und  erschrecke heftig. Im  gleichen Augenblick  faßt mich eine
sinnlose Angst. Ich bin hier allein und fast hilflos im Dunkeln - vielleicht
beobachten mich lungst aus einem Trichter hervor zwei andere Augen, und eine
Handgranate  liegt wurffertig bereit, mich zu zerreißen. Ich  versuche
mich  aufzuraffen.  Es  ist nicht meine  erste  Patrouille  und  auch  keine
besonders  gefuhrliche.  Aber  es  ist meine  erste  nach  dem  Urlaub,  und
außerdem ist das Gelunde mir noch ziemlich fremd.
     Ich mache mir klar, daß  meine Aufregung Unsinn ist, daß im
Dunkel  wahrscheinlich  gar  nichts  lauert,   weil  sonst  nicht  so  flach
geschossen wurde.
     Es ist vergeblich.  In wirrem Durcheinander summen  mir die Gedanken im
Schudel -  ich hure die  warnende Stimme meiner Mutter,  ich sehe die Russen
mit den wehenden Barten  am Gitter  lehnen,  ich habe die helle,  wunderbare
Vorstellung einer Kantine mit Sesseln, eines Kinos in Valenciennes, ich sehe
quulend,  scheußlich  in  meiner  Einbildung   eine  graue  gefuhllose
Gewehrmundung, die  lauernd lautlos mitgeht, wie ich auch den Kopf zu wenden
versuche: mir bricht der Schweiß aus allen Poren.
     Immer noch  liege  ich in meiner Mulde. Ich sehe auf  die Uhr; es  sind
erst wenige Minuten vergangen. Meine Stirn  ist naß, meine Augenhuhlen
sind  feucht, die Hunde zittern, und ich keuche leise. Es ist nichts anderes
als ein furchtbarer Angstanfall, eine  einfach gemeine Hundeangst davor, den
Kopf herauszustrecken und weiterzukriechen.
     Wie ein Brei zerquillt meine Anspannung zu dem Wunsch, liegenbleiben zu
kunnen. Meine Glieder kleben am Boden,  ich mache einen vergeblichen Versuch
- sie wollen sich  nicht lusen. Ich presse mich an die Erde,  ich kann nicht
vorwurts, ich fasse den Entschluß, liegenzubleiben.
     Aber sofort uberspult mich die Welle erneut, eine Welle aus Scham, Reue
und  doch  auch Geborgenheit. Ich  erhebe  mich  ein  wenig,  um Ausschau zu
halten. Meine Augen brennen,  so starre ich in das  Dunkel. Eine Leuchtkugel
geht hoch; - ich ducke mich wieder.
     Ich kumpfe einen sinnlosen, wirren Kampf, ich will aus der Mulde heraus
und rutsche  doch  wieder hinein, ich  sage, "du mußt,  es  sind deine
Kameraden, es ist ja nicht irgendein dummer  Befehl", - und  gleich  darauf:
"Was geht es mich an, ich habe nur ein Leben zu verlieren -"
     Das  macht  alles dieser  Urlaub, entschuldige ich mich erbittert. Aber
ich glaube es  selbst  nicht,  mir  wird  entsetzlich flau,  ich erhebe mich
langsam und stemme die Arme vor, ziehe den Rucken nach und liege  jetzt halb
auf dem Rande des Trichters.
     Da  vernehme  ich  Geruusche  und  zucke  zuruck.  Man hurt  trotz  des
Artillerielurms verduchtige Geruusche. Ich lausche - das Geruusch ist hinter
mir.  Es sind Leute von uns, die  durch den Graben gehen.  Nun hure ich auch
gedumpfte Stimmen. Es kunnte dem Tone nach Kat sein, der da spricht.
     Eine ungemeine  Wurme  durchflutet  mich  mit  einemmal. Diese Stimmen,
diese  wenigen,  leisen   Worte,  diese  Schritte  im   Graben  hinter   mir
reißen mich  mit einem  Ruck  aus der furchterlichen Vereinsamung  der
Todesangst, der ich beinahe  verfallen wure.  Sie sind mehr als mein  Leben,
diese Stimmen,  sie sind  mehr als Mutterlichkeit  und  Angst, sie sind  das
Sturkste und Schutzendste, was es uberhaupt gibt: es sind die Stimmen meiner
Kameraden.
     Ich  bin nicht mehr ein zitterndes Stuck Dasein allein im Dunkel  - ich
gehure  zu ihnen und sie zu mir, wir  haben alle die gleiche  Angst  und das
gleiche  Leben, wir sind verbunden auf  eine einfache und schwere  Art.  Ich
muchte  mein Gesicht in sie hineindrucken, in die Stimmen, diese paar Worte,
die mich gerettet haben und die mir beistehen werden.

     Vorsichtig gleite  ich uber den Rand und schlungele mich vorwurts.  Auf
allen vieren  schlurfe ich weiter; es geht gut, ich peile die  Richtung  an,
schaue mich um und merke mir das Bild des Geschutzfeuers, um zuruckzufinden.
Dann suche ich Anschluß an die andern zu bekommen.
     Immer  noch  habe  ich Angst,  aber es ist eine vernunftige Angst, eine
außerordentlich  gesteigerte  Vorsicht.  Die  Nacht  ist  windig,  und
Schatten  gehen hin und her beim Aufflackern  des Mundungsfeuers.  Man sieht
dadurch zu wenig und zu viel. Oft erstarre ich, aber es ist immer nichts. So
komme  ich  ziemlich  weit vor  und  kehre  dann  im  Bogen  wieder um.  Den
Anschluß habe  ich nicht gefunden. Jeder Meter nuher  zu unserm Graben
erfullt mich  mit Zuversicht - allerdings  auch mit  grußerer Hast. Es
wure nicht schun, jetzt noch eins verpaßt zu kriegen.
     Da durchfuhrt mich ein neuer Schreck. Ich  kann die Richtung nicht mehr
genau wiedererkennen. Still  hocke ich  mich in einen  Trichter und versuche
mich  zu orientieren. Es  ist mehr als einmal vorgekommen, daß  jemand
vergnugt in einen Graben sprang  und dann erst entdeckte, daß  es  der
falsche war.
     Nach einiger Zeit  horche ich wieder. Immer noch bin ich nicht richtig.
Das Trichtergewirr erscheint mir jetzt so unubersichtlich, daß ich vor
Aufregung  uberhaupt  nicht  mehr weiß,  wohin  ich mich wenden  soll.
Vielleicht krieche  ich parallel  zu den Gruben, das kann ja endlos  dauern.
Deshalb schlage ich wieder einen Haken.
     Diese verfluchten  Leuchtschirme! Sie  scheinen eine Stunde zu brennen,
man kann  keine Bewegung  machen, ohne daß  es  gleich  um einen herum
pfeift.
     Doch  es hilft nichts, ich muß  heraus. Stockend arbeite ich mich
weiter, ich krebse uber den Boden weg und reiße  mir die Hunde wund an
den zackigen Splittern, die scharf wie  Rasiermesser sind. Manchmal habe ich
den Eindruck, als wenn der  Himmel etwas heller wurde am Horizont,  doch das
kann auch Einbildung sein. Allmuhlich aber  merke ich, daß ich um mein
Leben krieche.
     Eine Granate knallt. Gleich darauf zwei andere.  Und schon geht es los.
Ein Feueruberfall. Maschinengewehre knattern. Jetzt gibt es vorluufig nichts
anderes, als  liegenzubleiben. Es  scheint  ein Angriff  zu werden.  uberall
steigen Leuchtraketen. Ununterbrochen.
     Ich  liege gekrummt in einem großen Trichter, die Beine im Wasser
bis zum Bauch. Wenn der Angriff einsetzt, werde  ich  mich ins Wasser fallen
lassen,  so  weit es  geht, ohne  zu ersticken,  das Gesicht  im  Dreck. Ich
muß den toten Mann markieren.
     Plutzlich hure  ich, wie  das Feuer  zuruckspringt. Sofort  rutsche ich
nach  unten ins Grundwasser, den Helm ganz im Genick,  den  Mund nur so weit
hoch, daß ich knapp Luft habe.
     Dann werde ich bewegungslos; - denn irgendwo klirrt etwas, es tappt und
trappst nuher,  - in mir  ziehen sich  alle Nerven eisig zusammen. Es klirrt
uber  mich hinweg,  der  erste  Trupp ist  vorbei.  Ich  habe nur  den einen
zersprengenden Gedanken  gehabt: Was tust du, wenn jemand in deinen Trichter
springt?  -  Jetzt zerre ich rasch den kleinen  Dolch heraus, fasse ihn fest
und  verberge  ihn  mit  der  Hand  wieder  im  Schlamm.  Ich  werde  sofort
losstechen, wenn jemand hereinspringt, hummert  es  in meiner  Stirn, sofort
die Kehle durchstoßen,  damit er nicht  schreien kann,  es  geht nicht
anders, er wird ebenso erschrocken sein  wie ich, und schon vor Angst werden
wir ubereinander herfallen, da muß ich der erste sein.
     Nun schießen unsere Batterien. In meiner Nuhe schlugt es ein. Das
macht mich irrsinnig  wild, es fehlt  mir noch, daß  mich  die eigenen
Geschosse  treffen; ich fluche und knirsche  in den Dreck hinein; es ist ein
wutender Ausbruch, zuletzt kann ich nur noch stuhnen und bitten.
     Das  Gekrach  der Granaten trifft  mein  Ohr.  Wenn unsere  Leute einen
Gegenstoß machen, bin ich befreit. Ich presse den Kopf an die Erde und
hure  das dumpfe Donnern  wie  ferne  Bergwerksexplosionen  - und  hebe  ihn
wieder, um auf die Geruusche oben zu lauschen.
     Die   Maschinengewehre  knarren.   Ich  weiß,  daß   unsere
Drahtverhaue  fest  und fast  unbeschudigt  sind; - ein Teil  davon ist  mit
Starkstrom geladen. Das Gewehrfeuer schwillt an. Sie kommen nicht durch, sie
mussen zuruck.  Ich sinke wieder zusammen, gespannt bis zum uußersten.
Das Klappern und  Schleichen, das  Klirren wird hurbar. Ein einzelner Schrei
gellend dazwischen. Sie werden beschossen, der Angriff ist abgeschlagen.

     Es ist noch etwas heller geworden. An mir voruber hasten Schritte.  Die
ersten. Vorbei.  Wieder andere.  Das Knarren der Maschinengewehre  wird eine
ununterbrochene Kette. Gerade will ich  mich etwas umdrehen, da  poltert es,
und schwer und  klatschend fullt ein  Kurper zu mir in den Trichter, rutscht
ab, liegt auf mir -
     Ich denke nichts, ich  fasse keinen  Entschluß - ich  stoße
rasend  zu und  fuhle  nur,  wie  der Kurper zuckt und dann  weich wird  und
zusammensackt. Meine Hand ist klebrig und naß, als ich zu mir komme.
     Der andere ruchelt. Es scheint mir, als ob er brullt, jeder Atemzug ist
wie ein Schrei, ein Donnern  - aber es sind nur meine Adern, die so klopfen.
Ich muchte ihm den Mund zuhalten, Erde hineinstopfen, noch einmal zustechen,
er  soll still sein,  er verrut mich;  doch  ich  bin schon  so weit  zu mir
gekommen und auch so schwach plutzlich, daß ich  nicht mehr  die  Hand
gegen ihn heben kann.
     So  krieche ich in  die  entfernteste Ecke und  bleibe dort,  die Augen
starr auf  ihn gerichtet, das Messer umklammert, bereit, wenn er sich ruhrt,
wieder auf ihn loszugehen - aber er wird nichts mehr tun, das hure ich schon
an seinem Rucheln.
     Undeutlich  kann  ich  ihn  sehen. Nur  der  eine  Wunsch ist  in  mir,
wegzukommen.  Wenn es nicht  bald ist, wird es  zu hell;  schon jetzt ist es
schwer. Doch  als ich versuche,  den Kopf hochzunehmen, sehe ich bereits die
Unmuglichkeit ein. Das Maschinengewehrfeuer ist derartig  gedeckt, daß
ich durchluchert werde, ehe ich einen Sprung tue.
     Ich probiere es noch einmal mit meinem Helm, den ich etwas emporschiebe
und anhebe, um die Huhe der Geschosse festzustellen. Einen Augenblick sputer
wird er mir durch  eine Kugel aus  der  Hand geschlagen. Das Feuer  streicht
also  ganz  niedrig  uber  das  Terrain.  Ich  bin nicht weit genug von  der
feindlichen  Stellung  entfernt,  um  nicht  von den  Scharfschutzen  gleich
erwischt zu werden, wenn ich versuche, auszureißen.
     Das Licht nimmt zu. Ich warte brennend auf einen Angriff von uns. Meine
Hunde sind weiß an den Knucheln, so presse ich sie zusammen,  so flehe
ich, das Feuer muge aufhuren und meine Kameraden muchten kommen.
     Minute um Minute versickert. Ich wage keinen  Blick mehr zu der dunklen
Gestalt  im Trichter. Angestrengt  sehe  ich  vorbei und warte,  warte.  Die
Geschosse zischen, sie sind ein stuhlernes Netz, es hurt  nicht auf, es hurt
nicht auf.
     Da erblicke  ich meine blutige  Hand und fuhle juhe ubelkeit. Ich nehme
Erde und reibe damit uber die Haut, jetzt ist die Hand wenigstens schmutzig,
und man sieht das Blut nicht mehr.
     Das Feuer lußt nicht nach. Von beiden Seiten ist es jetzt  gleich
stark. Man hat mich bei uns wahrscheinlich lungst verlorengegeben.

     Es ist heller, grauer, fruher  Tag. Das Rucheln tunt fort. Ich hake mir
die  Ohren zu, nehme aber die Finger bald wieder heraus, weil ich sonst auch
das andere nicht huren kann. Die Gestalt gegenuber bewegt sich. Ich schrecke
zusammen  und  sehe  unwillkurlich  hin.  Jetzt   bleiben  meine  Augen  wie
festgeklebt  hungen.  Ein Mann mit einem  kleinen  Schnurrbart liegt da, der
Kopf  ist zur Seite gefallen,  ein  Arm  ist halb  gebeugt,  der Kopf druckt
kraftlos darauf. Die andere Hand liegt auf der Brust, sie ist blutig.
     Er ist tot, sage ich mir, er muß tot sein, er fuhlt nichts mehr -
was  da ruchelt,  ist  nur noch der Kurper. Doch der  Kopf versucht  sich zu
heben, das Stuhnen wird einen  Moment  sturker, dann sinkt  die Stirn wieder
auf den Arm  zuruck.  Der Mann ist  nicht tot, er stirbt,  aber er ist nicht
tot. Ich schiebe mich heran, halte inne, stutze mich auf die Hunde,  rutsche
wieder etwas  weiter, warte  - weiter,  einen grußlichen  Weg von drei
Metern, einen langen, furchtbaren Weg. Endlich bin ich neben ihm.
     Da schlugt er  die Augen auf. Er muß  mich noch  gehurt haben und
sieht  mich mit einem Ausdruck furchtbaren  Entsetzens an. Der Kurper  liegt
still, aber in den Augen ist  eine so  ungeheure Flucht, daß ich einen
Moment  glaube,  sie  wurden  die  Kraft  haben,  den  Kurper  mit  sich  zu
reißen. Hunderte  von Kilometern weit weg mit einem einzigen Ruck. Der
Kurper ist still, vullig  ruhig, ohne Laut jetzt, das Rucheln ist verstummt,
aber die Augen schreien,  brullen, in  ihnen  ist alles Leben  versammelt zu
einer  unfaßbaren Anstrengung, zu  entfliehen, zu einem  schrecklichen
Grausen vor dem Tode, vor mir.
     Ich knicke  in den  Gelenken  ein  und falle auf  die Ellbogen.  "Nein,
nein", flustere ich.
     Die Augen folgen mir. Ich bin unfuhig, eine Bewegung zu machen, solange
sie da sind.
     Da fullt seine Hand langsam von der Brust,  nur ein geringes Stuck, sie
sinkt um wenige Zentimeter, doch diese Bewegung  lust  die  Gewalt der Augen
auf. Ich  beuge mich  vor, schuttele  den Kopf  und  flustere:  "Nein, nein,
nein",  ich  hebe eine  Hand,  ich muß ihm zeigen, daß  ich  ihm
helfen will, und streiche uber seine Stirn.
     Die Augen  sind zuruckgezuckt,  als die Hand kam,  jetzt  verlieren sie
ihre Starre, die Wimpern  sinken tiefer, die  Spannung lußt  nach. Ich
uffne ihm den Kragen und schiebe den Kopf bequemer zurecht.
     Der  Mund steht halb offen, erbemuht sich, Worte zu  formen. Die Lippen
sind  trocken.   Meine  Feldflasche   ist  nicht  da,  ich  habe  sie  nicht
mitgenommen. Aber es  ist  Wasser  in  dem Schlamm unten  im  Trichter.  Ich
klettere  hinab, ziehe mein Taschentuch  heraus, breite  es  aus,  drucke es
hinunter  und  schupfe  mit   der   hohlen  Hand   das   gelbe  Wasser,  das
hindurchquillt.
     Er schluckt es. Ich hole neues. Dann knupfe ich seinen Rock auf, um ihn
zu  verbinden, wenn es geht. Ich  muß es auf jeden Fall tun, damit die
druben,  wenn ich gefangen  werden sollte,  sehen,  daß ich ihm helfen
wollte, und  mich nicht erschießen.  Er versucht sich zu  wehren, doch
die Hand ist  zu schlaff  dazu. Das Hemd ist verklebt  und  lußt  sich
nicht beiseite schieben, es ist hinten geknupft. So bleibt nichts ubrig, als
es aufzuschneiden.
     Ich suche  das Messer  und finde es wieder.  Aber als  ich anfange, das
Hemd zu zerschneiden, uffnen  sich die Augen noch einmal, und wieder ist das
Schreien darin und der wahnsinnige Ausdruck, so daß ich  sie zuhalten,
zudrucken  muß  und  flustern:  "Ich  will  dir  ja  helfen,  Kamerad,
camarade,  camarade,  camarade  -",  eindringlich  das  Wort,  damit  er  es
versteht.
     Drei  Stiche sind  es.  Meine Verbandspuckchen  bedecken  sie, das Blut
luuft darunter weg, ich drucke sie fester auf, da stuhnt er.
     Es ist alles, was ich tun kann. Wir mussen jetzt warten, warten.

     Diese Stunden. - Das Rucheln setzt wieder ein - wie langsam stirbt doch
ein Mensch! Denn das weiß  ich:  er ist nicht zu retten. Ich habe zwar
versucht,  es  mir auszureden, aber  mittags ist  dieser  Vorwand vor seinem
Stuhnen  zerschmolzen, zerschossen. Wenn ich nur meinen  Revolver nicht beim
Kriechen verloren hutte, ich wurde  ihn erschießen. Erstechen kann ich
ihn nicht.
     Mittags dummere ich an  der Grenze des  Denkens dahin.  Hunger zerwuhlt
mich,  ich muß  fast weinen  daruber, essen  zu wollen, aber ich  kann
nicht dagegen ankumpfen.  Mehrere Male  hole ich  dem Sterbenden  Wasser und
trinke auch selbst davon.
     Es ist  der erste  Mensch, den ich  mit meinen Hunden getutet habe, den
ich genau sehen kann, dessen Sterben mein Werk ist. Kat und Kropp und Muller
haben auch  schon  gesehen, wenn sie jemand getroffen  haben, vielen geht es
so, im Nahkampf ja oft -
     Aber jeder Atemzug legt mein  Herz bloß. Dieser Sterbende hat die
Stunden fur sich, er hat ein  unsichtbares Messer, mit dem er mich ersticht:
die Zeit und meine Gedanken.
     Ich  wurde viel darum geben, wenn er  am Leben  bliebe.  Es ist schwer,
dazuliegen und ihn sehen und huren zu mussen.
     Nachmittags um drei Uhr ist er tot.
     Ich atme auf. Doch nur fur kurze Zeit. Das Schweigen erscheint mir bald
noch  schwerer zu  ertragen  als das  Stuhnen. Ich wollte, das Rucheln  wure
wieder da,  stoßweise, heiser, einmal  pfeifend leise und  dann wieder
heiser und laut.
     Es ist sinnlos, was ich tue. Aber ich muß Beschuftigung haben. So
lege ich  den Toten noch einmal zurecht, damit er bequemer liegt, obschon er
nichts mehr fuhlt. Ich schließe  ihm die  Augen. Sie  sind braun,  das
Haar ist schwarz, an den Seiten etwas lockig.
     Der Mund  ist voll  und  weich unter dem Schnurrbart,  die Nase ist ein
wenig gebogen, die  Haut bruunlich, sie sieht  jetzt  nicht mehr so fahl aus
wie vorhin,  als er noch lebte. Einen Augenblick scheint  das  Gesicht sogar
beinahe  gesund  zu sein  - dann  verfullt es  rasch zu  einem  der  fremden
Totenantlitze, die ich oft gesehen habe und die sich alle gleichen.
     Seine  Frau  denkt sicher  jetzt  an  ihn;  sie  weiß  nicht, was
geschehen  ist. Er sieht aus,  als wenn  er ihr oft geschrieben hutte; - sie
wird auch noch Post von ihm bekommen -  morgen, in einer Woche -, vielleicht
einen verirrten  Brief noch in einem Monat. Sie  wird ihn lesen, und er wird
darin zu ihr sprechen.
     Mein  Zustand wird immer schlimmer, ich kann meine Gedanken nicht  mehr
halten. Wie mag die Frau aussehen? Wie die Dunkle,
     Schmale jenseits  des Kanals?  Gehurt sie  mir nicht? Vielleicht gehurt
sie mir jetzt hierdurch! Suße Kantorek doch hier neben mir! Wenn meine
Mutter mich so suhe -. Der  Tote hutte sicher noch dreißig Jahre leben
kunnen,  wenn ich  mir den Ruckweg  schurfer  eingeprugt hutte. Wenn er zwei
Meter weiter nach links  gelaufen wure, luge  er jetzt druben im  Graben und
schriebe einen neuen Brief an seine Frau.
     Doch  so  komme  ich nicht weiter;  denn das  ist das Schicksal von uns
allen; hutte  Kemmerich  sein  Bein zehn Zentimeter weiter rechts  gehalten,
hutte Haie sich funf Zentimeter weiter vorgebeugt -

     Das Schweigen dehnt sich. Ich spreche  und muß sprechen. So  rede
ich ihn  an und sage es ihm. "Kamerad, ich wollte dich nicht tuten. Sprungst
du noch  einmal hier hinein,  ich tute es  nicht,  wenn  auch du  vernunftig
wurest. Aber du warst mir  vorher nur ein Gedanke, eine Kombination,  die in
meinem Gehirn lebte und einen Entschluß hervorrief - diese Kombination
habe ich erstochen. Jetzt sehe ich  erst, daß du ein  Mensch  bist wie
ich.  Ich  habe gedacht  an  deine  Handgranaten, an dein Bajonett und deine
Waffen  -  jetzt  sehe  ich deine  Frau und dein Gesicht und das Gemeinsame.
Vergib mir,  Kamerad! Wir  sehen es  immer zu sput. Warum sagt man uns nicht
immer wieder,  daß  ihr ebenso arme Hunde seid wie wir, daß eure
Mutter sich ebenso ungstigen wie unsere und daß wir die gleiche Furcht
vor  dem  Tode haben  und das  gleiche  Sterben und  den gleichen Schmerz -.
Vergib mir, Kamerad, wie konntest du mein Feind sein.  Wenn wir diese Waffen
und diese Uniform fortwerfen, kunntest du ebenso mein Bruder  sein  wie  Kat
und Albert. Nimm zwanzig Jahre von mir, Kamerad, und stehe  auf - nimm mehr,
denn ich weiß nicht, was ich damit beginnen soll."
     Es ist still,  die Front  ist ruhig bis auf  das  Gewehrgeknatter.  Die
Kugeln liegen dicht, es wird  nicht  planlos  geschossen,  sondern auf allen
Seiten scharf gezielt. Ich kann nicht hinaus.
     "Ich  will deiner  Frau  schreiben", sage ich hastig zu dem Toten, "ich
will ihr schreiben, sie  soll es durch  mich  erfahren,  ich will  ihr alles
sagen,  was ich dir  sage,  sie soll nicht leiden,  ich will  ihr helfen und
deinen Eltern auch und deinem Kinde -"
     Seine  Uniform  steht noch  halb offen.  Die Brieftasche ist leicht  zu
finden. Aber ich  zugere,  sie  zu uffnen. In  ihr ist  das Buch mit  seinem
Namen. Solange ich  seinen Namen nicht  weiß,  kann ich ihn vielleicht
noch vergessen, die Zeit wird es tilgen, dieses Bild. Sein Name aber ist ein
Nagel,  der in  mir eingeschlagen wird und  nie mehr herauszubringen ist. Er
hat  die Kraft, alles immer wieder zuruckzurufen, er wird stets wiederkommen
und vor mich hintreten kunnen.
     Ohne  Entschluß  halte  ich  die  Brieftasche  in  der  Hand. Sie
entfullt mir und uffnet sich.  Einige Bilder und Briefe  fallen  heraus. Ich
sammle  sie auf und will sie wieder  hineinpacken, aber der Druck, unter dem
ich  stehe, die ganze  Ungewisse Lage, der Hunger, die Gefahr, diese Stunden
mit  dem  Toten  haben  mich verzweifelt  gemacht,  ich  will  die Auflusung
beschleunigen  und  die   Quulerei   versturken  und  enden,  wie  man  eine
unertruglich schmerzende Hand gegen einen Baum schmettert, ganz gleich,  was
wird.
     Es  sind  Bilder  einer   Frau  und  eines  kleinen  Mudchens,  schmale
Amateurfotografien vor einer Efeuwand. Neben ihnen stecken Briefe. Ich nehme
sie heraus  und versuche sie zu lesen. Das meiste verstehe ich nicht, es ist
schlecht zu entziffern, und ich kann nur wenig Franzusisch. Aber jedes Wort,
das  ich ubersetze, dringt  mir wie ein  Schuß in die Brust - wie  ein
Stich in die Brust -
     Mein  Kopf  ist  vullig uberreizt.  Aber so  viel  begreife  ich  noch,
daß ich  diesen Leuten nie  schreiben darf, wie ich es dachte  vorhin.
Unmuglich. Ich sehe die Bilder noch  einmal an; es sind keine reichen Leute.
Ich kunnte  ihnen ohne Namen Geld schicken, wenn ich sputer etwas  verdiene.
Daran klammere  ich mich,  das ist ein  kleiner Halt wenigstens. Dieser Tote
ist  mit  meinem  Leben verbunden,  deshalb  muß  ich  alles  tun  und
versprechen, um mich zu retten; ich gelobe blindlings, daß ich nur fur
ihn dasein will und seine Familie, - mit nassen Lippen rede ich auf ihn ein,
und  ganz tief in mir  sitzt dabei die Hoffnung, daß ich  mich dadurch
freikaufe und vielleicht hier doch noch herauskomme, eine kleine Hinterlist,
daß  man  nachher  immer noch erst  einmal  sehen  kunne.  Und deshalb
schlage ich das Buch auf und lese langsam: Gerard Duval, Typograph.
     Ich  schreibe  die  Adresse  mit  dem  Bleistift  des Toten  auf  einen
Briefumschlag und schiebe dann plutzlich rasch alles in seinen Rock zuruck.
     Ich  habe  den  Buchdrucker   Gerard  Duval  getutet.   Ich   muß
Buchdrucker werden, denke ich ganz verwirrt, Buchdrucker werden, Buchdrucker
-

     Nachmittags  bin  ich ruhiger.  Meine Furcht war unbegrundet. Der  Name
verwirrt mich  nicht  mehr. Der Anfall vergeht. "Kamerad", sage  ich zu  dem
Toten hinuber, aber ich sage es gefaßt. "Heute  du,  morgen  ich. Aber
wenn ich  davonkomme, Kamerad, will  ich kumpfen gegen dieses, das uns beide
zerschlug: dir das Leben - und mir -? Auch das Leben. Ich verspreche es dir,
Kamerad. Es darf nie wieder geschehen."
     Die  Sonne steht schrug. Ich bin dumpf vor Erschupfung und Hunger.  Das
Gestern ist mir wie ein Nebel, ich  hoffe nicht, hier noch hinauszugelangen.
So duse ich dahin und begreife  nicht  einmal, daß  es Abend wird. Die
Dummerung  kommt.  Es  scheint  mir rasch jetzt. Noch  eine Stunde.  Wure es
Sommer, noch drei Stunden. Noch eine Stunde.
     Nun beginne  ich plutzlich zu  zittern, daß etwas dazwischenkume.
Ich denke nicht mehr an den Toten, er ist mir jetzt vullig gleichgultig. Mit
einem Schlage springt die Lebensgier auf, und alles, was ich mir vorgenommen
habe, versinkt davor. Nur um jetzt nicht noch Ungluck zu haben, plappere ich
mechanisch: "Ich werde alles halten, was ich dir versprochen  habe -",  aber
ich weiß schon jetzt, daß ich es nicht tun werde.
     Plutzlich  fullt mir  ein,  daß meine eigenen  Kameraden auf mich
schießen kunnen, wenn ich ankrieche; sie wissen es ja nicht. Ich werde
rufen, so fruh es geht, damit sie  mich verstehen. So lange will ich vor dem
Graben liegenbleiben, bis sie mir antworten.
     Der  erste Stern. Die Front bleibt ruhig. Ich atme  auf und spreche vor
Aufregung mit mir selbst: "Jetzt keine Dummheit, Paul - Ruhe,  Ruhe, Paul -,
dann  bist du gerettet, Paul." Es wirkt,  wenn ich meinen Vornamen sage, das
ist, als tute es ein anderer, und hat so mehr Gewalt.
     Die  Dunkelheit wuchst.  Meine  Aufregung  legt  sich,  ich  warte  aus
Vorsicht, bis die ersten Raketen steigen. Dann krieche ich aus dem Trichter.
Den  Toten  habe ich vergessen. Vor mir liegt  die beginnende Nacht und  das
bleich  beleuchtete Feld.  Ich  fasse ein  Loch ins Auge;  im Moment, wo das
Licht  erlischt, schnelle  ich hinuber, taste  weiter, erwische das nuchste,
ducke mich, husche weiter.
     Ich komme nuher. Da sehe  ich bei einer Rakete, wie im Draht sich etwas
eben  noch  bewegt,  ehe es erstarrt, und liege still. Beim nuchstenmal sehe
ich es wieder,  es sind bestimmt  Kameraden aus unserm Graben. Aber ich  bin
vorsichtig, bis ich unsere Helme erkenne. Dann rufe ich.
     Gleich darauf erschallt als Antwort mein Name: "Paul - Paul -"
     Ich rufe  wieder.  Es  sind Kat  und Albert,  die  mit  einer  Zeltbahn
losgegangen sind, um mich zu suchen.
     "Bist du verwundet?"
     "Nein, nein -"
     Wir  rutschen  in  den  Graben.  Ich  verlange  Essen und  schlinge  es
hinunter. Muller gibt mir eine  Zigarette. Ich  sage mit wenigen Worten, was
geschehen ist. Es ist  ja  nichts Neues;  so was ist schon oft passiert. Nur
der  Nachtangriff  ist  das  Besondere  bei  der  Sache.  Aber  Kat  hat  in
Rußland schon  einmal zwei Tage hinter der  russischen Front  gelegen,
ehe er sich durchschlagen konnte.
     Von dem toten Buchdrucker sage ich nichts.
     Erst am nuchsten Morgen halte  ich  es nicht mehr aus. Ich muß es
Kat und Albert erzuhlen. Sie beruhigen mich beide.
     "Du kannst gar  nichts daran  machen. Was wolltest du anders tun.  Dazu
bist du doch hier!"
     Ich hure ihnen geborgen zu, getrustet durch ihre Nuhe. Was habe ich nur
fur einen Unsinn zusammengefaselt da in dem Trichter.
     "Sieh mal dahin", zeigt Kat.
     An den Brustwehren  stehen einige Scharfschutzen. Sie haben Gewehre mit
Zielfernrohren aufliegen  und lauern den Abschnitt druben ab. Hin und wieder
knallt ein Schuß. Jetzt huren wir Ausrufe. "Das hat gesessen?" - "Hast
du gesehen, wie er hochsprang?" Sergeant Oellrich wendet  sich stolz um  und
notiert  seinen  Punkt. Er  fuhrt  in  der  Schußliste  von  heute mit
drei'einwandfrei festgestellten Treffern.
     "Was sagst du dazu?" fragt Kat.
     Ich nicke.
     "Wenn er so weitermacht,  hat er heute abend  ein buntes Vugelchen mehr
im Knopfloch", meint Kropp.
     "Oder er wird bald Vizefeldwebel", ergunzt Kat.
     Wir sehen uns an. "Ich wurde es nicht machen", sage ich.
     "Immerhin", sagt  Kat,  "es ist ganz gut, daß  du es jetzt gerade
siehst."
     Sergeant Oellrich tritt  wieder an  die Brustwehr. Die  Mundung  seines
Gewehrs geht hin und her.
     "Da brauchst du uber deine Sache kein  Wort mehr  zu  verlieren", nickt
Albert.
     Ich begreife mich jetzt auch selbst nicht mehr.
     "Es  war nur, weil ich so lange mit  ihm zusammen  liegen.mußte",
sage ich. Krieg ist Krieg schließlich.
     Oellrichs Gewehr knallt kurz und trocken.



     Wir haben  einen guten Posten erwischt.  Mit  acht Mann mussen  wir ein
Dorf bewachen, das geruumt worden ist, weil es zu stark beschossen wird.
     Hauptsuchlich  sollen  wir auf das  Proviantamt achten,  das noch nicht
leer  ist. Verpflegung mussen  wir  uns aus  den Bestunden selbst  besorgen.
Dafur  sind  wir die richtigen  Leute - Kat,  Albert,  Muller, Tjaden, Leer,
Detering, unsere ganze Gruppe ist da. Allerdings, Haie ist tot. Aber das ist
noch ein  muchtiges Gluck, denn alle anderen Gruppen haben mehr Verluste als
unsere gehabt.
     Als  Unterstand  wuhlen  wir  einen  betonierten  Keller,  zu  dem  von
außen  eine Treppe hinunterfuhrt.  Der Eingang  ist  noch  durch  eine
besondere Betonmauer geschutzt.
     Jetzt  entfalten  wir  eine  große  Tutigkeit. Es ist wieder eine
Gelegenheit, nicht nur die Beine,  sondern auch die Seele zu  strecken.  Und
solche Gelegenheiten nehmen wir wahr;  denn unsere  Lage ist zu verzweifelt,
um  lange sentimental sein zu  kunnen. Das ist nur muglich,  solange es noch
nicht ganz schlimm ist.  Uns jedoch bleibt nichts  anderes, als  sachlich zu
sein.  So sachlich, daß mir manchmal graut, wenn einen  Augenblick ein
Gedanke aus der fruheren Zeit, vor dem Kriege,  sich in meinen Kopf verirrt.
Er bleibt auch nicht lange.
     Wir mussen unsere Lage so leicht nehmen wie muglich. Deshalb nutzen wir
jede Gelegenheit dazu, und unmittelbar, hart, ohne ubergang steht  neben dem
Grauen der Bludsinn. Wir kunnen gar  nicht anders, wir  sturzen uns  hinein.
Auch jetzt geht es  mit  Feuereifer daran, ein Idyll zu  schaffen, ein Idyll
des  Fressens  und  Schlafens naturlich.  Die Bude wird  zunuchst einmal mit
Matratzen   belegt,   die   wir   aus   den   Huusern   heranschleppen.  Ein
Soldatenhintern sitzt gern  auch  mal  weich. Nur in  der  Mitte des  Raumes
bleibt  der  Boden  frei.  Dann  besorgen wir  uns Decken  und  Federbetten,
prachtvolle  weiche  Dinger. Von  allem ist im  Dorf ja genugend  vorhanden.
Albert und  ich  finden ein zerlegbares  Mahagonibett mit  einem Himmel  aus
blauer  Seide   und  Spitzenuberwurf.  Wir  schwitzen  wie  die  Affen  beim
Transport, aber so was kann man sich doch nicht entgehen lassen, zumal es in
ein paar Tagen doch sicher zerschossen wird.
     Kat und ich machen einen kleinen Patrouillengang durch die Huuser. Nach
kurzer  Zeit haben wir  ein  Dutzend Eier  und zwei Pfund  ziemlich  frische
Butter gefaßt. Plutzlich kracht es  in  einem Salon, und ein  eiserner
Ofen saust durch die Wand, an uns vorbei, einen Meter neben uns wieder durch
die Wand. Zwei Lucher. Er kommt aus dem Hause gegenuber, in das eine Granate
gehauen ist. "Schwein gehabt", grinst  Kat, und wir suchen weiter. Mit einem
Male spitzen wir  die Ohren und machen lange Beine. Gleich darauf stehen wir
wie verzaubert: In einem kleinen Stall tummeln sich zwei lebende Ferkel. Wir
reiben  uns die Augen und sehen vorsichtig wieder hin:  sie sind tatsuchlich
noch immer  da.  Wir  fassen sie an -  kein Zweifel, es sind zwei  wirkliche
junge Schweine.
     Das  gibt  ein  herrliches  Essen.  Etwa  funfzig  Schritt  von  unserm
Unterstand  entfernt  steht  ein  kleines  Haus,  das  als Offiziersquartier
gedient  hat  In  der  Kuche  befindet  sich  ein  riesiger  Herd  mit  zwei
Feuerrosten, Pfannen,  Tupfen und Kesseln. Alles  ist da, sogar eine Unmenge
kleingehacktes Holz steckt in einem Schuppen - das wahre Schlaraffenhaus.
     Zwei  Mann sind seit dem Morgen auf den Feldern  und suchen Kartoffeln,
Mohrruben und  junge  Erbsen. Wir sind  numlich  uppig  und  pfeifen auf die
Konserven  des  Proviantamts,  wir  wollen  frische  Sachen  haben.  In  der
Speisekammer   liegen   schon   zwei  Kupfe  Blumenkohl.  Die   Ferkel  sind
geschlachtet. Kat hat das erledigt. Zu dem Braten wollen wir Kartoffelpuffer
machen. Aber wir finden  keine Reiben fur die Kartoffeln.  Doch auch da  ist
bald abgeholfen. In Blechdeckel  schlagen wir mit  Nugeln eine Menge Lucher,
und  schon  sind es  Reiben. Drei Mann ziehen  dicke Handschuhe  an,  um die
Finger beim Reiben zu schonen, zwei andere schulen  Kartoffeln, und es  geht
rasch vorwurts.
     Kat  betreut die Ferkel, die Mohrruben, die Erbsen und den  Blumenkohl.
Zu  dem Blumenkohl mischt er sogar eine weiße Soße  zurecht. Ich
backe Puffer, immer vier zu  gleicher  Zeit. Nach  zehn Minuten habe  ich es
heraus, die  Pfanne  so zu schwenken,  daß  die auf  der  einen  Seite
fertigen  Puffer hochfliegen, sich in der Luft drehen und wieder aufgefangen
werden. Die  Ferkel werden unzerschnitten gebraten. Alles steht um sie herum
wie um einen Altar.
     Inzwischen ist  Besuch  gekommen,  zwei Funker, die freigebig zum Essen
eingeladen  werden. Sie  sitzen  im Wohnzimmer, wo ein Klavier steht.  Einer
spielt, der andere  singt:  "An der  Weser".  Er  singt  es gefuhlvoll, aber
ziemlich suchsisch. Trotzdem ergreift es uns, wuhrend wir so am Herd all die
schunen Sachen vorbereiten.
     Allmuhlich merken wir,  daß wir Kattun kriegen. Die Fesselballons
haben den Rauch  aus  unserm Schornstein spitz bekommen, und wir  werden mit
Feuer belegt. Es sind  die  verfluchten  kleinen Spritzbiester, die  so  ein
kleines  Loch machen und so weit und  niedrig streuen. Immer nuher pfeift es
um uns  herum,  aber wir  kunnen doch das Essen  nicht im Stich  lassen. Die
Bande  schießt  sich  ein.  Ein  paar  Splitter   sausen  oben  durchs
Kuchenfenster. Wir  sind  bald mit dem Braten fertig.  Doch das Pufferbacken
wird  jetzt schwieriger. Die Einschluge kommen  so dicht,  daß oft und
ufter die Splitter gegen die Hauswand klatschen und durch die Fenster fegen.
Jedesmal, wenn ich ein Ding heranpfeifen hure, gehe  ich mit der Pfanne  und
den Puffern  in die Knie und  ducke  mich hinter  die  Fenstermauer.  Sofort
danach bin ich wieder hoch und backe weiter.
     Die  Sachsen  huren  auf  zu  spielen, ein  Splitter  ist  ins  Klavier
geflogen.  Auch  wir  sind  jetzt allmuhlich  fertig  und  organisieren  den
Ruckzug.  Nach dem nuchsten Einschlag laufen zwei  Mann mit den Gemusetupfen
los, die funfzig Meter bis zum Unterstand. Wir sehen sie verschwinden.
     Der nuchste Schuß.  Alles duckt sich, und dann  traben  zwei Mann
mit je einer großen Kanne erstklassigem Bohnenkaffee ab  und erreichen
vor dem folgenden Einschlag den Unterstand.
     Jetzt schnappen sich  Kat  und  Kropp das  Glanzstuck: die  große
Pfanne  mit den  braungebratenen Ferkeln.  Ein Heulen, eine  Kniebeuge,  und
schon rasen sie uber die funfzig Meter freies Feld.
     Ich backe meine letzten  vier Puffer noch fertig; zweimal muß ich
dabei auf den  Boden - aber es  sind schließlich vier Puffer mehr, und
es ist mein Lieblingsessen.
     Dann ergreife ich die  Platte  mit dem  hohen  Stapel  und presse  mich
hinter die  Haustur. Es zischt, kracht, und ich galoppiere davon, mit beiden
Hunden die Platte an die Brust gedruckt. Fast bin ich  angelangt,  da pfeift
es anschwellend, ich turme wie ein Hirsch,  fege um die  Betonwand, Spritzer
klatschen gegen  die  Mauer,  ich falle  die  Kellertreppe  hinunter,  meine
Ellenbogen sind zerschlagen, aber ich habe keinen einzigen  Puffer  verloren
und die Platte nicht umgekippt.
     Um zwei Uhr beginnen wir mit dem Essen. Es dauert bis  sechs.  Bis halb
sieben trinken  wir  Kaffee  -  Offizierskaffee  aus  dem Proviantamt  - und
rauchen  Offizierszigarren und Zigaretten - ebenfalls  aus dem  Proviantamt.
Punkt halb sieben fangen  wir mit dem Abendessen an. Um  zehn Uhr werfen wir
die Gerippe der Ferkel  vor die Tur.  Dann gibt es Kognak und Rum, ebenfalls
aus  dem  gesegneten  Proviantamt  und  wieder  lange,  dicke  Zigarren  mit
Bauchbinden. Tjaden behauptet,  daß nur eines fehle: Mudchen aus einem
Offizierspuff.
     Sputabends huren wir Miauen. Eine kleine graue Katze  sitzt am Eingang.
Wir  locken sie  heran  und futtern sie. Daruber  kommt auch  uns wieder der
Appetit. Kauend legen wir uns schlafen.
     Doch  die  Nacht  ist  buse.  Wir  haben  zu  fett  gegessen.  Frisches
Spanferkel  wirkt angreifend auf die Durme.  Es  ist ein ewiges  Kommen  und
Gehen  im  Unterstand.  Zwei, drei Mann  sitzen  immer mit heruntergezogenen
Hosen  draußen herum und  fluchen.  Ich selbst bin neunmal  unterwegs.
Gegen vier Uhr nachts  erreichen wir einen Rekord:  alle elf Mann, Wache und
Besuch, sitzen draußen.
     Brennende Huuser  stehen  wie  Fackeln in  der Nacht. Granaten  poltern
heran  und hauen ein. Munitionskolonnen rasen uber die Straße. An  der
einen Seite ist das Proviantamt aufgerissen. Wie ein  Schwurm Bienen drungen
sich  dort  trotz aller  Splitter die Kolonnenfahrer  und klauen  Brot.  Wir
lassen sie ruhig gewuhren. Wenn wir was sagen wurden, gube es huchstens eine
Tracht Prugel fur uns. Deshalb machen wir es anders. Wir erkluren, daß
wir die Wache sind, und da wir Bescheid wissen, kommen wir mit den Konserven
an, die wir gegen Sachen tauschen, die uns fehlen.
     Was macht es schon - in kurzer  Zeit ist ohnehin alles zerschossen. Fur
uns selbst holen wir Schokolade aus  dem Depot und essen sie tafelweise. Kat
sagt, sie sei gut fur einen allzu eiligen Bauch. -
     Fast vierzehn Tage vergehen so mit Essen,  Trinken und Bummeln. Niemand
sturt uns. Das Dorf verschwindet langsam unter den Granaten, und wir  fuhren
ein gluckliches  Leben.  Solange nur noch  ein Teil des Proviantamtes steht,
ist uns  alles egal, und wir wunschen  bloß, hier das Ende des Krieges
zu erleben.
     Tjaden ist derartig fein geworden, daß er  die  Zigarren nur halb
aufraucht. Er erklurt hochnusig,  er  sei es so gewohnt.  Auch Kat  ist sehr
aufgemuntert.  Sein erster  Ruf morgens ist: "Emil, bringen Sie  Kaviar  und
Kaffee." Es ist uberhaupt erstaunlich vornehm bei uns, jeder hult den andern
fur seinen  Burschen, siezt ihn und gibt ihm Auftruge. "Kropp, es juckt mich
unter dem Fuß, fangen  Sie doch  mal die Laus weg",  damit streckt ihm
Leer sein  Bein  hin wie eine Schauspielerin, und Albert schleift ihn  daran
die Treppen  hinauf.  "Tjaden!"  - "Was ?"  - "  Stehen Sie  bequem, Tjaden,
ubrigens heißt es  nicht: Was,  sondern:  Zu  Befehl -  also: Tjaden!"
Tjaden begibt sich wieder  auf ein  Gastspiel zu Gutz von  Berlichingen, der
ihm nur so im Handgelenk sitzt.
     Nach  weiteren  acht  Tagen  erhalten  wir   Befehl,  abzurucken.   Die
Herrlichkeit ist aus.  Zwei  große Lastautos nehmen uns  auf. Sie sind
hoch bepackt mit Brettern. Aber noch oben  darauf bauen Albert und ich unser
Himmelbett  mit  dem  blauseidenen  uberwurf auf,  mit  Matratzen  und  zwei
Spitzenoberbetten.  Hinten drin  am  Kopfende liegt fur  jeden  ein Sack mit
besten  Lebensmitteln. Wir  fuhlen  manchmal  daruber  hin, und  die  harten
Mettwurste, die  Leberwurstbuchsen, die Konserven, die Zigarrenkisten lassen
unsere Herzen jubilieren. Jeder Mann hat so einen Sack voll bei sich.
     Kropp und ich haben  aber außerdem noch  zwei rote  Samtfauteuils
gerettet.  Sie  stehen im  Bett, und wir  rukeln  uns  darauf wie  in  einer
Theaterloge.  uber uns  bauscht sich die  Seide des uberwurfs als Baldachin.
Jeder hat  eine lange  Zigarre im Mund. So  schauen wir hoch von oben in die
Gegend.
     Zwischen uns steht ein Papageienkufig,  den  wir fur die Katze gefunden
haben.  Sie wird mitgenommen und  liegt drinnen  vor  ihrem Fleischnapf  und
schnurrt.
     Langsam rollen die Wagen uber die  Straße. Wir singen. Hinter uns
spritzen die Granaten Fontunen aus dem nun ganz verlassenen Dorf.

     Einige  Tage  sputer  rucken wir  aus, um  eine  Ortschaft aufzuruumen.
Unterwegs begegnen  uns die  fliehenden Bewohner, die ausgewiesen  sind. Sie
schleppen ihre Habseligkeiten in Karren, in  Kinderwagen und auf dem  Rucken
mit  sich.  Ihre  Gestalten  sind   gebeugt,  ihre  Gesichter  voll  Kummer,
Verzweiflung,  Hast  und Ergebenheit.  Die  Kinder hungen  an den Hunden der
Mutter,  manchmal fuhrt auch  ein ulteres Mudchen die Kleinen, die  vorwurts
taumeln  und immer wieder  zurucksehen.  Einige  tragen armselige Puppen mit
sich. Alle schweigen, als sie an uns vorubergehen.
     Noch sind  wir in Marschkolonne, die Franzosen werden ja nicht ein Dorf
beschießen,  in dem  Landsleute sind. Aber wenige Minuten sputer heult
die Luft, die Erde bebt, Schreie  ertunen - eine Granate  hat den hintersten
Zug  zerschmettert.  Wir  spritzen auseinander und werfen  uns  hin, aber im
selben Moment  fuhle  ich, wie  mir die Spannung entgleitet, die mich  sonst
immer  bei Feuer unbewußt das Richtige tun lußt, der Gedanke "Du
bist  verloren" zuckt auf mit einer wurgenden, schrecklichen Angst -  und im
nuchsten  Augenblick fegt ein Schlag wie von einer Peitsche uber mein linkes
Bein. Ich hure Albert schreien, er ist neben mir.
     "Los, auf, Albert!" brulle ich,  denn wir liegen ungeschutzt auf freiem
Felde.
     Er taumelt hoch  und luuft.  Ich bleibe neben ihm. Wir mussen uber eine
Hecke; sie ist huher als wir. Kropp faßt in die Zweige, ich packe sein
Bein,  er schreit  auf, ich  gebe ihm Schwung, er fliegt hinuber.  Mit einem
Satz bin ich hinter  ihm her und falle in  einen Teich, der hinter der Hecke
liegt.
     Wir  haben das Gesicht voll Wasserlinsen und Schlamm, aber  die Deckung
ist gut. Deshalb waten wir hinein bis zum  Halse. Wenn es heult,  gehen  wir
mit dem Kopf unter Wasser.
     Nachdem wir das ein dutzendmal gemacht haben,  wird es  mir uber.  Auch
Albert stuhnt: "Laß uns weg, ich falle sonst um und ersaufe."
     "Wo hast du was gekriegt?" frage ich.
     "Am Knie, glaube ich."
     "Kannst du laufen?"
     "Ich denke -"
     "Dann los."
     Wir  gewinnen den Chausseegraben und rennen  ihn  gebuckt entlang.  Das
Feuer  folgt uns. Die Straße hat die Richtung auf  das Munitionsdepot.
Wenn das hochgeht, findet nie jemand von uns einen Knopf wieder.  Wir andern
deshalb unsern Plan und laufen im Winkel querfeldein.
     Albert wird langsamer. "Lauf zu, ich  komme nach",  sagt  er  und wirft
sich hin.
     Ich reiße ihn am  Arm auf und schuttele  ihn. "Hoch, Albert, wenn
du dich erst hinlegst, kannst du nie mehr weiter. Los, ich stutze dich."
     Endlich erreichen wir  einen kleinen  Unterstand.  Kropp schmeißt
sich hin, und ich verbinde ihn. Der  Schuß  sitzt kurz  uber dem Knie.
Dann sehe ich mich selbst an. Die Hose  ist blutig, ebenso  der  Arm. Albert
bindet mir seine Puckchen um die Lucher. Er kann  sein Bein schon nicht mehr
bewegen,  und  wir  wundern  uns  beide,  wie wir  es uberhaupt bis  hierher
geschafft  haben.  Das hat nur die Angst  gemacht;  wir  wurden fortgelaufen
sein, selbst  wenn uns die Fuße  weggeschossen wuren -  dann  eben auf
Stumpfen.
     Ich  kann   noch  etwas  kriechen  und   rufe  einen   voruberfahrenden
Leiterwagen  an,   der  uns  mitnimmt.  Er   ist   voller  Verwundeter.  Ein
Sanitutsgefreiter ist dabei, der uns eine Tetanusspritze in die Brust jagt -
     Im Feldlazarett richten wir es so ein,  daß wir nebeneinander  zu
liegen kommen. Es gibt eine  dunne Suppe, die  wir  gierig  und  veruchtlich
ausluffeln,  weil  wir zwar  bessere Zeiten gewuhnt  sind,  aber doch Hunger
haben.
     "Nun geht's in die Heimat, Albert", sage ich.
     "Hoffentlich", antwortet er. "Wenn ich  bloß wußte, was ich
habe."
     Die  Schmerzen  werden  sturker. Wie  Feuer  brennen die Verbunde.  Wir
trinken und trinken, einen Becher Wasser nach dem andern.
     "Wieviel uber dem Knie ist mein Schuß?" fragt Kropp.
     "Mindestens  zehn Zentimeter,  Albert", antworte ich.  In  Wirklichkeit
sind es vielleicht drei.
     "Das habe ich mir vorgenommen", sagt er nach einer Weile, "wenn sie mir
einen Knochen  abnehmen, mache ich Schluß.  Ich will nicht als Kruppel
durch die Welt laufen."
     So liegen wir mit unsern Gedanken und warten.

     Abends werden wir zur Schlachtbank geholt. Ich erschrecke und  uberlege
rasch,  was ich tun soll; denn es  ist bekannt, daß  die urzte in  den
Feldlazaretten leicht  amputieren.  Bei  dem  großen  Andrang ist  das
einfacher als  komplizierte Flickereien. Kemmerich fullt mir ein. Auf keinen
Fall  werde ich mich chloroformieren lassen, selbst wenn ich ein paar Leuten
den Schudel einschlagen muß.
     Es  geht gut.  Der  Arzt  stochert  in der Wunde herum,  daß  mir
schwarz vor Augen  wird. "Stellen Sie  sich nicht so  an",  schimpft er  und
subelt  weiter. Die Instrumente blitzen  in dem hellen Licht  wie  busartige
Tiere. Die Schmerzen sind unertruglich. Zwei Krankenwurter halten meine Arme
fest,  aber ich kriege einen los und will ihn gerade  dem Arzt in die Brille
knallen, als er es merkt und wegspringt.  "Chloroformiert den Kerl!" schreit
er wutend.
     Da werde  ich ruhig. "Entschuldigen Herr Doktor, ich werde stillhalten,
aber chloroformieren Sie mich nicht."
     "Na ja",  kakelt  er und nimmt seine Instrumente  wiedervor. Er ist ein
blonder Bursche, huchstens dreißig Jahre  alt, mit Schmissen und einer
widerlichen goldenen Brille. Ich merke  daß er mich jetzt schikaniert,
er wuhlt nur so  in der Wunde und schielt ab und zu uber seine Gluser zu mir
hin.  Meine  Hunde quetschen sich  um die Griffe,  eher  verrecke  ich,  als
daß er einen Mucks von mir hurt.
     Er  hat einen Splitter herausgeangelt  und wirft  ihn mir zu. Scheinbar
ist  er  befriedigt  von  meinem  Verhalten,  denn  er  schient  mich  jetzt
sorgfultig  und  sagt:  "Morgen  geht's  ab  nach  Hause."  Dann  werde  ich
eingegipst.  Als  ich  wieder  mit  Kropp  zusammen  bin, erzuhle  ich  ihm,
daß also wahrscheinlich morgen schon ein Lazarettzug eintreffen wird.
     "Wir  mussen mit dem Sanitutsfeldwebel sprechen, damit wir  beieinander
bleiben, Albert."
     Es gelingt mir, dem Feldwebel mit ein paar passenden Worten zwei meiner
Zigarren  mit  Bauchbinden zu  uberreichen.  Er schnuppert  daran und fragt:
"Hast du noch mehr davon?"
     "Noch eine gute Handvoll", sage ich, "und  mein Kamerad", ich zeige auf
Kropp, "ebenfalls.  Die  muchten wir  Ihnen  gern  morgen  zusammen  aus dem
Fenster des Lazarettzuges uberreichen."
     Er kapiert naturlich, schnuppert noch einmal und sagt: "Gemacht."
     Wir kunnen keine Minute nachts schlafen.  In unserm Saal sterben sieben
Leute. Einer singt eine Stunde lang in einem hohen Quetschtenor Chorule, ehe
er zu rucheln  beginnt.  Ein  anderer  ist vorher aus dem  Bett  ans Fenster
gekrochen. Er liegt davor, als hutte er zum letztenmal hinaussehen wollen.

     Unsere  Bahren  stehen auf  dem  Bahnhof. Wir  warten auf  den  Zug. Es
regnet, und der  Bahnhof hat kein  Dach.  Die  Decken  sind dunn. Wir warten
schon zwei Stunden.
     Der Feldwebel betreut  uns wie eine  Mutter. Obschon mir  sehr schlecht
ist, verliere ich unsern Plan nicht aus den  Gedanken. So nebenbei lasse ich
die Puckchen sehen und gebe eine Zigarre als Vorschuß ab.  Dafur deckt
der Feldwebel uns eine Zeltbahn uber.
     "Mensch, Albert", erinnere ich mich, "unser Himmelbett und die Katze -"
     "Und die Klubsessel", fugt er hinzu.
     Ja,  die  Klubsessel aus  rotem Plusch. Wir  hatten wie  Fursten abends
darauf  gesessen und uns vorgenommen, sie sputer stundenweise abzuvermieten.
Pro Stunde eine Zigarette. Es  wure  ein sorgenloses  Leben und ein Geschuft
geworden.
     "Albert", fullt mir ein, "und unsere Freßsucke."
     Wir werden schwermutig. Die  Sachen  hutten wir gebrauchen kunnen. Wenn
der Zug einen Tag sputer fuhre, hutte Kat  uns  sicher  gefunden und uns den
Kram gebracht.
     Ein  verfluchtes  Schicksal.  Wir  haben  Mehlsuppe  im  Magen,  dunnes
Lazarettfutter, und  in unseren Sucken ist Schweinebraten als Konserve. Aber
wir sind so schwach, daß wir uns nicht weiter daruber aufregen kunnen.
     Die  Bahren  sind klatschnaß, als  der  Zug morgens einluuft. Der
Feldwebel sorgt dafur,  daß wir in denselben  Wagen kommen. Eine Menge
Rote-Kreuz-Schwestern  sind  da. Kropp wird  nach  unten gepackt.  Ich werde
angehoben und soll in das Bett uber ihm.
     "Um Gottes willen", entfuhrt es mir plutzlich.
     "Was ist denn?" fragt die Schwester.
     Ich werfe noch  einen Blick auf das Bett. Es ist mit schneeweißem
Leinen   bezogen,  unvorstellbar  sauberem  Leinen,   das  sogar  noch   die
Pluttkniffe  hat. Mein  Hemd  dagegen ist sechs Wochen lang nicht  gewaschen
worden und sehr dreckig.
     "Kunnen Sie nicht allein hineinkriechen?" fragt die Schwester besorgt.
     "Das schon", sagte ich schwitzend, "aber tun Sie doch erst das Bettzeug
weg."
     "Warum denn?"
     Ich komme mir wie ein Schwein vor. Da  soll ich mich hineinlegen? - "Es
wird ja -" Ich zugere.
     "Ein  bißchen  schmutzig?"  fragt  sie  ermunternd.  "Das schadet
nichts, dann waschen wir es eben nachher wieder."
     "Nee,  das nicht  -", sage ich aufgeregt. Diesem Ansturm der Kultur bin
ich nicht gewachsen.
     "Dafur, daß Sie draußen im Graben gelegen haben, werden wir
wohl noch ein Bettlaken waschen kunnen", fuhrt sie fort.
     Ich sehe  sie an, sie sieht knusprig und jung aus, blank gewaschen  und
fein, wie  alles hier,  man  begreift  nicht, daß  es  nicht  nur  fur
Offiziere ist, und fuhlt sich unheimlich und sogar irgendwie bedroht.
     Das Weib ist trotzdem ein Folterknecht, es zwingt mich, alles zu sagen.
"Es ist nur -", ich halte ein, sie muß doch verstehen, was ich meine.
     "Was denn noch?"
     "Wegen der Luuse", brulle ich schließlich heraus.
     Sie lacht. "Die mussen auch mal gute Tage haben."
     Nun  kann  es mir ja gleich  sein. Ich krabbele ins Bett und decke mich
zu.
     Eine  Hand  fingert  uber die  Decke.  Der Feldwebel. Er zieht mit  den
Zigarren ab.
     Nach einer Stunde merken wir, daß wir fahren.

     Nachts erwache ich. Auch Kropp ruhrt sich. Der Zug rollt leise uber die
Schienen. Es  ist alles noch unbegreiflich: ein Bett,  ein Zug,  nach Hause.
Ich flustere: "Albert!"
     "Ja -"
     "Weißt du, wo hier die Latrine ist?"
     "Ich glaube, druben rechts die Tur."
     "Ich werde mal sehen." Es ist  dunkel,  ich taste nach dem Bettrand und
will vorsichtig hinuntergleiten. Aber mein Fuß findet keinen Halt, ich
gerate ins Rutschen, das Gipsbein ist keine Hilfe, und mit einem Krach liege
ich auf dem Boden.
     "Verflucht", sage ich.
     "Hast du dich gestoßen?" fragt Kropp.
     "Das kunntest du doch wohl gehurt haben", knurre ich, "mein Schudel -"
     Hinten im Wagen uffnet sich die Tur. Die Schwester kommt mit Licht  und
sieht mich.
     "Er ist aus dem Bett gefallen"
     Sie fuhlt mir  den  Puls und faßt meine Stirn an. "Sie haben aber
kein Fieber."
     "Nein -", gebe ich zu.
     "Haben Sie denn getruumt?" fragt sie.
     "So ungefuhr", weiche  ich aus. Jetzt geht die Fragerei wieder los. Sie
sieht mich mit ihren blanken  Augen an, sauber und wunderbar  ist sie, um so
weniger kann ich ihr sagen, was ich will.
     Ich werde wieder nach oben gehoben. Das kann ja  gut  werden. Wenn  sie
fort ist, muß ich sofort wieder versuchen, hinunterzusteigen. Wure sie
eine  alte  Frau, so ginge es eher, ihr Bescheid  zu  sagen, aber sie ist ja
ganz jung, huchstens funfundzwanzig Jahre, es ist nichts zu machen, ich kann
es ihr nicht sagen.
     Da kommt Albert mir  zu Hilfe, er geniert sich nicht, er ist es ja auch
schließlich nicht, den die Sache angeht. Er ruft die Schwester an. Sie
dreht sich um. "Schwester, er wollte -",  aber  auch Albert weiß nicht
mehr, wie  er  sich  tadellos  und  anstundig  ausdrucken  soll.  Unter  uns
draußen ist  das mit  einem einzigen  Wort  gesagt,  aber  hier, einer
solchen Dame gegenuber - Mit einem Male jedoch fullt  ihm die Schulzeit ein,
und er vollendet fließend: "Er muchte mal hinaus, Schwester."
     "Ach so",  sagt die Schwester. "Dazu braucht  er doch  nicht mit seinem
Gipsverband aus dem Bett zu klettern. Was wollen Sie denn haben?" wendet sie
sich an mich.
     Ich bin  tudlich erschrocken  uber diese neue  Wendung, denn  ich  habe
keine Ahnung, wie man  die Dinge  fachmunnisch benennt. Die  Schwester kommt
mir zu Hilfe.  "Klein  oder groß?" Diese Blamage! Ich schwitze wie ein
Affe und sage verlegen: "Na, also nur klein -"
     Immerhin, wenigstens noch etwas Gluck.
     Ich erhalte  eine Flasche. Nach einigen Stunden  bin ich nicht mehr der
einzige, und morgens haben  wir uns  gewuhnt und  verlangen ohne Beschumung,
was wir brauchen.
     Der  Zug  fuhrt  langsam.  Manchmal  hult  er,  und  die  Toten  werden
ausgeladen. Er hult oft.

     Albert hat Fieber.  Mir  geht  es leidlich,  ich habe  Schmerzen,  aber
schlimmer ist es, daß  wahrscheinlich unter dem Gipsverband noch Luuse
sitzen. Es juckt furchterlich, und ich kann mich nicht kratzen.
     Wir  schlummern durch  die  Tage. Die Landschaft  geht  still durch die
Fenster.  In  der  dritten Nacht  sind wir in Herbesthal. Ich  hure  von der
Schwester, daß  Albert an der nuchsten Station ausgeladen werden soll,
wegen seines Fiebers. "Wie weit fuhrt der Zug?" frage ich.
     "Bis Kuln."
     "Albert, wirbleiben zusammen", sage ich, "paß auf." Beim nuchsten
Rundgang der Schwester  halte ich die  Luft an  und  presse den Atem in  den
Kopf. Er schwillt und wird rot. Sie bleibt stehen. "Haben Sie Schmerzen?"
     "Ja", stuhne ich, "mit einem Male."
     Sie gibt mir ein Thermometer und geht weiter. Ich mußte nicht bei
Kat  in  der  Lehre  gewesen  sein,  um  nicht  Bescheid  zu  wissen.  Diese
Soldatenthermometer sind nicht fur  erfahrenes Militur berechnet. Es handelt
sich nur darum, das Quecksilber hochzutreiben, dann bleibt es in  der dunnen
Ruhre stehen und sinkt nicht wieder.
     Ich stecke das Thermometer unter den Arm, schrug nach unten, und knipse
mit  dem  Zeigefinger stundig dagegen. Darauf schuttele  ich  es  nach oben.
Damit  erreiche  ich  37,9  Grad. Das  genugt  aber  nicht.  Ein Streichholz
vorsichtig nahe darangehalten ergibt 38,7 Grad.
     Als  die  Schwester  zuruckkommt,  puste  ich  mich  auf,  atme  leicht
stoßweise, glotze sie mit etwas stieren  Augen an, bewege mich unruhig
und flustere: "Ich kann es nicht mehr aushalten -"
     Sie notiert mich auf einem Zettel. Ich weiß genau, daß ohne
Not mein Gipsverband nicht geuffnet wird.
     Albert und ich werden zusammen ausgeladen.

     Wir liegen  in einem katholischen Hospital, im gleichen Zimmer. Das ist
ein großes Gluck, denn die katholischen Krankenhuuser sind bekannt fur
gute  Behandlung  und  gutes Essen. Das Lazarett ist voll belegt worden  aus
unserm Zug,  es sind viele schwere Fulle dabei. Wir kommen heute noch  nicht
zur  Untersuchung,  da  zu wenig Arzte  da  sind.  Auf  dem  Korridor fahren
unablussig die flachen  Wagen mit den Gummirudern vorbei,  und  immer  liegt
jemand lang darauf. Eine verfluchte Lage -  so langgestreckt - nur gut, wenn
man schluft.
     Die  Nacht ist sehr unruhig. Keiner kann schlafen. Gegen Morgen  duseln
wir etwas ein. Ich erwache, als es  hell  wird. Die Tur steht offen, und vom
Korridor hure ich Stimmen. Auch die andern wachen auf. Einer, der  schon ein
paar Tage da ist, erklurt uns die Sache: "Hier  oben wird  jeden Morgen  auf
dem Korridor gebetet von den Schwestern. Sie nennen das Morgenandacht. Damit
ihr euren Teil abkriegt, machen sie die Turen auf."
     Das ist sicher gut gemeint, aber  uns tun die  Knochen und die  Schudel
weh.
     "So ein Unsinn", sage ich, "wenn man gerade eingeschlafen ist."
     "Hier oben liegen die leichteren Fulle, da machen sie es so", antwortet
er.
     Alben stuhnt. Ich werde wutend und rufe: "Ruhe da draußen."
     Nach  einer  Minute  erscheint  eine  Schwester.  Sie  sieht  in  ihrer
weiß und schwarzen Tracht aus  wie  ein hubscher Kaffeewurmer. "Machen
Sie doch die Tur zu, Schwester", sagt jemand.
     "Es wird gebetet, deshalb ist die Tur offen", erwidert sie.
     "Wir muchten aber noch schlafen -"
     "Beten ist besser als schlafen."  Sie steht  da und luchelt unschuldig.
"Es ist auch schon sieben Uhr."
     Albert stuhnt wieder. "Tur zu!" schnauze ich.
     Sie ist ganz verdutzt, so etwas kann sie scheinbar nicht begreifen. "Es
wird doch auf fur Sie mitgebetet."
     "Einerlei! Tur zu!"
     Sie  verschwindet  und  lußt  die Tur  offen. Die Litanei  ertunt
wieder. Ich  bin wild und sage: "Ich zuhle jetzt bis drei. Wenn es bis dahin
nicht aufhurt, fliegt was."
     "Von mir auch", erklurt ein anderer.
     Ich zuhle  bis funf. Dann  nehme  ich eine Flasche, ziele und werfe sie
durch die  Tur auf  den Korridor. Sie  zerspringt in  tausend Splitter.  Das
Beten hurt auf. Ein Schwurm Schwestern erscheint und schimpft maßvoll.
     "Tur zu!" schreien wir.
     Sie  verziehen sich.  Die Kleine  von vorhin ist die letzte.  "Heiden",
zwitschert sie, macht aber doch die Tur zu. Wir haben gesiegt.

     Mittags kommt der Lazarettinspektor und ranzt uns an. Er verspricht uns
Festung  und  noch  mehr. Nun  ist  ein  Lazarettinspektor,  genau  wie  ein
Proviantamtsinspektor, zwar jemand, der einen langen Degen und  Achselstucke
trugt, aber eigentlich ein Beamter, und er wird darum nicht einmal von einem
Rekruten fur voll genommen. Wir lassen ihn deshalb reden. Was kann uns schon
passieren -
     "Wer hat die Flasche geworfen?" fragt er.
     Bevor ich uberlegen kann, ob ich mich melden soll, sagt jemand: "Ich!"
     Ein Mann  mit  struppigem Bart richtet  sich auf.  Alles ist  gespannt,
weshalb er sich meldet.
     "Sie?"
     "Jawohl. Ich war erregt daruber,  daß wir unnutig geweckt wurden,
und verlor die Besinnung, so daß ich nicht wußte, was ich  tat."
Er redet wie ein Buch.
     "Wie heißen Sie?"
     "Ersatz-Reservist Josef Hamacher."
     Der Inspektor geht ab. Alle sind neugierig. "Weshalb hast du  dich denn
bloß gemeldet? Du warst es ja gar nicht!"
     Er grinst. "Das macht nichts. Ich habe einen Jagdschein."
     Das versteht naturlich  jeder.  Wer einen Jagdschein  hat, kann machen,
was er will.
     "Ja", erzuhlt er, "ich habe einen Kopfschuß gehabt, und daraufist
mir   ein    Attest    ausgestellt   worden,    daß    ich   zeitweise
unzurechnungsfuhig bin.  Seitdem bin  ich fein  heraus.  Man darf mich nicht
reizen. Mir  passiert  also nichts.  Der unten wird sich schun  urgern.  Und
gemeldet habe ich mich, weil mir das Werfen Spaß gemacht hat. Wenn sie
morgen wieder die Tur aufmachen, schmeißen wir wieder."
     Wir  sind  heilfroh.  Mit  Josef  Hamacher  in  der Mitte  jetzt  alles
riskieren.
     Dann kommen die lautlosen, flachen Wagen, um uns zu holen. Die Verbunde
sind verklebt. Wir brullen wie Stiere.

     Es liegen  acht Mann auf  unserer  Stube.  Die schwerste Verletzung hat
Peter, ein schwarzer  Krauskopf  -  einen  komplizierten  Lungenschuß.
Franz  Wuchter  neben ihm hat einen  zerschossenen  Arm,  der  anfangs nicht
schlimm  aussieht.  Aber in  der  dritten Nacht ruft  er uns an, wir sollten
klingeln, er glaube, er blute durch.
     Ich klingele kruftig. Die  Nachtschwester  kommt nicht. Wir  haben  sie
abends  ziemlich stark in Anspruch genommen, weil wir alle neue Verbunde und
deshalb Schmerzen hatten.  Der eine  wollte das  Bein so gelegt  haben,  der
andere  so,  der  dritte  verlangte  Wasser,  dem  vierten  sollte  sie  das
Kopfkissen aufschutteln; - die dicke  Alte hatte buse gebrummt  zuletzt  und
die Turen geschlagen.  Jetzt  vermutet sie  wohl wieder  so etwas,  denn sie
kommt nicht.
     Wir warten. Dann sagt Franz: "Klingle noch mal."
     Ich  tue es.  Sie  lußt sich immer noch  nicht sehen. Auf unserem
Flugel  ist nachts  nur eine einzige Stationsschwester, vielleicht  hat  sie
gerade in  andern  Zimmern  zu tun.  "Bist du  sicher,  Franz,  daß du
blutest?" frage ich. "Sonst kriegen wir wieder was auf den Kopf."
     "Es ist naß. Kann keiner Licht machen?"
     Auch  das geht nicht.  Der Schalter ist an  der Tur,  und  niemand kann
aufstehen. Ich  halte den  Daumen auf  der  Klingel, bis er gefuhllos  wird.
Vielleicht ist die Schwester eingenickt. Sie haben  ja sehr viel Arbeit  und
sind alle uberanstrengt, schon tagsuber. Dazu das stundige Beten.
     "Sollen  wir  Flaschen schmeißen?" fragt Josef  Hamacher mit  dem
Jagdschein.
     "Das hurt sie noch weniger als das Klingeln."
     Endlich  geht die Tur auf. Muffelig erscheint  die  Alte.  Als  sie die
Geschichte  bei  Franz bemerkt, wird sie  eilig  und ruft: "Weshalb hat denn
keiner Bescheid gesagt?"
     "Wir haben ja geklingelt. Laufen kann hier keiner."
     Er  hat  stark  geblutet  und wird  verbunden. Morgens  sehen wir  sein
Gesicht, es ist spitzer und gelber geworden, dabei war es am
     Abend noch fast gesund im Aussehen. Jetzt kommt ufter eine Schwester.

     Manchmal  sind  es auch  Hilfsschwestern  vom  Roten  Kreuz.  Sie  sind
gutmutig, aber  mitunter  etwas ungeschickt. Beim Umbetten tun sie einem oft
weh und sind dann so erschrocken, daß sie einem noch mehr weh tun.
     Die Nonnen  sind zuverlussiger.  Sie  wissen, wie sie  anfassen mussen,
aber wir muchten gern, daß sie etwas lustiger wuren. Einige allerdings
haben  Humor, sie sind großartig. Wer  wurde Schwester Libertine nicht
jeden  Gefallen tun,  dieser  wunderbaren  Schwester, die  im  ganzen Flugel
Stimmung verbreitet, wenn sie  nur von weitem zu sehen ist? Und solcher sind
noch mehrere  da.  Wir  wurden  fur sie  durchs Feuer gehen. Man  kann  sich
wirklich nicht beklagen, man wird direkt wie ein Zivilist hier behandelt von
den Nonnen. Wenn  man dagegen an die  Garnisonlazarette denkt, in  denen man
mit angelegter Hand im Bett liegen muß, kann einem die Angst kommen.
     Franz  Wuchter kommt nicht wieder  zu  Kruften.  Eines  Tages  wird  er
abgeholt und bleibt fort. Josef Hamacher weiß Bescheid: "Den sehen wir
nicht wieder. Sie haben ihn ins Totenzimmer gebracht."
     "Was fur ein Totenzimmer?" fragt Kropp.
     "Na, ins Sterbezimmer -"
     "Was ist denn das?"
     "Das kleine Zimmer an  der Ecke des Flugels. Wer kurz vor dem Abkratzen
ist, wird dahin gebracht. Es  sind zwei Betten darin. uberall heißt es
nur das Sterbezimmer."
     "Aber warum machen sie das?"
     "Sie haben dann  nicht  so  viel Arbeit nachher.  Es ist auch bequemer,
weil es gleich am Aufzug zur Totenhalle liegt.  Vielleicht  tun sie es auch,
damit keiner in  den  Sulen  stirbt, wegen der andern. Sie  kunnen  ja  auch
besser bei ihm wachen, wenn er allein liegt."
     "Aber er selber?"
     Josef  zuckt  die  Achseln.  "Gewuhnlich merkt er ja  nicht  mehr  viel
davon."
     "Weiß es denn jeder?"
     "Wer lunger hier ist, weiß es naturlich."

     Nachmittags wird das Bett von Franz Wuchter  neu belegt. Nach ein  paar
Tagen holen sie auch  den neuen  wieder ab.  Josef  macht  eine bezeichnende
Handbewegung. Wir sehen noch manchen kommen und gehen.
     Manchmal sitzen Angehurige an den Betten und weinen oder sprechen leise
und verlegen. Eine alte Frau will gar  nicht fort,  aber sie kann  die Nacht
uber ja nicht  dableiben. Am andern Morgen kommt sie  schon  ganz fruh, aber
doch nicht fruh  genug; denn als sie  an das Bett  geht, liegt schon  jemand
anders drin. Sie muß zur Totenhalle. Die upfel,  die sie noch bei sich
hat, gibt sie uns.
     Auch dem kleinen Peter geht es schlechter. Seine Fiebertafel sieht buse
aus,  und  eines Tages steht neben  seinem Bett der  flache Wagen.  "Wohin?"
fragt er.
     "Zum Verbandssaal."
     Er wird  hinauf  gehoben.  Aber die  Schwester macht den Fehler, seinen
Waffenrock  vom  Haken zu nehmen und ihn ebenfalls auf  den Wagen zu  legen,
damit sie  nicht  zweimal zu gehen braucht. Peter weiß sofort Bescheid
und will sich vom Wagen rollen. "Ich bleibe hier!"
     Sie drucken  ihn  nieder.  Er  schreit leise  mit  seiner zerschossenen
Lunge: "Ich will nicht ins Sterbezimmer."
     "Wir gehen ja zum Verbandssaal."
     "Wozu braucht ihr dann meinen Waffenrock?" Er kann nicht mehr sprechen.
Heiser, aufgeregt, flustert er: "Hierbleiben!"
     Sie antworten nicht und fahren ihn hinaus. Vor der Tur versucht er sich
aufzurichten.  Sein schwarzer Krauskopf bebt,  die Augen sind  voll  Trunen.
"Ich komme wieder! Ich komme wieder!" ruft er.
     Die Tur schließt sich. Wir  sind alle erregt; aber wir schweigen.
Endlich sagt Josef: "Hat schon mancher gesagt. Wenn man erst drin ist,  hult
man doch nicht durch."
     Ich werde operiert und kotze zwei Tage lang. Meine Knochen wollen nicht
zusammenwachsen, sagt der Schreiber des Arztes. Bei  einem  andern sind  sie
falsch angewachsen; dem werden sie wieder gebrochen. Es ist schon ein Elend.
     Unter unserm Zuwachs sind zwei junge Soldaten mit Plattfußen. Bei
der Visite entdeckt der Chefarzt sie  und bleibt freudig stehen. "Das werden
wir wegkriegen", erzuhlt er, "da machen wir eine kleine Operation, und schon
haben Sie gesunde Fuße. Schreiben Sie auf, Schwester."
     Als er fort ist, warnt Josef, der alles weiß: "Laßt euch ja
nicht operieren ! Das  ist numlich ein wissenschaftlicher Fimmel vom  Alten.
Er ist ganz wild auf jeden, den er dafur zu fassen bekommt. Er operiert euch
die Plattfuße, und ihr habt nachher tatsuchlich auch keine mehr; dafur
habt ihr Klumpfuße und mußt euer Leben lang an Stucken laufen."
     "Was soll man denn da machen?" fragt der eine.
     "Nein sagen! Ihr seid hier,  um  eure Schusse zu  kurieren,  nicht eure
Plattfuße!  Habt ihr im Felde  keine gehabt ? Na,  da  seht ihr! Jetzt
kunnt ihr noch laufen, aber wenn der  Alte euch erst unter dem Messer gehabt
hat, seid ihr Kruppel. Er braucht Versuchskarnickel,  fur ihn  ist der Krieg
eine großartige Zeit deshalb, wie fur alle urzte. Seht euch unten  mal
die  Station an; da kriechen ein Dutzend  Leute herum,  die er operiert hat.
Manche sind seit  vierzehn und funfzehn hier, jahrelang. Kein einziger  kann
besser  laufen als vorher; fast  alle aber  schlechter, die meisten  nur mit
Gipsbeinen. Alle halbe  Jahre erwischt  er sie  wieder und  bricht ihnen die
Knochen aufs neue,  und jedesmal soll dann der  Erfolg kommen. Nehmt euch in
acht, er darf es nicht, wenn ihr nein sagt."
     "Ach,  Mensch!"  sagt  der  eine  von  den  beiden  mude.  "Besser  die
Fuße als der Schudel. Weißt du,  was du  kriegst, wenn du wieder
draußen bist?  Sollen  sie mit  mir machen, was  sie  wollen, wenn ich
bloß wieder nach Hause komme. Besser ein Klumpfuß als tot."
     Der  andere, ein  junger  Mensch wie wir, will nicht.  Am andern Morgen
lußt der Alte beide  herunterholen und redet und schnauzt so lange auf
sie ein, bis sie doch  einwilligen. Was sollen sie anders tun. - Sie sind ja
nur Muskoten, und er ist ein hohes Tier.  Vergipst und chloroformiert werden
sie wiedergebracht.

     Albert geht es  schlecht. Er  wird geholt und amputiert. Das ganze Bein
bis obenhin wird abgenommen. Nun spricht er fast gar nicht mehr. Einmal sagt
er, er wolle sich erschießen,  wenn er erst wieder an seinen  Revolver
herankume.
     Ein  neuer Transport trifft ein. Unsere Stube erhult zwei Blinde. Einer
davon ist  ein ganz junger  Musiker. Die Schwestern haben nie ein Messer bei
sich, wenn sie ihm  Essen geben;  er hat  einer schon einmal eins entrissen.
Trotz dieser Vorsicht passiert etwas. Abends beim Futtern wird die Schwester
von seinem Bett abgerufen  und stellt den Teller mit der Gabel so lange  auf
seinen Tisch. Er tastet nach der  Gabel, faßt sie und  stußt sie
mit aller Kraft gegen  sein Herz,  dann  ergreift er einen Schuh und schlugt
auf  den  Stiel,  so fest  er kann. Wir rufen um Hilfe, und  drei Mann  sind
nutig, ihm  die  Gabel  wegzunehmen.  Die  stumpfen  Zinken waren schon tief
eingedrungen. Er  schimpft  die  ganze Nacht auf uns, so  daß  niemand
Schlaf findet. Morgens hat er einen Schreikrampf.
     Wieder werden  Betten  frei. Tage  um Tage gehen  hin  in Schmerzen und
Angst,  Stuhnen  und Rucheln. Auch  das Vorhandensein  der Totenzimmer nutzt
nichts  mehr, es sind zu wenig,  die  Leute sterben nachts auch  auf unserer
Stube. Es geht eben schneller als die uberlegung der Schwestern.
     Aber eines Tages fliegt die Tur auf, der flache Wagen rollt herein, und
blaß,  schmal,  aufrecht,  triumphierend,  mit gestruubtem,  schwarzem
Krauskopf sitzt Peter auf  der  Bahre. Schwester Libertine schiebt  ihn  mit
strahlender Miene an sein altes  Bett. Er ist zuruck aus  dem  Sterbezimmer.
Wir haben ihn lungst fur tot gehalten.
     Er sieht sich um: "Was sagt ihr nun?"
     Und selbst Josef muß zugeben, daß er so was zum ersten Male
erlebt.

     Allmuhlich durfen  einige von uns  aufstehen.  Auch ich bekomme Krucken
zum Herumhumpeln.  Doch  ich  mache wenig  Gebrauch davon;  ich kann Alberts
Blick nicht ertragen, wenn ich durchs Zimmer gehe. Er sieht mir immer mit so
sonderbaren Augen nach. Deshalb entschlupfe ich manchmal auf den  Korridor -
dort kann ich mich freier bewegen.
     Im  Stockwerk tiefer  liegen Bauch- und  Ruckenmarkschusse, Kopfschusse
und beiderseitig  Amputierte.  Rechts  im  Flugel  Kieferschusse, Gaskranke,
Nasen-,  Ohren- und  Halsschusse. Links im Flugel Blinde und  Lungenschusse,
Beckenschusse, Gelenkschusse, Nierenschusse, Hodenschusse, Magenschusse. Man
sieht hier erst, wo ein Mensch ubel getroffen werden kann.
     Zwei  Leute sterben an Wundstarrkrampf. Die Haut wird fahl, die Glieder
erstarren,  zuletzt  leben -  lange  -  nur  noch  die  Augen. - Bei manchen
Verletzten  hungt das zerschossene Glied an einem Galgen frei  in  der Luft;
unter die Wunde wird ein Becken gestellt, in das der Eiter tropft. Alle zwei
oder  drei Stunden wird  das  Gefuß geleert.  Andere Leute  liegen  im
Streckverband,  mit  schweren, herabziehenden  Gewichten am  Bett. Ich  sehe
Darmwunden,  die stundig voll  Kot  sind. Der Schreiber des Arztes zeigt mir
Runtgenaufnahmen   von   vullig   zerschmetterten   Huftknochen,  Knien  und
Schultern.
     Man  kann nicht begreifen, daß uber  so zerrissenen  Leibern noch
Menschengesichter sind, in  denen  das Leben  seinen  alltuglichen  Fortgang
nimmt.  Und dabei  ist  dies  nur  ein einziges  Lazarett, nur eine  einzige
Station  -  es  gibt  Hunderttausende  in  Deutschland,  Hunderttausende  in
Frankreich,  Hunderttausende in Rußland. Wie sinnlos ist alles, was je
geschrieben, getan, gedacht wurde,  wenn  so etwas muglich ist! Es muß
alles gelogen  und belanglos sein, wenn die  Kultur von  Jahrtausenden nicht
einmal verhindern konnte, daß diese  Strume von Blut vergossen wurden,
daß diese Kerker der  Qualen zu Hunderttausenden existieren.  Erst das
Lazarett zeigt, was der Krieg ist.
     Ich bin  jung, ich  bin zwanzig Jahre alt;  aber  ich  kenne  vom Leben
nichts anderes als  die Verzweiflung, den  Tod, die Angst und die Verkettung
sinnlosester Oberfluchlichkeit  mit  einem  Abgrund des  Leidens.  Ich sehe,
daß  Vulker   gegeneinandergetrieben  werden  und   sich   schweigend,
unwissend,  turicht,  gehorsam,  unschuldig tuten.  Ich sehe,  daß die
klugsten Gehirne  der  Welt  Waffen und Worte erfinden,  um das  alles  noch
raffinierter  und  lunger  dauernd zu  machen.  Und  mit mir sehen das  alle
Menschen meines Alters hier  und druben,  in der ganzen Welt, mit mir erlebt
das meine Generation. Was werden unsere Vuter tun, wenn wir einmal aufstehen
und vor  sie hintreten und Rechenschaft  fordern? Was erwarten sie von  uns,
wenn  eine  Zeit  kommt,  wo  kein  Krieg  ist?  Jahre hindurch  war  unsere
Beschuftigung Tuten -  es war unser erster Beruf im Dasein. Unser Wissen vom
Leben beschrunkt  sich  auf den Tod. Was soll danach noch geschehen? Und was
soll aus uns werden?

     Der ulteste auf unserer Stube ist Lewandowski. Er ist vierzig Jahre alt
und   liegt   bereits   zehn   Monate   im   Hospital   an   einem  schweren
Bauchschuß.  Erst in  den letzten  Wochen  ist  er  so weit  gekommen,
daß er gekrummt etwas hinken kann.
     Seit einigen Tagen ist er in großer Aufregung. Seine Frau hat ihm
aus dem kleinen Nest  in Polen, wo sie wohnt,  geschrieben, daß sie so
viel Geld zusammen hat, um die Fahrt zu bezahlen und ihn besuchen zu kunnen.
     Sie ist unterwegs und kann jeden Tag  eintreffen.  Lewandowski schmeckt
das Essen nicht mehr, sogar Rotkohl mit Bratwurst verschenkt er, nachdem  er
ein paar Happen  genommen hat. Stundig luuft er mit dem Brief durchs Zimmer,
jeder  hat  ihn schon  ein dutzendmal  gelesen,  die  Poststempel  sind  wer
weiß  wie  oft  schon  gepruft,  die Schrift ist  vor  Fettflecken und
Fingerspuren  kaum  noch  zu erkennen,  und  was  kommen  muß,  kommt:
Lewandowski kriegt Fieber und muß wieder ins Bett.
     Er  hat seine Frau seit zwei  Jahren nicht gesehen.  Sie hat inzwischen
ein Kind geboren, das bringt  sie mit. Aber etwas ganz  anderes  beschuftigt
Lewandowski. Er hatte gehofft, die Erlaubnis zum Ausgehen zu erhalten,  wenn
seine Alte kommt, denn es ist doch klar: Sehen ist ganz schun, aber wenn man
seine Frau nach so langer Zeit wiederhat, will man, wenn  es eben geht, doch
noch was anderes.
     Lewandowski  hat das  alles stundenlang  mit uns besprochen,  denn beim
Kommiß gibt es darin keine Geheimnisse. Es  findet auch  keiner  etwas
dabei. Diejenigen  von uns,  die  schon ausgehen  kunnen, haben ihm ein paar
tadellose  Ecken  in  der Stadt gesagt, Anlagen  und Parks, wo  er ungesturt
gewesen wure, einer wußte sogar ein kleines Zimmer.
     Doch  was  nutzt das alles.  Lewandowski liegt  im Bett und  hat  seine
Sorgen.  Das ganze Leben  macht  ihm keinen  Spaß mehr, wenn  er diese
Sache verpassen  muß.  Wir trusten ihn und versprechen  ihm, daß
wir den Kram schon irgendwie schmeißen werden.
     Am  andern Nachmittag  erscheint seine Frau, ein  kleines, verhutzeltes
Ding  mit  ungstlichen und  eiligen Vogelaugen, in einer  Art von  schwarzer
Mantille mit  Krausen  und  Bundern, weiß der Himmel, wo sie das Stuck
mal geerbt hat.
     Sie  murmelt leise  etwas  und  bleibt  scheu  an der  Tur  stehen.  Es
erschreckt sie, daß wir sechs Mann hoch sind.
     "Na,  Marja",  sagt  Lewandowski  und  schluckt gefuhrlich  mit  seinem
Adamsapfel, "kannst ruhig 'reinkommen, die tun dir hier nichts."
     Sie geht herum und gibt jedem von uns die Hand. Dann zeigt sie das Kind
vor, das inzwischen  in die Windeln  gemacht  hat. Sie hat eine große,
mit Perlen bestickte Tasche bei sich,  aus der sie ein reines Tuch nimmt, um
das Kind flink neu  zu  wickeln. Damit ist  sie uber  die erste Verlegenheit
hinweg, und die beiden fangen an zu reden.
     Lewandowski ist  sehr  kribblig, er schielt immer  wieder uußerst
unglucklich mit seinen runden Glotzaugen zu uns heruber.
     Die Zeit ist gunstig, die  Arztvisite ist vorbei,  es  kunnte huchstens
noch  eine  Schwester ins  Zimmer schauen. Einer geht  deshalb  noch  einmal
hinaus -  spekulieren. Er  kommt zuruck und  nickt. "Kein Aas zu sehen.  Nun
sag's ihr schon, Johann, und mach zu."
     Die beiden unterhalten sich in ihrer  Sprache. Die Frau guckt etwas rot
und   verlegen   auf.  Wir   grinsen   gutmutig   und   machen   wegwerfende
Handbewegungen, was schon  dabei sei! Der Teufel soll alle Vorurteile holen,
die  sind  fur  andere  Zeiten  gemacht,  hier  liegt  der  Tischler  Johann
Lewandowski, ein zum Kruppel geschossener Soldat, und da ist seine Frau, wer
weiß, wann  er  sie  wiedersieht, er will sie  haben, und  er soll sie
haben, fertig.
     Zwei Mann stellen sich vor die Tur, um die Schwestern abzufangen und zu
beschuftigen,  wenn sie zufullig vorbeikommen  sollten. Sie wollen  ungefuhr
eine Viertelstunde aufpassen.
     Lewandowski kann nur auf der Seite liegen, einer packt ihm deshalb noch
ein paar Kissen in den Rucken, Albert kriegt das Kind zu halten, dann drehen
wir  uns ein bißchen  um, die schwarze Mantille verschwindet unter der
Bettdecke, und wir kloppen laut und mit allerhand Redensarten Skat.
     Es geht alles gut. Ich habe einen wusten Kreuz-Solo mit vieren  in  den
Fingern,   der   ungefuhr  noch  rumgeht.  Daruber  vergessen   wir  beinahe
Lewandowski. Nach  einiger Zeit beginnt das Kind zu plurren,  obschon Albert
es  verzweifelt  hin  und her  schwenkt. Es  knistert und  rauscht dann  ein
bißchen, und als wir so beiluufig aufblicken, sehen wir, daß das
Kind schon die Flasche im Mund hat und wieder  bei der Mutter ist. Die Sache
hat geklappt.
     Wir  fuhlen  uns  jetzt  als  eine  große  Familie, die  Frau ist
ordentlich  munter geworden, und  Lewandowski liegt schwitzend und strahlend
da.
     Er packt die gestickte Tasche aus, es  kommen da  ein  paar gute Wurste
zum Vorschein, Lewandowski nimmt das Messer wie einen Blumenstrauß und
subelt das Fleisch in Stucke. Mit großer Handbewegung weist er auf uns
-  und die kleine, verhutzelte Frau geht von einem zum  andern und lacht uns
an  und  verteilt die  Wurst, sie sieht  jetzt direkt hubsch aus  dabei. Wir
sagen Mutter zu ihr, und sie freut sich und klopft uns die Kopfkissen auf.

     Nach einigen Wochen muß ich jeden Morgen ins Zanderinstitut. Dort
wird mein Bein festgeschnallt und bewegt. Der Arm ist lungst geheilt.
     Es laufen neue Transporte aus dem Felde  ein. Die  Verbunde  sind nicht
mehr  aus  Stoff,  sie  bestehen nur  noch  aus  weißem  Krepp-Papier.
Verbandstoff ist zu knapp geworden draußen.
     Alberts Stumpf  heilt gut. Die  Wunde ist fast geschlossen.  In einigen
Wochen  soll er fort in eine Prothesenstation. Er  spricht  noch immer wenig
und  ist viel  ernster als fruher. Oft bricht er  mitten im Gespruch  ab und
starrt vor  sich hin. Wenn  er nicht mit uns andern zusammen  wure, hutte er
lungst  Schluß  gemacht.   Jetzt  aber  ist  er  uber  das  Schlimmste
hinausgelangt. Er sieht schon manchmal beim Skat zu.
     Ich bekomme Erholungsurlaub.
     Meine Mutter  will mich nicht mehr fortlassen.  Sie ist  so schwach. Es
ist alles noch schlimmer als das letztemal.
     Danach werde ich vom Regiment angefordert und fahre wieder ins Feld.
     Der Abschied von meinem Freunde Albert Kropp ist schwer. Aber man lernt
das beim Kommiß mit der Zeit.





     Wir zuhlen die Wochen nicht mehr. Es war Winter, als ich ankam, und bei
den Einschlugen  der Granaten wurden  die gefrorenen Erdklumpen  fast ebenso
gefuhrlich wie  die Splitter. Jetzt sind die  Buume wieder grun. Unser Leben
wechselt  zwischen Front und  Baracken. Wir sind es teilweise schon gewohnt,
der Krieg  ist eine Todesursache wie  Krebs und Tuberkulose, wie Grippe  und
Ruhr.  Die  Todesfulle  sind  nur   viel  huufiger,  verschiedenartiger  und
grausamer.
     Unsere Gedanken sind Lehm, sie  werden geknetet vom  Wechsel der Tage -
sie sind  gut,  wenn wir Ruhe  haben,  und tot,  wenn wir  im  Feuer liegen.
Trichterfelder draußen und drinnen.
     Alle sind so, nicht wir hier allein -  was  fruher war, gilt nicht, und
man weiß es auch  wirklich  nicht mehr. Die Unterschiede, die  Bildung
und  Erziehung schufen, sind fast verwischt und  kaum noch  zu erkennen. Sie
geben manchmal Vorteile im Ausnutzen einer Situation; aber sie bringen  auch
Nachteile mit  sich,  indem  sie  Hemmungen  wachrufen, die erst  uberwunden
werden mussen. Es ist,  als ob  wir fruher  einmal  Geldstucke verschiedener
Lunder gewesen wuren; man  hat  sie  eingeschmolzen,  und  alle  haben jetzt
denselben Prugestempel. Will man  Unterschiede erkennen, dann  muß man
schon  genau das Material prufen. Wir sind Soldaten und erst sputer auf eine
sonderbare und verschumte Weise noch Einzelmenschen.
     Es  ist  eine  große  Bruderschaft,  die  ein  Schimmer  von  dem
Kameradentum der Volkslieder, dem Solidaritutsgefuhl von Struflingen und dem
verzweifelten  Einanderbeistehen von zum Tode Verurteilten seltsam vereinigt
zu einer Stufe von  Leben, das mitten in der Gefahr,  aus der Anspannung und
Verlassenheit des  Todes sich abhebt und  zu einem fluchtigen  Mitnehmen der
gewonnenen Stunden wird, auf gunzlich  unpathetische  Weise. Es ist heroisch
und banal, wenn man es werten wollte - doch wer will das?
     Es ist darin enthalten, wenn  Tjaden  bei einem gemeldeten  feindlichen
Angriff  in rasender Hast seine Erbsensuppe mit Speck ausluffelt, weil er ja
nicht weiß, ob er  in einer Smnde noch lebt. Wir  haben lange  daruber
diskutiert, ob es richtig sei oder nicht. Kat verwirft es, weil er sagt, man
musse mit einem Bauchschuß rechnen, der bei vollem Magen  gefuhrlicher
sei als bei leerem.
     Solche  Dinge sind Probleme fur uns,  sie  sind  uns ernst, und es kann
auch nicht anders sein.  Das Leben  hier an  der Grenze  des Todes  hat eine
ungeheuer  einfache Linie, es  beschrunkt sich  auf das Notwendigste,  alles
andere liegt  in dumpfem Schlaf; - das  ist  unsere Primitivitut und  unsere
Rettung. Wuren wir differenzierter, wir  wuren lungst irrsinnig,  desertiert
oder  gefallen.   Es  ist  wie  eine   Expedition  im  hohen  Eise;  -  jede
Lebensuußerung  darf  nur  der   Daseinserhaltung   dienen   und   ist
zwangsluufig darauf  eingestellt. Alles andere ist verbannt, weil es unnutig
Kraft verzehren wurde. Das ist die einzige Art, uns zu retten, und oft sitze
ich vor  mir selber wie vor einem Fremden, wenn der rutselhafte  Widerschein
des  Fruher  in stillen  Stunden wie  ein matter Spiegel die Umrisse  meines
jetzigen Daseins außer mich stellt, und ich wundere mich dann daruber,
wie das  unnennbare Aktive, das sich  Leben nennt,  sich angepaßt  hat
selbst an diese Form. Alle anderen uußerungen liegen  im Winterschlaf,
das Leben ist nur auf einer stundigen Lauer gegen die Bedrohung des Todes, -
es  hat uns  zu denkenden Tieren gemacht, um uns die Waffe des Instinktes zu
geben, - es hat uns mit Stumpfheit  durchsetzt,  damit wir nicht  zerbrechen
vor dem Grauen, das uns  bei klarem, bewußtem Denken uberfallen wurde,
- es hat in uns  den  Kameradschaftssinn  geweckt, damit wir dem Abgrund der
Verlassenheit entgehen,  -  es  hat  uns  die  Gleichgultigkeit  von  Wilden
verliehen,  damit wir trotz allem  jeden  Moment des Positiven empfinden und
als  Reserve aufspeichern gegen  den Ansturm des  Nichts. So  leben wir  ein
geschlossenes,  hartes Dasein  uußerster Oberfluche,  und nur manchmal
wirft  ein  Ereignis  Funken. Dann  aber  schlugt uberraschend  eine  Flamme
schwerer und furchtbarer Sehnsucht durch.
     Das sind die gefuhrlichen Augenblicke,  die  uns zeigen, daß  die
Anpassung  doch nur  kunstlich  ist, daß  sie  nicht einfach Ruhe ist,
sondern schurfste Anspannung zur Ruhe. Wir unterscheiden uns uußerlich
in  der Lebensform kaum von Buschnegern; aber  wuhrend diese stets  so  sein
kunnen, weil sie  eben so sind und sich durch Anspannung ihrer Geisteskrufte
huchstens fortentwickeln, ist  es bei uns  umgekehrt: unsere inneren  Krufte
sind nicht auf Weiter-, sondern auf Zuruckentwicklung angespannt. Jene  sind
entspannt und  selbstverstundlich so,  wir sind es  uußerst angespannt
und  kunstlich. Und mit Schrecken empfindet  man  nachts,  aus  einem  Traum
aufwachend,  uberwultigt  und  preisgegeben   derBezauberung  heranflutender
Gesichte, wie  dunn der Hak und  die  Grenze ist, die uns von der Dunkelheit
trennt - wir  sind kleine Flammen, notdurftig geschutzt durch schwache Wunde
vor dem Sturm  der Auflusung und der Sinnlosigkeit, in dem  wir flackern und
manchmal  fast  ertrinken. Dann wird  das  gedumpfte Brausen der Schlacht zu
einem  Ring,  der  uns  einschließt, wir kriechen in uns  zusammen und
starren mit großen Augen in die  Nacht. Trustlich fuhlen wir  nun  den
Schlafatem der Kameraden, und so warten wir auf den Morgen.

     Jeder Tag und jede Stunde, jede Granate und jeder Tote wetzen an diesem
dunnen Halt, und die  Jahre  verschleißen ihn rasch. Ich sehe,  wie er
allmuhlich schon um mich herum niederbricht. Da ist die dumme Geschichte mit
Detering.
     Er war einer von denen, die  sich sehr  fur sich  hielten. Sein Ungluck
war, daß er in einem Garten einen Kirschbaum sah. Wir kamen gerade von
der Front, und dieser Kirschbaum stand  in der Nuhe des  neuen  Quartiers an
einer Wegbiegung uberraschend in der Morgendummerung vor uns. Er hatte keine
Blutter, aber er war ein einziger weißer Blutenbusch.
     Abends war  Detering  nicht zu sehen.  Er kam  schließlich an und
hatte ein paar Zweige  mit Kirschbluten in der  Hand. Wir machten uns lustig
und fragten, ob er auf Brautschau wolle. Er gab keine Antwort, sondern legte
sich auf sein Bett. Nachts hurte  ich ihn rumoren, er schien  zu packen. Ich
witterte Unheil und ging zu ihm. Er tat, als wure nichts, und ich sagte ihm:
"Mach keinen Unsinn, Detering."
     "Ach wo - ich kann nur nicht schlafen.
     "Weshalb hast du denn die Kirschzweige geholt?"
     "Ich werde  doch wohl  noch Kirschzweige  holen  durfen",  antwortet er
verstockt - und nach  einer Weile:  "Zu  Hause  habe ich einen  großen
Obstgarten mit Kirschen. Wenn die bluhen, sieht das vom Heuboden aus wie ein
einziges Bettlaken, so weiß. Es ist jetzt die Zeit."
     "Vielleicht  gibt's bald Urlaub.  Es kann auch  sein, daß du, als
Landwirt, abkommandiert wirst."
     Er nickt,  aber  er ist abwesend.  Wenn  diese Bauern aufgeruhrt  sind,
haben  sie   einen   sonderbaren  Ausdruck,  eine  Mischung  von   Kuh   und
sehnsuchtigem Gott, halb blude  und halb hinreißend. Um ihn von seinen
Gedanken  abzubringen, verlange ich ein Stuck Brot von ihm.  Er gibt es  mir
ohne Einschrunkung. Das ist verduchtig, denn er ist sonst knauserig. Deshalb
bleibe ich wach. Es passiert nichts, er ist morgens wie sonst.
     Wahrscheinlich hat er gemerkt,  daß ich ihn beobachtet habe. - Am
ubernuchsten Morgen ist er trotzdem fort. Ich  sehe  es, sage jedoch nichts,
um ihm  Zeit zu  lassen, vielleicht kommt er  durch. Nach  Holland haben  es
schon verschiedene Leute geschafft.
     Beim  Appell  aber fullt  sein Fehlen auf. Nach einer Woche  huren wir,
daß  er gefaßt  ist  von  den  Feldgendarmen, diesen verachteten
Kommißpolizisten.  Er hatte  die Richtung  nach Deutschland genommen -
das war naturlich aussichtslos -, und  ebenso  naturlich hatte er alles sehr
dumm angefangen. Jeder  hutte daraus wissen kunnen, daß die Flucht nur
Heimweh  und momentane Verwirrung war. Doch was begreifen Kriegsgerichtsrute
hundert  Kilometer hinter  der Linie  davon? -  Wir  haben  nichts mehr  von
Detering vernommen.

     Aber  auch  auf  andere   Weise  bricht   es  manchmal  heraus,  dieses
Gefuhrliche, Gestaute - wie aus uberhitzten  Dampfkesseln. Da  ist auch noch
das Ende zu berichten, das Berger fand.
     Schon  lange   sind  unsere  Gruben  zerschossen,  und  wir  haben  die
elastische   Front,   so   daß   wir   eigentlich   keinen   richtigen
Stellungskrieg  mehr fuhren.  Wenn  Angriff und  Gegenangriff  hin  und  her
gegangen sind,  bleibt eine  zerrissene Linie und ein  erbitterter Kampf von
Trichter zu Trichter. Die  vordere Linie ist durchbrochen, und uberall haben
sich Gruppen festgesetzt, Trichternester, von denen aus gekumpft wird.
     Wir sind in einem Trichter,  seitlich sitzen  Englunder, sie rollen die
Flanke  auf und  gelangen hinter uns. Wir  sind umzingelt. Es ist schwierig,
sich  zu  ergeben,  Nebel und  Rauch  schwanken uber uns hin, niemand  wurde
erkennen, daß wir kapitulieren wollen, vielleicht  wollen wir es  auch
gar  nicht, das weiß man selbst nicht in  solchen Momenten.  Wir huren
die   Explosionen  der  Handgranaten  herankommen.   Unser   Maschinengewehr
bestreicht den vorderen Halbkreis. Das Kuhlwasser verdampft, wir reichen die
Kusten eilig herum, jeder pißt hinein, so  haben wir wieder Wasser und
kunnen  weiterfeuern. Aber  hinter  uns kracht  es immer nuher.  In  einigen
Minuten sind wir verloren.
     Da rast  ein  zweites Maschinengewehr auf  kurzeste Entfernung  los. Es
steckt  im  Trichter  neben uns, Berger hat  es  geholt, und  nun setzt  ein
Gegenangriff  von  hinten ein,  wir kommen frei  und finden  Verbindung nach
ruckwurts.
     Als wir nachher in einigermaßen guter Deckung sind, erzuhlt einer
von  den  Essenholern,  daß  ein paar  hundert Schritte  entfernt  ein
verwundeter Meldehund liege.
     "Wo?" fragt Berger.
     Der andere  beschreibt  es ihm. Berger geht los,  um  das Tier zu holen
oder  es zu erschießen. Noch vor einem halben Jahr hutte er sich nicht
darum  gekummert,  sondern  wure  vernunftig  gewesen.  Wir  versuchen,  ihn
zuruckzuhalten.  Doch   als  er  ernsthaft  geht,   kunnen  wir  nur  sagen:
"Verruckt!" und  ihn laufenlassen. Denn diese Anfulle von Frontkoller werden
gefuhrlich,  wenn man den Mann  nicht gleich  zu Boden werfen und festhalten
kann.  Und Berger ist ein Meter achtzig groß, der kruftigste  Mann der
Kompanie.
     Er  ist tatsuchlich verruckt, denn er muß  durch die Feuerwand; -
aber es  ist dieser Blitz, der irgendwo  uber  uns allen  lauert, der in ihn
eingeschlagen ist und ihn  besessen  macht. Bei  andern ist es so, daß
sie zu  toben anfangen,  daß sie wegrennen,  ja einer war da, der sich
mit  Hunden  und  Fußen und Mund  immerfort  in  die Erde  einzugraben
versuchte.
     Es wird  naturlich auch viel  simuliert  mit  solchen Sachen, aber  das
Simulieren  ist  ja eigentlich auch schon ein  Zeichen. Berger, der den Hund
erledigen  will, wird mit einem Beckenschuß weggeholt,  und  einer der
Leute, die es tun, kriegt sogar dabei noch eine Gewehrkugel in die Wade.

     Muller ist tot. Man  hat ihm aus nuchster Nuhe eine Leuchtkugel  in den
Magen geschossen. Er lebte noch  eine halbe Stunde bei  vollem Verstande und
furchtbaren Schmerzen. Bevor er starb,  ubergab er mir seine Brieftasche und
vermachte mir seine Stiefel -  dieselben, die er damals von Kemmerich geerbt
hat. Ich  trage sie,  denn  sie passen mir  gut. Nach  mir  wird Tjaden  sie
bekommen, ich habe sie ihm versprochen.
     Wir haben Muller zwar  begraben kunnen,  aber  lange wird er wohl nicht
ungesturt bleiben.  Unsere Linien werden zuruckgenommen.  Es  gibt druben zu
viele frische englische und amerikanische Regimenter. Es gibt zuviel  Corned
beef  und  weißes  Weizenmehl.   Und  zuviel  neue  Geschutze.  Zuviel
Flugzeuge.
     Wir  aber  sind mager und ausgehungert. Unser Essen ist so schlecht und
mit so viel Ersatzmitteln gestreckt, daß wir krank  davon  werden. Die
Fabrikbesitzer in Deutschland sind  reiche Leute  geworden - uns zerschrinnt
die Ruhr die Durme. Die Latrinenstangen sind stets dicht gehockt voll; - man
sollte  den  Leuten  zu  Hause  diese  grauen,  gelben,  elenden,  ergebenen
Gesichter hier zeigen, diese verkrummten Gestalten, denen die Kolik das Blut
aus  dem   Leibe   quetscht  und  die   huchstens   mit   verzerrten,   noch
schmerzbebenden  Lippen sich angrinsen:  "Es hat gar keinen Zweck, die  Hose
wieder hochzuziehen -"
     Unsere Artillerie ist ausgeschossen - sie  hat zuwenig Munition -,  und
die Rohre sind so ausgeleiert, daß sie unsicher schießen und bis
zu  uns heruberstreuen. Wir haben  zuwenig Pferde. Unsere  frischen  Truppen
sind  blutarme,  erholungsbedurftige  Knaben,  die  keinen  Tornister tragen
kunnen, aber  zu  sterben  wissen. Zu  Tausenden.  Sie verstehen nichts  vom
Kriege,  sie gehen  nur  vor und lassen sich  abschießen. Ein einziger
Flieger knallte aus Spaß zwei Kompanien von ihnen weg,  ehe  sie etwas
von Deckung wußten, als sie frisch aus dem Zuge kamen.
     "Deutschland muß bald leer sein", sagt Kat.
     Wir sind ohne  Hoffnung,  daß  einmal  ein Ende  sein kunnte. Wir
denken uberhaupt  nicht so weit. Man kann einen Schuß bekommen und tot
sein; man kann verletzt werden,  dann ist das Lazarett die nuchste  Station.
Ist man nicht amputiert, dann  fullt man  uber kurz oder lang  einem  dieser
Stabsurzte in die Hunde, die das  Kriegsverdienstkreuz  im Knopfloch,  einem
sagen:  "Wie, das  bißchen  verkurzte Bein? An der Front  brauchen Sie
nicht zu laufen, wenn Sie Mut haben. Der Mann ist k.v. Wegtreten!"
     Kat erzuhlt eine  der Geschichten, die die ganze Front  von den Vogesen
bis Flandern entlanglaufen, - von dem Stabsarzt, der Namen  vorliest auf der
Musterung  und,  wenn  der  Mann  vortritt,  ohne  aufzusehen,  sagt:  "K.v.
Wirbrauchen Soldaten  draußen." Ein Mann mit  Holzbein tritt vor,  der
Stabsarzt sagt wieder: k.v. - "Und da", Kat hebt die Stimme,  "sagt der Mann
zu ihm: >Ein Holzbein habe ich schon; aber  wenn ich jetzt hinausgehe und
wenn  man mir den  Kopf abschießt, dann lasse  ich mir  einen Holzkopf
machen und werde Stabsarzt!<" - Wir sind alle tief  befriedigt uber diese
Antwort.
     Es  mag gute urzte geben, und viele sind  es; doch einmal fullt bei den
hundert Untersuchungen jeder Soldat einem  dieser zahlreichen  Heldengreifer
in  die Finger, die sich bemuhen, auf  ihrer Liste muglichst viele a.v.  und
g.v. in k.v. zu verwandeln.
     Es gibt  manche  solcher  Geschichten,  sie  sind  meistens  noch  viel
bitterer. Aber sie haben trotzdem nichts mit Meuterei und Miesmachen zu tun;
sie sind ehrlich und nennen die Dinge beim Namen;  denn es besteht sehr viel
Betrug, Ungerechtigkeit und Gemeinheit beim Kommiß. Ist es nicht viel,
daß  trotzdem  Regiment  auf  Regiment  in  den  immer  aussichtsloser
werdenden  Kampf  geht  und   daß  Angriff  auf  Angriff  erfolgt  bei
zuruckweichender, zerbruckelnder Linie?
     Die  Tanks  sind vom  Gesputt zu  einer  schweren  Waffe geworden.  Sie
kommen, gepanzert, in  langer  Reihe gerollt  und verkurpern  uns  mehr  als
anderes das Grauen des Krieges.
     Die Geschutze, die  uns das Trommelfeuer  heruberschicken, ]  sehen wir
nicht, die angreifenden Linien der Gegner sind Menschen wie wir - aber diese
Tanks  sind Maschinen, ihre  Kettenbunder  laufen endlos wie der  Krieg, sie
sind die  Vernichtung, wenn  sie fuhllos in Trichter hineinrollen und wieder
hochklettern, unaufhaltsam,  eine Flotte brullender, rauchspeiender  Panzer,
unverwundbare,   Tote   und  Verwundete  zerquetschende  Stahltiere   -  Wir
schrumpfen zusammen vor ihnen  in unserer dunnen Haut, vor ihrer  kolossalen
Wucht  werden  unsere  Arme  zu   Strohhalmen  und  unsere  Handgranaten  zu
Streichhulzern.
     Granaten,  Gasschwaden  und  Tankflottillen  - Zerstampfen, Zerfressen,
Tod.
     Ruhr,  Grippe,  Typhus  -Wurgen,  Verbrennen,Tod.   Graben,   Lazarett,
Massengrab - mehr Muglichkeiten gibt es nicht.

     Bei  einem  Angriff fullt unser  Kompaniefuhrer  Bertinck. Er war einer
dieser prachtvollen Frontoffiziere, die  in jeder brenzligen Situation vorne
sind. Seit zwei Jahren war er bei uns, ohne daß er verwundet wurde, da
mußte ja endlich  etwas  passieren. Wir sitzen in einem Loch  und sind
eingekreist. Mit  den  Pulverschwaden weht der Gestank von ul oder Petroleum
heruber. Zwei Mann mit einem Flammenwerfer werden entdeckt, einer trugt  auf
dem Rucken den  Kasten, der  andere hat in  den Hunden den Schlauch, aus dem
das  Feuer  spritzt.  Wenn  sie  so  nahe  herankommen,  daß  sie  uns
erreichen, sind wir erledigt, denn zuruck kunnen wir gerade jetzt nicht. Wir
nehmen sie unter Feuer.  Doch sie  arbeiten sich  nuher heran,  und  es wird
schlimm.  Bertinck liegt mit uns im Loch. Als  er merkt, daß wir nicht
treffen, weil  wir bei dem  scharfen Feuer zu sehr  auf Deckung bedacht sein
mussen,  nimmt er  ein  Gewehr,  kriecht aus  dem  Loch und  zielt,  liegend
aufgestutzt. Er schießt - im selben Moment schlugt eine  Kugel bei ihm
klatschend auf, er ist getroffen. Doch er  bleibt liegen und zielt weiter  -
einmal  setzt  er ab  und  legt  dann  aufs  neue  an;  endlich  kracht  der
Schuß. Bertinck lußt das Gewehr fallen, sagt: "Gut", und rutscht
zuruck.  Der hinterste der  beiden Flammenwerfer ist verletzt, er fullt, der
Schlauch rutscht dem andern weg, das Feuer  spritzt nach allen  Seiten,  und
der Mann brennt.
     Bertinck hat einen  Brustschuß.  Nach einer  Weile schmettert ihm
ein Splitter das Kinn weg. Der gleiche Splitter hat noch die Kraft, Leer die
Hufte  aufzureißen.  Leer  stuhnt und  stemmt  sich  auf die  Arme, er
verblutet  rasch, niemand  kann ihm helfen.  Wie ein leerlaufender  Schlauch
sackt er nach ein  paar Minuten zusammen. Was nutzt es ihm nun, daß er
in der Schule ein so guter Mathematiker war.

     Die Monate rucken weiter. Dieser Sommer  1918 ist der blutigste und der
schwerste. Die  Tage  stehen wie Engel in Gold und Blau  unfaßbar uber
dem  Ring  der  Vernichtung. Jeder hier weiß, daß wir  den Krieg
verlieren.  Es wird  nicht  viel daruber gesprochen,  wir gehen zuruck,  wir
werden nicht wieder angreifen kunnen nach dieser großen Offensive, wir
haben keine Leute und keine Munition mehr.
     Doch der Feldzug geht weiter - das Sterben geht weiter - Sommer 1918  -
Nie ist uns das  Leben in seiner kargen Gestalt so  begehrenswert erschienen
wie  jetzt; - der rote Klatschmohn auf  den  Wiesen unserer  Quartiere,  die
glatten Kufer  an  den Grashalmen,  die warmen Abende  in den  halb-dunklen,
kuhlen  Zimmern,  die schwarzen,  geheimnisvollen  Buume der  Dummerung, die
Sterne und das Fließen des Wassers, die Truume und der  lange Schlaf -
o Leben, Leben, Leben!
     Sommer 1918 -  Nie ist  schweigend  mehr ertragen  worden  als  in  dem
Augenblick des Aufbruchs zur Front. Die wilden  und aufpeitschenden Geruchte
von Waffenstillstand und Frieden  sind aufgetaucht, sie verwirren die Herzen
und machen den Auf bruch schwerer als jemals!
     Sommer 1918 - Nie ist das Leben vorne bitterer und grauenvoller als  in
den Stunden des Feuers,  wenn die bleichen Gesichter  im Schmutz liegen  und
die Hunde verkrampft sind zu einem einzigen: Nicht! Nicht! Nicht jetzt noch!
Nicht jetzt noch im letzten Augenblick!
     Sommer 1918  - Wind  der Hoffnung,  der  uber  die  verbrannten  Felder
streicht,  rasendes  Fieber  der Ungeduld, der  Enttuuschung, schmerzlichste
Schauer des Todes, unfaßbare Frage: Warum? Warum  macht man kein Ende?
Und warum flattern diese Geruchte vom Ende auf?

     Es gibt so  viele  Flieger hier, und sie sind so sicher,  daß sie
auf einzelne  Leute Jagd  machen  wie auf Hasen. Auf  ein deutsches Flugzeug
kommen  mindestens  funf englische und amerikanische. Auf  einen  hungrigen,
muden  deutschen Soldaten im Graben  kommen funf kruftige, frische andere im
gegnerischen.  Auf  ein  deutsches Kommißbrot  kommen funfzig  Buchsen
Fleischkonserven  druben.  Wir sind  nicht  geschlagen,  denn  wir  sind als
Soldaten  besser  und  erfahrener;  wir  sind  einfach  von  der  vielfachen
ubermacht zerdruckt und zuruckgeschoben.
     Einige   Regenwochen  liegen   hinter   uns  -  grauer   Himmel,  graue
zerfließende Erde, graues  Sterben.  Wenn wir hinausfahren, dringt uns
bereits die Nusse  durch die Muntel und Kleider, - und so bleibt es die Zeit
vorne  auch. Wir  werden nicht trocken.  Wer noch Stiefel trugt,  bindet sie
oben mit Sandsucken zu, damit das Lehmwasser nicht so rasch hineinluuft. Die
Gewehre  verkrusten, die Uniformen  verkrusten, alles ist fließend und
aufgelust, eine  triefende, feuchte,  ulige  Masse Erde, in  der die  gelben
Tumpel  mit  spiralig  roten  Blutlachen  stehen  und Tote,  Verwundete  und
uberlebende langsam versinken.
     Der Sturm peitscht uber uns hin,  der Splitterhagel reißt aus dem
wirren  Grau und Gelb die spitzen Kinderschreie der Getroffenen, und  in den
Nuchten  stuhnt das zerrissene Leben sich  muhsam  dem  Schweigen zu. Unsere
Hunde sind Erde, unsere Kurper Lehm und unsere Augen Regentumpel. Wir wissen
nicht, ob wir noch leben.
     Dann  sturzt  die  Hitze wie  eine Qualle feucht und schwul  in  unsere
Lucher, und an einem dieser  Sputsommertage, beim  Essenholen, fullt Kat um.
Wir beide  sind  allein.  Ich verbinde seine  Wunde; das  Schienbein scheint
zerschmettert  zu  sein.  Es  ist  ein  Knochenschuß, und  Kat  stuhnt
verzweifelt: "Jetzt noch - gerade jetzt noch -"
     Ich truste ihn. "Wer weiß, wie lange der Schlamassel noch dauert!
Du bist erst mal gerettet -"
     Die Wunde beginnt heftig  durchzubluten. Kat kann nicht allein bleiben,
damit  ich eine Bahre zu holen versuche.  Ich weiß auch nirgendwo eine
Sanitutsstation in der Nuhe.
     Kat ist  nicht sehr schwer; deshalb  nehme ich ihn auf  den Rucken  und
gehe zuruck mit ihm zum Verbandsplatz.
     Zweimal machen  wir Rast. Er hat starke  Schmerzen durch den Transport.
Wir sprechen  nicht viel. Ich habe  den  Kragen  meiner Jacke aufgemacht und
atme heftig, ich schwitze, und mein Gesicht ist gedunsen von der Anstrengung
des  Tragens.  Trotzdem  drunge  ich, daß wir  weitergehen,  denn  das
Terrain ist gefuhrlich.
     "Geht's wieder, Kat?"
     "Muß wohl, Paul."
     "Dann los."
     Ich richte ihn auf, er steht auf dem unverletzten Bein und hult sich an
einem Baum fest. Dann fasse ich vorsichtig das verwundete Bein, er gibt sich
einen Ruck, und ich nehme auch das Knie des gesunden Beines unter den Arm.
     Unser  Weg wird  schwieriger. Manchmal pfeift eine  Granate  heran. Ich
gehe,  so schnell ich  vermag, denn das Blut von Kats Wunde tropft zu Boden.
Wir  kunnen uns nur  schlecht schutzen vor  den Einschlugen,  denn  ehe  wir
Deckung  nehmen, sind sie lungst  voruber. Um abzuwarten, legen  wir uns  in
einen kleinen Trichter. Ich gebe Kat Tee aus meiner Feldflasche. Wir rauchen
eine  Zigarette. "Ja, Kat", sage ich trubsinnig, "nun kommen  wir  doch noch
auseinander."
     Er schweigt und sieht mich an.
     "Weißt du  noch,  Kat, wie wir die Gans  requirierten? Und wie du
mich aus dem  Schlamassel holtest, als ich noch  ein kleiner Rekrut und  zum
erstenmal  verwundet  war? Damals habe ich noch geweint.  Kat, es  sind fast
drei Jahre jetzt."
     Er nickt.
     Die   Angst  vor   dem  Alleinsein   steigt   in   mir  auf.  Wenn  Kat
abtransportiert ist, habe ich keinen Freund mehr hier.
     "Kat, wir mussen uns  auf jeden Fall wiedersehen, wenn wirklich Frieden
ist, ehe du zuruckkommst."
     "Glaubst  du,  daß ich  mit dem Knochen da  noch mal k.v. werde?"
fragt er bitter.
     "Du wirst  ihn  in  Ruhe  ausheilen.  Das  Gelenk  ist  ja in  Ordnung.
Vielleicht klappt es doch damit."
     "Gib mir noch eine Zigarette", sagt er.
     "Vielleicht kunnen wir irgend etwas sputer zusammen machen, Kat." - Ich
bin  sehr traurig, es ist  unmuglich, daß Kat - Kat, mein  Freund, Kat
mit den  Hungeschultern und dem  dunnen,  weichen  Schnurrbart, Kat, den ich
kenne auf eine  andere  Weise als jeden  anderen  Menschen, Kat, mit dem ich
diese  Jahre geteilt habe -, es ist unmuglich, daß  ich Kat vielleicht
nicht wiedersehen soll.
     "Gib mir deine Adresse fur zu Hause,  Kat, auf jeden Fall. Und hier ist
meine, ich schreibe sie dir auf."
     Den Zettel  schiebe ich in meine Brusttasche.  Wie  verlassen ich schon
bin, obschon  er noch neben mir sitzt. Soll ich mir rasch  in den  Fuß
schießen, um bei ihm bleiben zu kunnen? Kat gurgelt plutzlich und wird
grun und gelb. "Wir wollen weiter", stammelt er.
     Ich springe auf, gluhend, ihm zu helfen, ich nehme ihn  hoch  und setze
mich in Lauf, einen gedehnten, langsamen Dauerlauf, damit sein Bein nicht zu
sehr schlenkert.
     Mein Hals ist trocken, es tanzt mir rot und schwarz vor den Augen,  als
ich verbissen und ohne Gnade  weiterstolpernd,  endlich die  Sanitutsstation
erreiche.
     Dort breche  ich in  die  Knie, habe aber noch so viel Kraft, nach  der
Seite  umzufallen,  wo Kats gesundes Bein ist. Langsam richte ich mich  nach
einigen Minuten wieder auf. Meine Beine und meine  Hunde zittern heftig, ich
habe Muhe, meine Feldflasche  zu finden,  um einen  Schluck  zu nehmen.  Die
Lippen beben mir dabei. Aber ich luchele - Kat ist geborgen.
     Nach einer  Weile unterscheide ich  den verworrenen Stimmenschwall, der
sich in meinem Ohr fungt.
     "Das huttest du dir sparen kunnen", sagt ein Sanituter.
     Ich sehe ihn verstundnislos an.
     Er zeigt auf Kat. "Er ist ja tot."
     Ich begreife nicht. "Er hat einen Schienbeinschuß", sage ich.
     Der Sanituter bleibt stehen. "Das auch -"
     Ich drehe mich um. Meine Augen sind noch immer trube, der Schweiß
ist mir jetzt  von  neuem ausgebrochen, er luuft uber die Lider. Ich  wische
ihn fort und sehe zu Kat hin. Er liegt still. "Ohnmuchtig", sage ich rasch.
     Der Sanituter pfeift leise: "Das kenne ich nun doch besser. Er ist tot.
Darauf halte ich jede Wette."
     Ich schuttele den Kopf. "Ausgeschlossen! Vor zehn Minuten noch habe ich
mit ihm gesprochen. Er ist  ohnmuchtig." Kats Hunde sind warm, ich fasse ihn
bei den Schultern,  um  ihn mit  Tee abzureiben. Da  fuhle  ich meine Finger
naß  werden.  Als ich  sie hinter seinem  Kopf  hervorziehe, sind  sie
blutig. Der Sanituter pfeift wieder durch die Zuhne: "Siehst du -"
     Kat  hat, ohne daß ich es bemerkt habe, unterwegs  einen Splitter
in den Kopf bekommen.  Nur ein kleines Loch ist  da,  es  muß ein ganz
geringer, verirrter Splitter gewesen sein. Aber  er hat ausgereicht. Kat ist
tot.
     Ich stehe langsam auf.
     "Willst  du sein  Soldbuch  und  seine  Sachen mitnehmen  ?" fragt  der
Gefreite mich.
     Ich nicke, und er gibt sie mir.
     Der Sanituter ist verwundert. "Ihr seid doch nicht verwandt?"
     Nein, wir sind nicht verwandt. Nein, wir sind nicht verwandt.
     Gehe ich? Habe ich  noch  Fuße? Ich hebe die Augen, ich lasse sie
herumgehen und  drehe  mich  mit  ihnen, einen Kreis, einen Kreis,  bis  ich
innehalte.  Es  ist   alles  wie  sonst.  Nur  der  Landwehrmann  Stanislaus
Katczinsky ist gestorben.
     Dann weiß ich nichts mehr.
     Es ist Herbst. Von den  alten  Leuten sind nicht mehr viele da. Ich bin
der letzte von den sieben Mann aus unserer Klasse hier.
     Jeder spricht  von Frieden  und Waffenstillstand. Alle warten. Wenn  es
wieder  eine  Enttuuschung  wird,  dann  werden  sie   zusammenbrechen,  die
Hoffnungen sind zu stark, sie lassen sich  nicht mehr fortschaffen,  ohne zu
explodieren. Gibt es keinen Frieden, dann gibt es Revolution.
     Ich habe vierzehn  Tage Ruhe,  weil ich  etwas Gas geschluckt habe.  In
einem  kleinen  Garten  sitze  ich  den   ganzen   Tag  in  der  Sonne.  Der
Waffenstillstand kommt bald, ich glaube es jetzt auch. Dann  werden wir nach
Hause fahren.
     Hier  stocken meine Gedanken  und sind nicht  weiterzubringen. Was mich
mit ubermacht hinzieht und erwartet, sind Gefuhle. Es ist Lebensgier, es ist
Heimatgefuhl, es ist  das Blut, es  ist der Rausch der Rettung. Aber es sind
keine Ziele.
     Wuren wir 1916 heimgekommen, wir hutten aus dem Schmerz  und der Sturke
unserer Erlebnisse einen Sturm entfesselt. Wenn wir jetzt zuruckkehren, sind
wir  mude, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos  und ohne Hoffnung.  Wir werden
uns nicht mehr zurechtfinden kunnen.
     Man wird uns auch nicht verstehen - denn vor uns wuchst ein Geschlecht,
das  zwar  die Jahre hier gemeinsam  mit uns  verbrachte,  das aber Bett und
Beruf hatte und jetzt zuruckgeht in  seine alten Positionen, in denen es den
Krieg vergessen wird,  - und  hinter uns wuchst  ein Geschlecht, uhnlich uns
fruher,  das  wird uns  fremd  sein  und  uns beiseite  schieben.  Wir  sind
uberflussig fur uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen,
andere  sich  fugen,  und  viele  werden ratlos  sein; -  die  Jahre  werden
zerrinnen, und schließlich werden wir zugrunde gehen.
     Aber vielleicht ist auch alles dieses, was ich denke, nur Schwermut und
Besturzung, die fortstuubt, wenn  ich wieder unter den Pappeln stehe und dem
Rauschen ihrer Blutter lausche.  Es kann nicht  sein, daß es fort ist,
das  Weiche, das unser  Blut  unruhig  machte,  das  Ungewisse, Besturzende,
Kommende, die  tausend Gesichter  der  Zukunft, die  Melodie aus Truumen und
Buchern,  das Rauschen  und  die  Ahnung  der  Frauen, es  kann nicht  sein,
daß  es   untergegangen  ist   in   Trommelfeuer,   Verzweiflung   und
Mannschaftsbordells.
     Die  Buume hier  leuchten bunt  und golden, die Beeren  der  Ebereschen
stehen rot im Laub, Landstraßen laufen weiß auf den Horizont zu,
und die Kantinen summen wie Bienenstucke von Friedensgeruchten.
     Ich stehe auf.
     Ich bin sehr ruhig. Mugen die Monate  und Jahre kommen,  sie nehmen mir
nichts mehr, sie  kunnen mir  nichts  mehr nehmen. Ich  bin so allein und so
ohne Erwartung,  daß  ich  ihnen entgegensehen kann  ohne  Furcht. Das
Leben, das mich durch diese Jahre trug, ist noch in meinen Hunden und Augen.
Ob  ich es uberwunden habe,  weiß ich nicht.  Aber solange es  da ist,
wird es sich  seinen Weg  suchen,  mag dieses, das in mir "Ich" sagt, wollen
oder nicht.

     Er  fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war  an
der  ganzen  Front,  daß  der  Heeresbericht sich  nur  auf  den  Satz
beschrunkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.
     Er war  vornubergesunken und lag wie schlafend an der Erde. Als man ihn
umdrehte, sah man, daß  er  sich  nicht lange  gequult haben konnte; -
sein Gesicht  hatte  einen so gefaßten Ausdruck,  als wure er  beinahe
zufrieden damit, daß es so gekommen war.

     OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://franklang.ru (мультиязыковой проект
Ильи Франка)





     Мультиязыковой проект Ильи Франка www.franklang.ru
     frank@franklang.ru




Last-modified: Tue, 08 Jun 2004 04:29:45 GMT
Оцените этот текст: