In diesem Falle aber schadete es leider einem armen, ahnungslosen Menschen, denn schon bei der dritten Frage kam etwas sehr Verh€ngnisvolles zutage. Man forderte zuerst seinen Namen: Jakob, recte Jainkeff Mendel. Beruf: Hausierer (er besaŸ n€mlich keine Buchh€ndlerlizenz, nur einen Hausierschein). Die dritte Frage wurde zur Katastrophe: der Geburtsort. Jakob Mendel nannte einen kleinen Ort bei Petrikau. Der Major zog die Brauen hoch. Petrikau, lag das nicht in Russisch-Polen, nahe der Grenze? Verd€chtig! Sehr verd€chtig! So inquirierte er nun strenger, wann er die æsterreichische Staatsbìrgerschaft erworben habe. Mendels Brille starrte ihn dunkel und verwundert an: er verstand nicht recht. Zum Teufel, ob und wo er seine Papiere habe, seine Dokumente? Er habe keine andern als den Hausierschein. Der Major schob die Stirnfalten immer hæher. Also wie es mit seiner Staatsbìrgerschaft stehe, solle er endlich einmal erkl€ren. Was sein Vater gewesen sei, ob –sterreicher oder Russe? Seelenruhig erwiderte Jakob Mendel: natìrlich Russe. Und er selbst? Ach, er h€tte sich schon vor dreiunddreiŸig Jahren ìber die russische Grenze geschmuggelt, seither lebe er in Wien. Der Major wurde immer unruhiger. Wann er hier das æsterreichische Staatsbìrgerrecht erworben habe? Wozu? fragte Mendel. Er habe sich um solche Sachen nie gekìmmert. So sei er also noch russischer Staatsbìrger? Und Mendel, den diese æde Fragerei innerlich l€ngst langweilte, antwortete gleichgìltig: "Eigentlich ja." Der Major warf sich so brìsk erschrocken zurìck, daŸ der Sessel knackte. Das gab es also! In Wien, in der Hauptstadt –sterreichs, ging mitten im Kriege, Ende 1915, nach Tarnow und der groŸen Offensive, ein Russe unbehelligt spazieren, schrieb Briefe nach Frankreich und England, und die Polizei kìmmerte sich um nichts. Und da wundern sich die Dummkæpfe in den Zeitungen, daŸ Conrad von Hætzendorf nicht gleich nach Warschau vorw€rtsgekommen ist, da staunen sie im Generalstab, wenn jede Truppenbewegung durch Spione nach RuŸland weitergemeldet wird. Auch der Leutnant war aufgestanden und stellte sich an den Tisch: das Gespr€ch schaltete sich scharf um zum Verhær. Warum er sich nicht sofort gemeldet habe als Ausl€nder? Mendel, noch immer arglos, antwortete in seinem singenden jìdischen Jargon: "Wozu h€tt ich mich melden sollen auf einmal?" In dieser umgedrehten Frage erblickte der Major eine Herausforderung und fragte drohend, ob er nicht die Ankìndigungen gelesen habe? Nein! Ob er etwa auch keine Zeitungen lese? Nein! Die beiden starrten den vor Unsicherheit schon leicht schwitzenden Jakob Mendel an, als sei der Mond mitten in ihr Bìrozimmer gefallen. Dann rasselte das Telefon, knackten die Schreibmaschinen, liefen die Ordonnanzen, und Jakob Mendel wurde dem Garnisonsgef€ngnis ìberantwortet, um mit dem n€chsten Schub in ein Konzentrationslager abgefìhrt zu werden. Als man ihm bedeutete, den beiden Soldaten zu folgen, starrte er ungewiŸ. Er verstand nicht, was man von ihm wollte, aber eigentlich hatte er keinerlei Sorge. Was konnte der Mann mit dem goldenen Kragen und der groben Stimme schlieŸlich Bæses mit ihm vorhaben? In seiner obern Welt der Bìcher gab es keinen Krieg, kein Nichtverstehen, sondern nur das ewige Wissen und Nochmehrwissenwollen von Zahlen und Worten, von Titeln und Namen. So trollte er gutmìtig zwischen den beiden Soldaten die Treppe hinunter. Erst als man ihm auf der Polizei alle Bìcher aus den Manteltaschen nahm und die Brieftasche abforderte, in der er hundert wichtige Zettel und Kundenadressen stecken hatte, da erst begann er wìtend um sich zu schlagen. Man muŸte ihn b€ndigen. Aber dabei klirrte leider seine Brille zu Boden, und dies sein magisches Teleskop in die geistige Welt brach in mehrere Stìcke. Zwei Tage sp€ter expedierte man ihn im dìnnen Sommerrock in ein Konzentrationslager russischer Zivilgefangener bei Komorn. Was Jakob Mendel in diesen zwei Jahren Konzentrationslager an seelischer Schrecknis erfahren, ohne Bìcher, seine geliebten Bìcher, ohne Geld, inmitten der gleichgìltigen, groben, meist analphabetischen Gef€hrten dieses riesigen Menschenkotters, was er dort leidend erlebte, von seiner obern und einzigen Bìcherwelt abgetrennt wie ein Adler mit zerschnittenen Schwingen von seinem €therischen Element - hierìber fehlt jede Zeugenschaft. Aber allm€hlich weiŸ schon die von ihrer Tollheit ernìchterte Welt, daŸ von allen Grausamkeiten und verbrecherischen œbergriffen dieses Krieges keine sinnloser, ìberflìssiger und darum moralisch unentschuldbarer gewesen als das Zusammenfangen und Einhìrden hinter Stacheldraht von ahnungslosen, l€ngst dem Dienstalter entwachsenen Zivilpersonen, die viele Jahre in dem fremden Lande als in einer Heimat gewohnt und aus Treugl€ubigkeit an das selbst bei Tungusen und Araukanern geheiligte Gastrecht vers€umt hatten, rechtzeitig zu fliehen - ein Verbrechen an der Zivilisation, gleich sinnlos begangen in Frankreich, Deutschland und England, auf jeder Scholle unseres irrwitzig gewordenen Europa. Und vielleicht w€re Jakob Mendel wie hundert andere Unschuldige in dieser Hìrde dem Wahnsinn verfallen oder an Ruhr, an Entkr€ftung, an seelischer Zerrìttung erb€rmlich zugrunde gegangen, h€tte nicht knapp rechtzeitig ein Zufall, ein echt æsterreichischer, ihn noch einmal in seine Welt zurìckgeholt. Es waren n€mlich mehrmals nach seinem Verschwinden an seine Adresse Briefe von vornehmen Kunden gekommen; der Graf Schænberg, der ehemalige Statthalter von Steiermark, fanatischer Sammler heraldischer Werke, der frìhere Dekan der theologischen Fakult€t Siegenfeld, der an einem Kommentar des Augustinus arbeitete, der achtzigj€hrige pensionierte Flottenadmiral Edler von Pisek, der noch immer an seinen Erinnerungen herumbesserte - sie alle, seine treuen Klienten, hatten wiederholt an Jakob Mendel ins Caf© Gluck geschrieben, und von diesen Briefen wurden dem Verschollenen einige in das Konzentrationslager nachgeschickt. Dort fielen sie dem zuf€llig gutgesinnten Hauptmann in die H€nde, und der erstaunte, was fìr vornehme Bekanntschaften dieser kleine halbblinde, schmutzige Jude habe, der, seit man ihm seine Brille zerschlagen (er hatte kein Geld, sich eine neue zu verschaffen), wie ein Maulwurf, grau, augenlos und stumm in einer Ecke hockte. Wer solche Freunde besaŸ, muŸte immerhin etwas Besonderes sein. So erlaubte er Mendel, diese Briefe zu beantworten und seine Gænner um Fìrsprache zu bitten. Die blieb nicht aus. Mit der leidenschaftlichen Solidarit€t aller Sammler kurbelten die Exzellenz sowie der Dekan ihre Verbindungen kr€ftig an, und ihre vereinte Bìrgschaft erreichte, daŸ Buchmendel im Jahre 1917 nach mehr als zweij€hriger Konfinierung wieder nach Wien zurìckdurfte, freilich unter der Bedingung, sich t€glich bei der Polizei zu melden. Aber doch, er durfte wieder in die freie Welt, in seinen alten, kleinen, engen Mansardenraum, er konnte wieder an seinen geliebten Bìcherauslagen vorbei und vor allem zurìck in sein Caf© Gluck. Diese Rìckkehr Mendels aus seiner hællischen Unterwelt in das Caf© Gluck konnte mir die brave Frau Sporschil aus eigener Erfahrung schildern. "Eines Tages - Jessas, Marand Joseph, ich glaub, ich trau meine Augen nicht - da schiebt sich die Tìr auf, Sie wissen ja, in der gewissen schiefen Art, nur grad einen Spalt weit, wie er immer hereingekommen ist, und schon stolpert er ins Caf©, der arme Herr Mendel. Einen zerschundenen Milit€rmantel voller Stopfen hat er angehabt und irgendwas am Kopf, was vielleicht einmal ein Hut war, ein weggeworfener. Keinen Kragen hat er angehabt, und wie der Tod hat er ausgeschaut, grau im Gesicht und grau das Haar und so mager, daŸ es einen derbarmt hat. Aber er kommt herein, grad, als ob nix gwesen war, er fragt nix, er sagt nix, geht hin zu dem Tisch da und zieht den Mantel aus, aber nicht wie frìher so fix und leicht, sondern schwer schnaufen mìssen hat er dabei. Und kein Buch hat er mitghabt wie sonst -- er setzt sich nur hin und sagt nix, und tut nur hinstarren vor sich mit ganz leere, ausgelaufene Augen. Erst nach und nach, wie wir ihm dann den ganzen Pack bracht haben von die Schriften, die was fìr ihn kommen waren aus Deutschland, da hat er wieder angfangen zu lesen. Aber er war nicht derselbige mehr." Nein, er war nicht derselbe, nicht das Miraculum mundi mehr, die magische Registratur aller Bìcher: alle, die ihn damals sahen, haben mir wehmìtig das gleiche berichtet. Irgend etwas schien rettungslos zerstært in seinem sonst stillen, nur wie schlafend lesenden Blick; etwas war zertrìmmert: der grauenhafte Blutkomet muŸte in seinem rasenden Lauf schmetternd hineingeschlagen haben auch in den abseitigen, friedlichen, in diesen alkyonischen Stern seiner Bìcherwelt. Seine Augen, jahrzehntelang gewæhnt an die zarten, lautlosen, insektenfìŸigen Lettern der Schrift, sie muŸten Furchtbares gesehen haben in jener stacheldrahtumspannten Menschenhìrde, denn die Lider schatteten schwer ìber den einst so flinken und ironisch funkelnden Pupillen, schl€frig und rotrandig d€mmerten die vordem so lebhaften Blicke unter der reparierten, mit dìnnem Bindfaden mìhsam zusammengebundenen Brille. Und furchtbarer noch: in dem phantastischen Kunstbau seines Ged€chtnisses muŸte irgendein Pfeiler eingestìrzt und das ganze Gefìge in Unordnung geraten sein; denn so zart ist ja unser Gehirn, dies aus subtilster Substanz gestaltete Schaltwerk, dies feinmechanische Pr€zisionsinstrument unseres Wissens zusammengestimmt, daŸ ein gestautes Aderchen, ein erschìtterter Nerv, eine ermìdete Zelle, daŸ ein solches verschobenes Molekìl schon zureicht, um die herrlich umfassendste, die sph€rische Harmonie eines Geistes zum Verstummen zu bringen. Und in Mendels Ged€chtnis, dieser einzigen Klaviatur des Wissens, stockten bei seiner Rìckkunft die Tasten. Wenn ab und zu jemand um Auskunft kam, starrte er ihn erschæpft an und verstand nicht mehr genau, er verhærte sich und vergaŸ, was man ihm sagte - Mendel war nicht mehr Mendel, wie die Welt nicht mehr die Welt war. Nicht mehr wiegte ihn vællige Versunkenheit beim Lesen auf und nieder, sondern meist saŸ er starr, die Brille nur mechanisch gegen das Buch gewandt, ohne daŸ man wuŸte, ob er las oder nur vor sich hin d€mmerte. Mehrmals fiel ihm, so crz€hltedieSporschil, der Kopf schwer nieder auf das Buch, und er schlief ein am hellichten Tag, manchmal starrte er wieder stundenlang in das fremde stinkende Licht der Azetylenlampe, die man ihm in jener Zeit der Kohlennot auf den Tisch gestellt. Nein, Mendel war nicht mehr Mendel, nicht mehr ein Wunder der Welt, sondern ein mìd atmender, nutzloser Pack Bart und Kleider, sinnlos auf dem einst pythischen Sessel hingelastet, nicht mehr der Ruhm des Caf© Gluck, sondern eine Schande, ein Schmierfleck, ìbelriechend, widrig anzusehen, ein unbequemer, unnætiger Schmarotzer. So empfand ihn auch der neue Besitzer, namens Florian Gurtner aus Retz, der, an Mehl- und Butterschiebungen im Hungerjahr 1919 reich geworden, dem biedern Standhartner fìr achtzigtausend rasch zerbl€tterte Papierkronen das Caf© Gluck abgeschwatzt hatte. Er griff mit seinen festen Bauernh€nden scharf zu, krempelte das altehrwìrdige Kaffeehaus hastig auf nobel um, kaufte fìr schlechte Zettel rechtzeitig neue Fauteuils, installierte ein Marmorportal und verhandelte bereits wegen des Nachbarlokals, um eine Musikdiele anzubauen. Bei dieser hastigen Verschænerung stærte ihn natìrlich sehr dieser galizische Schmarotzer, der tagsìber von frìh bis nachts allein einen Tisch besetzt hielt und dabei im ganzen nur zwei Schalen Kaffee trank und fìnf Brote verzehrte. Zwar hatte Standhartner ihm seinen alten Gast besonders ans Herz gelegt und zu erkl€ren versucht, was fìr ein bedeutender und wichtiger Mann dieser Jakob Mendel sei, er hatte ihn sozusagen bei der œbergabe mit dem Inventar als ein auf dem Unternehmen lastendes Servitut mitìbergeben. Aber Florian Gurtner hatte sich mit den neuen Mæbeln und der blanken Aluminiumzahlkasse auch das massive Gewissen der Verdienerzeit zugelegt und wartete nur auf einen Vorwand, um .diesen letzten l€stigen Rest vorst€dtischer Sch€bigkeit aus seinem vornehm gewordenen Lokal hinauszukehren. Ein guter AnlaŸ schien sich bald einzustellen; denn es ging Jakob Mendel schlecht. Seine letzten gesparten Banknoten waren zerpulvert in der Papiermìhle der Inflation, seine Kunden hatten sich verlaufen. Und wieder als kleiner Buchtrædler Treppen zu steigen, Bìcher hausierend zusammenzuraffen, dazu fehlte dem Mìdgewordenen die Kraft. Es ging ihm elend, man merkte das an hundert kleinen Zeichen. Selten lieŸ er sich mehr vom Gasthaus etwas herìberholen, und auch das kleinste Entgelt fìr Kaffee und Brot blieb er immer l€nger schuldig, einmal sogar drei Wochen lang. Schon damals wollte ihn der Oberkellner auf die StraŸe setzen. Da erbarmte sich die brave Frau Sporschil, die Toilettenfrau, und bìrgte fìr ihn. Aber im n€chsten Monat ereignete sich dann das Unglìck. Bereits mehrmals hatte der neue Oberkellner bemerkt, daŸ es bei der Abrechnung nie recht mit dem Geb€ck stimmen wollte. Immer mehr Brote erwiesen sich als fehlend, als angesagt und bezahlt waren. Sein Verdacht lenkte sich selbstverst€ndlich gleich auf Mendel; denn mehrmals war schon der alte wacklige Dienstmann gekommen, um sich zu beschweren, Mendel sei ihm seit einem halben Jahre die Bezahlung schuldig, und er kænne keinen Heller herauskriegen. So paŸte der Oberkellner jetzt besonders auf, und schon zwei Tage sp€ter gelang es ihm, hinter dem Ofenschirm versteckt, Jakob Mendel zu ertappen, wie er heimlich von seinem Tische aufstand, in das andere vordere Zimmer hinìberging, rasch aus einem Brotkorb zwei Semmeln nahm und sie gierig in sich hineinstopfte. Bei der Abrechnung behauptete er, keine gegessen zu haben. Nun war das Verschwinden gekl€rt. Der Kellner meldete sofort den Vorfall Herrn Gurtner, und dieser, froh des langgesuchten Vorwands, brìllte Mendel vor allen Leuten an, beschuldigte ihn des Diebstahls und tat sogar noch dick, daŸ er nicht sofort die Polizei rufe. Aber er befahl ihm, sogleich und fìr immer sich zum Teufel zu scheren. Jakob Mendel zitterte nur, sagte nichts, stolperte auf von seinem Sitz und ging. "Ein Jammer war's", schilderte die Frau Sporschil diesen seinen Abschied. "Nie werd ich's vergessen, wie er aufgestanden ist, die Brille hinaufgeschoben in die Stirn, weiŸ wie ein Handtuch. Nicht Zeit hat er sich genommen, den Mantel anzuziehen, obwohl's Januar war, Sie wissen ja, damals im kalten Jahr. Und sein Buch hat er liegen lassen auf dem Tisch in seinem Schreck, ich hab's erst sp€ter bemerkt und wollt's ihm noch nachtragen. Aber da war er schon hinabgestolpert zur Tìr. Und weiter auf die StraŸen hatt ich mich nicht traut; denn an die Tìr hat sich der Herr Gurtner hingstellt und ihm nachgschrien, daŸ die Leut stehenblieben und zusammengelaufen sind. Ja, eine Schand war's, gsch€mt hab ich mich bis in die unterste Seel! So was hat nicht passieren kænnen bei dem alten Herrn Standhartner, daŸ man einen ausjagt nur wegen ein paar Semmeln, bei dem h€tt er umsonst essen kænnen noch sein Leben lang. Aber die Leute von heut, die haben ja kein Herz. Einen wegzutreiben, der ìber dreiŸig Jahre wo gsessen ist Tag fìr Tag - wirklich, eine Schand war's, und ich mæcht's nicht zu verantworten haben vor dem lieben Gott - ich nicht." Ganz aufgeregt war sie geworden, die gute Frau, und mit der leidenschaftlichen Geschw€tzigkeit des Alters wiederholte sie immer wieder das von der Schand und vom Herrn Standhartner, der zu so was nicht imstande gewesen w€re. So muŸte ich sie schlieŸlich fragen, was denn aus unserm Mendel geworden sei und ob sie ihn wiedergesehen. Da rappelte sie sich zusammen und wurde noch erregter. "Jeden Tag, wenn ich vorìbergegangen hin an seinem Tisch, jedesmal, das kænnen S' mir glauben, hat's mir einen StoŸ geben. Immer hab ich denken mìssen, wo mag er jetzt sein, der arme Herr Mendel, und wenn ich gwuŸt h€tt, wo er wohnt, ich war hin, ihm was Warmes bringen; denn wo h€tt er denn das Geld hernehmen sollen zum heizen und zum Essen? Und Verwandte hat er auf der Welt, soviel ich weiŸ, niemanden gehabt. Aber schlieŸlich, wie ich immer und immer nix gehært hab, da hab ich mir schon denkt, es muŸ vorbei mit ihm sein, und ich wìrd ihn nimmer sehen. Und schon hab ich ìberlegt, ob ich nicht sollt eine Messe fìr ihn lesen lassen; denn ein guter Mensch war er, und man hat sich doch gekannt, mehr als fìnfundzwanzig Jahr. Aber einmal in der Frìh, um halb acht Uhr im Februar, ich putz grad das Messing an die Fensterstangen, auf einmal (ich mein, mich trifft der Schlag), auf einmal tut sich die Tìr auf, und herein kommt der Mendel. Sie wissen ja: immer ist er so schief und verwirrt hereingschoben, aber diesmal war's noch irgendwie anders. Ich merk gleich, den reiŸt's hin und her, ganz glanzige Augen hat er gehabt und, mein Gott, wie er ausgschaut hat, nur Bein und Bart! Sofort kommt's mir entrisch vor, wie ich ihn so seh: ich denk mir gleich, der weiŸ von nichts, der geht am hellichten Tag umeinand als ein Schlafeter, der hat alles vergessen, das von die Semmeln und das vom Herrn Gurtner und wie schandbar sie ihn hinausgschmissen haben, der weiŸ nichts von sich selber. Gott sei Dank! der Herr Gurtner war noch nicht da, und der Oberkellner hat grad seinen Kaffee trunken. Da spring ich rasch hin, damit ich ihm klarmach, er solle nicht dableiben, sich nicht noch einmal hinauswerfen lassen von dem rohen Kerl" (und dabei sah sie sich scheu um und korrigierte rasch) "ich mein, vom Herrn Gurtner. Also, Herr Mendel', ruf ich ihn an. Er starrt auf. Und da, in dem Augenblick, mein Gott, schrecklich war das, in dem Augenblick muŸ er sich an alles erinnert haben; denn er fahrt sofort zusammen und fangt an zu zittern, aber nicht bloŸ mit die Finger zittert er, nein, als ein Ganzer hat er gescheppert, daŸ man's bis an die Schultern kennt hat, und schon stolpert er wieder rasch auf die Tìr zu. Dort ist er dann zusammgfallen. Wir haben gleich um die Rettungsgesellschaft telephoniert, und die hat ihn weggefìhrt, fiebrig, wie er war. Am Abend ist er gestorben, Lungenentzìndung, hochgradige, hat der Doktor gesagt, und auch, daŸ er schon damals nicht mehr recht gewuŸt hat von sich, wie er noch einmal zu uns kommen ist. Es hat ihn halt nur so hergetrieben, als einen Schlafeten. Mein Gott, wenn man sechsunddreiŸig Jahr einmal so gesessen ist jeden Tag, dann ist eben so ein Tisch einem sein Zuhaus." Wir sprachen noch lange von ihm, die beiden letzten, die diesen sonderbaren Menschen gekannt, ich, dem er als jungem Mann trotz seiner mikrobenhaft winzigen Existenz die erste Ahnung eines vollkommen umschlossenen Lebens im Geiste gegeben sie, die arme, abgeschundene Toilettenfrau, die nie ein Buch gelesen, die diesem Kameraden ihrer untern armen Weit nur verbunden war, weil sie ihm durch fìnfundzwanzig Jahre den Mantel gebìrstet und die Knæpfe angen€ht hatte. Und doch, wir verstanden einander wunderbar gut an seinem alten, verlassenen Tisch in der Gemeinschaft des vereint heraufbeschworenen Schattens; denn Erinnerung verbindet immer, und zwiefach jede Erinnerung in Liebe Plætzlich, mitten im Schwatzen, besann sie sich: "Jessas, wie ich vergessig bin das - Buch hab ich ja noch, das was er damals am Tisch liegen lassen hat. Wo h€tt ich's ihm denn hintragen sollen? Und nachher, wie sich niemand gemeldt hat, nachher hab ich gmeint, ich dìrft's mir behalten als Andenken. Nicht wahr, da ist doch nix Unrechts dabei?" Hastig brachte sie's heran aus ihrem rìckw€rtigen Verschlag. Und ich hatte Mìhe, ein kleines L€cheln zu unterdrìcken; denn gerade dem Erschìtternden mengt das immer spielfreudige und manchmal ironische Schicksal das Komische gerne boshaft zu. Es war der zweite Band von Hayns Bibliotheca Germanorum crotica et curiosa, das jedem Buchsamrnler wohlbekannte Kompendium galanter Literatur. Gerade dies skabræse Verzeichnis - habent sua fata libelli - war als letztes Verm€chtnis des hingegangenen Magiers zurìckgefallen in diese abgemìrbten, rot aufgesprungenen, unwissenden H€nde, die wohl nie ein anderes als das Gebetbuch gehalten. Ich hatte Mìhe, meine Lippen festzuklemmen gegen das unwillkìrlich von innen aufdr€ngende L€cheln, und dies kleine Zægern verwirrte die brave Frau. Ob's am Ende was Kostbares w€r, oder ob ich meinte, daŸ sie es behalten dìrft? Ich schìttelte ihr herzlich die Hand. "Behalten Sie's nur ruhig, unser alter Freund Mendel h€tte nur Freude, daŸ wenigstens einer von den vielen Tausenden, die ihm ein Buch danken, sich noch seiner erinnert." Und dann ging ich und sch€mte mich vor dieser braven alten Frau, die in einf€ltiger und doch menschlichster Art diesem Toten treu geblieben. Denn sie, die Unbelehrte, sie hatte wenigstens ein Buch bewahrt, um seiner besser zu gedenken, ich aber, ich hatte jahrelang Buchmendel vergessen, gerade ich, der ich doch wissen sollte, daŸ man Bìcher nur schafft, um ìber den eigenen Atem hinaus sich Menschen zu verbinden und sich so zu verteidigen gegen den unerbittlichen Widerpart alles Lebens: Verg€nglichkeit und Vergessensein. 12