in Nachdenken, und ich
hærte ihn einen hebr¤ischen Satz murmeln: "Lischuos¨cho Kiwisi Adoschem."
Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:
"Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich wach
gemacht. Im Psalm David heiŸt es:
"Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist
es, welche diese Ver¤nderung gemacht hat."
Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerst¤tten, so w¤hnen sie, sie
h¤tten den Schlaf abgeschìttelt, und wissen nicht, daŸ sie ihren Sinnen zum
Opfer fallen und die Beute eines neuen viel tieferen Schlafes werden, als
der war, dem sie soeben entronnen sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und
das ist das, dem Du dich jetzt n¤herst. Sprich den Menschen davon und sie
werden sagen, Du seist krank, denn sie kænnen dich nicht verstehen. Darum
ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.
Sie fahren dahin wie ein Strom -
Und sind wie ein Schlaf,
Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird -
Das des Abends abgehauen wird und verdorret."
"Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht hat und mir
das Buch "Ibbur" gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?", wollte
ich fragen, doch Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte
fassen konnte:
"Nimm an, der Mann, der zu Dir kam und den Du den Golem nennst, bedeute
die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben. Jedes Ding auf
Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!
Wie denkst Du mit dem Auge? Jede Form, die Du siehst, denkst Du mit dem
Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst."
Ich fìhlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert gewesen,
sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in ein
uferloses Meer.
Ruhevoll fuhr Hillel fort:
"Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben; Schlaf und Tod
sind dasselbe."
"- - kann nicht mehr sterben?" - Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.
"Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und der Weg
des Todes. Du hast das Buch "Ibbur" genommen und darin gelesen. Deine Seele
ist schwanger geworden vom Geist des Lebens", hærte ich ihn reden.
"Hillel, Hillel, laŸ mich den Weg gehen, den alle Menschen gehen: den
des Sterbens!", schrie alles wild in mir auf.
Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.
"Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch den des
Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: "Ehe Gott die
Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie die
geistigen Leiden des Daseins und die Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen
die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich, und diese
strich Gott aus dem Buche der Lebenden." Du aber gehst einen Weg und hast
ihn aus freiem Willen beschritten, - wenn Du es jetzt auch selbst nicht mehr
weiŸt: Du bist berufen von dir selbst. Gr¤m' dich nicht: allm¤hlich, wenn
das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind
dasselbe."
Der freundliche, fast liebenswìrdige Ton, in den Hillels Rede
ausgeklungen war, gab mir meine Ruhe wieder, und ich fìhlte mich geborgen
wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiŸ.
Ich blickte auf und sah, daŸ mit einemmal viele Gestalten im Zimmer
waren und uns im Kreis umstanden: einige in weiŸen Sterbegew¤ndern, wie sie
die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an
den Schuhen - aber Hillel fuhr mir mit der Hand ìber die Augen, und die
Stube war wieder leer.
Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine brennende
Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten kænne in mein Zimmer.
Ich legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer kam
nicht, und ich geriet stattdessen in einen sonderbaren Zustand, der weder
Tr¤umen war, noch Wachen, noch Schlafen.
Das Licht hatte ich ausgelæscht, aber trotzdem war alles in der Stube
so deutlich, daŸ ich jede einzelne Form genau unterscheiden konnte. Dabei
fìhlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der gewissen qualvollen
Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in ¤hnlicher Verfassung befindet.
Nie vorher in meinem Leben w¤re ich imstande gewesen, so scharf und
pr¤zis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchstræmte
meine Nerven und ordnete meine Gedanken in Reih' und Glied wie eine Armee,
die nur auf meine Befehle wartete.
Ich brauchte bloŸ zu rufen, und sie traten vor mich und erfìllten, was
ich wìnschte.
Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein zu
schneiden versucht hatte, - ohne damit zurechtzukommen, da sich die vielen
zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den Gesichtszìgen decken
wollten, die ich mir vorgestellt, - fiel mir ein, und im Nu sah ich die
Læsung vor mir und wuŸte genau, wie ich den Stichel zu fìhren hatte, um der
Struktur der Masse gerecht zu werden.
Ehedem Sklave einer Horde phantastischer Eindrìcke und Traumgesichter,
von denen ich oft nicht gewuŸt: waren es Ideen oder Gefìhle, sah ich mich
jetzt plætzlich als Herr und Kænig im eigenen Reich.
Rechenexempel, die ich frìher nur mit „chzen und auf dem Papier h¤tte
bew¤ltigen kænnen, fìgten sich mir mit einem Mal im Kopf spielend zum
Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten F¤higkeit, das zu
sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: Ziffern, Formen,
Gegenst¤nde oder Farben. Und wenn es sich um Fragen handelte, die durch
derlei Werkzeuge nicht zu læsen waren: - philosophische Probleme und
¤hnliches -, so trat an Stelle des inneren Sehens das Gehær, wobei die
Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers ìbernahm.
Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloŸes Wort an meinem Ohr hatte
vorìbergehen lassen, stand wertgetr¤nkt bis in die tiefste Faser vor mir;
was ich "auswendig" gelernt, "erfaŸte" ich mit einem Schlag als mein
"Eigen"tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor
mir.
Die "hohen" Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzienr¤tlich
biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden bekleckst, mich von oben herab
behandelt hatten, - demìtig nahmen sie jetzt die Maske von der Fratze und
entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin Krìcken
fìr - einen noch frecheren Schwindel.
Tr¤umte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel
gesprochen?
Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte; und
selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich ìberzeugt hat,
daŸ der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, wìhlte
ich mich wieder in die Kissen.
Und wie ein Spìrhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen
R¤tsel, die mich rings umgaben.
Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurìckzugelangen, bis
zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus - glaubte ich - kænnte es
mir mæglich sein, jenen Teil meines Daseins zu ìberblicken, der fìr mich,
durch eine seltsame Fìgung des Schicksals in Finsternis gehìllt lag.
Aber wie sehr ich mich auch bemìhte, ich kam nicht weiter, als daŸ ich
mich wie einst in dem dìsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den
Torbogen den Trædlerladen des Aaron Wassertrum unterschied - als ob ich ein
Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt h¤tte, immer
gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiter zu schìrfen in
den Sch¤chten der Vergangenheit, da begriff ich plætzlich mit leuchtender
Klarheit, daŸ in meiner Erinnerung wohl die breite HeerstraŸe der
Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig
schmaler FuŸsteige, die wohl bisher den Hauptpfad st¤ndig begleitet hatten,
von mir jedoch nicht beachtet worden waren. "Woher", schrie es mir fast in
die Ohren, "hast du denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben
fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt - und Gravieren und all das
andere? Lesen, schreiben, sprechen - und essen - und gehen, atmen, denken
und fìhlen?"
Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein
Leben zurìck.
Ich zwang mich in verkehrter aber ununterbrochener Reihenfolge zu
ìberlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag
vor diesem und so weiter?
Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt - - jetzt! Jetzt!
Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem Vergessen
trennte, muŸte ìberflogen sein - da trat ein Bild vor mich, das ich auf der
Rìckwanderung meiner Gedanken ìbersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit
der Hand ìber die Augen - genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.
Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die Reihe
der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch
zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind's, die in die
verlorene Heimat zurìckfìhren: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift
in unserem Kærper eingraviert ist, und nicht die scheuŸliche Narbe, die die
Raspel des ¤uŸeren Lebens hinterlaŸt, - birgt die Læsung der letzten
Geheimnisse.
So, wie ich zurìckfinden kænnte in die Tage meiner jugend, wenn ich in
der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vorn¤hme von Z bis A, um dort
anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen, - so, begriff ich,
muŸte ich auch wandern kænnen in die andere ferne Heimat, die jenseits allen
Denkens liegt.
Eine Weltkugel an Arbeit w¤lzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules
trug eine Zeitlang das Gewælbe des Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein,
und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus der Sage entgegen. Und wie
Herkules wieder loskam durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: "LaŸ
mich nur einen Bausch von Stricken um den Kopf binden, damit mir die
entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt", so g¤be es vielleicht einen
dunklen Weg - d¤mmerte mir - von dieser Klippe weg.
Ein tiefer Argwohn, der Fìhrerschaft meiner Gedanken weiter blind zu
vertrauen, beschlich mich plætzlich. Ich legte mich gerade und verschloŸ mit
den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu werden durch die Sinne.
Um jeden Gedanken zu tæten.
Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur
einen Gedanken durch einen anderen vertreiben, und starb der eine, schon
m¤stete sich der n¤chste an seinem Fleische. Ich flìchtete in den brausenden
Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem FuŸ; ich verbarg
mich im H¤mmerwerk meines Herzens: nur eine kleine Weile, und sie hatten
mich entdeckt.
Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte:
"Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der Schlìssel zur Kunst des
Vergessens gehært unseren Brìdern, die den Pfad des Todes wandeln; du aber
bist geschw¤ngert vom Geiste des - Lebens."
Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin
auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, m¤chtig,
gleich einem Erdbeben, - der andere in unendlicher Ferne: der Hermaphrodit
auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.
Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand ìber meine
Augen, und ich schlummerte ein.
Schnee
"Mein lieber und verehrter Meister Pernath!
Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und hæchster Angst.
Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben, - oder
besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. - Ich h¤tte keine Ruhe
sonst.
Sagen Sie keiner Menschenseele, daŸ ich Ihnen geschrieben habe. Auch
nicht, wohin Sie heute gehen werden!
Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir - "neulich" - (Sie werden durch
diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie waren, erraten,
wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fìrchte mich, meinen Namen
darunter zu setzen) - so viel Vertrauen eingeflæŸt, und weiter, daŸ Ihr
lieber, seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat, - alles das gibt mir
den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen Menschen, der noch helfen
kann, zu wenden.
Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die Domkirche
auf dem Hradschin."
Eine Ihnen bekannte Dame.
Wohl eine Viertelstunde lang saŸ ich da und hielt den Brief in der
Hand. Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern nacht her
umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen, - weggeweht von dem
frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages. Ein junges Schicksal kam
l¤chelnd und verheiŸungsvoll - ein Frìhlingskind - auf mich zu. Ein
Menschenherz suchte Hilfe bei mir. - Bei mir! Wie sah meine Stube plætzlich
so anders aus! Der wurmstichige, geschnitzte Schrank blickte so zufrieden
drein, und die vier Sessel kamen mir vor wie alte Leute, die um den Tisch
herumsitzen und behaglich kichernd Tarock spielen.
Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum
und Glanz.
So sollte der morsche Baum noch Frìchte tragen?
Ich fìhlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher
schlafen gelegen in mir - verborgen gewesen in den Tiefen meiner Seele,
verschìttet von dem Geræll, das der Alltag h¤uft, wie eine Quelle losbricht
aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.
Und ich wuŸte so gewiŸ, wie ich den Brief in der Hand hielt, daŸ ich
wìrde helfen kænnen, um was es auch ginge. Der Jubel in meinem Herzen gab
mir die Sicherheit.
Wieder und wieder las ich die Stelle: "und weiter, daŸ Ihr lieber
seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat - - -"; - mir stand der Atem
still. Klang das nicht wie VerheiŸung: "Heute noch wirst du mit mir im
Paradiese sein?" Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe suchend, hielt
mir das Geschenk entgegen: die Rìckerinnerung, nach der ich dìrstete, -
wìrde mir das Geheimnis offenbaren, den Vorhang heben helfen, der sich
hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!
"Ihr lieber seliger Vater" - -, wie fremdartig die Worte klangen, als
ich sie mir vorsagte! - Vater! - Einen Augenblick sah ich das mìde Gesicht
eines alten Mannes mit weiŸem Haar in dem Lehnstuhl neben meiner Truhe
auftauchen - fremd, ganz fremd und doch so schauerlich bekannt; - - dann
kamen meine Augen wieder zu sich, und die Hammerlaute meines Herzens
schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.
Erschreckt fuhr ich auf: hatte ich die Zeit vertr¤umt? Ich blickte auf
die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fìnf.
Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel und
schritt die Treppen hinab. Was kìmmerte mich heute das Geraune der dunklen
Winkel, die bæsartigen, engherzigen, verdrossenen Bedenken, die immer von
ihnen aufstiegen: "Wir lassen dich nicht, - du bist unser, - wir wollen
nicht, daŸ du dich freust - das w¤re noch schæner, Freude hier im Haus!"
Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen G¤ngen und
Ecken her um mich gelegt mit wìrgenden H¤nden: heute wich er vor dem
lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an Hillels
Tìr.
Sollte ich eintreten?
Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz anders
heute, - so, als dìrfe ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb mich die
Hand des Lebens vorw¤rts, die Stiegen hinab. - -
Die Gasse lag weiŸ im Schnee.
Ich glaube, daŸ viele Leute mich gegrìŸt haben; ich erinnere mich
nicht, ob ich ihnen gedankt. Immer wieder fìhlte ich an die Brust, ob ich
den Brief auch bei mir trìge:
Es ging eine W¤rme von der Stelle aus. - -
Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten Laubeng¤nge auf dem
Altst¤dter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes Gitter voll
Eiszapfen hing, hinìber ìber die steinerne Brìcke mit ihren Heiligenstatuen
und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.
Unten sch¤umte der FluŸ voll HaŸ gegen die Fundamente.
Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehæhlten Sandstein der heiligen
Luitgard mit "den Qualen der Verdammten" darin: dicht lag der Schnee auf den
Lidern der BìŸenden und den Ketten an ihren betend erhobenen H¤nden.
Torbogen nahmen mich auf und entlieŸen mich, Pal¤ste zogen langsam an
mir vorìber, mit geschnitzten, hochmìtigen Portalen, darinnen Læwenkæpfe in
bronzene Ringe bissen.
Auch hier ìberall Schnee, Schnee. Weich, weiŸ wie das Fell eines
riesigen Eisb¤ren.
Hohe, stolze Fenster, die Simse beglitzert und vereist, schauten
teilnahmslos zu den Wolken empor.
Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vægel war.
Als ich die unz¤hligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin, jede so
breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank Schritt um Schritt
die Stadt mit ihren D¤chern und Giebeln vor meinem Sinn. - - -
Schon schlich die D¤mmerung die H¤userreihen entlang, da trat ich auf
den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der Engel.
FuŸstapfen - die R¤nder mit Krusten aus Eis - fìhrten hin zum Nebentor.
Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene Tæne
eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. Wie Tr¤nentropfen der Schwermut
fielen sie in die Verlassenheit.
Ich hærte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, wie die
Kirchentìre mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel, und der goldene Altar
blinkte in starrer Ruhe herìber zu mir durch den grìnen und blauen Schimmer
sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster auf die Betstìhle
niedersank. Funken sprìhten aus roten, gl¤sernen Ampeln.
Welker Duft von Wachs und Weihrauch.
Ich lehnte mich in eine Bank. Mein Blut ward seltsam still in diesem
Reich der Regungslosigkeit.
Ein Leben ohne Herzschlag erfìllte den Raum - ein heimliches,
geduldiges Warten.
Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.
Da! - Aus weiter, weiter Ferne drang das Ger¤usch von Pferdehufen
ged¤mpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte n¤her kommen und verstummte.
Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zuf¤llt. - - -
Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen, und eine
zarte, schmale Damenhand hatte leicht meinen Arm berìhrt.
"Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler; es widerstrebt
mir, hier in den Betstìhlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen sagen
muŸ."
Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu nìchterner Klarheit. Der
Tag hatte mich plætzlich angefaŸt.
"Ich weiŸ gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath, daŸ
Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht
haben."
Ich stotterte ein paar banale Worte.
"- - Aber ich wuŸte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor
Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns gewiŸ
niemand nachgegangen."
Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.
Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang
ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die damals voll
Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der HahnpaŸgasse flìchtete. Ich
war auch nicht erstaunt darìber, denn ich hatte niemand anderen erwartet.
Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der D¤mmerung der
Mauernische wohl noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein mochte.
Ihre Schænheit benahm mir fast den Atem, und ich stand wie gebannt. Am
liebsten w¤re ich vor ihr niedergefallen und h¤tte ihre FìŸe gekìŸt, daŸ sie
es war, der ich helfen sollte, daŸ sie mich dazu erw¤hlt hatte.
"Vergessen Sie, ich bitte Sie von Herzen darum, - wenigstens solange
wir hier sind - die Situation, in der Sie mich damals gesehen haben", sprach
sie gepreŸt weiter, "ich weiŸ auch gar nicht, wie Sie ìber solche Dinge
denken - -"
"Ich bin ein alter Mann geworden, aber kein einziges Mal in meinem
Leben war ich so vermessen, daŸ ich mich Richter gedìnkt h¤tte ìber meine
Mitmenschen", war das einzige, was ich hervorbrachte.
"Ich danke Ihnen, Meister Pernath", sagte sie warm und schlicht. "Und
jetzt hæren Sie mich geduldig an, ob Sie mir in meiner Verzweiflung nicht
helfen oder wenigstens einen Rat geben kænnen." - Ich fìhlte, wie eine wilde
Angst sie packte, und hærte ihre Stimme zittern. - "Damals - - im Atelier -
- - damals brach die schreckliche GewiŸheit ìber mich herein, daŸ jener
grauenhafte Oger mir mit Vorbedacht nachgespìrt hat. - Schon durch Monate
war mir aufgefallen, daŸ, wohin ich auch immer ging, - ob allein, oder mit
meinem Gatten, oder mit - - - mit - mit Dr. Savioli, - stets das
entsetzliche Verbrechergesicht dieses Trædlers irgendwo in der N¤he
auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielenden Augen.
Noch macht sich ja kein Zeichen bemerkbar, was er vorhat, aber um so
qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir die Schlinge um
den Hals!
Anfangs wollte mich Dr. Savioli damit beruhigen, was denn so ein
armseliger Trædler wie dieser Aaron Wassertrum ìberhaupt vermæchte -
schlimmsten Falles kænnte es sich nur um eine geringfìgige Erpressung oder
dergleichen handeln, aber jedesmal wurden seine Lippen weiŸ, wenn der Name
Wassertrum fiel. Ich ahne: Dr. Savioli h¤lt mir etwas geheim, um mich zu
beruhigen, - irgend etwas Furchtbares, was ihn oder mich das Leben kosten
kann.
Und dann erfuhr ich, was er mir sorgsam verheimlichen wollte: daŸ ihn
der Trædler mehrere Male des Nachts in seiner Wohnung besucht hat! - Ich
weiŸ es, ich spìre es in jeder Faser meines Kærpers: es geht etwas vor, das
sich langsam um uns zusammenzieht wie die Ringe einer Schlange. - Was hat
dieser Mærder dort zu suchen? Warum kann Dr. Savioli ihn nicht abschìtteln?
Nein, nein, ich sehe das nicht l¤nger mit an; ich muŸ etwas tun. Irgend
etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt."
Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie lieŸ mich
nicht zu Ende sprechen.
"Und in den letzten Tagen nahm der Alp, der mich zu erwìrgen droht,
immer greifbarere Formen an. Dr. Savioli ist plætzlich erkrankt, - ich kann
mich nicht mehr mit ihm verst¤ndigen - darf ihn nicht besuchen, wenn ich
nicht stìndlich gew¤rtigen soll, daŸ meine Liebe zu ihm entdeckt wird -; er
liegt in Delirien, und das einzige, was ich erkunden konnte, ist, daŸ er
sich im Fieber von einem Scheusal verfolgt w¤hnt, dessen Lippen von einer
Hasenscharte gespalten sind: - Aaron Wassertrum!
Ich weiŸ, wie mutig Dr. Savioli ist; um so entsetzlicher - kænnen Sie
sich das vorstellen? - wirkt es auf mich, ihn jetzt gel¤hmt vor einer
Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle N¤he eines grauenhaften Wìrgengels
empfinde, zusammengebrochen zu sehen.
Sie werden sagen, ich sei feige, und warum ich mich denn nicht offen zu
Dr. Savioli bekenne, alles von mir wìrfe, wenn ich ihn doch so liebe -:
alles, Reichtum, Ehre, Ruf und so weiter, aber -" sie schrie es færmlich
heraus, daŸ es widerhallte von den Chorgalerien, - "ich kann nicht! - Ich
hab' doch mein Kind, mein liebes, blondes, kleines M¤del! Ich kann doch mein
Kind nicht hergeben! - Glauben Sie denn, mein Mann lieŸe es mir?! Da, da,
nehmen Sie das, Meister Pernath" - sie riŸ im Wahnwitz ein T¤schchen auf,
das vollgestopft war mit Perlenschnìren und Edelsteinen - "und bringen Sie
es dem Verbrecher; - ich weiŸ, er ist habsìchtig - er soll sich alles holen,
was ich besitze, aber mein Kind soll er mir lassen. - Nicht wahr, er wird
schweigen? - So reden Sie doch um Jesu Christi willen, sagen Sie nur ein
Wort, daŸ Sie mir helfen wollen!"
Es gelang mir mit græŸter Mìhe, die Rasende wenigstens so weit zu
beruhigen, daŸ sie sich auf eine Bank niederlieŸ.
Ich sprach zu ihr, wie es mir der Augenblick eingab. Wirre,
zusammenhanglose S¤tze.
Gedanken jagten dabei in meinem Hirn, so daŸ ich selbst kaum verstand,
was mein Mund redete, - Ideen phantastischer Art, die zusammenbrachen, kaum
daŸ sie geboren waren.
Geistesabwesend haftete mein Blick auf einer bemalten Mænchsstatue in
der Wandnische. Ich redete und redete. Allm¤hlich verwandelten sich die Zìge
der Statue, die Kutte wurde ein fadenscheiniger œberzieher mit
hochgeklapptem Kragen, und ein jugendliches Gesicht mit abgezehrten Wangen
und hektischen Flecken wuchs daraus empor.
Ehe ich die Vision verstehen konnte, war der Mænch wieder da. Meine
Pulse schlugen zu laut.
Die unglìckliche Frau hatte sich ìber meine Hand gebeugt und weinte
still.
Ich gab ihr von der Kraft, die in mich eingezogen war in der Stunde,
als ich den Brief gelesen hatte, und mich jetzt abermals ìberm¤chtig
erfìllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.
"Ich will Ihnen sagen, warum ich mich gerade an Sie gewendet habe,
Meister Pernath", fing sie nach langem Schweigen leise wieder an. "Es waren
ein paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben - und die ich nie vergessen
konnte die vielen Jahre hindurch - -"
Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut.
"- - Sie nahmen Abschied von mir - ich weiŸ nicht mehr, weshalb und
wieso, ich war ja noch ein Kind, - und Sie sagten so freundlich und doch so
traurig:
›Es wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, wenn Sie
je im Leben nicht aus noch ein wissen. Vielleicht gibt mir Gott der Herr,
daŸ ich es dann sein darf, der Ihnen hilft.‹ - Ich habe mich damals
abgewendet und rasch meinen Ball in den Springbrunnen fallen lassen, damit
Sie meine Tr¤nen nicht sehen sollten. Und dann wollte ich Ihnen das rote
Korallenherz schenken, das ich an einem Seidenband um den Hals trug, aber
ich sch¤mte mich, weil das gar so l¤cherlich gewesen w¤re." - - -
Erinnerung!
- Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein Schimmer
wie aus einem vergessenen, fernen Land der Sehnsucht trat vor mich -
unvermittelt und schreckhaft: Ein kleines M¤dchen in weiŸem Kleid und
ringsum die dunkle Wiese eines SchloŸparks, von alten Ulmen ums¤umt.
Deutlich sah ich es wieder vor mir. - -
Ich muŸte mich verf¤rbt haben; ich merkte es an der Hast, mit der sie
fortfuhr: "Ich weiŸ ja, daŸ Ihre Worte damals nur der Stimmung des Abschieds
entsprangen, aber sie waren mir oft ein Trost und - und ich danke Ihnen
dafìr."
Mit aller Kraft biŸ ich die Z¤hne zusammen und jagte den heulenden
Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurìck.
Ich verstand: Eine gn¤dige Hand war es gewesen, die die Riegel vor
meiner Erinnerung zugeschoben hatte. Klar stand jetzt in meinem BewuŸtsein
geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen herìbergetragen: Eine
Liebe, die fìr mein Herz zu stark gewesen, hatte fìr Jahre mein Denken
zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der Balsam fìr meinen wunden
Geist geworden.
Allm¤hlich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins ìber mich und kìhlte
die Tr¤nen hinter meinen Augenlidern. Der Hall von Glocken zog ernst und
stolz durch den Dom, und ich konnte freudig l¤chelnd der in die Augen sehen,
die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.
Wieder hærte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das Trappen der
Hufe. - - -
Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.
Die Laternen staunten mich an mit zwinkernden Augen, und aus
geschichteten Bergen von Tannenb¤umen raunte es von Flitter und silbernen
Nìssen und vom kommenden Christfest.
Auf dem Rathausplatz an der Mariens¤ule murmelten bei Kerzenglanz die
alten Bettelweiber mit den grauen Kopftìchern der Muttergottes ihren
Rosenkranz.
Vor dem dunklen Eingang zur Judenstadt hockten die Buden des
Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete grell,
von schwelenden Fackeln beschienen, die offene Bìhne eines
Marionettentheaters.
Zwakhs Policcinell in Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand und
daran an der Schnur einen Totensch¤del, ritt klappernd auf hælzernem
Schimmel ìber die Bretter.
In Reihen fest aneinander gedr¤ngt starrten die Kleinen - die
Pelzmìtzen tief ìber die Ohren gezogen - mit offenem Munde hinauf und
lauschten gebannt den Versen des Prager Dichters Oskar Wiener, die mein
Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach:
"Ganz vorne schritt ein Hampelmann,
Der Kerl war mager wie ein Dichter
Und hatte bunte Lappen an
Und torkelte und schnitt Gesichter." - - -
Ich bog in die Gasse ein, die schwarz und winklig auf den Platz
mìndete. Dicht, Kopf an Kopf, stand lautlos eine Menschenmenge da in der
Finsternis vor einem Anschlagzettel.
Ein Mann hatte ein Streichholz angezìndet, und ich konnte einige Zeilen
bruchstìckweise lesen. Mit dumpfen Sinnen nahm mein BewuŸtsein ein paar
Worte auf:
VermiŸt!
1000 fl Belohnung
„lterer Herr... schwarz gekleidet...
......... Signalement:
... fleischiges, glattrasiertes Gesicht......
...... Haarfarbe: weiŸ.........
.. Polizeidirektion... Zimmer Nr....
Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam hinein
in die lichtlosen H¤userreihen.
Eine Handvoll winziger Sterne glitzerte auf dem schmalen, dunklen
Himmelsweg ìber den Giebeln.
Friedvoll schweiften meine Gedanken zurìck in den Dom, und die Ruhe
meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom Platz herìber,
schneidend klar - als stìnde sie dicht an meinem Ohr - die Stimme des
Marionettenspielers durch die Winterluft:
"Wo ist das Herz aus rotem Stein?
Es hing an einem Seidenbande
Und funkelte im Frìhrotschein." - - -
Spuk
Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir
das Gehirn zermartert, wie ich "ihr" Hilfe bringen kænnte.
Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu gehen,
ihm zu erz¤hlen, was mir anvertraut worden, und ihn um Rat zu bitten. Aber
jedesmal verwarf ich den EntschluŸ.
Er stand im Geist so riesengroŸ vor mir, daŸ es eine Entweihung schien,
ihn mit Dingen, die das ¤uŸere Leben betrafen, zu behelligen, dann wieder
kamen Momente, wo mich brennende Zweifel befielen, ob ich in Wirklichkeit
alles das erlebt h¤tte, was nur eine kurze Spanne Zeit zurìcklag und doch so
seltsam verblaŸt schien, verglichen mit den lebenstrotzenden Erlebnissen des
verflossenen Tages.
Hatte ich nicht doch getr¤umt? Durfte ich - ein Mensch, dem das
Unerhærte geschehen war, daŸ er seine Vergangenheit vergessen hatte, - auch
nur eine Sekunde lang als GewiŸheit annehmen, wofìr als einziger Zeuge bloŸ
meine Erinnerung die Hand aufhob?
Mein Blick fiel auf die Kerze Hillels, die immer noch auf dem Sessel
lag. Gott sei Dank, wenigstens das eine stand fest: ich war mit ihm in
persænlicher Berìhrung gewesen!
Sollte ich nicht ohne Besinnen hinunterlaufen zu ihm, seine Knie
umfassen und wie Mensch zu Mensch ihm klagen, daŸ ein uns¤gliches Weh an
meinem Herzen fraŸ?
Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da lieŸ ich wieder los; ich sah
voraus, was kommen wìrde: Hillel wìrde mir mild ìber die Augen fahren und -
- - nein, nein, nur das nicht! Ich hatte kein Recht, Linderung zu begehren.
"Sie" vertraute auf mich und meine Hilfe, und wenn die Gefahr, in der sie
sich fìhlte, mir in Momenten auch klein und nichtig erscheinen mochte, - sie
empfand sie sicherlich als riesengroŸ!
Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit - ich zwang mich, kalt und
nìchtern zu denken; - ihn jetzt - mitten in der Nacht zu stæren? - es ging
nicht an. So wìrde nur ein Verrìckter handeln.
Ich wollte die Lampe anzìnden; dann lieŸ ich es wieder sein: der
Abglanz des Mondlichts fiel von den D¤chern gegenìber herein in mein Zimmer
und gab mehr Helle, als ich brauchte. Und ich fìrchtete, die Nacht kænnte
noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte.
Es lag so viel Hoffnungslosigkeit in dem Gedanken, die Lampe
anzuzìnden, nur um den Tag zu erwarten, - eine leise Angst sagte mir, der
Morgen rìcke dadurch in unerlebbare Ferne.
Ich trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft schwebender
Friedhof lagen die Reihen verschnærkelter Giebel dort oben - Leichensteine
mit verwitterten Jahreszahlen, getìrmt ìber die dunklen Modergrìfte, diese
"Wohnst¤tten", darein sich das Gewimmel der Lebenden Hæhlen und G¤nge
genagt.
Lange stand ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise
zu wundern begann, warum ich denn nicht aufschr¤ke, wo doch ein Ger¤usch von
verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein Ohr drang.
Ich horchte hin: Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch. Das kurze
„chzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zægernd schlich.
Mit einem Schlage war ich ganz bei mir. Ich wurde færmlich kleiner, so
preŸte sich alles in mir zusammen unter dem Druck des Willens, zu hæren.
Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart.
Noch ein rasches Knistern, das vor sich selbst erschrak und hastig
abbrach. Dann Totenstille. Jene lauernde, grauenhafte Stille, die ihr
eigener Verr¤ter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht.
Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedrìckt, das drohende Gefìhl
in der Kehle, daŸ drìben einer stand, genauso wie ich und dasselbe tat.
Ich lauschte und lauschte:
Nichts.
Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben.
Lautlos - auf den Zehenspitzen - stahl ich mich an den Sessel bei
meinem Bett, nahm Hillels Kerze und zìndete sie an.
Dann ìberlegte ich: Die eiserne Speichertìre drauŸen auf dem Gang, die
zum Atelier Saviolis fìhrte, ging nur von drìben aufzuklinken.
Aufs Geratewohl ergriff ich ein hakenfærmiges Stìck Draht, das unter
meinen Graviersticheln auf dem Tische lag: derlei Schlæsser springen leicht
auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder!
Und was wìrde dann geschehen?
Nur Aaron Wassertrum konnte es sein, der da nebenan spionierte, -
vielleicht in K¤sten wìhlte, um neue Waffen und Beweise in die Hand zu
bekommen, legte ich mir zurecht.
Ob es viel nìtzen wìrde, wenn ich dazwischen trat?
Ich besann mich nicht lang: handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare
Warten auf den Morgen zerfetzen!
Und schon stand ich vor der eisernen Bodentìre, drìckte dagegen, schob
vorsichtig den Haken ins SchloŸ und horchte. Richtig: Ein schleifendes
Ger¤uch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht.
Im n¤chsten Augenblick schnellte der Riegel zurìck.
Ich konnte das Zimmer ìberblicken und sah, obwohl es fast finster war
und meine Kerze mich nur blendete, wie ein Mann in langem schwarzem Mantel
entsetzt vor einem Schreibtisch aufsprang, - eine Sekunde lang unschlìssig,
wohin sich wenden, - eine Bewegung machte, als wolle er auf mich losstìrzen,
sich dann den Hut vom Kopf riŸ und hastig damit sein Gesicht bedeckte.
"Was suchen Sie hier!" wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor:
"Pernath! Sie sind's? Gotteswillen! Das Licht weg!" Die Stimme kam mir
bekannt vor, war aber keinesfalls die des Trædlers Wassertrum.
Automatisch blies ich die Kerze aus.
Das Zimmer lag halbdunkel da - nur von dem schimmrigen Dunst, der aus
der Fensternische hereindrang, matt erhellt - genau wie meines, und ich
muŸte meine Augen aufs ¤uŸerste anstrengen, ehe ich in dem abgezehrten,
hektischen Gesicht, das plætzlich ìber dem Mantel auftauchte, die Zìge des
Studenten Charousek erkennen konnte.
"Der Mænch!" dr¤ngte es sich mir auf die Zunge und ich verstand mit
einem Mal die Vision, die ich gestern im Dom gehabt! Charousek! Das war der
Mann, an den ich mich wenden sollte! - Und ich hærte seine Worte wieder, die
er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt hatte: "Aaron Wassertrum wird
es schon erfahren, daŸ man mit vergifteten, unsichtbaren Nadeln durch Mauern
stechen kann. Genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will."
Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen? WuŸte er ebenfalls, was
sich zugetragen? Sein Hiersein zu so ungewæhnlicher Stunde lieŸ fast darauf
schlieŸen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu richten.
Er war ans Fenster geeilt und sp¤hte hinter dem Vorhang hinunter auf
die Gasse.
Ich erriet: er fìrchtete, Wassertrum kænne den Lichtschein meiner Kerze
wahrgenommen haben.
"Sie denken gewiŸ, ich sei ein Dieb, daŸ ich nachts hier in einer
fremden Wohnung herumsuche, Meister Pernath," fing er nach langem Schweigen
mit unsicherer Stimme an, "aber ich schwære Ihnen - -"
Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn.
Und um ihm zu zeigen, daŸ ich keinerlei MiŸtrauen gegen ihn hegte, in
ihm vielmehr einen Bundesgenossen sah, erz¤hlte ich ihm mit kleinen
Einschr¤nkungen, die ich fìr nætig hielt, welche Bewandtnis es mit dem
Atelier habe, und daŸ ich fìrchte, eine Frau, die mir nahestehe, sei in
Gefahr, den erpresserischen Gelìsten des Trædlers in irgendwelcher Art zum
Opfer zu fallen.
Aus der hæflichen Weise, mit der er mir zuhærte, ohne mich mit Fragen
zu unterbrechen, entnahm ich, daŸ er das meiste bereits wuŸte, wenn auch
vielleicht nicht in Einzelheiten.
"Es stimmt schon", sagte er grìbelnd, als ich zu Ende gekommen war.
"Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl will Savioli an die Gurgel
fahren, das ist klar, aber offenbar hat er noch nicht genug Material
beisammen. Weshalb wìrde er sich sonst noch hier immerw¤hrend herumdrìcken!
Ich ging n¤mlich gestern, sagen wir mal: ›zuf¤llig‹ durch die HahnpaŸgasse,"
erklarte er, als er meine fragende Miene bemerkte, "da fiel mir auf, daŸ
Wassertrum erst lange - scheinbar unbefangen - vor dem Tor unten auf und ab
schlenderte, dann aber, als er sich unbeobachtet glaubte, rasch ins Haus
bog. Ich ging ihm sofort nach und tat so, als wollte ich Sie besuchen, das
heiŸt, ich klopfte bei Ihnen an, und dabei ìberraschte ich ihn, wie er
drauŸen an der eisernen Bodentìr mit einem Schlìssel herumhantierte.
Natìrlich gab er es augenblicklich auf, als ich kam, und klopfte ebenfalls
als Vorwand bei Ihnen an. Sie schienen ìbrigens nicht zu Hause gewesen zu
sein, denn es æffnete niemand.
Als ich mich dann vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich,
daŸ jemand, der nach den Schilderungen nur Dr. Savioli sein konnte, hier
heimlich ein Absteigequartier bes¤Ÿe. Da Dr. Savioli schwerkrank liegt,
reimte ich mir das ìbrige zurecht.
Sehen Sie: und das da habe ich aus den Schubladen zusammengesucht, um
Wassertrum fìr alle F¤lle zuvorzukommen", schloŸ Charousek und deutete auf
ein Paket Briefe auf dem Schreibtisch; "es ist alles, was ich an
Schriftstìcken finden konnte. Hoffentlich ist sonst nichts mehr vorhanden.
Wenigstens habe ich in s¤mtlichen Truhen und Schr¤nken gestæbert, so gut das
in der Finsternis ging."
Meine Augen durchforschten bei seiner Rede das Zimmer und blieben
unwillkìrlich auf einer Falltìre am Boden haften. Ich entsann mich dabei
dunkel, daŸ Zwakh mir irgendwann erz¤h