Thomas Mann. Der kleine Herr Friedemann
(1897)
Печатный источник:
Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Leipzig, 1989
OCR, Spellcheck: Илья Франк
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Die Amme hatte die Schuld. - Was half es, dass, als der erste Verdacht
entstand, Frau Konsul Friedemann ihr ernstlich zuredete, solches Laster zu
unterdrXcken? Was half es, dass sie ihr auXer dem nahrhaften Bier ein Glas
Rotwein tXglich verabreichte? Es stellte sich plXtzlich heraus, dass dieses
MXdchen sich herbeilieX, auch noch den Spiritus zu trinken, der fXr den
Kochapparat verwendet werden sollte, und ehe Ersatz fXr sie eingetroffen
war, ehe man sie hatte fortschicken kXnnen, war das UnglXck geschehen. Als
die Mutter und ihre drei halbwXchsigen TXchter eines Tages von einem
Ausgange zurXckkehrten, lag der kleine, etwa einen Monat alte Johannes, vom
Wickeltische gestXrzt, mit einem entsetzlich leisen Wimmern am Boden,
wXhrend die Amme stumpfsinnig danebenstand.
Der Arzt, der mit einer behutsamen Festigkeit die Glieder des
gekrXmmten und zuckenden kleinen Wesens prXfte, machte ein sehr, sehr
ernstes Gesicht, die drei TXchter standen schluchzend in einem Winkel, und
Frau Friedemann in ihrer Herzensangst betete laut. Die arme Frau hatte es
noch vor der Geburt des Kindes erleben mXssen, dass ihr Gatte, der
niederlXndische Konsul, von einer ebenso plXtzlichen wie heftigen Krankheit
dahingerafft wurde, und sie war noch zu gebrochen, um Xberhaupt der Hoffnung
fXhig zu sein, der kleine Johannes mXchte ihr erhalten bleiben. Allein nach
zwei Tagen erklXrte ihr der Arzt mit einem ermutigenden HXndedruck, eine
unmittelbare Gefahr sei schlechterdings nicht mehr vorhanden, die leichte
Gehirnaffektion, vor allem, sei gXnzlich behoben, was man schon an dem
Blicke sehen kXnne, der durchaus nicht mehr den stieren Ausdruck zeige wie
anfangs ... Freilich mXsse man abwarten, wie im Xbrigen sich die Sache
entwickeln werde, und das Beste hoffen, wie gesagt, das Beste hoffen ...
Das graue Giebelhaus, in dem Johannes Friedemann aufwuchs, lag am
nXrdlichen Tore der alten, kaum mittelgroXen Handelsstadt. Durch die HaustXr
betrat man eine gerXumige, mit Steinfliesen versehene Diele, von der eine
Treppe mit weiXgemaltem HolzgelXnder in die Etagen hinauffXhrte. Die Tapeten
des Wohnzimmers im ersten Stock zeigten verblichene Landschaften, und um den
schweren Mahagonitisch mit der dunkelroten PlXschdecke standen steiflehnige
MXbel. Hier saX er oft in seiner Kindheit am Fenster, vor dem stets schXne
Blumen prangten, auf einem kleinen Schemel zu den FXen seiner Mutter und
lauschte etwa, wXhrend er ihren glatten, grauen Scheitel und ihr gutes,
sanftmXtiges Gesicht betrachtete und den leisen Duft atmete, der immer von
ihr ausging, auf eine wundervolle Geschichte. Oder er lieX sich vielleicht
das Bild des Vaters zeigen, eines freundlichen Herrn mit grauem Backenbart.
Er befand sich im Himmel, sagte die Mutter, und erwartete dort sie alle.
Hinter dem Hause war ein kleiner Garten, in dem man wXhrend des Sommers
einen guten Teil des Tages zuzubringen pflegte, trotz des sXlichen Dunstes,
der von einer nahen Zuckerbrennerei fast immer herXberwehte. Ein alter,
knorriger Walnussbaum stand dort, und in seinem Schatten saX der kleine
Johannes oft auf einem niedrigen Holzsessel und knackte NXsse, wXhrend Frau
Friedemann und die drei nun schon erwachsenen Schwestern in einem Zelt aus
grauem Segeltuch beisammen waren. Dei Blick der Mutter aber hob sich oft von
ihrer Handarbeit, um mit wehmXtiger Freundlichkeit zu dem Kinde
hin berzugleiten.
Er war nicht schXn, der kleine Johannes, und wie er so mit seiner
spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden RXcken und seinen viel zu
langen, mageren Armen auf dem Schemel hockte und mit einem behenden Eifer
seine NXsse knackte, bot er einen hXchst seltsamen Anblick. Seine Hande und
F Xe aber waren zartgeformt und schmal, und er hatte groXe, rehbraune Augen,
einen weichgeschnittenen Mund und feines, lichtbraunes Haar. Obgleich sein
Gesicht so jXmmerlich zwischen den Schultern saX, war es doch beinahe schXn
zu nennen.
Als er sieben Jahre alt war, ward er zur Schule geschickt, und nun
vergingen die Jahre einfXrmig und schnell. TXglich wanderte er, mit der
komisch wichtigen Gangart, die Verwachsenen manchmal eigen ist, zwischen den
Giebelh usern und LXden hindurch nach dem alten Schulhaus mit den gotischen
GewXlben; und wenn er daheim seine Arbeit getan hatte, las er vielleicht in
seinen BXchern mit den schXnen, bunten Titelbildern oder beschXftigte sich
im Garten, wXhrend die Schwestern der krXnkelnden Mutter den Hausstand
fXhrten. Auch besuchten sie Gesellschaften, denn Friedemanns gehXrten zu den
ersten Kreisen der Stadt; aber geheiratet hatten sie leider noch nicht, denn
ihr VermXgen war nicht eben groX, und sie waren ziemlich hXlich.
Johannes erhielt wohl ebenfalls von seinen Altersgenossen hie und da
eine Einladung, aber er hatte nicht viel Freude an dem Verkehr mit ihnen. Er
vermochte an ihren Spielen nicht teilzunehmen, und da sie ihm gegenXber eine
befangene ZurXckhaltung immer bewahrten, so konnte es zu einer Kameradschaft
hicht kommen.
Es kam die Zeit, wo er sie auf dem Schulhofe oft von gewissen
Erlebnissen sprechen hXrte; aufmerksam und mit groXen Augen lauschte er, wie
sie von ihren SchwXrmereien fXr dies oder jenes kleine MXdchen redeten, und
schwieg dazu. Diese Dinge, sagte er sich, von denen die anderen ersichtlich
ganz erfXllt waren, gehXrten zu denen, fXr die er sich nicht eignete, wie
Turnen und Ballwerfen. Das machte manchmal ein wenig traurig; am Ende aber
war er von jeher daran gewXhnt, fXr sich zu stehen und die Interessen der
anderen nicht zu teilen.
Dennoch geschah es, dass er X sechzehn Jahre zXhlte er damals X zu
einem gleichalterigen MXdchen eine plXtzliche Neigung fasste. Sie war die
Schwester eines seiner Klassengenossen, ein blondes, ausgelassen frXhliches
GeschXpf, und bei ihrem Bruder lernte er sie kennen. Er empfand eine
seltsame Beklommenheit in ihrer NXhe, und die befangene und kXnstlich
freundliche Art, mit der auch sie ihn behandelte, erfXllte ihn mit tiefer
Traurigkeit. Als er eines Sommernachmittags einsam vor der Stadt auf dem
Walle spazieren ging, vernahm er hinter einem Jasminstrauch ein FlXstern und
lauschte vorsichtig zwischen den Zweigen hindurch. Auf der Bank, die dort
stand, saX jenes MXdchen neben einem langen, rotkXpfigen Jungen, den er sehr
wohl kannte; er hatte den Arm um sie gelegt und drXckte einen KuX auf ihre
Lippen, den sie kichernd erwiderte. Als Johannes Friedemann dies gesehen
hatte, machte er kehrt und ging leise von dannen.
Sein Kopf saX tiefer als je zwischen den Schultern, seine HXnde
zitterten, und ein scharfer, drXngender Schmerz stieg ihm aus der Brust deft
Hals hinauf. Aber er wXrgte ihn hinunter und richtete sich entschlossen auf,
so gut er das vermochte. ,Gut', sagte er zu sich, ,das ist zu Ende. Ich will
mich niemals wieder um dies alles bekXmmern. Den anderen gewXhrt es GlXck
und Freude, mir aber vermag es immer nur Gram und Leid zu bringen. Ich bin
fertig damit. Es ist fXr mich abgetan. Nie wieder.' -
Der Entschluss tat ihm wohl. Er verzichtete, verzichtete auf immer. Er
ging nach Hause und nahm ein Buch zur Hand oder spielte Violine, was er
trotz seiner verwachsenen Brust erlernt hatte.
Mit siebenzehn Jahren verlieX er die Schule, um Kaufmann zu werden, wie
in seinen Kreisen alle Welt es war, und trat in das groXe HolzgeschXft des
Herrft Schlievogt, unteft am Fluss, als Lehrling ein. Man behandelte ihn mit
Nachsicht, er seinerseits war freundlich und entgegenkommend, und friedlich
und geregelt verging die Zeit. In seinem einundzwanzigsten Lebensjahre aber
starb nach langem Leiden seine Mutter.
Das war ein groXer Schmerz fXr Johannes Friedemann, den er sich lange
bewahrte. Er genoss ihn, diesen Schmerz, er gab sich ihm hin, wie man sich
einem groXen GlXcke hingibt, er pflegte ihn mit tausend
Kindheitserinnerungen und beutete ihn aus als sein erstes starkes Erlebnis.
Ist nicht das Leben an sich etwas Gutes, gleichviel, ob es sich nun so
fXr uns gestaltet, dass man es "glXcklich" nennt? Johannes Friedemann fXhlte
das, und er liebte das Leben. Niemand versteht, mit welcher innigen Sorgfalt
er, der auf das grXte GlXck, das es uns zu bieten vermag, Verzicht
geleistet hatte, die Freuden, die ihm zugXnglich waren, zu genieXen wusste.
Ein Spaziergang zur FrXhlingszeit drauXen in den Anlagen vor der Stadt, der
Duft einer Blume, der Gesang eines Vogels X konnte man fXr solche Dinge
nicht dankbar sein? Und dass zur GenussfXhigkelt Bildung gehXrt, ja, dass
Bildung immer nur gleich GenussfXhigkeit ist X auch das verstand er: und er
bildete sich. Er liebte die Musik und besuchte alle Konzerte, die etwa in
der Stadt veranstaltet wurden. Er selbst spielte allmXhlich, obgleich er
sich ungemein merkwXrdig dabei ausnahm, die Geige nicht Xbel und freute sich
an jedem schXnen und weichen Ton, der ihm gelang. Auch hatte er sich durch
viele LektXre mit der Zeit einen literarischen Geschmack angeeignet, den er
wohl in der Stadt mit niemandem teilte. Er war unterrichtet Xber die neueren
Erscheinungen des In- und Auslandes, er wusste den rhythmischen Reiz eines
Gedichtes auszukosten, die intime Stimmung einer fein geschriebenen Novelle
auf sich wirken zu lassen ... oh! man konnte beinahe sagen, dass er ein
Epikureer war.
Er lernte begreifen, dass alles genieXenswert, und dass es beinahe
tXricht ist, zwischen glXcklichen und unglXcklichen Erlebnissen zu
unterscheiden: Er nahm alle seine Empfinungen und Stimmungen bereitwilligst
auf und pflegte sie, die trXben so gut wie die heiteren: auch die
unerfXllten WXnsche X die Sehnsucht. Er liebte sie um ihrer selbst willen
und sagte sich, dass mit der ErfXllung das Beste vorbei sein wXrde.. Ist das
sXe, schmerzliche, vage Sehnen und Hoffen stiller FrXhlingsabende nicht
genussreicher als alle ErfXllungen, die der Sommer zu bringen vemXchte? X
Ja, er war ein Epikureer, der kleine Herr Friedemann!
Das wussten die Leute wohl nicht, die ihn auf der StraXe mit jener
mitleidig freundlichen Art begrXten, an die er von jeher gewXhnt war. Sie
wussten nicht, dass dieser unglXckliche KrXppel, der da mit seiner putzigen
Wichtigkeit in hellem Xberzieher und blankem Zylinder X er war
seltsamerweise ein wenig eitel X durch die StraXen marschierte, das Leben
zXrtlich liebte, das ihm sanft dahinfloss, ohne groXe Affekte, aber erfXllt
von einem stillen und zarten GlXck, das er sich zu schaffen wusste.
Die Hauptneigung aber des Herrn Friedemann, seine eigentliche
Leidenschaft, war das Theater. Er besaX ein ungemein starkes dramatisches
Empfinden, und bei einer wuchtigen BXhnenwirkung, der Katastrophe eines
Trauerspiels, konnte sein ganzer kleiner KXrper ins Zittern geraten. Er
hatte auf dem ersten Range des Stadttheaters seinen bestimmten Platz, den er
mit RegelmXigkeit besuchte, und hin und wieder begleiteten ihn seine drei
Schwestern dorthin. Sie fXhrten seit dem Tode der Mutter sich und ihrem
Bruder allein die Wirtschaft in dem alten Hause, in dessen Besitz sie sich
mit ihm teilten.
Verheirateit waren sie leider noch immer nicht; aber sie waren lXngst
in einem Alter, in dem man sich bescheidet, denn Friederike, die Xlteste,
hatte siebzehn Jahre vor Herrn Friedemann voraus. Sie und ihre Schwester
Henriette waren ein wenig zu lang und dXnn, wXhrend Pfiffi, die JXngste,
allzu klein und beleibt erschien. Letztere Xbrigens hatte eine drollige Art,
sich bei jedem Worte zu schXtteln und Feuchtigkeit dabei in die Mundwinkel
zu bekommen.
Der kleine Herr Friedemann kXmmerte sich nicht viel um die drei
MXdchen; sie aber hielten treu zusammen und waren stets einer Meinung.
Besonders wenn eine Verlobung in ihrer Bekanntschaft sich ereignete,
betonten sie einstimmig, dass dies ja sehr erfreulich sei.
Ihr Bruder fuhr fort, bei ihnen zu wohnen, auch als er die Holzhandlung
des Herrn Schlievogt verlieX und sich selbstXndig machte, indem er irgendein
kleines GeschXft Xbernahm, eine Agentur oder dergleichen, was nicht allzu
viel Arbeit in Anspruch nahm. Er hatte ein paar ParterrerXumlichkeiten des
Hauses inne, damit er nur zu den Mahlzeiten die Treppe hinaufzusteigen
brauchte, denn hin und wieder litt er ein wenig an Asthma. X
An seinem dreiXigsten Geburtstage, einem hellen und warmen Junitage,
saX er nach dem Mittagessen in dem grauen Gartenzelt mit einer neuen
Nackenrolle, die Henriette ihm gearbeitet hatte, einer guten Zigarre im
Munde und einem guten Buche in der Hand. Dann und wann hielt er das letztere
beiseite, horchte auf das yergnXgte Zwitschern von Sperlingen, die in dem
alten Nussbaum saXen, und blickte auf den sauberen Kiesweg, der zum Hause
fXhrte, und auf den Rasenplatz mit den bunten Beeten.
Der kleine Herr Friedemann trug keinen Bart, und sein Gesicht hatte
sich fast gar nicht verXndert; nur dass die ZXge ein wenig schXrfer geworden
waren. Sein feines, lichtbraunes Haar trug er seitwXrts glatt gescheitelt.
Als er einmal das Buch ganz auf die Knie herabsinken lieX und hinauf in
den blauen, sonnigen Himmel blinzelte, sagte er zu sich: ,Das wXren nun
dreiXig Jahre. Nun kommen vielleicht noch zehn oder auch noch zwanzig, Gott
weiX es. Sie werden still und gerXuschlos daherkommen und vorXberziehen wie
die verflossenen, und ich erwarte sie mit Seelenfrieden.'
Im Juli desselben Jahres ereignete sich jener Wechsel in der
Bezirkskommandantur, der alle Welt in Erregung versetzte. Der beleibte,
joviale Herr, der lange Jahre hindurch diesen Posten innegehabt hatte, war
in den gesellschaftlichen Kreisen sehr beliebt gewesen, und man sah ihn
ungern scheiden. Gott weiX, infolge welches Umstandes nun ausgemacht Herr
von Rinnlingen aus der Hauptstadt hierher gelangte. Der Tausch schien
Xbrigens nicht Xbel zu sein, denn der neue Oberstleutnant, der verheiratet,
aber kinderlos war, mietete in der sXdlichen Vorstadt eine sehr gerXumige
Villa, woraus man schloss, dass er ein Haus zu machen gedachte. Jedenfalls
wurde das GerXcht, er sei ganz auXerordentlich vermXgend, auch dadurch
bestXtigt, dass er vier Dienstboten, f nf Reit- und Wagenpferde, einen
Landauer und einen leichten Jagdwagen mit sich brachte.
Die Herrschaften begannen bald nach ihrer Ankunft bei den angesehenen
Familien Besuche zu machen, upd ihr Name war in aller Munde; das
Hauptinteresse aber nahm schlechterdings nicht Herr von Rinnlingen selbst in
Atlspruch, sondern seine Gattin. Die Herren waren verblXfft und hatten
vorderhand noch kein Urteil; die Damen aber waren geradeheraus nicht
einverstanden mit dem Sein und Wesen Gerdas von Rinnlingen.
"Dass man die hauptstXdtische Luft verspXrt", XuXerte sich Frau
Rechtsanwalt HagenstrXm gesprXchsweise gegen Henriette Friedemann, "nun, das
ist natXrlich. Sie raucht, sie reitet X einverstanden! Aber ihr Benehmen ist
nicht nur frei, es ist burschikos, und auch das ist noch nicht das rechte
Wort ... Sehen Sie, sie ist durchaus nicht hXlich, man kXnnte sie sogar
hXbsch finden: und dennoch entbehrt sie jedes weiblichen Reizes, und ihrem
Blick, ihrem Lachen, ihren Bewegungen fehlt alles, was MXnner lieben. Sie
ist nicht kokett, und ich bin, Gott weiX es, die letzte, die das nicht
lobenswert fXnde; aber darf eine so junge Frau X sie ist vierundzwanzig
Jahre alt X die natXrliche anmutige Anziehungskraft ... vollkommen vermissen
lassen? Liebste, ich bin nicht zungenfertig, aber ich weiX, was ich meine.
Unsere Herren sind jetzt noch wie vor den Kopf geschlagen: Sie werden sehen,
dass sie sich nach ein paar Wochen gXnzlich degoutiert von ihr abwenden."
"Nun", sagte FrXulein Friedemann, "sie ist ja vortrefflich versorgt."
"Ja, ihr Mann!" rief Frau HagenstrXm. "Wie behandelt sie ihn? Sie
sollten es sehen! Sie werden es sehen! Ich bin die erste, die darauf
besteht, dass eine verheiratete Frau gegen das andere Geschlecht bis zu
einem gewissen Grade abweisend zu sein hat. Wie aber benimmt sie sich gegen
ihren eigenen Mann? Sie hat eine Art, ihn eiskalt anzusehen und mit einer
mitleidigen Betonung ,Lieber Freund' zu ihm zu sagen, die mich empXrt! Denn
man muss ihn dabei sehen X korrekt; stramm, ritterlich, ein prXchtig
konservierter Vierziger, ein gl nzender Offizier! Vier Jahre sind sie
verheiratet ... Liebste ..."
Der Ort, an dem es dem kleinen Herrn Friedemann zum ersten Male
vergXnnt war, Frau von Rinnlingen zu erblicken, war die HauptstraXe, an der
fast ausschlieXlich GeschXftshXuser lagen, und diese Begegnung ereignete
sich um die Mittagszeit, als er soeben von der BXrse kam, wo er ein WXrtchen
mitgeredet hatte.
Er spazierte, winzig und wichtig, neben dem GroXkaufmann Stephens,
einem ungewXhnlich groXen und vierschrXtigen Herrn mit rundgeschnittenem
Backenbart und furchtbar dicken Augenbrauen. Beide trugen Zylinder und
hatten wegen der groXen WXrme die Xberzieher geXffnet. Sie sprachen Xber
Politik, wobei sie taktmXig ihre SpazierstXcke auf das Trottoir stieXen;
als sie aber etwa bis zur Mitte der StraXe gekommen waren, sagte plXtzlich
der GroXkaufmann Stephens: "Der Teufel hole mich,wenn dort nicht die
Rinnlingen dahergefahren kommt."
"Nun, das trifft sich gut", sagte Herr Friedemann mit seiner hohen und
etwas scharfen Stimme und blickte erwartungsvoll geradeaus. "Ich habe sie
nXmlich noch immer nicht zu Gesichte bekommen. Da haben wir den gelben
Wagen."
In der Tat war es der gelbe Jagdwagen, den Frau von Rinnlingen heute
benutzte, und sie lenkte die beiden schlanken Pferde in eigener Person,
wXhrend der Diener mit verschrXnkten Armen hinter ihr saX. Sie trug eine
weite, ganz helle Jacke, und auch der Rock war hell. Upter dem kleinen,
runden Strohhut mit braunem Lederbande quoll das rotblonde Haar hervor, das
Xber die Ohren frisiert war und als ein dicker Knoten tief in den Nacken
fiel. Die Hautfarbe ihres ovalen Gesichtes war mattweiX, und in den Winkeln
ihrer ungewXhnlich nahe beieinanderliegenden braunen Augen lagerten
blXuliche Schatten. Xber ihrer kurzen, aber recht fein geschnittenen Nase
saX ein kleiner Sattel von Sommersprossen, was sie gut kleidete; ob aber ihr
Mund schXn war, konnte man nicht erkennen, denn sie schob unaufhXrlich die
Unterlippe vor und wieder zurXck, indem sie sie an der Oberlippe scheuerte.
GroXkaufmann Stephens grXte auXerordentlich ehrerbietig, als der Wagen
herangekommen war, und auch der kleine Herr Friedemann lXftete seinen Hut,
wobei er Frau von Rinnlingen groX und aufmerksam ansah. Sie senkte ihre
Peitsche, nickte leicht mit dem Kopfe und fuhr langsam vorXber, indem sie
rechts und links die HXuser und Schaufenster betrachtete.
Nach ein paar Schritten sagte der GroXkaufmann:
"Sie hat eine Spazierfahrt gemacht und fXhrt nun nach Hause."
Der kleine Herr Friedemann antwortete nicht, sondem blickte vor sich
nieder auf das Pflaster. Dann sah er plXtzlich den GroXkaufmann an und
fragte:
"Wie meinten Sie?"
Und Herr. Stephens wiederholte seine scharfsinnige Bemerkung.
Drei Tage spXter kam Johannies Friedemann um zwXlf Uhr mittags von
seinem regelmXigen Spaziergange nach Hause. Um halb ein Uhr wurde zu Mittag
gespeist, und er wollte gerade noch fXr eine halbe Stunde in sein "Bureau"
gehen, das gleich rechts neben der HaustXr lag, als das DienstmXdchen Xber
die Diele kam und zu ihm sagte:
"Es ist Besuch da, Herr Fnedemann."
"Bei mir?" fragte er.
"Nein, oben, bei den Damen."
" Wer denn?"
"Herr und Frau Oberstleutnant von Rinnlingen."
"Oh", sagte Herr friedemann, "da will ich doch ..."
Und er ging die Treppe hinauf. Oben schritt er Xber den Vorplatz, und
er hatte schon den Griff der hohen, weiXen TXr in der Hand, die zum
"Landschaftszimmer" fXhrte, als er plXtzlich innehielt, einen Schritt
zurXcktrat, kehrtmachte und langsam wieder davonging, wie er gekommen war.
Und obgleich er vollkommen allein war, sagte er ganz laut vor sich hin:
"Nein. Lieber nicht. X"
Er ging hinunter in sein "Bureau", setzte sich an den Schreibtisch und
nahm die Zeitung zur Hand. Nach einer Minute aber lieX er sie wieder sinken
und blickte seitwXrts zum Fenster hinaus. So blieb er sitzen, bis das
MXdchen kam und meldete, dass angerichtet sei; dann begab er sich hinauf ins
Speisezimmer, wo die Schwestern schon seiner warteten, und nahm auf seinem
Stuhle Platz, auf dem drei NotenbXcher lagen.
Henriette, welche die Suppe auffXllte, sagte:
"WeiXt du, Johannes, wer hier war?"
"Nun?" fragte er.
"Die neuen Oberstleutnants."
"Ja, so? Das ist liebenswXrdig."
,Ja", sagte Pfiffi und bekam FlXssigkeit in die Mundwinkel, "ich finde,
dass beide durchaus angenehme Menschen sind."
"Jedenfalls", sagte Friederike, "dXrfen wir mit unserem Gegenbesuch
nicht zXgern. Ich schlage vor, dass wir Xbermorgen gehen, Sonntag."
"Sonntag", sagten Henriette und Pfiffi.
"Du wirst doch mit uns gehen, Johannes?" fragte Friederike.
"Selbstredend!" sagte Pfiffi und schXttelte sich. Herr Friedemann hatte
die Frage ganz XberhXrt und aX mit einer stillen und Xngstlichen Miene seine
Suppe. Es war, als ob er irgendwohin horchte; auf irgendein unheimliches
GerXusch.
Am folgenden Abend gab man im Stadttheater den "Lohengrin", und alle
gebildeten Leute waren anwesend. Der kleine Raum war besetzt von oben bis
unten und erfXllt von summendem GerXusch, Gasgeruch und ParfXms. Alle
AugenglXser aber, im Parkett wie auf den RXngen, richteten sich auf Loge 13,
gleich rechts neben der BXhne, denn dort waren heute zum ersten Male Herr
von Rinnlingen nebst Frau erschienen, und man hatte Gelegenheit, das Paar
einmal grXndlich zu mustern. Als der kleine Herr Friedemann in tadellosem
schwarzen Anzug mit glXnzend weiXem, spitz hervorstehendem Hemdeinsatz seine
Loge X Loge 13 X betrat, zuckte er in der TXr zuruck, wobei er eine Bewegung
mit der Hand nach der Stirn machte und seine NasenflXgel sich einen
Augenblick krampfhaft Xffneten. Dann aber lieX er sich auf seinem Sessel
nieder, dem Platze links von Frau von Rinnlingen.
Sie blickte ihn, wXhrender sich setzte, eine Weile aufmerksam an, indem
sie die Unterlippe vorschob, und wandte sich dann, um mit ihrem Gatten, der
hinter ihr stand, ein paar Worte zu wechseln. Es, war ein groXer, breiter
Herr mit aufgebXrstetem Schnurrbart und einem braunen, gutmXtigen Gesicht.
Als die OuvertXre begann und Frau von Rinnlingen sich Xber die BrXstung
beugte, lieX Herr Friedemann einen raschen, hastigen Seitenblick Xber sie
hingleiten. Sie trug eine helle Gesellschaftstoilette und war, als die
einzige der anwesenden Damen, sogar ein wenig dekolletiert. Ihre Xrmel waren
sehr weit und bauschig, und die weiXen Handschuhe reichten bis an die
Ellenbogen. Ihre Gestalt hatte heute etwas Xppiges, was neulich, als sie die
weite Jacke trug, nicht bemerkbar gewesen war; ihr Busen hob und senkte sich
voll und langsam, und der Knoten des rotblonden Haares fiel tief und schwer
in den Nacken.
Herr Friedemann war bleich, viel bleicher als gewXhnlich, und unter dem
glattgescheitelten braunen Haar standen kleine Tropfen auf seiner Stirn.
Frau von Rinnlingen hatte von ihrem linken Arm, der auf dem roten Sammet der
BrXstung lag; den Handschuh gestreift, und diesen runden, mattweiXen Arm,
der wie die schmucklose Hand von ganz blassblauem GeXder durchzogen war, sah
er immer; das war nicht zu Xpdern.
Die Geigen sangen, die Posaunen schmetterten darein, Telramund fiel, im
Orchester herrschte allgemeiner Jubel, und der kleine Herr Friedemann saX
unbeweglich, blass und still, den Kopf tief zwischen den Schultern, einen
Zeigefinger am Munde und die andere Hand im Aufschlage seines Rockes.
WXhrend der Vorhang fiel, erhob sich Frau von Rinnlingen, um mit ihrem
Gatten die Loge zu verlassen. Herr Friedemann sah es, ohne hinzublicken,
fuhr mit seinem Taschentuch leicht Xber die Stirn, stand plXtzlich auf, ging
bis an die TXr, die auf den Korridor fXhrte, kehrte wieder um, setzte sich
an seinen Platz und verharrte dort regungslos in der Stellung, die er vorher
innegehabt hatte.
Als das Klingelzeichen erscholl und seine Nachbarn wieder eintraten,
fXhlte er, dass Frau von Rinnlingens Augen auf ihm ruhten, und ohne es zu
wollen, erhob er den Kopf nach ihr. Als ihre Blicke sich trafen, sah sie
durchaus nicht beiseite, sondern fuhr fort, ihn ohne eine Spur von
Verlegenheit aufmerksam zu betrachten, bis er selbst, bezwungen und
gedemXtigt, die Augen niederschlug. Er ward noch bleicher dabei, und ein
seltsamer, sXlich beizender Zorn stieg in ihm auf ... Die Musik begann.
Gegen Ende dieses Aufzuges geschah es, dass Frau von Rinnlingen sich
ihren FXcher entgleiten lieX und dass derselbe neben Herrn Friedemann zu
Boden fiel. Beide bXckten sich gleichzeitig, aber sie ergriff ihn selbst und
sagte mit einem LXcheln, das spXttisch war:
"Ich danke."
Ihre KXpfe waren ganz dicht beieinander gewesen, und er hatte einen
Augenblick den warmen Duft ihrer Brust atmen mXssen. Sein Gesicht war
verzerrt, sein ganzer KXrper zog sich zusammen, und sein Herz klopfte so
grXlich schwer und wuchtig, dass ihm der Atem verging. Er saX noch eine
halbe Minute, dann schob er den Sessel zurXck, stand leise auf und ging
leise hinaus.
Er ging, gefolgt von den KlXngen der Musik; Xber den Korridor, lieX
sich an der Garderobe seinen Zylinder, seinen hellen Xberzieher und seinen
Stock geben und schritt die Treppe hinab auf die StraXe.
Es war ein warmer, stiller Abend. Im Lichte der Gaslaternen standen die
grauen GiebelhXuser schweigend gegen den Himmel, an dem die Sterne hell und
milde glXnzten. Die Schritte der wenigen Menschen, die Herrn Friedemann
begegneten, hallten auf dem Trottoir. Jemand grXte ihn, aber er sah es
nicht; er hielt den Kopf tief gesenkt, und seine hohe, spitze Brust
zitterte, so schwer atmete er. Dann und wann sagte er leise vor sich hin:
"Mein Gott! Mein Gott!"
Er sah mit einem entsetzten und angstvollen Blick in sich hinein, wie
sein Empfinden, das er so sanft gepflegt, so milde und klug stets behandelt
hatte, nun emporgerissen war, aufgewirbelt, zerwXhlt ... Und plXtzlich, ganz
XberwXltigt, in einem Zustand von Schwindel, Trunkenheit, Sehnsucht und
Qual, lehnte er sich gegen einen Laternenpfahl und flXsterte bebend:
"Gerda!" -
Alles blieb still. Weit und breit war in diesem Augenblick kein Mensch
zu sehen. Der kleine Herr Friedemann raffte sich auf und schritt weiter. Er
war die StraXe hinaufgegangen, in der das Theater lag und die ziemlich steil
zum Flusse hinunterlief, und verfolgte nun die HauptstraXe nach Norden,
seiner Wohnung zu ...
Wie sie ihn angesehen hatte! Wie? Sie hatte ihn gezwungen, die Augen
niederzuschlagen? Sie hatte ihn mit ihrem Blick gedemXtigt? War sie nicht
eine Frau und er ein Mann? Und hatten ihre seltsamen braunen Augen nicht
fXrmlich dabei vor Freude gezittert?
Er fXhlte wieder diesen ohnmXchtigen, wollXstigen Hass in sich
aufsteigen, aber dann dachte er an jenen Augenblick, wo ihr Kopf den seinen
berXhrt, wo er den Duft ihres KXrpers eingeatmet hatte, und er blieb zum
zweiten Male stehen, beugte den verwachsenen OberkXrper zurXck, zog die Luft
durch die ZXhne ein und murmelte dann abermals vXllig ratlos, verrzweifelt,
auXer sich:
"Mein Gott! Mein Gott!"
Und wieder schritt er mechanisch weiter, langsam, durch die schwXle
Abendluft, durch die menschenleeren, hallenden StraXen, bis er vor seiner
Wohnung stand. Auf der Diele verweilte er einen Augenblick und sog den
kXhlen, kellerigen Geruch ein, der dort herrschte; dann trat er in sein
"Bureau".
Er setzte sich an den Schreibtisch am offenen Fenster und starrte
geradeaus auf eine groXe, gelbe Rose, die jemand ihm dort ins Wasserglas
gestellt hatte. Er nahm sie und atmete mit geschlossenen Augen ihren Duft;
aber dann schob er sie mit einer mXden und traurigen GebXrde beiseite. Nein,
nein, das war zu Ende! Was war ihm noch solcher Duft? Was war ihm noch
alles, was bis jetzt sein "GlXck" ausgemacht hatte? ...
Er wandte sich zur Seite und blickte auf die stille StraXe hinaus. Dann
und wann klangen Schritte auf und hallten vorXber. Die Sterne standen und
glitzerten. Wie todmXde und schwach er wurde! Sein Kopf war so leer: und
seine Verzweiflung begann in eine groXe, sanfte Wehmut sich aufzulXsen. Ein
paar Gedichtzeilen flatterten ihm durch den Sinn, die Lohengrinmusik klang
ihm wieder in den Ohren, er sah noch einmal Frau von Rinnlingens Gestalt vor
sich, ihren weiXen Arm auf dem roten Sammet, und dann verfiel er in einen
schweren, fieberdumpfen Schlaf.
Oft war er dicht am Erwachen, aber er fXrchtete sich davor und versank
jedesmal aufs neue in Bewusstlosigkeit. Als es aber vXllig hell geworden
war, schlug er die Augen auf und sah mit einem groXen, schmerzlichen Blick
um sich. Alles stand ihm klar vor der Seele; es war, als sei sein Leiden
durch den Schlaf gar nicht unterbrochen worden.
Sein Kopf war dumpf, und die Augen brannten ihm; als er sich aber
gewaschen und die Stirn mit Eau de Cologne benetzt hatte, fXhlte er sich
wohler und setzte sich still wieder, an seinen Platz am Fenster, das
offengeblieben war. Es war noch ganz frXh am Tage, etwa um fXnf Uhr. Dann
und wann ging ein BXckerjunge vorXber, sonst war niemand zu sehen. GegenXber
waren noch alle Rouleaus geschlossen. Aber die VXgel zwitscherten, und der
Himmel war leuchtend blau. Es war ein wunderschXner Sonntagmorgen.
Ein GefXhl von Behaglichkeit und Vertrauen Xberkam den kleinen Herrn
Friedemann. Wovor Xngstigte er sich? War nicht alles wie sonst? Zugegeben.
dass es gestern ein schlimmer Anfall gewesen war; nun, aber damit sollte es
ein Ende haben! Noch war es nicht zu spXt, noch konnte er dem Verderben
entrinnen! Jeder Veranlassung musste er ausweichen, die den Anfall erneuern
kXnnte; er fXhlte die Kraft dazu. Er fXhlte die Kraft, es zu Xberwinden und
es gXnzlich in sich zu ersticken ...
Als es halb acht Uhr schlug, trat Friederike ein und stellte den Kaffee
auf den runden Tisch, der vor dem Ledersofa an der RXckwand stand.
"Guten Morgen, Johannes", sagte sie, "hier ist dein FrXhstXck."
"Danke", sagte Herr Friedemann. Und dann: "Liebe Friederike, es tut mir
Leid, dass ihr den Besuch werdet allein machen mXssen. Ich fXhle mich nicht
wohl genug, um euch begleiten zu kXnnen. Ich habe schlecht geschlafen, habe
Kopfschmerzen, und kurz und gut, ich muss euch bitten ..."
Friederike antwortete:
"Das ist schade. Du darfst den Besuch keinesfalls ganz unterlassen.
Aber es ist wahr, dass du krank aussiehst. Soll ich dir meinen MigrXnestift
leihen?"'
"Danke", sagte Herr Friedemann. "Es wird vorXbergehen."
Und Friederike ging.
Er trank, am Tische stehend, langsam seinen Kaffee und aX ein HXrnchen
dazu. Er war zufrieden mit sich und stolz auf seine Entschlossenheit. Als er
fertig war, nahm er eine Zigarre und setzte sich wieder ans Fenster. Das
FrXhstXck hatte ihm wohlgetan, und er fXhlte sich glXcklich und
hoffnungsvoll. Er nahm ein Buch, las, rauchte und blickte blinzelnd hinaus
in die Sonne.
Es war jetzt lebendig geworden auf der StraXe; Wagengerassel, GesprXch
und das Klingeln der Pferdebahn tXnten zu ihm herein; zwischen allem aber
war das Zwitschern der VXgel zu vernehmen; und vom strahlend blauen Himmel
wehte eine weiche, warme Luft.
Um zehn Uhr hXrte er die Schwestern Xber die Diele kommen, hXrte die
HaustXr knarren und sah die drei Damen dann am Fenster vor bergehen, ohne
dass er besonders darauf achtete. Eine Stunde verging; er fXhlte sich
glXcklicher und glXcklicher.
Eine Art von Xbermut begann ihn zu erfXllen. Was fXr eine Luft das war,
und wie die VXgel zwitscherten! Wie wXre es, wenn er ein wenig
spazierenginge? X Und da, plXtzlich, ohne einen Nebengedanken, stieg mit
einem sXen Schrecken der Gedanke in ihm auf: ,Wenn ich zu ihr ginge?' X Und
indem er, fXrmlich mit einer Muskelanstrengung, alles in sich unterdrXckte,
was angstvoll warnte, fXgte er mit einer glXckseligen Entschlossenheit
hinzu: ,Ich will zu ihr gehen!'
Und er zog seinen schwarzen Sonntagsanzug an, nahm Zylinder und Stock
und ging schnell und hastig atmend durch die ganze Stadt in die sXdliche
Vorstadt. Ohne einen Menschen zu sehen, hob und senkte er bei jedem Schritte
in eifriger Weise den Kopf, ganz in einem abwesenden, exaltierten Zustand
befangen, bis er drauXen in der Kastanienallee vor der roten Villa stand, an
deren Eingang der Name "Oberstleutnant von Rinnlingen" zu lesen war.
Hier befiel Ihn ein Zittern, und das Herz pochte ihm krampfhaft und
schwer gegen die Brust. Aber er ging Xber den Flur und klingelte drinnen.
Nun war es entschieden, und es gab kein ZurXck. Mochte alles seinen Gang
gehen, dachte er. In ihm war es plXtzlich totenstill.
Die TXr sprang auf, der Diener kam ihm Xber den Vorplatz entgegen, nahm
die Karte in Empfang und eilte damit die Treppe hinauf, auf der ein roter
LXufer lag. Auf diesen starrte Herr Friedemann unbeweglich, bis der Diener
zurXckkam und erklXrte, die gnXdige Frau lasse bitten, sich hinauf zu
verfXgen.
Oben, neben der SalontXr, wo er seinen Stock abstellte, warf er einen
Blick in den Spiegel. Sein Gesicht war bleich, und Xber den gerXteten Augen
klebte das Haar an der Stirn; die Hand, in der er den Zylinder hielt,
zitterte unaufhaltsam.
Der Diener Xffnete, und er trat ein. Er sah sich in einem! ziemlich
groXen, halbdunkIen Gemach; die Fenster waren verhXngt. Rechts stand ein
FlXgel, und in der Mitte um den runden Tisch gruppierten sich Lehnsessel in
brauner Seide. Xber dem Sofa an der linken Seitenwand hing eine Landschaft
in schwerem Goldrahmen. Auch die Tapete war dunkel. Hinten im Erker standen
Palmen.
Eine Minute verging, bis Frau von Rinnlingen rechts die Portiere
auseinanderschlug und ihm auf dem dicken braunen Teppich lautlos
entgegenkam. Sie trug ein ganz einfach gearbeitetes, rot und schwarz
gewXrfeltes Kleid. Vom Erker her fiel eine LichtsXule, in welcher der Staub
tanzte, gerade auf ihr schweres, rotes Haar, so dass es einen Augenblick
goldig aufleuchtete. Sie hielt ihre seltsamen Augen forschend auf ihn
gerichtet und schob wie gewXhnlich die Unterlippe vor.
"Gnadige Frau", begann Herr Friedemann und blickte zu ihr in die HXhe,
denn er reicnte ihr nur bis zur Brust, "ich mXchte Ihnen auch meinerseits
meine Aufwartung machen. Ich war, als Sie meine Schwestern beehrten, leider
abwesend und ... bedauerte das aufrichtig ..."
Er wusste durchaus nicht mehr zu sagen, aber sie stand und sah ihn
unerbittlich an, als wollte sie ihn zwingen, weiterzusprechen. Alles Blut
stieg ihm plXtzlich zu Kopfe. `Sie will mich quXlen und verhXhnen!' dachte
er, `und sie durchschaut mich! Wie ihre Augen zittern!' ... Endlich sagte
sie mit einer ganz hellen und ganz klaren Stimme:
"Es ist liebenswXrdig, dass Sie gekommen sind. Ich habe neulich
ebenfalls bedauert, Sie zu verfehlen. Haben Sie die GXte, Platz zu nehmen?"
Sie setzte sich nahe bei ihm, legte die Arme auf die Seitenlehnen des
Sessels und lehnte sich zurXck. Er saX vorgebeugt und hielt den Hut zwischen
den Knien. Sie sagte:
"Wissen Sie, dass noch vor einer Viertelstunde Ihre FrXulein Schwestern
hier waren? Sie sagten mir, Sie seien krank."
"Das ist wahr", erwiderte Herr Friedemann, "ich fXhlte mich nicht wohl
heute Morgen. Ich glaubte nicht ausgehen zu kXnnen. Ich bitte wegen meiner
VerspXtung um Entschuldigung."
"Sie sehen auch jetzt noch nicht gesund aus", sagte sie ganz ruhig und
blickte ihn unverwandt an. "Sie sind bleich, und Ihre Augen sind entzXndet,
Ihre Gesundheit lXsst Xberhaupt zu wXnschen Xbrig?"
"Oh ...", stammelte Herr Friedemann; "ich bin im allgemeinen
zufrieden."
"Auch ich bin viel krank", fuhr sie fort, ohne die Augen von ihm
abzuwenden; "aber niemand merkt es. Ich bin nervXs und kenne die
merkwXrdigsten Zust nde."
Sie schwieg, legte das Kinn auf die Brust und sah ihn von unten herauf
wartend an. Aber er antwortete nicht. Er saX still und hielt seine Augen
groX und sinnend auf sie gerichtet. Wie seltsam sie sprach, und wie ihre
helle, haltlose Stimme ihn berXhrte! Sein Herz hatte sich beruhigt; ihm war,
als trXumte er. X Frau von Rinnlingen begann aufs neue:
"Ich mXsste mich irren, wenn Sie nicht gestern das Theater vor Schluss
der Vorstellung verlieXen?"
,Ja, gnXdige Frau."
"Ich bedauerte das. Sie waren ein andXchtiger Nachbar, obgleich die
AuffXhrung nicht gut war, oder nur relativ gut. Sie lieben die Musik?
Spielen Sie Klavier?"
"Ich spiele ein wenig Violine", sagte Herr Friedemann. "Das heiXt X es
ist beinahe nichts ..."
"Sie spielen Violine?" fragte sie; dann sah sie an ihm vorbei in die
Luft und dachte nach.
"Aber dann kXnnten wir hin und wieder miteinander musizieren", sagte
sie plXtzlich. "Ich kann etwas begleiten. Es wXrde mich freuen, hier
jemanden gefunden zu haben ... Werden Sie kommen?"
"Ich stehe der gnXdigen Frau mit VergnXgen zur VerfXgung", sagte er,
immer wie im Traum. Es entstand eine Pause. Da Xnderte sich plXtzlich der
Ausdruck ihres Gesichtes. Er sah, wie es sich in einem kaum merklichen
grausamen Spott verzerrte, wie ihre Augen sich wieder mit jenem unheimlichen
Zittern fest und forschend auf ihn richteten wie schXn zweimal vorher. Sein
Gesicht ward glXhend rot, und ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte,
vXllig ratlos und auXer sich, lieX er seinen Kopf ganz zwischen die
Schultern sinken und blickte fassungslos auf den Teppich nieder. Wie ein
kurzer Schauer aber durchrieselte ihn wie der jene ohnmXchtige, sXlich
peinigende Wut X
Als er mit einem verzweifelten Entschluss den Blick wieder erhob, sah
sie ihn nicht mehr an, sondern blickte ruhig Xber seinen Kopf hinweg auf die
TXr. Er brachte mXhsam ein paar Worte hervor:
"Und sind gnXdige Frau bis jetzt leidlich zufrieden mit Ihrem
Aufenthalt in unserer Stadt?"
"Oh", sagte Frau von Rinnlingen gleichgXltig, "gewiss. Warum sollte ich
nicht zufrieden sein? Freilich ein wenig beengt und beobachtet komme ich mir
vor, aber ... Xbrigens", fuhr sie gleich darauf fort, "ehe ich es vergesse:
Wir denken in den nXchsten Tagen einige Leute bei uns zu sehen, eine kleine,
zwanglose Gesellschaft. Man kXnnte ein wenig Musik machen, ein wenig
plaudern X Xberdies haben wir hinterm Hause einen recht hXbschen Garten; er
geht bis zum Flusse hinunter. Kurz und gut: Sie und Ihre Damen werden
selbstverstXndlich noch eine Einladung erhalten, aber ich bitte Sie gleich
hiermit um Ihre Teilnahme; werden Sie uns das VergnXgen machen?"
Herr Friedemann hatte kaum seinen Dank und seine Zusage hervorgebracht,
als der TXrgriff energisch niedergedrXckt wurde und der Oberstleutnant
eintrat. Beide erhoben sich, und wXhrend Frau von Rinnlingen die Herren
einander vorstellte, verbeugte sich ihr Gatte mit der gleichen HXflichkeit
vor Herrn Friedemann wie vor ihr. Sein braunes Gesicht war ganz blank vor
WXrme.
WXhrend er sich die Handschuhe auszog, sprach er mit seiner krXftigen
und scharfen Stimme irgend etwas zu Herrn Friedemann, der mit groXen,
gedankenlosen Augen zu ihm in die HXhe blickte und immer erwartete,
wohlwollend von ihm auf die Schulter geklopft zu werden. Indessen wandte
sich der Oberstleutnant mit zusammengezogenen AbsXtzen und leicht
vorgebeugtem OberkXrper an seine Gattin und sagte mit merklich gedXmpfter
Stimme:
"Hast du Herrn Friedemann um seine Gegenwart bei unserer kleinen
Zusammenkunft gebeten, meine Lie