uft war so ausnehmend zart und fein, dass er ihn nicht festhalten konnte, immer wieder entzog er sich der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom Pulverdampf der Petarden, blockiert von den Ausd<u>u</u>nstungen der Menschenmassen, zerst<u>u</u>ckelt und zerrieben von den tausend andren Ger<u>u</u>chen der Stadt. Aber dann, pl<u>u</u>tzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang als herrliche Andeutung zu riechen... und verschwand alsbald. Grenouille litt Qualen. Zum ersten Mal war es nicht nur sein gieriger Charakter, dem eine Kr<u>u</u>nkung widerfuhr, sondern tats<u>u</u>chlich sein Herz, das litt. Ihm schwante sonderbar, dieser Duft sei der Schl<u>u</u>ssel zur Ordnung aller anderen D<u>u</u>fte, man habe nichts von den D<u>u</u>ften verstanden, wenn man diesen einen nicht verstand, und er Grenouille, h<u>u</u>tte sein Leben verpfuscht, wenn es ihm nicht gel<u>u</u>nge, diesen einen zu besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen. Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft <u>u</u>berhaupt kam. Manchmal dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde, minutenlang, und jedesmal <u>u</u>berfiel ihn die gr<u>u</u>ßliche Angst, er h<u>u</u>tte ihn auf immer verloren. Endlich rettete er sich in den verzweifelten Glauben, der Duft komme vom anderen Ufer des Flusses, irgendwoher aus s<u>u</u>d<u>u</u>stlicher Richtung. Er l<u>u</u>ste sich von der Mauer des Pavillon de Flore, tauchte in die Menschenmenge ein und bahnte sich seinen Weg <u>u</u>ber die Br<u>u</u>cke. Alle paar Schritte blieb er stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um <u>u</u>ber die K<u>u</u>pfe der Menschen hinwegzuschnuppern, roch zun<u>u</u>chst nichts vor lauter Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, st<u>u</u>rker sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen F<u>u</u>hrte, tauchte unter, w<u>u</u>hlte sich weiter durch die Menge der Gaffer und der Feuerwerker, die alle Augenblicke ihre Fackeln an die Lunten der Raketen hielten, verlor im beißenden Qualm des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß und rempelte weiter und w<u>u</u>hlte sich fort, erreichte nach endlosen Minuten das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einm<u>u</u>ndung der Rue de Seine... Hier blieb er stehen, sammelte sich und roch. Er hatte ihn. Er hielt ihn fest. Wie ein Band kam der Geruch die Rue de Seine herabgezogen, unverwechselbar deutlich, dennoch weiterhin sehr zart und sehr fein. Grenouille sp<u>u</u>rte, wie sein Herz pochte, und er wusste, dass es nicht die Anstrengung des Laufens war, die es pochen machte, sondern seine erregte Hilflosigkeit vor der Gegenwart dieses Geruches. Er versuchte, sich an irgend etwas Vergleichbares zu erinnern und musste alle Vergleiche verwerfen. Dieser Geruch hatte Frische; aber nicht die Frische der Limetten oder Pomeranzen, nicht die Frische von Myrrhe oder Zimtblatt oder Krauseminze oder Birken oder Kampfer oder Kiefernnadeln, nicht von Mairegen oder Frostwind oder von Quellwasser..., und er hatte zugleich W<u>u</u>rme; aber nicht wie Bergamotte, Zypresse oder Moschus, nicht wie Jasmin und Narzisse, nicht wie Rosenholz und nicht wie Iris... Dieser Geruch war eine Mischung aus beidem, aus Fl<u>u</u>chtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit, und dazu gering und schwach und dennoch solid und tragend, wie ein St<u>u</u>ck d<u>u</u>nner schillernder Seide... und auch wieder nicht wie Seide, sondern wie honigs<u>u</u>ße Milch, in der sich Biskuit l<u>u</u>st - was j a nun beim besten Willen nicht zusammenging: Milch und Seide! Unbegreiflich dieser Duft, unbeschreiblich, in keiner Weise einzuordnen, es durfte ihn eigentlich gar nicht geben. Und doch war er da in herrlichster Selbstverst<u>u</u>ndlichkeit. Grenouille folgte ihm, mit b<u>u</u>nglich pochendem Herzen, denn er ahnte, dass nicht er dem Duft folgte, sondern dass der Duft ihn gefangengenommen hatte und nun unwiderstehlich zu sich zog. Er ging die Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die H<u>u</u>user standen leer und still. Die Leute waren unten am Fluss beim Feuerwerk. Kein hektischer Menschengeruch st<u>u</u>rte, kein beißender Pulvergestank. Die Straße duftete nach den <u>u</u>blichen D<u>u</u>ften von Wasser, Kot, Ratten und Gem<u>u</u>seabfall. Dar<u>u</u>ber aber schwebte zart und deutlich das Band, das Grenouille leitete. Nach wenigen Schritten war das wenige Nachtlicht des Himmels von den hohen H<u>u</u>usern verschluckt, und Grenouille ging weiter im Dunkeln. Er brauchte nichts zu sehen. Der Geruch f<u>u</u>hrte ihn sicher. Nach f<u>u</u>nfzig Metern bog er rechts ab in die Rue des Marais, eine wom<u>u</u>glich noch dunklere, kaum eine Armspanne breite Gasse. Sonderbarerweise wurde der Duft nicht sehr viel st<u>u</u>rker. Er wurde nur reiner, und dadurch, durch seine immer gr<u>u</u>ßer werdende Reinheit, bekam er eine immer m<u>u</u>chtigere Anziehungskraft. Grenouille ging ohne eigenen Willen. An einer Stelle zog ihn der Geruch hart nach rechts, scheinbar mitten in die Mauer eines Hauses hinein. Ein niedriger Gang tat sich auf, der in den Hinterhof f<u>u</u>hrte. Traumwandlerisch durchschritt Grenouille diesen Gang, durchschritt den Hinterhof, bog um eine Ecke, gelangte in einen zweiten, kleineren Hinterhof, und hier nun endlich war Licht: Der Platz umfasste nur wenige Schritte im Geviert. An der Mauer sprang ein schr<u>u</u>ges Holzdach vor. Auf einem Tisch darunter klebte eine Kerze. Ein M<u>u</u>dchen saß an diesem Tisch und putzte Mirabellen. Sie nahm die Fr<u>u</u>chte aus einem Korb zu ihrer Linken, entstielte und entkernte sie mit einem Messer und ließ sie in einen Eimer fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille blieb stehen. Er wusste sofort, was die Quelle des Duftes war, den er <u>u</u>ber eine halbe Meile hinweg bis ans andere Ufer des Flusses gerochen hatte: nicht dieser schmuddelige Hinterhof, nicht die Mirabellen. Die Quelle war das M<u>u</u>dchen. F<u>u</u>r einen Moment war er so verwirrt, dass er tats<u>u</u>chlich dachte, er habe in seinem Leben noch nie etwas so Sch<u>u</u>nes gesehen wie dieses M<u>u</u>dchen. Dabei sah er nur ihre Silhouette von hinten gegen die Kerze. Er meinte nat<u>u</u>rlich, er habe noch nie so etwas Sch<u>u</u>nes gerochen. Aber da er doch Menschenger<u>u</u>che kannte, viele Tausende, Ger<u>u</u>che von M<u>u</u>nnern, Frauen, Kindern, wollte er nicht begreifen, dass ein so exquisiter Duft einem Menschen entstr<u>u</u>men konnte. <u>u</u>blicherweise rochen Menschen nichtssagend oder miserabel. Kinder rochen fad, M<u>u</u>nner urin<u>u</u>s, nach scharfem Schweiß und K<u>u</u>se, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus uninteressant, abstoßend rochen die Menschen... Und so geschah es, dass Grenouille zum ersten Mal in seinem Leben seiner Nase nicht traute und die Augen zuhilfe nehmen musste, um zu glauben, was er roch. Die Sinnesverwirrung dauerte freilich nicht lange. Es war tats<u>u</u>chlich nur ein Augenblick, den er ben<u>u</u>tigte, um sich optisch zu vergewissern und sich alsdann desto r<u>u</u>ckhaltloser den Wahrnehmungen seines Geruchssinns hinzugeben. Nun <i>roch</i> er, dass sie ein Mensch war, roch den Schweiß ihrer Achseln, das Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und roch mit gr<u>u</u>ßtem Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie Meerwind, der Talg ihrer Haare so s<u>u</u>ß wie Nuss<u>u</u>l, ihr Geschlecht wie ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenbl<u>u</u>te..., und die Verbindung all dieser Komponenten ergab ein Parfum so reich, so balanciert, so zauberhaft, dass alles, was Grenouille bisher an Parfums gerochen, alles, was er selbst in seinem Innern an Geruchsgeb<u>u</u>uden spielerisch erschaffen hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend D<u>u</u>fte schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das h<u>u</u>here Prinzip, nach dessen Vorbild sich die <u>u</u>ndern ordnen mussten. Er war die reine Sch<u>u</u>nheit. F<u>u</u>r Grenouille stand fest, dass ohne den Besitz des Duftes sein Leben keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte zarteste Ver<u>u</u>stelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe Erinnerung an ihn gen<u>u</u>gte nicht. Er wollte wie mit einem Pr<u>u</u>gestempel das apotheotische Parfum ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser Zauberformel denken, leben, riechen. Er ging langsam auf das M<u>u</u>dchen zu, immer n<u>u</u>her, trat unter das Vordach und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie h<u>u</u>rte ihn nicht. Sie hatte rote Haare und trug ein graues Kleid ohne <u>u</u>rmel. Ihre Arme waren sehr weiß und ihre H<u>u</u>nde gelb vom Saft der aufgeschnittenen Mirabellen. Grenouille stand <u>u</u>ber sie gebeugt und sog ihren Duft jetzt v<u>u</u>llig unvermischt ein, so wie er aufstieg von ihrem Nacken, ihren Haaren, aus dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in sich hineinstr<u>u</u>men wie einen sanften Wind. Ihm war noch nie so wohl gewesen. Dem M<u>u</u>dchen aber wurde es k<u>u</u>hl. Sie sah Grenouille nicht. Aber sie bekam ein banges Gef<u>u</u>hl, ein sonderbares Fr<u>u</u>steln, wie man es bekommt, wenn einen pl<u>u</u>tzlich eine alte abgelegte Angst bef<u>u</u>llt. Ihr war, als herrsche da ein kalter Zug in ihrem R<u>u</u>cken, als habe jemand eine T<u>u</u>re aufgestoßen, die in einen riesengroßen kalten Keller f<u>u</u>hrt. Und sie legte ihr K<u>u</u>chenmesser weg, zog die Arme an die Brust und wandte sich um. Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte, ihr seine H<u>u</u>nde um den Hals zu legen. Sie versuchte keinen Schrei, r<u>u</u>hrte sich nicht, tat keine abwehrende Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an. Ihr feines sommersprossen<u>u</u>bersprenkeltes Gesicht, den roten Mund, die großen funkelnd gr<u>u</u>nen Augen sah er nicht, denn er hielt seine Augen fest geschlossen, w<u>u</u>hrend er sie w<u>u</u>rgte, und hatte nur die eine Sorge, von ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren. Als sie tot war, legte er sie auf den Boden mitten in die Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und der Duftstrom wurde zur Flut, sie <u>u</u>berschwemmte ihn mit ihrem Wohlgeruch. Er st<u>u</u>rzte sein Gesicht auf ihre Haut und fuhr mit weitgebl<u>u</u>hten N<u>u</u>stern von ihrem Bauch zurBrust, zum Hals, in ihr Gesicht und durch die Haare und zur<u>u</u>ck zum Bauch, hinab an ihr Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge. Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr hocken, um sich zu versammeln, denn er war <u>u</u>bervoll von ihr. Er wollte nichts von ihrem Duft versch<u>u</u>tten. Erst musste er die innern Schotten dicht verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus...... Um diese Zeit kamen die ersten Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue de Seine herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits Augustins hin<u>u</u>ber, die parallel zur Rue de Seine zum Fluss f<u>u</u>hrte. Wenig sp<u>u</u>ter entdeckte man die Tote. Geschrei erhob sich. Fackeln wurden angez<u>u</u>ndet. Die Wache kam. Grenouille war l<u>u</u>ngst am anderen Ufer. In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Gl<u>u</u>ck sei, hatte er in seinem Leben bisher nicht erfahren. Er kannte allenfalls sehr seltene Zust<u>u</u>nde von dumpfer Zufriedenheit. Jetzt aber zitterte er vor Gl<u>u</u>ck und konnte vor lauter Gl<u>u</u>ckseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als w<u>u</u>rde er zum zweiten Mal geboren, nein, nic ht zum zweiten, zum ersten Mal, denn bisher hatte er bloß animalisch existiert in h<u>u</u>chst nebul<u>u</u>ser Kenntnis seiner selbst. Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er endlich, wer er wirklich sei: n<u>u</u>mlich nichts anderes als ein Genie; und dass sein Leben Sinn und Zweck und Ziel und h<u>u</u>here Bestimmung habe: n<u>u</u>mlich keine geringere, als die Welt der D<u>u</u>fte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle Mittel besitze: n<u>u</u>mlich seine exquisite Nase, sein ph<u>u</u>nomenales Ged<u>u</u>chtnis und, als Wichtigstes von allem, den pr<u>u</u>genden Duft dieses M<u>u</u>dchens aus der Rue des Marais, in welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen großen Duft, was ein Parfum ausmachte: Zartheit, Kraft, Dauer, Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Sch<u>u</u>nheit. Er hatte den Kompass f<u>u</u>r sein k<u>u</u>nftiges Leben gefunden. Und wie alle genialen Scheusale, denen durch ein <u>u</u>ußeres Ereignis ein gerades Geleis ins Spiralenchaos ihrer Seelen gelegt wird, wich Grenouille von dem, was er als Richtung seines Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht mehr ab. Jetzt wurde ihm klar, weshalb er so z<u>u</u>h und verbissen am Leben hing: Er musste ein Sch<u>u</u>pfer von D<u>u</u>ften sein. Und nicht nur irgendeiner. Sondern der gr<u>u</u>ßte Parfumeur aller Zeiten. Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum, das riesige Tr<u>u</u>mmerfeld seiner Erinnerung. Er pr<u>u</u>fte die Millionen und Abermillionen von Duftbaukl<u>u</u>tzen und brachte sie in eine systematische Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches zu Ambrosischem. Im Verlauf der n<u>u</u>chsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der D<u>u</u>fte immer reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgeb<u>u</u>ude aufzurichten: H<u>u</u>user, Mauern, Stufen, T<u>u</u>rme, Keller, Zimmer, geheime Gem<u>u</u>cher... eine t<u>u</u>glich sich erweiternde, t<u>u</u>glich sich versch<u>u</u>nende und perfekter gef<u>u</u>gte innere Festung der herrlichsten Duftkompositionen. Dass am Anfang dieser Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn <u>u</u>berhaupt bewusst, vollkommen gleichg<u>u</u>ltig. An das Bild des M<u>u</u>dchens aus der Rue des Marais, an ihr Gesicht, an ihren K<u>u</u>rper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip ihres Dufts. <i>9</i> Zu jener Zeit gab es in Paris ein gutes Dutzend Parfumeure. Sechs von ihnen lebten am rechten Ufer, sechs am linken Ufer, und einer akkurat dazwischen, n<u>u</u>mlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer mit der Ile de la Cit<u>u</u> verband. Diese Br<u>u</u>cke war zu beiden Seiten so dicht mit vierst<u>u</u>ckigen H<u>u</u>usern bebaut, dass man beim <u>u</u>berschreiten den Fluss an keiner Stelle zu Gesicht bekam, sondern sich auf einer ganz normalen, fest fundierten und obendrein noch <u>u</u>ußerst eleganten Straße w<u>u</u>hnte. In der Tat galt der Pont au Change f<u>u</u>r eine der feinsten Gesch<u>u</u>ftsadressen der Stadt. Hier befanden sich die renommiertesten L<u>u</u>den, hier saßen die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Per<u>u</u>ckenmacher und Taschner, die Verfertiger feinster Dessous und Str<u>u</u>mpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelh<u>u</u>ndler, Epaulettensticker, Goldkn<u>u</u>pfegießer und Bankiers. Und hier lag auch das Gesch<u>u</u>fts- und Wohnhaus des Parfumeurs und Handschuhmachers Giuseppe Baldini. <u>u</u>ber sein Schaufenster spannte sich ein pr<u>u</u>chtiger gr<u>u</u>nlackierter Baldachin, daneben hing Baldinis Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon, aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der T<u>u</u>re lag ein roter Teppich, der ebenfalls Baldinis Wappen trug, als goldene Stickerei. <u>u</u>ffnete man die T<u>u</u>re, dann erklang ein persisches Glockenspiel, und zwei silberne Reiher begannen, aus ihren Schn<u>u</u>beln Veilchenwasser in eine vergoldete Schale zu speien, die ihrerseits die Flakonform von Baldinis Wappen besaß. Hinter dem Kontor aus hellem Buchsbaum aber stand Baldini selbst, alt und starr wie eine S<u>u</u>ule, in silberbepuderter Per<u>u</u>cke und blauem goldbetresstem Rock. Eine Wolke von Frangipaniwasser, mit dem er sich allmorgendlich bespr<u>u</u>hte, umgab ihn geradezu sichtbar und r<u>u</u>ckte seine Person in nebelhafte Ferne. In seiner Unbeweglichkeit sah er aus wie sein eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien - beides geschah nicht allzu oft -, w<u>u</u>rde pl<u>u</u>tzlich Leben in ihn kommen, w<u>u</u>rde seine Gestalt in sich zusammensinken, klein und wuselig werden und unter vielen B<u>u</u>cklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen, so schnell, dass die Frangipaniwasserwolke kaum zu folgen verm<u>u</u>chte, und den Kunden bitten, Platz zu nehmen zur Vorf<u>u</u>hrung erlesenster D<u>u</u>fte und Kosmetika. Baldini hatte deren Tausende. Sein Angebot reichte von Essences absolues, Bl<u>u</u>ten<u>u</u>len, Tinkturen, Ausz<u>u</u>gen, Sekreten, Balsamen, Harzen und sonstigen Drogen in trockener, fl<u>u</u>ssiger oder wachsartiger Form, <u>u</u>ber diverse Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes, Sachets, Bandolinen, Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen und Sch<u>u</u>nheitspfl<u>u</u>sterchen bis hin zu Badew<u>u</u>ssern, Lotionen, Riechsalzen, Toilettenessigen und einer Unzahl echter Parfums. Doch Baldini begn<u>u</u>gte sich nicht mit diesen Produkten der klassischen Sch<u>u</u>nheitspflege. Sein Ehrgeiz bestand darin, in seinem Laden alles zu versammeln, was irgendwie duftete oder in irgendeiner Weise dem Duft diente. Und so fanden sich neben R<u>u</u>ucherpastillen, R<u>u</u>ucherkerzen und R<u>u</u>ucherb<u>u</u>ndern auch s<u>u</u>mtliche Gew<u>u</u>rze vom Anissamen bis zur Zimtrinde, Sirups, Lik<u>u</u>re und Obstw<u>u</u>sser, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige, Kaffees, Tees, getrocknete und kandierte Fr<u>u</u>chte, Feigen, Bonbons, Schokoladen, Maronen, ja sogar eingelegte Kapern, Gurken und Zwiebeln und marinierter Thunfisch. Und dann wieder duftender Siegellack, parfumiertes Briefpapier, nach Rosen<u>u</u>l riechende Liebestinte, Schreibmappen aus spanischem Leder, Federhalter aus weißem Sandelholz, K<u>u</u>stchen und Truhen aus Zedernholz, Potpourris und Schalen f<u>u</u>r Bl<u>u</u>tenbl<u>u</u>tter, Weihrauchbeh<u>u</u>lter aus Messing, Flakons und Tiegelchen aus Kristall mit geschliffenen St<u>u</u>pseln aus Bernstein, riechende Handschuhe, Taschent<u>u</u>cher, mit Muskatbl<u>u</u>te gef<u>u</u>llte N<u>u</u>hnadelkissen und moschusbedampfte Tapeten, die ein Zimmer l<u>u</u>nger als einhundert Jahre mit Duft erf<u>u</u>llen konnten. Nat<u>u</u>rlich hatten all diese Waren nicht im pomp<u>u</u>sen, zur Straße (oder zur Br<u>u</u>cke) hin gelegenen Laden Platz, und so mussten, in Ermanglung eines Kellers, nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste und zweite Stock sowie fast s<u>u</u>mtliche zum Fluss hin gelegenen R<u>u</u>ume des Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon war, dass im Hause Baldini ein unbeschreibliches Chaos von D<u>u</u>ften herrschte. So erlesen die Qualit<u>u</u>t der einzelnen Produkte war - denn Baldini kaufte nur allererste Qualit<u>u</u>t -, so unertr<u>u</u>glich war ihr geruchlicher Zusammenklang, gleich einem tausendk<u>u</u>pfigen Orchester, in welchem jeder Musiker eine andre Melodie fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren gegen dieses Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja s<u>u</u>mtlich schwerh<u>u</u>rig sind, und auch seine Frau, die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen ein weiteres Vordringen der Lagerr<u>u</u>ume verteidigte, nahm die vielen Ger<u>u</u>che kaum noch als st<u>u</u>rend wahr. Anders der Kunde, der zum ersten Mal Baldinis Laden betrat. Ihm schlug das herrschende Duftgemisch wie eine Faust ins Gesicht, machte ihn, je nach Konstitution, exaltiert oder benommen, verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart, dass er oft nicht mehr wusste, weshalb er <u>u</u>berhaupt gekommen war. Laufburschen vergaßen ihre Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen halb hysterischen, halb klaustrophobischen Anfall, sank in Ohnmacht und konnte nur noch mit sch<u>u</u>rfstem Riechsalz aus Nelken<u>u</u>l, Ammoniak und Kampfersprit wiederhergestellt werden. Unter diesen Umst<u>u</u>nden war es eigentlich nicht verwunderlich, dass das persische Glockenspiel von Giuseppe Baldinis Ladent<u>u</u>re immer seltener erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien. <i>10</i> "Chenier!" rief Baldini hinter dem Kontor hervor, wo er seit Stunden s<u>u</u>ulenstarr gestanden und die T<u>u</u>re angestarrt hatte, "ziehen Sie Ihre Per<u>u</u>cke an!" Und zwischen Oliven<u>u</u>lf<u>u</u>ssern und h<u>u</u>ngenden Schinken aus Bayonne erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas j<u>u</u>nger als dieser, aber auch schon ein alter Mann, und kam nach vorn in die feinere Abteilung des Ladens. Er zog seine Per<u>u</u>cke aus der Rocktasche und st<u>u</u>lpte sie sich <u>u</u>ber. "Sie gehen aus, Herr Baldini?" "Nein", sagte Baldini, "ich werde mich f<u>u</u>r einige Stunden in mein Arbeitszimmer zur<u>u</u>ckziehen und w<u>u</u>nsche, absolut nicht gest<u>u</u>rt zu werden." "Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum." baldini So ist es. Zur Beduftung einer spanischen Haut f<u>u</u>r den Grafen Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt etwas wie... wie ... ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und stammt angeblich von diesem... diesem St<u>u</u>mper aus der Rue Saint-Andre des Arts, diesem... diesem... chenier Pelissier. baldini Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der St<u>u</u>mper. >Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es? chenier Jaja. Dochdoch. Man riecht es jetzt <u>u</u>berall. An jeder Straßenecke riecht man es. Aber wenn Sie mich fragen - nichts Besonderes! Es kann sich bestimmt in keiner Weise messen mit dem, welches Sie komponieren werden, Herr Baldini. baldini Nat<u>u</u>rlich nicht. chenier Es riecht <u>u</u>ußerst gew<u>u</u>hnlich, dieses >Amor und Psyche<. baldini Vulg<u>u</u>r? chenier Durchaus vulg<u>u</u>r, wie alles von Pelissier. Ich glaube, es ist Limetten<u>u</u>l darin. baldini Wirklich? Was noch? chenier Orangenbl<u>u</u>tenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur. Aber ich kann es nicht sicher sagen. baldini Es ist mir auch v<u>u</u>llig gleichg<u>u</u>ltig. chenier Nat<u>u</u>rlich. baldini Es ist mir schnurzegal, was der St<u>u</u>mper Pelissier in sein Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen! chenier Da haben Sie Recht, Monsieur. baldini Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen, erarbeite ich meine Parfums. chenier Ich weiß, Monsieur. baldini Geb<u>u</u>re sie allein aus mir! chenier Ich weiß. baldini Und ich gedenke, f<u>u</u>r den Grafen Verhamont etwas zu kreieren, was wirklich Furore macht. chenier Davon bin ich <u>u</u>berzeugt, Herr Baldini. baldini Sie <u>u</u>bernehmen den Laden. Ich brauche Ruhe. Halten Sie mir alles vom Leibe, Chenier... Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es seinem Alter zukam, gebeugt, ja fast wie gepr<u>u</u>gelt, davon und stieg langsam die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm den Platz hinterm Kontor ein, stellte sich genauso hin, wie zuvor der Meister gestanden hatte, und schaute mit starrem Blick zur T<u>u</u>re. Er wusste, was in den n<u>u</u>chsten Stunden passieren w<u>u</u>rde: n<u>u</u>mlich gar nichts im Laden, und oben im Arbeitszimmer Baldinis die <u>u</u>bliche Katastrophe. Baldini w<u>u</u>rde seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtr<u>u</u>nkten Rock ausziehen, sich an den Schreibtisch setzen und auf eine Eingebung warten. Diese Eingebung w<u>u</u>rde nicht kommen. Er w<u>u</u>rde hierauf an den Schrank mit den Hunderten von Probefl<u>u</u>schchen eilen und aufs Geratewohl etwas zusammenmixen. Diese Mischung w<u>u</u>rde missraten. Er w<u>u</u>rde fluchen, das Fenster aufreißen und sie in den Fluss hinunterwerfen. Er w<u>u</u>rde etwas anderes probieren, auch das w<u>u</u>rde missraten, er w<u>u</u>rde nun schreien und toben und in dem schon bet<u>u</u>ubend riechenden Zimmer einen Heulkrampf bekommen. Er w<u>u</u>rde gegen sieben Uhr abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen: "Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum nicht geb<u>u</u>ren, ich kann die spanische Haut f<u>u</u>r den Grafen nicht liefern, ich bin verloren, ich bin innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen Sie mir zu sterben!" Und Chenier w<u>u</u>rde vorschlagen, dass man zu Pelissier schickte um eine Flasche >Amor und Psyche<, und Baldini w<u>u</u>rde zustimmen unter der Bedingung, dass kein Mensch von dieser Schande erf<u>u</u>hre, Chenier w<u>u</u>rde schw<u>u</u>ren, und nachts w<u>u</u>rden sie heimlich das Leder f<u>u</u>r den Grafen Verhamont mit dem fremden Parfum beduften. So w<u>u</u>rde es sein und nicht anders, und Chenier w<u>u</u>nschte nur, er h<u>u</u>tte das ganze Theater schon hinter sich. Baldini war kein großer Parfumeur mehr. Ja, fr<u>u</u>her, in seiner Jugend, vor dreißig, vierzig Jahren, da hatte er >Rose des S<u>u</u>dens< erfunden und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große D<u>u</u>fte, denen er sein Verm<u>u</u>gen verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn er <u>u</u>berhaupt noch einmal einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es vollkommen demodiertes, unverk<u>u</u>ufliches Zeug, das sie ein Jahr sp<u>u</u>ter zehnfach verd<u>u</u>nnten und als Springbrunnenwasserzusatz verh<u>u</u>kerten. Schade um ihn, dachte Chenier und <u>u</u>berpr<u>u</u>fte den Sitz seiner Per<u>u</u>cke im Spiegel, schade um den alten Baldini; schade um sein sch<u>u</u>nes Gesch<u>u</u>ft, denn er wird's herunterbringen; und schade um mich, denn bis er's heruntergebracht haben wird, bin ich zu alt, um es zu <u>u</u>bernehmen... <i>11</i> Zwar hatte Giuseppe Baldini seinen duftenden Rock ausgezogen, aber nur aus alter Gewohnheit. Der Duft des Frangipaniwassers st<u>u</u>rte ihn schon l<u>u</u>ngst nicht mehr beim Riechen, er trug ihn ja schon seit Jahrzehnten mit sich herum und nahm ihn <u>u</u>berhaupt nicht mehr wahr. Er hatte auch die T<u>u</u>re des Arbeitszimmers zugeschlossen und sich Ruhe ausgebeten, aber er setzte sich nicht an den Schreibtisch, um zu gr<u>u</u>beln und auf eine Eingebung zu warten, denn er wusste viel besser als Chenier, dass er keine Eingebung haben w<u>u</u>rde; er hatte n<u>u</u>mlich noch nie eine gehabt. Zwar war er alt und verbraucht, das stimmte, und auch kein großer Parfumeur mehr; aber er wusste, dass er im Leben noch nie einer gewesen war. >Rose des S<u>u</u>dens< hatte er von seinem Vater geerbt und das Rezept f<u>u</u>r >Baldinis galantes Bouquet< einem durchreisenden Genueser Gew<u>u</u>rzh<u>u</u>ndler abgekauft. Die <u>u</u>brigen seiner Parfums waren altbekannte Gemische. Erfunden hatte er noch nie etwas. Er war kein Erfinder. Er war ein sorgf<u>u</u>ltiger Verfertiger von bew<u>u</u>hrten Ger<u>u</u>chen, wie ein Koch war er, der mit Routine und guten Rezepten eine große K<u>u</u>che macht und doch noch nie ein eigenes Gericht erfunden hat. Den ganzen Hokuspokus mit Labor und Experimentieren und Inspiration und Geheimnistuerei f<u>u</u>hrte er nur auf, weil das zum st<u>u</u>ndischen Berufsbild eines Maitre Parfumeur et Gantier geh<u>u</u>rte. Ein Parfumeur, das war ein halber Alchimist, der Wunder schuf, so wollten es die Leute - gut so! Dass seine Kunst ein Handwerk war wie jedes andere auch, das wusste nur er selbst, und das war sein Stolz. Er wollte gar kein Erfinder sein. Erfindung war ihm sehr suspekt, denn sie bedeutete immer den Bruch einer Regel. Er dachte auch gar nicht daran, f<u>u</u>r den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. Er w<u>u</u>rde sich allerdings auch nicht am Abend von Chenier <u>u</u>berreden lassen, >Amor und Psyche< von Pelissier zu besorgen. Er hatte es schon. Da stand es, auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, in einem kleinen Glasflakon mit geschliffenem St<u>u</u>psel. Schon vor ein paar Tagen hatte er es gekauft. Nat<u>u</u>rlich nicht pers<u>u</u>nlich. Er konnte doch nicht pers<u>u</u>nlich zu Pelissier gehen und ein Parfum kaufen! Sondern durch einen Mittelsmann, und dieser wieder durch einen Mittelsmann... Vorsicht war geboten. Denn Baldini wollte das Parfum nicht einfach zum Beduften der spanischen Haut verwenden, dazu h<u>u</u>tte die geringe Menge auch gar nicht ausgereicht. Er hatte etwas Schlimmeres im Sinn: Er wollte es kopieren. Das war <u>u</u>brigens nicht verboten. Es war nur außerordentlich unfein. Das Parfum eines Konkurrenten heimlich nachzumachen und unter eigenem Namen zu verkaufen, war schrecklich unfein. Aber noch unfeiner war es, sich dabei ertappen zu lassen, und darum durfte Chenier nichts davon wissen, denn Chenier war geschw<u>u</u>tzig. Ach, wie schlimm, dass man sich als rechtschaffener Mann gezwungen sah, so krumme Wege zu gehen! Wie schlimm, dass man das Kostbarste, was man besaß, die eigene Ehre, auf so sch<u>u</u>bige Weise befleckte! Aber was sollte er tun? Immerhin war der Graf Verhamont ein Kunde, den er keinesfalls verlieren durfte. Er hatte ja ohnehin kaum noch einen Kunden. Er musste der Kundschaft ja schon wieder nachlaufen wie zu Beginn der zwanziger Jahre, als er am Anfang seiner Karriere stand und mit dem Bauchladen durch die Straßen zog. Weiß Gott kam er, Giuseppe Baldini, Inhaber der gr<u>u</u>ßten Duftstoffhandlung von Paris, in bester Gesch<u>u</u>ftslage, finanziell nur noch <u>u</u>ber die Runden, wenn er mit dem K<u>u</u>fferchen in der Hand Hausbesuche machte. Und das gefiel ihm gar nicht, denn er war schon weit <u>u</u>ber sechzig und hasste es, in kalten Vorzimmern zu warten und alten Marquisen Tausendblumenwasser und Vierr<u>u</u>uberessig vorzuf<u>u</u>hren oder ihnen eine Migr<u>u</u>nesalbe aufzuschwatzen. Außerdem herrschte in diesen Vorzimmern eine ganz ekelhafte Konkurrenz. Da war dieser Empork<u>u</u>mmling Brouet aus der Rue Dauphine, der von sich behauptete, er habe das gr<u>u</u>ßte Pomadenprogramm Europas; oder Calteau aus der Rue Mauconseil, der es zum Hoflieferanten der Comtesse von Artois gebracht hatte; oder dieser v<u>u</u>llig unberechenbare Antoine Pelissier aus der Rue Saint-Andre-des-Arts, der in jeder Saison einen neuen Duft lancierte, nach welchem die ganze Welt verr<u>u</u>ckt war. >So ein Parfum von Pelissier konnte den ganzen Markt in Unordnung bringen. War in einem Jahr Ungarisches Wasser in Mode, und hatte sich Baldini entsprechend mit Lavendel, Bergamotte und Rosmarin eingedeckt, um den Bedarf zu befriedigen - so kam Pelissier mit >Air de Musc< heraus, einem ultraschweren Moschusduft. Jeder Mensch musste pl<u>u</u>tzlich tierisch riechen, und Baldini konnte sein Rosmarin zu Haarwasser verarbeiten und den Lavendel in Riechs<u>u</u>ckchen n<u>u</u>hen. Hatte er dagegen f<u>u</u>r das n<u>u</u>chste Jahr entsprechende Mengen an Moschus, Zibet und Castoreum bestellt, so fiel es Pelissier ein, ein Parfum namens >Waldblume< zu kreieren, was prompt ein Erfolg wurde. Und hatte Baldini endlich in n<u>u</u>chtelangen Versuchen oder durch hohe Bestechungsgelder herausgefunden, woraus >Waldblumen< bestand - da trumpfte Pelissier schon wieder auf mit >T<u>u</u>rkische N<u>u</u>chte< oder >Lissabonner Duft< oder >Bouquet de la Cour< oder weiß der Teufel womit sonst. Dieser Mensch war auf jeden Fall in seiner z<u>u</u>gellosen Kreativit<u>u</u>t eine Gefahr f<u>u</u>r das ganze Gewerbe. Man w<u>u</u>nschte sich die Rigidit<u>u</u>t des alten Zunftrechts zur<u>u</u>ck. Man w<u>u</u>nschte sich die drakonischsten Maßnahmen gegen diesen Aus-Der-Reihe-T<u>u</u>nzer, gegen diesen Duftinflation<u>u</u>r. Das Patent geh<u>u</u>rte ihm entzogen, ein saftiges Berufsverbot auferlegt..., und <u>u</u>berhaupt sollte der Kerl erst einmal eine Lehre machen! Denn ein gelernter Parfumeur- und Handschuhmachermeister war er nicht, dieser Pelissier. Sein Vater war nichts als ein Essigsieder gewesen, und Essigsieder war auch Pelissier, nichts anderes. Und bloß weil er als Essigsieder berechtigt war, mit Spirituosen umzugehen, konnte er <u>u</u>berhaupt ins Gehege der echten Parfumeure einbrechen und darin herumw<u>u</u>ten wie ein Stinktier. - Wozu brauchte man in jeder Saison einen neuen Duft? War das n<u>u</u>tig? Das Publikum war fr<u>u</u>her auch sehr zufrieden gewesen mit Veilchenwasser und einfachen Blumenbouquets, die man vielleicht alle zehn Jahre einmal geringf<u>u</u>gig <u>u</u>nderte. Jahrtausendelang hatten die Menschen mit Weihrauch und Myrrhe, ein paar Balsamen, <u>u</u>len und getrockneten W<u>u</u>rzkr<u>u</u>utern vorlieb genommen. Und auch als sie gelernt hatten, mit Kolben und Alambic zu destillieren, vermittels Wasserdampf den Kr<u>u</u>utern, Blumen und H<u>u</u>lzern das duftende Prinzip in Form von <u>u</u>therischem <u>u</u>l zu entreißen, es mit eichenen Pressen aus Samen und Kernen und Fruchtschalen zu quetschen oder mit sorgsam gefilterten Fetten den Bl<u>u</u>tenbl<u>u</u>ttern zu entlocken, war die Zahl der D<u>u</u>fte noch bescheiden gewesen. Damals w<u>u</u>re eine Figur wie Pelissier gar nicht m<u>u</u>glich gewesen, denn damals brauchte es schon zur Erzeugung einer simplen Pomade F<u>u</u>higkeiten, von denen sich dieser Essigpanscher gar nichts tr<u>u</u>umen ließ. Man musste nicht nur destillieren k<u>u</u>nnen, man musste auch Salbenmacher sein und Apotheker, Alchimist und Handwerker, H<u>u</u>ndler, Humanist und G<u>u</u>rtner zugleich. Man musste Hammelnierenfett von jungem Rindertalg unterscheiden k<u>u</u>nnen und ein Viktoriaveilchen von einem solchen aus Parma. Man musste die lateinische Sprache beherrschen. Man musste wissen, wann der Heliotrop zu ernten ist und wann das Pelargonium bl<u>u</u>ht und dass die Bl<u>u</u>te des Jasmins mit aufgehender Sonne ihren Duft verliert. Von diesen Dingen hatte dieser Pelissier selbstredend keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte er Paris noch nie verlassen, in seinem Leben bl<u>u</u>henden Jasmin noch nie gesehen. Geschweige denn, dass er einen Schimmer von der gigantischen Schufterei besaß, deren es bedurfte, um aus hunderttausend Jasminbl<u>u</u>ten einen kleinen Klumpen Concrete oder ein paar Tropfen Essence Absolue herauszuwringen. Wahrscheinlich kannte er nur diese, kannte Jasmin nur als konzentrierte dunkelbraune Fl<u>u</u>ssigkeit, die in einem kleinen Fl<u>u</u>schchen neben vielen anderen Fl<u>u</u>schchen, aus denen er seine Modeparfums mixte, im Tresorschrank stand. Nein, eine Figur wie dieser Schn<u>u</u>sel Pelissier h<u>u</u>tte in den guten alten handwerklichen Zeiten kein Bein auf den Boden gebracht. Dazu fehlte ihm alles: Charakter, Bildung, Gen<u>u</u>gsamkeit und der Sinn f<u>u</u>r z<u>u</u>nftische Subordination. Seine parfumistischen Erfolge verdankte er einzig und allein einer Entdeckung, die vor nunmehr zweihundert Jahren der geniale Mauritius Frangipani - ein Italiener <u>u</u>brigens! - gemacht hatte und die darin bestand, dass Duftstoffe in Weingeist l<u>u</u>slich sind. Indem Frangipani seine Riechp<u>u</u>lverchen mit Alkohol vermischte und damit ihren Duft auf eine fl<u>u</u>chtige Fl<u>u</u>ssigkeit <u>u</u>bertrug, hatte er den Duft befreit von der Materie, hatte den Duft vergeistigt, den Duft als reinen Duft erfunden, kurz: das Parfum erschaffen. Was f<u>u</u>r eine Tat! Welch epochale Leistung! Vergleichbar wirklich nur den gr<u>u</u>ßten Errungenschaften des Menschengeschlechts wie der Erfindung der Schrift durch die Assyrer, der euklidischen Geometrie, den Ideen des Plato und der Verwandlung von Trauben in Wein durch die Griechen. Eine wahrhaft prometheische Tat! Und doch, wie alle großen Geistestaten nicht nur Licht, sondern auch Schatten werfen und der Menschheit neben Wohltaten auch Verdruss und Elend bereiten, so hatte leider auch die herrliche Entdeckung Frangipanis <u>u</u>ble Folgen: Denn nun, da man gelernt hatte, den Geist der Blumen und Kr<u>u</u>uter, der H<u>u</u>lzer, Harze und der tierischen Sekrete in Tinkturen festzubannen und auf Fl<u>u</u>schchen abzuf<u>u</u>llen, entglitt die Kunst des Parfumierens nach und nach den wenigen universalen handwerklichen K<u>u</u>nnern und stand Quacksalbern offen, sofern sie nur eine leidlich feine Nase besaßen, wie zum Beispiel diesem Stinktier Pelissier. Ohne sich darum zu bek<u>u</u>mmern, wie der wunderbare Inhalt seiner Fl<u>u</u>schchen je entstanden war, konnte er einfach seinen olfaktorischen Launen folgen und zusammenmischen, was ihm gerade einfiel oder was das Publikum gerade w<u>u</u>nschte. Bestimmt besaß dieser Bastard Pelissier mit seinen f<u>u</u>nfunddreißig Jahren schon jetzt ein gr<u>u</u>ßeres Verm<u>u</u>gen als er, Baldini, es sich in der dritten Generation durch harte beharrliche Arbeit endlich angeh<u>u</u>uft hatte. Und Pelissiers nahm t<u>u</u>glich zu, w<u>u</u>hrend seins, Baldinis, sich t<u>u</u>glich verminderte. So etwas w<u>u</u>re fr<u>u</u>her doch gar nicht m<u>u</u>glich gewesen! Dass ein angesehener Handwerker und eingef<u>u</u>hrter <i>Commergant</i> um seine schiere Existenz zu k<u>u</u>mpfen hatte, das gab es doch erst seit wenigen Jahrzehnten! Seitdem <u>u</u>berall und in allen Bereichen die hektische Neuerungssucht ausgebrochen ist, dieser hemmungslose Tatendrang, diese Experimentierwut, diese Großmannssucht im Handel, im Verkehr und in den Wissenschaften! Oder der Geschwindigkeitswahnsinn! Wozu brauchte man die vielen neuen Straßen, die <u>u</u>berall gebuddelt wurden, und die neuen Br<u>u</u>cken? Wozu? War es von Vorteil, wenn man bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Wem war daran gelegen? Wem n<u>u</u>tzte es? Oder <u>u</u>ber den Atlantik zu fahren, in einem Monat nach Amerika zu rasen - als w<u>u</u>re man nicht jahrtausendelang sehr gut ohne diesen Kontinent ausgekommen. Was hatte der zivilisierte Mensch im Urwald der Indianer verloren oder bei den Negern? Sogar nach Lappland gingen sie, das lag im Norden, im ewigen Eise, wo Wilde lebten, die rohe Fische fraßen. Und noch einen weiteren Kontinent wollten sie entdecken, der angeblich in der S<u>u</u>dsee la